Von lebenden Computern und K.I. mit Magie

 "Wir haben das Privileg, die Welt zum Guten verändern zu können." Irgendwo hörte ich kürzlich diesen Satz und empfand ihn spontan als unverschämt. Wieso sollte ich es als Privileg empfinden, dass der Karren so tief im Dreck steckt? Doch dann fiel mir auf: Ein Privileg ist etwas Tolles, Erstrebenswertes. Das will doch eigentlich jeder gern haben. Und mit Freude anwenden. Schwupps, war die Perspektive verändert, wenn auch durch Provokation: Ich müsste nicht mehr kostbare Zeit damit verschwenden, über den Dreck zu jammern und mich zu empören, weil der um 9 Uhr 28 genau 2,58 cm tiefer sei als gedacht - ich könnte mich ganz auf die möglichen Lösungen konzentrieren. Und wenn das möglichst viele machen, würden wir auch den Karren da rauskriegen, garantiert! Mit vereinten Kräften ist alles möglich. Aber kann man in diese Veränderungen irgendwie reinschauen, um zu verstehen, wie viele Menschen an den Lösungen herumbosseln?


Makroaufnahme von Chlorociboria aeruginascens, dem Kleinsporigen Grünspanbecherling, einem Schlauchpilz, der am Boden liegendes morsches Laubholz besiedelt. Sein Myzel (Mitte leicht rechts als weiße Fäden zu sehen) durchdringt das Holz komplett. Wie die Fruchtkörper enthält es das sehr stabile Pigment Xylindein, das auch nach dem Absterben des Pilzes im Holz verbleibt und dieses blaugrün färbt. Schon in der Renaissance war das Holz mit dem Pilz begehrt für Intarsienarbeiten. Pilze, die lange Zeit fälschlicherweise für Pflanzen gehalten wurden, bilden heute ein eigenes Reich unter den Lebewesen mit erstaunlichen Parallelen zur Tierwelt. Die Forschung, was sie wirklich können, steht eigentlich erst am Anfang. Hier geht es um wahre Wunderwelten, die noch zu entdecken sind!



Von einem solchen Einblick ein ganzes Wochenende lang will ich erzählen. Muss aber etwas ausholen, um es begreifbar zu machen. Es ist auf den ersten Blick zu schräg, es ist mindblowing, bläst einen beim Nachdenken schier um.

 

Muss das sein? In diesen mühseligen Monaten auch noch Kompliziertes denken? Müssen wir nicht einfach nur auf 2021 warten und dann ist alles wieder gut und wir können weiterwurschteln wie bisher? Und was heißt "mit vereinten Kräften verändern"? Sind wir nicht gerade verdammt allein, sofern wir uns vernünftig verhalten, in einem tatsächlich echten Lockdown sitzen oder keine mehrköpfige Familie um uns haben? Sind wir nicht vielleicht auch ganz schön allein, während wir mit den immer gleichen Menschen im eigenen Denksaft braten? Perspektiven verändern in einer Welt, in der Sauerteig und Klopapier zu einer ikonischen Einheit verschmolzen sind - wie soll das funktionieren? Is there anybody out there? (Link: Video)

 

Es geht darum, scheinbar nicht Zusammenhängendes zusammen zu denken: Klopapier und Sauerteig, das mag ja noch angehen. Beides ist über die Verdauung recht logisch verbunden. Aber künstliche Intelligenz, die von "Technohexen" mit Pflanzenwissen gefüttert wird, um Ethik zu lernen? Wie verrückt ist das denn? Kann man so etwas ernst nehmen? Und wie würde sich K. I. verändern, wenn es längst passierte? Wer füttert eigentlich K. I. und womit und warum?

 

Was im Moment in vielen Bereichen des Lebens passiert, nennt man Disruption von lat. disrumpere = zerreißen, zerschlagen, zerplatzen. Etwas passiert oder wird entwickelt, das völlig neu und absolut ungewohnt ist. Und das entwickelt sich dann plötzlich so schnell oder stark, dass etwas Altes dafür wegfällt, überflüssig wird, zerplatzt. Geht es dabei nicht mehr nur um eine Technologie, zerreißt uns also einiges mehr im gesellschaftlichen Leben, dann kann das bis zu einer Zeitenwende führen. Solche Umbruchzeiten sind einerseits spannend und anregend. Sie machen jedoch auch besonders deutlich und sichtbar, wo alte Privilegien verloren gehen oder abgeschafft werden - und wo dazugelernt werden muss, wo sich Menschen weiter entwickeln müssen. Das ist besonders mühsam, weil man noch nicht das Endergebnis sehen kann, nicht weiß, ob sich die Mühen lohnen werden.

