Talkshows sind tot - es lebe der Talk!

Es gibt eine Sache, die ich im deutschen Fernsehen meide wie die Pest: Talkshows. Warum soll man sich etwas antun, nur um darüber in Social Media ablästern zu können, am Journalismus dieser Form zu verzweifeln oder die Welt in Gülle versinken zu sehen? Zugegeben, es gab einmal Formate, die mir gefielen. Ich war Fan des legendären Wieland Backes mit seinem Nachtcafé und erinnere mich an bahnbrechende Sendungen von "Leute heute" im SWR-Radio.

Hühnerhof
Wie man Talkshows moderiert, kann man ganz gut auf einem Hühnerhof lernen.



Das war damals eine Art von Talks, wo man ungewöhnliche Menschen kennenlernen konnte, die Inspirierendes zu sagen hatten; die einem Perspektivverschiebungen zeigten oder zur gepflegten Debatte anregten. Gepflegt, weil die ModeratorInnen ihr Handwerk beherrschten, Inhalte herauszukitzeln statt Selbstdarstellung. Auch wenn früher schon mal einer wütend aufstand und während der Sendung ging, konnte man einigermaßen sicher sein, dass sich nicht stets die gleichen Hintern in den gleichen Studios plattsaßen und ein Narzisst mit dem anderen wetteiferte, Blubberblasen abzusondern. Die Gäste waren oft diverser und kamen nicht allesamt aus dem Wahlkampf. Kurzum: Ich kann Talksshows speziell im deutschen Fernsehen nicht mehr ausstehen.

Das Erregungsformat ist überholt

Gestern bin ich dann plötzlich zufällig über etwas gestolpert, das mir klargemacht hat, wie überholt dieses Erregungsformat eigentlich längst ist. Manchmal denke ich, es wird eh nur noch als Quotenbringer gebracht, weil alles, was polarisiert, eben Schlagzeilen bringt. Clickbait. Viele Junge sind eh schon abgewandert in die Podcastszene. Dort hört man sich freiwillig Tante Erna an, die viel zu lang mit einem Biobauern klönt und mit ihrer Freundin, die zum ersten Mal Tomaten gepflanzt hat. Man hört sich das eigentlich nur an, weil man auch gerade Tomaten gekauft hat und weil Tante Erna so lieb klingt und so viel lacht.

Ich surfte gestern abend zu lang bei Twitter herum, stieß auf einen Live-Video-Link, weil ich zwei Namen kannte und weil es um Pilze ging. Pilze sind meine Tomaten, wäre ich Erna. Ich landete in einem via Periscope übertragenen Zoom-Talk mit einem gemütlichen älteren Herrn, der zwei Leute interviewte, die mir ein Begriff waren: Paul Stamets und Merlin Sheldrake. Zwei schillernde Persönlichkeiten und Kenner von Pilzen, von letzterem ist eben das Buch über Pilze "Entangled Life" erschienen. Eine Schrecksekunde lang dachte ich, Stamets sei nun durchgeknallt (er ist bekannt dafür, auch den Konsum psychoaktiver Pilze gutzuheißen), denn er erschien mit Namen und Berufsbezeichnung "astromycologist". Ein scherzhafter Insiderwitz: In "Startrek: Discovery" hatte man ihm mit einem gleichnamigen Chefingenieur dieses Berufs ein Denkmal gesetzt.

Ich blieb hängen bei "Wonder & Awe", der ersten Folge eines Podcasts zur Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft. Und schaute es trotz in Europa fortgeschrittener Stunde bis fast zum Schluss.

Genau da stutze ich und denke seither über neue mediale Formen und Verflechtungen nach. Das Ding ist nämlich kein Podcast, sondern eigentlich ein Videocast. Aber man kann auch ohne Bild zuhören. Ich stolperte via Twitter hinein, es lief auf Periscope, die Technik kam von Zoom. Gleichzeitig war es live auf Youtube zu sehen und auf Facebook. Und die Konserve ist weiter im Netz. Eine Talkshow ohne Raum also, sogar im Internet dahinwandernd, Grenzen von Schrift- und Bild-/Sprachmedium in Social Media überwindend. Mal live, mal konserviert. Aufgrund der Sprache weltweit konsumierbar.

Zuschauerzahlen wie in ARD und ZDF sind damit auf Anhieb nicht zu machen. Bei Youtube gibt es knapp 6000 Aufrufe, auf Twitter waren es ca. 1500 heute Morgen. Es werden mehr kommen, die nicht wie ich nachts am Bildschirm hocken wollten. Mit weiteren Folgen wird sich das Publikum erhöhen. Es ging aber eben nicht um den neuesten Aufreger irgendeines Parteifritzen, sondern um Wissenschaft und Kunst und ... fungi. Nerdstoff würde das Tante Erna nennen.

