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10. Juli 2020

Die Tardis als Vorbild?

Anybody out there? Auch auf die Gefahr hin, nur noch für mich selbst zu bloggen (hahaha), werde ich das fleißig weiter tun. Ich muss schließlich Gedanken in Form quasseln, denn ich arbeite derzeit verschärft an einer Raum-Zeit-Blase! Manchmal fehlt mir ein Schallschraubenzieher, aber gewisse Schrauben lassen sich bekanntlich allein mit Gedankenkraft drehen. Kreise schließen sich zu Öffnungen in neue Räume, virtuelle Schalldämpfer werden mit Popfarben bemalt. - Dreht sie jetzt völlig am Rad?



Nicht ganz, denn ein altmodisches Rad würde mir im Moment nicht helfen. Ich beschäftige mich mit der wichtigsten Eigenschaft der Tardis: Sie ist von innen größer als von außen (der Beweis).

Ich sitze also in meinem winzigen, vollgestopften Atelier aka Zimmer mit Regalen und dehne die Bude vorsichtig aus. Rein physikalisch (???) sperre ich mich mit mir selbst ganz allein in einen Konferenzraum bei Zoom, auf Zoom, in Zoom ... verteufelt nochmal, wo auch immer ich mich da manifestieren mag, es kommt der kindlichen Vorstellung einer Raum-Zeit-Blase recht nah. Und solange ich mir selbst tief in die Augen blicke und nicht blinzle ... aber das ist wieder eine andere Geschichte. Kurzum: In einer drögen Chronologie des seltsamen Science-Fiction-Jahrs 2020 würde sich das so lesen: "Madame plante einen virtuellen Workshop, der von innen größer als von außen werden sollte."

Erinnert sich noch jemand an die altmodische Debatte, dass E-Books womöglich das Hirn anfressen könnten und ein Reader so gar keine Haptik oder Gerüche absondern könnte? Damals waren Readerhüllen aus penetrant nach billigen Druckfarben stinkendem Zeitungspapier noch nicht erfunden und Menschen mussten als Ersatz in China hergestellte Papierbücher sniffen. Und so ähnlich ist das jetzt: Online-Konferenzen, Bildtelefon-Talks und Webinare mit Menschen in kleinen Kästchen auf großen Bildschirmen werden schlecht gemacht, weil ihnen der gewisse Touch fehle. Als könnten wir uns physisch einfach so antatschen in diesem Jahr! Als könnten wir unserem Chef einfach mal so in der Unterhose unterm Jacket die Meinung geigen, während der Ton abgedreht ist!

Eben erst wieder gelesen: Das Internet biete keine "erlebnisbetonten" Lernsituationen, ein Zoom-Meeting sei "raumlos" ohne die Atmossphäre realer Plätze. Man könne damit weder die Stammkneipe ersetzen noch den Kinoabend mit all seinen Gerüchen und Geräuschen. Man interagiere mit Bildchen, mit Avataren, statt unter Menschen zu sein. Kein oder kaum Gemeinschaftsgefühl. Alles beliebig und austauschbar und immer gleich. Eben nicht "echt".

Ja, das kann so sein und allzu oft ist es auch so. Schlicht, weil ein neues Medium noch nicht wirklich genutzt wird in seinen ureigenen Eigenschaften. Es ist wie mit dem E-Book in den Anfangszeiten (ich schrieb 2012 orakelnd ein Essay zur Zukunft des Buchs): Man konvertiert hastig ein Format für ein anderes Medium 1:1 und wundert sich ... bis irgendwann Jahre später das Verständnis einsetzt, dass man mit dem neuen Medium ganz andere Dinge anstellen kann, wenn man nur direkt von ihm aus denkt. Und wenn man sich endlich einmal eingestehen würde, dass Homo sapiens immer verdammt "echt" ist. Ob er auf der Erde schwitzend und stinkend herumkreucht, in Kostüm oder Anzug hinterm Schalter steht oder in der Unterhose bei Zoom einen auf schick macht. Selbst das gemeinsame vereinzelte Besaufen bei Zoom-Parties fördert einen veritablen Kater zutage.