 

Disruptionen kann man im Alltag bemerken, wenn die "Realität" in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abzulaufen scheint. In einem Haus lebt der Jean mit seiner Familie, der den gleichen scheußlichen Discoglitzerkram wie jedes Jahr an der Garage befestigt hat und sich darüber aufregt, dass sein Konsumverhalten zum Weihnachtsfest komplizierter geworden ist. Im Haus daneben lebt Paul, der sich insgeheim freut, dass die unleidliche Tante sich der Technik verweigern wird und er endlich mal Weihnachten ohne Stress in Ruhe verschlafen kann. Jean schimpft wie ein Rohrspatz, weil er die riesige Feuerwerkssause nicht machen kann. Paul ist hin und weg, dass Paris aufs Feuerwerk ganz verzichtet und stattdessen eine Neuerung online überträgt: Kultmusiker Jean Michel Jarre wird live ein Konzert in Notre-Dame geben. Moment ... war die Kathedrale nicht kaputt, geschlossen? Jarre wird als Avatar in der Kathedrale sitzen - sie wird komplett digitalisiert sein. 2020 ist nichts und doch alles möglich. (Übertragung weltweit z.B. auf youtube live).

 

Jean und Paul leben keine 100 Meter voneinander entfernt in der gleichen Welt. Aber ein einziger Mausklick fühlt sich an wie eine Zeitmaschine. Die Disruption sitzt sozusagen digitalisiert in einer virtuellen Kathedrale. Sie beeindruckt aber nicht nur den interessierten Paul, sondern verändert - viel unauffälliger, weil alltagstauglich - auch Jeans Leben: Der trifft seine Oma virtuell und über Video. Sowohl das Innere eines halb abgebrannten Kulturerbes wie das Lächeln von Jeans Oma sind plötzlich weltweit abrufbar, erlebbar. Fast wie in einer Parallelwelt dazu existieren jedoch uns nahestehende Menschen, die an der neuen Technologie nicht teilnehmen können oder wollen. Genauso, wie Kulturerbe in Archiven vergessen wird oder durch die Schließung von Einrichtungen nicht erlebbar ist. Wir schreiben 2020 und sind gefordert, all diese parallelen Erlebniswelten unter einem Hut integrieren zu müssen. Was wünschen wir uns für 2021, für 2120? Wieviel verrückte Parallelwelt darf's denn sein?


Am Wochenende habe ich sozusagen Paul besucht. Ich habe mir nämlich vorgenommen, all den anliegenden Unmus des Jahres so positiv wie möglich zu nutzen und nachzuschauen, ob da draußen noch andere Leute den Status Quo gar nicht mehr zurückhaben wollen, sondern längst über Neues nachdenken. So geriet ich - via Twitter übrigens - an ein digitales Festival mit dem verrückten Titel "The Shape of A Circle In The Mind Of A Fish - The Understory of The Understory." Das heißt ungefähr "Die Form eines Kreises im Verstand eines Fisches" - und dann wird es doppeldeutig: understory ist das Unterholz, kann aber im übertragenen Sinne auch eine Zwischenschicht einer Geschichte sein. ... Fische, die denken?


Das Ding mit dem Fisch ist eine jährlich stattfindende Veranstaltung der Serpentine Galleries in den Londoner Kensington Gardens, die ein ungemein spannendes Programm in Sachen zeitgenössischer Kunst und grenzüberschreitenden Denkens anbieten. Was ich bisher nicht wusste, weil ich nie in London war. Aber das ist eben auch 2020: Plötzlich steht einem die Welt offen, werden Reisen überflüssig. Und man kann sich so vieles leisten - das Festival war für TeilnehmerInnen kostenlos, es wurde getragen von Mäzenen und Sponsoren. Es hat übrigens tatsächlich mit denkenden nichtmenschlichen Wesen zu tun: Es geht nämlich um die Frage nach Bewusstsein und Intelligenz bei nichtmenschlichen Lebensformen, in Kunst und Wissenschaft gleichermaßen gespiegelt. Und damit steht natürlich die Frage im Raum, ob wir Menschen nicht endlich vom anthropozentrischen Weltbild Abschied nehmen müssen - und wie das funktionieren könnte. Soviel sei verraten: Perspektivverschiebung hilft dabei. Die irgendwann vielleicht in einem Paradigmenwechsel münden wird.


