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26. August 2020

Der Pizza-Trick

Kürzlich habe ich auf Twitter mal wieder den uralten Pizza-Trick ausprobiert. Er kommt aus dem Creative Writing und ist eine einfache, aber effektive Empathieübung: "Stell dir vor, du seist eine Pizza. Erzähle fünf Minuten aus deinem Leben." Jede und jeder können da mitmachen, man muss nicht schreiben können, nur erzählen.

 

Gemüse Karotten
Empathie wird auch in Sprache abgebildet. Etwa, wenn man sagt, man sei nur noch Gemüse oder fühle sich wie ein Lauch.


Die Ergebnisse sind immer überraschend. Selbst SchriftstellerInnen haben damit auch in längeren Kursen Schwierigkeiten, glaubhaft in die Rolle zu gehen. Und dann gibt es spontane Perlen wie diese: 

 

Von solchen Ergebnissen bin ich hingerissen. Hier muss man nicht mehr lange erklären, dass jemand, der Geschichten erzählt, dank Fantasie und Empathie in jede nur mögliche Rolle schlüpfen kann: in die Kommissarin oder den Mörder, in die Fee oder die Hexe, den Alien oder den Zweibeiner. Aber eben auch in eine Pizza, einen Baum, einen Stein. Natürlich wissen wir nicht, ob und wie ein Baum oder ein Felsblock "fühlen" oder kommunizieren mögen - aber darum geht es nicht. Es gelingt uns beim Geschichtenerzählen ein kleines Wunder: Wir können sie zu gleichberechtigten ProtagonistInnen machen. Sie werden zu Lebewesen, die auf Augenhöhe mit uns interagieren. Und das macht umgekehrt etwas mit uns.

 

Da sind wir schon bei dem Punkt, den ich für mich austesten wollte. Ich habe eine Schnapsidee. Besteht überhaupt Bedarf? Lässt sich daraus ein Angebot entwickeln?

 

Ich deutete es bereits an: Ich möchte mich beruflich - neben dem Paper Art Atelier - mit neuen (alten) Schwerpunkten aufstellen, um mich unabhängiger von Dritten zu machen. Denn anders wird das in diesem Jahr durch die Pandemie nicht mehr. Jammern ist nicht mein Ding, Warten auch nicht.

 

Mir fiel mein Großonkel ein, der die Schwester meines Opas geheiratet hatte. Gemeinsam hatten sie Schreckliches überlebt: den Ersten Weltkrieg, die Spanische Grippe. Wie schlimm Letzteres als Trauma gewesen sein muss, begreife ich erst langsam in diesen Tagen. Und dann haben sie 1923 (die nächste politische Katastrophe vorahnend) ihr Kleinkind geschnappt und ganze 60 Dollar zusammengekratzt, haben alles andere, einschließlich der Familie, zurückgelassen - und sind mit diesen 60 Dollar auf dem Schiff in die USA ausgewandert, um völlig neu anzufangen. "This Crazy Little Dream", mein Sketchbook in der Brooklyn Art Library, ist eine Hommage an diesen Mut. Und der färbt gerade auf mich ab. Ich brauche ihn nötig.

 

Inzwischen habe ich ein inneres Bild für meine Geschäftsideen. Ein aufgeschlagenes dickes Buch ist zwischen den Seiten mit Erde gefüllt. In der Mitte, auf einem kleinen Erdhügelchen, keimt ein Bäumchen. Sogenannte Wandelnde Blätter, eine Art Gespenstschrecken, aus Papier und Draht gebastelt, hängen am Buch, nagen vielleicht an Papierpflanzen. Im Moment baue ich also Gespenstschrecken, um das zu fotografieren für meine Website.

 

Erst seit ich dieses innere Bild habe, kann ich meine in Wochen geschriebenen Listen, Einfälle und Gedankenverrenkungen wirklich sortieren. Mir fiel mal wieder auf, wie sehr wir Problemthemen ausschließlich über den Verstand angehen, ohne eine wirkliche Vorstellung davon zu haben, ohne uns einzufühlen.

 

Mir fiel aber auch auf, wie tröstlich und kraftgebend so ein Bild ist - und wenn es noch so verrückt inszeniert wird. Es ist eine Vision, kann Utopie sein oder ein Traum. Aber in dem Moment, in dem ich ein echtes Buch mit Erde fülle und Insekten aus Buchpapier daran herumklettern werden, wird es zu einer wirklichen Welt. Ich hole den Traum in die Realität, eigne ihn mir an, übertrage ihn in Pläne. Das Traumbild gibt mir die Kraft, gegen all diesen Wahnsinn in diesem Jahr anzukämpfen und meine Hoffnung nicht zu verlieren. Und wenn ich noch so niedergeschlagen oder kraftlos sein sollte: Auf diesem Buch keimt es, da wächst ein Lebewesen heran. Im Mittelpunkt steht die Natur.