Anders formuliert: Wenn "alle" etwas in eine bestimmte Richtung zu beschreiben scheinen, setzt bei mir der Trotz ein. Mich ödet der drölfzigste Beitrag an, in dem darüber schwadroniert wird, warum virtuell schlechter sei als physisch und Tante Erna auf dem Bildschirm unechter als am Kaffeetisch. Diese Diskussion führten wir bereits Ende der 1990er, als Tante Erna noch mit dem Avatar von Spock in einer Mailingliste so tat, als sei sie Konditor. Hand aufs Herz: Wie oft haben wir uns gewünscht, Tante Erna erschiene nicht jeden Sonntag am Kaffeetisch. Aber kaum schwatzt sie uns die Kopfhörer tot, haben wir es wieder: dieses altbekannte Tante-Erna-Feeling von der Frau, die keine Minute Pause macht beim Tratschen. Ist sie nun echt oder ist sie echt?

Trotzig richte ich den Schallschraubenzieher auf ihr Konterfei und frage mich: Wie kann ich dieses Hologramm in der Raum-Zeit-Blase von 2020 so echt gestalten, dass ich mich gar nicht mehr wundere, wenn der Kuchenvorrat während der Bildschirmkonferenz abnimmt?

Natürlich fehlen mir Orte. Natürlich fehlt mir Leben. Mir fehlen Berührungen unter vielen Menschen. Nur Jammern nützt ja nichts, so schnell wird das "Normal" nicht kommen, wie wir tun. Vor allem wird es angesichts der Gefahr einer zweiten Welle ausgerechnet in der schlechteren Jahreszeit zerbrechlich bleiben. Tun wir nicht so, als könnten alle KünstlerInnen und Kulturschaffenden ganz genauso wie früher, nur weil irgendwas wieder aufmacht! Es ist ja oft nicht mal Geld da, sie zu bezahlen - an so vielen Stellen werden Honorare gedrückt. Virtualität ist für unsereins ein Stück Überlebenschance, oft die letzte Hoffnung.

Und Virtualität kann so intensiv sein! Ich lerne gern Menschen via Zoom kennen und erlebe tolle Überraschungen. Bedauerlich ist allenfalls die Entfernung, weil man sich natürlich am liebsten real zum Kaffee verabreden würde. Und das manchmal auch macht ... irgendwann, wenn der Planet Erde nicht mehr nach Dr Who schreit.

Was kann ich jetzt anders machen? Wie kann ich vor laufender Webcam "echt" sein? Lässt sich etwas gestalten, von dem die Leute danach nicht finden, es sei so beliebig, austauschbar und ohne Leben, ohne Atmosphäre gewesen?

Kamera ist Bühne. Gelingt es uns, die Maske herunterzuziehen?


Ich will jetzt nicht prahlen, ich hätte eine Lösung - an der arbeite ich noch angestrengt. Ich weiß nur eins: Wir müssen weniger labern und mehr inszenieren. Kamera ist Film ist Bühne! Wir müssen viel mehr zuhören statt reden oder lehren. Es ist unendlich viel schwieriger, virtuell unter einer Gruppe Fremder das Eis zu brechen, ein Wir-Gefühl zu schaffen, Gruppendynamik zu steuern. Wir fühlen uns herausgefallen aus Zeit und Raum? Liegt das daran, dass alle gleichermaßen vor Bücherregalen oder auf dem Sofa bei grauenhafter Deckenbemalung quasseln? Oder schauen wir einfach nur nicht genau hin? Auf die filigrane Kitschvase neben den Büchern, die so gar nicht zur intellektuellen Powerfrau passen will. Auf den zerknuddelten Stoffhasen, der neben dem toughen Manager auf dem Teppich liegt. Sehen wir nicht, wie manche Menschen sich zuhause einen herrlichen Miniatururwald schaffen, schmerzhaft in Legosteine tappen oder unterm Tisch heimlich Bier trinken? Da ist so viel Leben da draußen, Individualität! Und das alles ist echt, denn es findet live vor unseren Augen statt, physisch.