Die Welt erscheint privat

Noch etwas war anders, als ich da reinstolperte. Dieses gemütlich-entspannte Gespräch zwischen drei Männern hatte etwas herrlich Normales, fast Häusliches. Wir kennen das von Zoom: die berühmten Regalwände oder die aufgeräumte Küche von Stamets. Zuerst wusste ich kaum, wer wer ist. Da reden einfach normale Menschen, die auch nicht sehr anders wirken, als würden wir da sitzen. Wer nicht ganz so fit ist mit Medien, fällt dann schon mal mit Denkpausen auf. Oder der Moderator braucht ein paar Schrecksekunden lang, bis er mit der Maus das richtige Feld angeklickt hat - denn er hat nicht den Technikapparat eines Fernsehsenders im Wohnzimmer.

Das war dann auch die Überraschung: Der sympathische, entspannte Moderator könnte Netflix-Fans ein Begriff sein: Louie Schwartzberg ist Filmemacher, hat "Mysteries of the Unseen World" mit National Geographic gedreht, "Wings Of Life" für Disney Nature und "Moving Art(TM)" als Serie für Netflix. Und gestern ging es eben um "Fantastic Fungi" - atemberaubende Naturaufnahmen, wie man sie so kaum gesehen hat bisher!

Im Gespräch der drei gab es nämlich immer wieder auch Bilder und Filmausschnitte. Der "Awe"-Effekt, das Staunen, waren garantiert. Es gab Kurioses aus der Kunst: Merlin Sheldrake, wie er sein eigenes Buch über Pilze von Pilzen bewachsen lässt, diese erntet, kocht und isst. Worte über Pilze, die der Buchautor selbst verdaut ... oder wie er durch ein spezielles Verfahren bestimmte Wachstumsäußerungen von Pilzen in elektrische Impulse umwandelt, die wiederum in Töne - und dazu auf dem Klavier improvisiert.

Awe! Der Wissenschaftler, der auch Kunst macht, verdreht uns völlig die Weltanschauung. Ein Mensch macht Musik mit Pilzen, richtet sich nach deren Tönen. Es sind nicht direkt deren eigenen Töne, aber über technische Umsetzungen produzieren indirekt auch die Pilze Töne für das Stück. Es kreiselt, vernetzt sich, Hyphen strecken sich aus. Was macht es mit einem, wenn man sein eigenes Buch aufessen kann, weil ein für die Wissenschaft immer noch recht geheimnisvolles Lebewesen dieses umwandelt in etwas Verdaubares? Dazu die Bilder von Myzelien im Wald, die Erkenntnis, dass wir vom Bodenleben in etwa genauso viel Ahnung haben wie vom eigenen Mikrobiom - nämlich viel zu wenig - es tut sich eine immense Welt auf an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft, die mich als Künstlerin unbedingt fasziniert. Die auch fasziniert, weil der künstlerische Umgang neue Denkansätze liefern kann für wissenschaftliche Fragestellungen. Wie gestalten wir Zukunft?

Organisch wachsende Medien?

Mich fasziniert aber auch der mediale Aspekt dessen, was da gerade weltweit entsteht. Ich bin keine Netflix-Abonnentin, stolpere aber über den Filmemacher in seinem privaten Wohnzimmer durch Twitter und sitze vor genau denselben Bildern und Tönen, die jemand bei Youtube oder auf Facebook erlebt; Bilder, die für mich live von irgendeinem anderen Ende der Welt ablaufen, mit Leuten, die auf zwei verschiedenen Kontinenten sitzen, während sie miteinander plaudern. Gleichzeitig hatte ich selbst genau das Thema Wissenschaft und Kunst kurz zuvor per Zoom privat mit Menschen bequasselt, die sich gegenseitig nicht kennen, die ich aber gern genau deshalb verbandeln möchte.

Was auch immer da gerade medial entsteht, es hat was vom Wood Wide Web, von dem wir noch viel lernen können. Plattformen könnten ihre Macht verlieren, weil sie zu austauschbaren Hotspots werden für eine Zusatzübertragung dezentraler Einheiten. Special Interest scheint einerseits Inhalte in zig Kanäle zu fragmentieren, führt aber irgendwann Menschen effektiver und enger zusammen als die Talkshow für die breite Masse, die Macher nur noch als breit anssehen, nämlich als etwas dämliche Erregungsmasse. Während sich also die einen bei Brot und Spielen einen abpolarisieren, entsteht in Wohnzimmern und Küchen ein Hauch von Zukunft. Und wir können live dabei sein, als MacherInnen oder ZuschauerInnen. Sorgen wir dafür, dass das so divers und bunt und faszinierend wird, dass es nicht irgendwann als lausiger TV-Ersatz verkommt!

Hier kann man Wonder & Awe, Folge 1 anschauen (Youtube).
Hier gibt es den "Podcast" und anderes "Pilziges" vom Filmemacher.
Hier ein Ausschnitt aus seinem Film Fantastic Fungi: Mushroom Waltz.

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