 

Viel habe ich in den letzten Wochen gelesen. Meist Essays oder lange Artikel. Mich beschäftigt die Frage, ob es Hoffnung geben kann und geben darf in scheinbar verzweifelter Weltlage. Mein Großonkel und seine kleine Familie hatten sie - und sie haben sich einfach in die absolute Ungewissheit gestürzt, haben es gewagt. Dabei geht es gar nicht so sehr um Emigration. Heutzutage gibt es nirgends auf der Erde mehr ein "gelobtes Land", das alle Träume wahr machen könnte. Aber auch 1923 gab es das nicht wirklich, lediglich den Glauben daran. Spätestens auf Ellis Island kam der vielen abhanden, wenn sie sich einreihen mussten, um wie Vieh untersucht zu werden. Wer auch nur irgendwie krank, behindert oder psychisch beeinträchtigt war, wurde gnadenlos ins nächste Schiff gesetzt und hatte damit alles verloren: den einstigen Besitz, das letzte Geld und die Achtung zuhause. In grandiosen Bildern hat Emanuele Crialese diese Welt 2006 in seinem Film "Nuovomondo - The Golden Door" in Szene gesetzt. Für meine Familie folgte auf die Flucht harte Arbeit. Und jede Menge Erfindergeist angesichts der Weltwirtschaftskrise von 1929.

 

Ich habe viel gelesen und festgestellt, wie sehr wir wegschauen, wenn wir auch heute eigentlich die Geschichten von Angst und Unsicherheit, Mutlosigkeit und Verzweiflung erzählen sollten, angesichts einer Pandemie, angesichts von Klimawandel und Artensterben. Reihenweise kippen AktivistInnen in den Burnout.

 

Dahinter stecken m. Mn. nach zwei große Problemfelder:

  • Die Kraft- und Hoffnungslosigkeit sind ein Tabuthema und werden auch von den Betroffenen allzu oft verdrängt. Aber genau das verhindert Lösungswege.
  • Im Moment ist es wichtig, dass unsere Probleme von der Wissenschaft und vom Verstand angegangen werden müssen - alles andere wäre fatal. Aber wir vergessen dabei, dass der Mensch ein "Urviech" ist und eben auch aus Emotionen besteht, irrational handelt und neben der Übung des Verstands auch Seelennahrung braucht. Menschen, die diesbezüglich schier verhungern, driften leichter ab.

 

Nun bin ich weder Psychotherapeutin noch Weltenretterin - und will das auch gar nicht sein. Ich denke aber, es ist höchste Zeit, endlich konstruktiv an Visionen und konkreten neuen Lösungen zu arbeiten. Wir können zum zehnten Mal knallharte Statistiken über Erderwärmung herunterbeten und uns auf Zerstörung konzentrieren - oder wir können Menschen mit konkret gangbaren Schritten berühren, mitreißen, auf neue Wege locken. Beides hat seinen Sinn, aber ersteres reicht mir nicht mehr.

 

Und seit ich mein inneres Bild habe, weiß ich, wie wunderbar sich all das verbinden lässt, was ich scheinbar chaotisch nebeneinander mache: Das Atelier, die Workshops zu Art Journals, die nichts anders sind als Bildarbeit und Arbeit an inneren Bildern ... und diese Fehlstelle. Die ich seit Monaten fühle, umkreise. Aber nicht so recht weiß, was damit anfangen. Bis mir einfiel, dass ich mein Leben lang nichts anderes gearbeitet habe als Schreiben und Erzählen.

 

Soviel kann ich verraten: Ich möchte auch diesbezüglich Workshops geben, vielleicht sogar eines Tages ein Talkformat schaffen. Aber eben nicht unterrichten, wie man ein Buch schreibt oder einen Verlag findet. Davon gibt es genug.

 

Ich möchte ein Konzept entwickeln, wie man Empathie üben kann und das, was beim Geschichtenerzählen ebenfalls eminent wichtig ist: Perspektivwechsel. Wie kann ich eine Sprache entwickeln, die nicht über Bäume und Lebewesen spricht oder von oben herab über sie verhandelt? Lassen sich nichtmenschliche Lebewesen zu eigenständigen ProtagonistInnen machen, die einfach einmal umgekehrt uns lehren, uns Fragen stellen, von uns etwas fordern? Was würde ein Text mit uns machen, in dem Bäume wertgeschätzt mit uns interagieren und wir zu Zuhörenden werden?