Wir haben jetzt ein Medium, das auch Mimik und Gestik in Echtzeit zeigt - das ist Welten besser als all das Getippe in Social Media, die gestellten Selfies auf Instagram oder Videos aus der Konserve. Machen wir was draus!

Vor allem haben wir das, was im "echten Leben" ständig vorkommt und beim Influencervideo auf Youtube so sehr fehlt, dass alles künstlich wirkt: Fehler. Nicht mehr weiter zu wissen. Pannen. Sich selbst zurückzunehmen. Oder einfach mal das Gegenüber zu fragen: Sag mal, wie würdest du das jetzt lösen, ich steh gerade völlig auf dem Schlauch. Manche studieren Anleitungen fürs perfekte Meeting mit dem perfekten Lächeln und merken nicht, dass sie vor der Kamera in eine Rolle hinein gefrieren und Perfektion das Feeling von "echtem Leben" killt. Übrigens auch im "Kohlenstoffleben" da draußen.

Abgeben können. Dafür suche ich Lösungen. Im Workshop vor Ort würden wir Materialien tauschen, zwei würden zu lange miteinander tuscheln, irgendwer hätte komplizierte Fragen. Der Materialtausch würde die TeilnehmerInnen herausfordern. Wie lässt sich so etwas virtuell erzeugen? Ich habe in einem Zoom-Seminar für kreatives Schreiben mitbekommen, dass die TeilnehmerInnen nicht nur freudig über sich selbst hinauswuchsen - es fanden sich auch virtuell Bekanntschaften. Zum Schluss musste die Leiterin eine völlig neue Rolle ausfüllen: Leute verbandeln, Kontakte ermöglichen. Die werden sich weiter virtuell und privat treffen, aber auch im echten Leben. Und sie hätten sich im echten Leben und vor Ort so nie kennengelernt. Virtuell kann so schlecht nicht sein, wenn es mit Herz und Hirn gemacht wird.

Nicht jammern, sondern ermöglichen. Das ist unwahrscheinlich aufwändig. Verlangt eine völlig andere Herangehensweise. Vor allem, das merke ich, muss ich mich thematisch viel mehr beschränken, dafür Zeit lassen: für die Menschen, ihre Ideen und Gedanken. Und ich gebe zu, ich bediene mich eines Tricks: Kulturen, die Rituale machen, bewegen sich darin jenseits von Zeit und Raum. Aber Rituale können mich auch in einem imaginären Raum verankern, mit einem echten verbinden. Das ist dieser Tardis-Trick, den ich noch untersuche: Mit ein wenig Woooosch-wooooosch einfach plötzlich wie ein Holzkasten fest auf dem Boden stehen. Dematerialisieren - materialisieren. Fröhlich herumbeamen. Ob wir das schaffen werden? Wenn sich die Raum-Zeit-Blase wie nichts anfühlt, wie kann ich sie sinnlich begreifbar machen? Moment ... da braucht es dann doch den Schall... wo zum Teufel ist mein Schallschraubenzieher schon wieder abgeblieben!?

4 Kommentare:

  1. Ich musste sofort auch an die Zeit der Erfindung des Telefons denken. Da gab es auch Aufruhr. Heute beschwören die das „Echte“ eines Telefonats, die sie Zoom et al. absprechen. Manchmal denke ich, es braucht nicht nur ein Verständnis für Technikgeschichte, sondern insbesondere ein Talent für Gemeinschaft.

    Im Digitalen können sich Menschen unangenehmen Situationen viel leichter entziehen, als wenn man von jemandem live und in Farbe zugedröhnt wird. Passt den Dröhnlingen eher nicht so. Ich erlebe das Digitale ja genau deshalb als sozialen Raum, WEIL ich jederzeit die Wahl habe.