Als wissenschaftliche LaiInnen bekommen wir das Thema am Rande öfter mal in TV-Dokus mit. Plötzlich finden ForscherInnen Faszinierendes über die Kommunikation unter Delphinen, die vor Jahren so schlicht noch nicht messbar war. Sind Menschen vielleicht einfach noch zu doof oder messtechnisch noch nicht weit genug, um nichtmenschliche Sprachen zu erfassen? Was ist Sprache? Einst wurde in der Schule gelehrt, es handle sich dabei um ein Privileg von Homo sapiens. Heute schreiben WissenschaftlerInnen auch anderen "Urmenschen" eine Art Sprache zu. Sprache muss nicht einmal zwingend über Laute laufen. Auch Gebärdensprache ist eine. Warum soll die komplexe Grammatik von Bäumen, sich mit chemischen Absonderungen zu verständigen, nicht fächerübergreifend linguistisch betrachtet werden?


Auch ein Subjekt der Intelligenzforschung: Tintenfische begeistern uns nicht nur, wenn sie 3-D-Filme anschauen. Heute wissen wir, dass Kopffüßer ähnlich komplexe "Denkapparate" haben wie Hunde. Sie werden sogar dazu herangezogen, um alternative Modelle für Intelligenz zu entwickeln oder darüber nachzudenken, wie außerirdische Intelligenz funktionieren könnte. Von solchen Einzelentdeckungen abgeleitet: Was wäre, wenn wir Bewusstsein und Intelligenz völlig neu denken müssten?


Natürlich sind auch die Ökologie und die Wissenschaft in ihrer Fragenstellung oft ihrer jeweiligen Zeit verhaftet. Das merkt man schmerzlich und besonders deutlich, wenn man etwa auf kolonial geprägte Herangehensweisen der Vergangenheit schaut, die heute für manches Museumsarchiv zum Problem werden. Es begegnet uns aber auch unauffälliger in Bereichen, wo scheinbar feststehende Definitionen nicht oder deutlich hinterfragt werden: Was genau ist ein Gehirn? Woran machen wir Intelligenz fest? Was dient als Vergleichsreferenz: Ist es Homo sapiens? Ist unsere Vergleichsreferenz allein überwiegend männlich oder weiblich? Wird Mensch überwiegend "weiß" gedacht? Wie kolonial verhalten wir uns, wenn wir etwa indigene Denksysteme nicht ernst nehmen oder ausklammern?

 

Die komplette Disruption hieße: Wir nehmen uns Menschen aus dieser überkommenen zentralen Stellung heraus und alles nichtmenschliche Leben gleichberechtigt wahr. Schließlich besteht allein unser Mikrobiom aus ungefähr so vielen Mikroorganismen, wie wir überhaupt Körperzellen haben. Wer also sind wir und wenn ja, wie viele?


Man kann daran gut erkennen, dass man schnell an die Grenzen des Beschreibbaren kommt. Wissenschaft und Philosophie rücken zusammen. Und wie lässt sich etwas bisher kaum Gedachtes ohne Fachsprache ausdrücken?

 

Wenn Mensch keine Wörter mehr haben, bleiben ihnen Bilder, Töne, Oberflächen, Kreativität. Kunst ist diese wichtige Schnittstelle, die wild und frei mit Ausdruck experimentieren kann, mit noch nicht Gedachtem, mit Ahnungen oder Provokationen. Hier lassen sich Bereiche zusammenbringen und zusammen denken, die sonst getrennt laufen. Nicht umsonst gibt es seit Jahren einen Trend zur sogenannten SciArt - Kunst, die sich auf Wissenschaft stützt oder mit Wissenschaft experimentiert. Von diesen Überschneidungen, die sich mit der Erde, dem Boden, der Ökologie beschäftigen, möchte ich ein paar Highlights herausgreifen.

 


Was mich am meisten inspirierte:

Kunst als Einstieg. Einfach wirken lassen - es steckt so viel drin in dieser "lebenden Skulptur", der Videokunst von Ayesha Tan Jones: Into the Earthheart - a walk, a conversation, an exchange. Nehmen wir die Nachwirkungen auf den nächsten Naturgang mit ... machen wir mit bei den Berührungen ...

