Entzugsprogramm oder medialer Ungehorsam?

Seit gestern bin ich völlig absorbiert von kindlichem Gematsche. Sprich, ich will nicht nur das aus Schulzeiten altbekannte Papiermaché herstellen, sondern sogenanntes "paper mache clay", also lufttrocknende Modelliermasse aus Papier. Dazu habe ich mich zuerst einmal durch zig Rezepte im Internet gewühlt. Nachteil: Manche Ingredienzien sind nicht immer so einfach übersetzbar und auch nicht exakt in der gleichen Mischung in jedem Land zu bekommen. Aber keine Angst, ich will hier nicht von Pappe reden! Sondern von dem Effekt, den das Gematsche auf mich hatte.

Wirkt auf mich immer erdend und wohltuend: Tiere. Egal welche. Einfach schauen, miteinander reden, schauen.

Da räume ich also extra meine Küche auf, um sie umso effektiver einzusauen. Messbecherchen stehen bereit, Plastikunterlagen, ein alter Topf. Und dann geht gleich das erste Experiment völlig schief, weil das Mathematikgenie Wasser im Verhältnis 2,5:1 statt 1:2,5 eingemischt hat. Die Stücke sind nach fast zwei Tagen immer noch weich ... Zwischendurch will der Hund raus und muss auch noch den neuen Nachbarshund kennenlernen - Ablenkung pur. Als ich endlich meinen Frühstückskaffee genießen kann und der zweite Papierbrei erstaunlich feinporig ausfällt, geht es mir richtig gut. Ich rühre und schmiere, ohne viel zu denken, höre dabei wundervolle Musik; Bilbo besucht mich zwischendurch und geht wieder, ich knete und juchze, weil der Trick mit dem Babypuder in der Masse tatsächlich funktioniert. Kurzum: Ich bin "im Flow", wie man so schön sagt, bin "hin und weg".

Gegen Mittag bemerke ich, dass ich Bilbo schon lange nicht mehr gesehen habe (der schnarcht auf der Gartenbank) und vor allem noch kein einziges Mal Facebook aufrief. Es gab nur etwas Instagram während des Kaffeekochens - schöne Landschaftsbilder, tolle Kunstwerke aus aller Welt, nette, positive Menschen. Mir geht es verdammt gut, als ich Perlen forme.

Und dann will ich es wissen: Will vorsätzlich FB anschauen und herausfinden, was genau dieses miese Gefühl macht, jetzt, wo ich fast in einer Parallelwelt zu schweben scheine. Ich bin ja nicht die einzige, die immer öfter das Gefühl hat, sich anschließend mit Desinfektionsmittel übergießen zu müssen, wenn es denn nützte, gegen diesen FB-Ekel, der schleichend zunimmt. Auch die Digisaurier haben das Thema sehr spannend und vielseitig beleuchtet - und da steht ein vielsagender Satz:
Je weniger Facebook, desto besser die Laune.

Ich logge mich ein und schon fängt es an:

Zig Benachrichtigungen vermitteln mir ein Gefühl wie beim Hausaufgabenmachen früher: Die musst du jetzt anschauen, abarbeiten. Da haben Leute schließlich extra mit dir kommuniziert. Liest man einen Tag lang nicht mit, kommt man nicht mehr nach, die Themen verschwinden. Also schon mal Zeitverlust für die Fleißaufgabe.

Nein, ich muss das nicht. Die Welt dreht sich auch weiter, wenn ich nicht sehe, welcher Beitrag wie viele Likes bekommen hat. Menschen, die mich schätzen, werden mich auch schätzen, wenn ich ihren Kommentar mal nicht lese. Ich. Muss. Das. Nicht.

Durch das Abchecken der Kommentare werde ich - algorithmenbedingt - auf alte Themen zurückgeworfen, die mir vielleicht längst nicht mehr wichtig sind. Die ich vielleicht nur so nebenbei teilte. Es sind nie positive Themen, sondern die mit den höchsten Erregungsgraden. Also genau das, wozu es viele, womöglich kontroverse Kommentare und Erregungssmileys gibt. Das sind aber genau die Themen, die einen mehr herunterziehen als ein Katzenfoto.

Ich will in der nächsten Woche einen Versuch wagen: Mich dem zu verweigern. Stattdessen die absolut ungesehenen positiven Beiträge hochholen. Die auch kaum jemand kommentiert, weil man sich dabei so wenig aufregen kann. Werde ich es schaffen, mich der Dauererregung zu entziehen?