    Ich finde, dass das Digitale viel stärker die direkte Begegnung zulassen kann. Klar, das hat Vor- und Nachteile. Aber wenn ich an viele Tagungen und Konferenzen denke, in denen Twitter keine Rolle spielt: Da sprechen dann die miteinander, die immer miteinander sprechen. Andere bleiben außen vor. Im Digitalen ist mehr Luft und Möglichkeit für Nähe.

    Ich habe in den letzten Wochen und Monaten sehr beglückende Videokonferenzen erlebt, in denen man einfach beisammensaß und die Gemeinschaft genoss. Bei manchen kamen tolle Ergebnisse raus. Begegnung zulassen. Luft geben. That's it.

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  2. Du sprichst mir aus dem Herzen, Wibke (und ich freu mich, dass du deinen Kommentar von Twitter auch hier gebracht hast!).

    Das ist genau das, was mir auch gefällt: Die Platzhirsche haben nicht mehr allein das Sagen, man kann auch die Leisen fördern. Oder mit den Räumen bei Zoom Rückzug / Arbeitsintensität bieten.

    Mir fällt auch auf, dass diese Online-Veranstaltungen durch die Nähe und Direktheit immens intensiv sind. Ich kenne einen, der sagt, nach einer solchen Konferenz könne man ihn auswringen, so anstrengend sei das auch. Im positiven Sinn.

    Ich probiere - wie du das ja auch machst - gern neue Möglichkeiten aus. Ich träume auch seit meiner Kindheit und Raumschiff Enterprise von einer interplanetarischen Quatschmaschine, die gleichzeitig in alle Sprachen übersetzt. :-)

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  3. Du bloggst nicht nur für dich selbst, ich lese noch eifrig mit, ich kommentiere nur nicht immer. Aber dieses Jahr war es zumindest bei mir so, dass die Monate von April bis Juni eine schlechte Zeit in Sachen Blog waren (und eine noch viel schlechtere, was Buchverkäufe angeht). Das Interesse der Leute war wohl in der Hochphase der Krise einfach stärker auf andere Dinge gerichtet. Jetzt geht es zumindest im Blog wieder etwas aufwärts.

    Was die Ablehnung von Zoom und anderen Formen des digitalen Austausches angeht, kann ich mir vorstellen, dass neben einer generellen Skepsis Neuerungen gegenüber (wie du sie ja am E-Book-Beispiel beschreibst) in diesem Fall für viele Menschen auch noch hinzukommt, dass sie gezwungen sind, diese Techniken auf einmal zu nutzen, so dass es für sie weniger ein freudiges Ausprobieren als ein zähneknirschendes Abfinden mit den Gegebenheiten ist. Da sucht man dann vielleicht umso mehr das Haar in der Suppe.

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    1. Hochinteressant, was du schreibst, liebe Maike!
      Einmal, weil ich mich wirklich gewundert habe, wie sehr dieses Blog von den Besucherzahlen her in die Knie ging, so dass ich ernsthaft aufhören wollte! So langsam fängt es sich wieder. Ich denke wirklich, es hat mit Überforderung zu tun und auch damit, dass wir so viele Echtlebenkontakte online halten.

      Ich sah das an mir: Während der Totalisolation in Frankreich war ich komplett unfähig, in Büchern zu lesen. Ich hatte Schlaf- und Konzentrationsstörungen wie viele andere und danach muss man das Trauma erst wieder verarbeiten ...

      Die Idee mit dem Zähneknirschen hat was! Meine unkennlich gemachten Zitate stammen ausgerechnet aus der Kultur- und Medienbranche, von der ich dachte, sie sei medial besonders bunt aufgestellt. Aber du hast recht: Anstatt sich Fachmenschen fürs Digitale ins Boot zu holen, mussten die MitarbeiterInnen oft schlicht im Homeoffice zusätzlich diese Aufgaben übernehmen - während die Kinder herumwuselten und Homeschooling war. Ich hoffe, hier entspannt sich die Lage bald mehr und die Verantwortlichen und LeiterInnen geben dann einfach mal zu: Wir wollen keine Fachleute extra bezahlen. Darum mögen wir das nicht. ;-)

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