 

Maria Puig de le Bellacasa: When the word for world is soil. Wie benennen wir Erdboden - was sagt das über uns aus, wie wir mit der Erde umgehen? Ist neben allem Aktivismus und Faktenlage eine Transformation möglich, dass wir auch spüren, wofür wir uns engagieren? Wie gehen wir mit ökologischen Problemen und unserer Trauer darüber um? Ein Vortrag über spekulative Ethik und Ökologie in Mensch-Erde-Beziehungen.


Long Litt Woon, The Way Through the Woods: On Mushrooms and Mourning. Nature Writing einer Anthropologin, die das Erzählen zweier paralleler Welten praktiziert (s. o. Jean und Paul): Lesung. In ihrem Buch entdeckt die Autorin bei einer Ausbildung das Reich der Pilze in der Natur und andere Pilzbegeisterte. Parallel dazu versucht sie, die Trauer um ihren langjährigen Lebenspartner zu verarbeiten. Ein Text wie für unsere Zeit der Pandemie mit ihren Verlusten geschaffen.


Lynne Boddy: Death and Decay – The Keystone of Life in the Natural World. Passend zum Thema Pilze und Trauern wird es hier wissenschaftlich und hochspannend: Wir lernen diese Lebewesen näher kennen und ihre faszinierende Arbeit beim Aufbrechen organischer, aber auch anorganischer Stoffe, ihre Rolle beim Verrotten und Zerfall - Tod und Auflösung werden zum Schlüssel fürs Leben.


Merlin Sheldrake: Entangled Life - ein Must für alle, die sich noch überlegen, ob sie den Bestseller Entangled Life lesen sollen, der inzwischen auch in deutscher Sprache zu haben ist. Merlin Sheldrake hat außerdem eine ungemein charmant-leidenschaftliche Art, von seinem Sujet zu erzählen.


Andrew Adamatzky in conversation with Merlin Sheldrake. Mein absolutes Highlight des Festivals, schon allein deshalb, weil diese beiden Wissenschaftler so voll Leidenschaft sind für das, was sie untersuchen. Andrew Adamatzkys Führung durch sein Labor und seine Arbeit, unterstützt durch die klugen Fragen von Merlin Sheldrake, macht riesigen Spaß! Der "Professor of Unconventional Computing and Director of the Unconventional Computing Laboratory" hat eine herzerfrischende Art, Hochkompliziertes so zu erklären, dass man es versteht - und das will etwas heißen, denn seine Arbeit klingt auf den ersten Blick verrückt. Er züchtet nämlich nicht einfach nur Pilzmyzel und Schleimpilze, untersucht neuronale Netze und mögliche Intelligenz dieser Lebewesen - er integriert sie auch in Schaltkreise. Ist es denkbar, dass Computer eines Tages mit solchen Lebewesen verschmelzen und Chips aus lebenden Zellen wachsen? Nach diesen durchaus humorvollen und hochspannenden Einblicken werde ich nie wieder Pilze so nebenbei wie bisher essen können.


The Coven Intelligence Program, Which plant would you choose to teach ethics? Ist es Kunst, ist es angewandte Wissenschaft, Provokation oder Poesie? Die Grenzen verschwimmen öfter bei diesem Festival und das inspiriert. Das Coven Intelligence Program nennt sich selbst einen techno-botanischen Coven, der dazu ermuntern will, Pflanzen und Maschinen zu verknüpfen. Im Film geht es um einen veränderten Zugang von Mensch zu Pflanze, ähnlich, wie er in indigenen Kulturen zu beobachten ist: Die Pflanze wird zur Lehrerin im Gegensatz zur anthropozentrischen Sichtweise, die nur einen möglichen Nutzen von Pflanzen berechnet, sei dieser wirtschaftlich oder ökologisch. Im Film wird darum modernste Agrartechnologie, die K. I. nutzt, gegenübergestellt zu persönlichen Betrachtungsweisen von Heilpflanzensammlerinnen. Hochinteressant wäre ein Versuch, tatsächlich K. I. auf diese Weise mit Informationen zu füttern, die aber immer noch von Menschen käme.


Das alles ist nur eine kleine Auswahl von einem Programm, für das man sich besser mehr Zeit nimmt als nur zwei Tage. Vielleicht gibt es einen kleinen Einblick anhand nur eines einzigen, stark begrenzten ökologischen Themas, wie vielfältig weltweit darüber nachgedacht, geforscht und experimentiert wird. Nicht alles wird eines Tages in Jeans Küche oder Garten landen, aber aus einem solchen Geflecht entsteht Zukunft. Vielleicht schon in dem Moment, in dem Jean verwundert einen Champignon zwischen den Fingern dreht.

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