 

Warum haben Science-Fiction-AutorInnen manchmal verblüffendere Lösungen als betroffene Behörden? Können wir Storytelling so betreiben, dass wir damit andere nähren, berühren, faszinieren? Wie stiftet man dazu an, einen Traum ins Reale zu bringen: mit einer Statistik, einem knöchern-trockenen Pressetext oder einem Bild in Worten? Können wir lernen, uns als Menschen zurückzunehmen und die mehr als nur menschliche Natur in den Mittelpunkt zu stellen? Wie bringen wir solche Traumbilder ins Leben, in Texte?

 

All das geht natürlich über kreative Schöpfung und kreatives Schreiben. Nicht, weil man jetzt endlich auch mal SchriftstellerIn werden will. Sondern einfach, um zuerst einmal für sich selbst umzusetzen, einen Lösungsweg zu sehen - und wenn es ein noch so kleiner Pfad sein mag. Kunst ist die Fähigkeit, anders sehen zu können. Mit eigenen Lösungen kann man andere viel leichter anstecken als mit Verboten oder Mahnungen. Dieses "andere Sehen" kann uns stärken, vielleicht auch für all die Kämpfe, die wir für unsere Zukunft brauchen werden. Oder um einfach mal durchzuschnaufen. Und es lässt sich natürlich auch gezielt beruflich anwenden beim Schreiben.

 

Es geht voran. Oder wie jemand mal zu mir sagte: "Mach einfach das, was du am besten kannst!" Manchmal ist man nur elend betriebsblind ... bis fruchtbare Erde auf ein Buch fällt.


2 Kommentare:

  1. Danke für DIESEN starken Text! Ja, die Gefühle und Ängste sind zu oft bei solchen Überlegungen ausgeblendet. Dabei sind doch gerade sie eine starke Triebfeder.
    Dieser Perspektivenwechsel und die schreibtechnische Empathie sind wahrhaftig eine gewaltige Herausforderung. Dabei sind sie die Grundlage für eine mehrdimensionale Sichtweise. De facto habe ich so etwas bislang fast nur in der SF gelesen. Ein besonders starkes Beispiel ist "Arrival" - ein Erstkontaktszenario. Dabei verhindern WissenschaftlerInnen in der direkten Begegnung mit Aliens einen globalen Krieg, weil sie es schaffen, einen Kontakt mit diesen Lebensformen herzustellen, die in grundsätzlich fremder Zeitdimension denken und kommunizieren.
    Das härtestes Stück Arbeit ist dann allerdings, die Militärs vom Erstschlag abzuhalten.
    Beim Nature-Writing ist es dann ja auch ein naturphilosophischer Ansatz, welche Denkkapazität und welche Denkstrukturen wir einem fremdem Organismus (z. B. einem Kraken oder einer Seefeder) zugestehen.
    Spannende Fragen!

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  2. Danke für dein Feedback, Bettina und den Filmtipp vor allem!
    Ich kam eigentlich dezidiert auf die Idee, weil ich in der Dreisprachigkeit merke, dass sich manche Sprachen mehr abmühen (wenn im Englischen Tiere zu he or she werden statt it) oder Übersetzungen dämlich klingen (sperrige more-than-human species klingen als mehr-als-menschliche Arten arg übermenschlich).

    Dann kamen zwei Aha-Erlebnisse hinzu:

    1. Ich kämpfe SEHR mit David Abrams Buch aus den 1990ern "The Spell Of The Sensuous", weil er alles an mündlicher Überlieferungskultur nur auf Indigene bezieht und völlig ausklammert, dass wir das auch in Europa haben, von den Kelten bis zu den Sammlungen der Gebrüder Grimm. Und wenn ich mit einem Buch kämpfe, komme ich auf Ideen ...

    2. Ich habe mir einen amerikanischen Creative-Writing-Kurs für Nature Writing für LaiInnen angeschaut. Da gab es Übungen, die mir zuerst komplett idiotisch vorkamen. Dann hab ich sie mitgemacht und plötzlich gemerkt: Wow, das funktioniert ja. Ein völlig anderer Ansatz, ans Schreiben an sich heranzugehen wie bei uns - und zudem interessant, weil es uns in Pandemiezeiten Körperlichkeit und Fühlen zulässt. Ab da tickerte es in mir, weil ich ja überlege, wie ich in virtuellen Workshops (nur Sehen und Hören) die Barriere in die Welt aller Sinneswahrnehmungen schaffe.

    Da fielen mir dann meine eigenen Übungen ein, die ich mir vor dem Elsassbuch als Eigentraining ausgedacht hatte, wo das Briefing war, dass ich alle Sinne ansprechen sollte ...
    Seither tickt es schwer im Kopf und die Anregungen via Twitter zum Thema Object Oriented Ontology lassen es weiter ticken ...
    Drum danke, dass du deinen Kommentar auch hier bringst, so haben auch die Leute was davon, die nicht bei Twitter sind!

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