In meiner Timeline sind drei "Geburtstagsvideos" zu sehen. Ich vergesse manchmal den Geburtstag echter Freunde - ich gratuliere nicht jedem bei FB, der vielleicht nie mit mir kommuniziert. Aber schon springt das Teufelchen im Kopf an und macht ein schlechtes Gewissen. Wenigstens nachträglich gratulieren? So tun, als sähe man das Jubeln über das Video nicht? Und was steckt eigentlich da drin? Glückwünsche. Freundesnamen. Von denen, die nett und freundlich und brav waren. Die machten, was FB wünscht. Das fühlt sich an wie Klassendruck früher: Der X und der Y haben sich brav am Unterricht beteiligt und du?! Es ist ja nicht das einzige Mittel von FB, unsere Zeit und Aufmerksamkeit zu binden. Immer öfter fallen mir technische Mechanismen auf, die zu nichts anderem eingerichtet werden, als mich zu binden. Mache ich mit, bekomme ich etwas, das Endorphine ausschüttet (etwa ein bonbonfarbenes Video). Verweigere ich mich, werde ich fast bestraft. Wie viel Entzug ist da möglich?

Es gibt ein einfaches Mittel: Abschalten. Dann bleibt das Schlechtfühlen aus. Und die Endorphine kann ich mir woanders viel schöner und nachhaltiger holen. Ein einziger Kommentar von Nachbars Ziegen reicht, um einem den Kopf wieder zurechtzurücken.

Zwei Tage lang fuhrwerkten nun Papiermaché-Rezepte in meinem Kopf herum und andere wichtige, schöne Dinge. Selbst die Nachrichten habe ich verpasst. Lieber Filme im Fernsehen geschaut. Kein orangefarbener Kopf, fast beiläufig las ich lediglich, dass der Mann erst einen Monat im Amt ist. Und da fällt mir auf, was mich nicht nur bei FB zum Erbrechen bringt: Wie kann ein Kasperle derart die Aufmerksamkeit aller belagern, dass man das Gefühl hat, es passiere auf der Welt nichts anderes Wichtiges mehr? Und noch schlimmer: Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, eine lähmende Ewigkeit. Dabei haben viele Menschen länger Urlaub, den sie dann im Alltag nach drei Tagen vergessen!

Gelingt mir das Experiment, genau das zu tun, was für Narzissten die größtmögliche Katastrophe ist: ihn mindestens eine Woche lang schlicht nicht zu beachten? Sein Foto nicht zu teilen, seine Zitate nicht zu verstärken, seine Thesen - und wenn noch so kritisch - nicht in der Lautstärke zu vervielfachen? Stell dir vor, da ist Trump - und keiner geht hin. War mal ein Spontispruch gegen den Krieg. Ich will die restliche Welt wieder zurück. All das auf diesem Planeten, das ohne diesen Mann zurechtkommt, gut zurechtkommt.

Da sind wir bei einem anderen Phänomen, das mir bei FB aufstößt: Nicht einmal mehr die Medien, die ich absichtlich abonniert habe, werden mir ausgewogen in die Timeline gespült. Zuckerberg bestimmt, was genau ich von der BBC oder NYT zu sehen bekomme. Es sind nicht immer die faszinierenden und großartigen Artikel, die man sich sonntags zum Frühstück gönnen will - es sind die Erregungsartikel, auf welche die Algorithmen anspringen. Facebooks Algorithmen sind es, die einen krankmachen, weil sie die Welt in Dualismen spalten, weil sie einen nicht zur Ruhe kommen lassen. Und das neue Manifest von Zuckerberg zeichnet sogar eine sehr böse Welt künftiger Manipulationen, in der Journalisten obsolet werden. Wollen wir das? Schon vor Jahren musste ich angesichts seines Unternehmens an den James Bond Film denken: Der Morgen stirbt nie.

Aus dieser Mühle auszutreten ist noch am einfachsten - sofern man die eigene Bequemlichkeit überwindet. Die meiste werden es darum eher nicht tun. Ich halte es wie früher beim Lesen der Papierzeitung: Ich schlage das Blatt im Internet direkt auf. Schaue direkt beim jeweiligen Medium, was es gibt - und was mich interessiert. Das lese ich dann, schaue ich an. Und oh Wunder: Es sind sehr selten die Artikel, die mir FB vorschlägt - es sind die anderen, die ich dort nicht sehe!

Wenn man das Prinzip einmal verstanden hat, ist es einfach. Falls man den Suchtcharakter überwinden kann, den das Medium vorsätzlich eingebaut hat. Die Digisaurier nennen es den einarmigen Banditen. Aber da lockt ja nun der Vorfrühling und auch das Bloggen macht viel mehr Spaß. Mal schauen, ob ich mich etwas ablösen kann von Zuckerbergs Manipulationen. Sie schmecken mir nicht mehr.

1 Kommentar:

  1. Guter Artikel, Petra, bestärkt mich in meiner Haltung: Es gibt auch noch andere Welten da draußen! Manchmal habe ich schon bei FB reingeschaut, vielleicht gibt es mal etwas Aufbauendes oder Unterhaltendes für die Pause. Meist sage ich nach 10-20 Beiträgen "so, das reicht" und verlasse die illustren Räume wieder.

    Herzlichst
    Christa

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