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28. Mai 2020

Sucht euch einen Zauberstab!

Es ist so weit: Ich stehe in den Startlöchern, um das nackte Überleben in Ausnahmezeiten anzukurbeln. Ausgerechnet jetzt einen neuen Job / Aufträge zu finden - da sieht es leider schlecht aus. Die Unternehmen machen Kurzarbeit, Gelder für Externe werden zusammengestrichen, Projektvergaben auf 2021 verschoben (ist mir eben passiert). Ich suche weiter, besinne ich mich aber aufs "Alte", die brotlose Kunst (hahaha). Eben erst ist auch unser wichtiger Kunstmarkt im August abgesagt worden, die Wiedereröffnung des Museums steht wegen seiner besonderen Situation (enge Räume etc.) in den Sternen, ich muss also verschärft digital ran!

Äste für das Träumebuch: Die hellen geschälten Äste stammen von Linden aus Sturmabwurf. Ganz links der dicke Ast fand sich in einem Fichtenkahlschlag - für ein Buch ist er zu dick. Der helle gedrehte Ast rechts oben ist ein Stück verholzter Liane von wildem Geißblatt im Wald. Die gewundenen schräg liegenden Äste links duften - es sind Reste eines abgestorbenen Lavendelbuschs. Auch die liegenden geraden und dunklen Äste duften stark - sie kommen vom Verschnitt unseres Museumslorbeers.


Anfang Juni öffnet mein Etsy-Shop wieder, denn dann ist die Post in Frankreich wieder voll da. Es wird - der Ausnahmesituation geschuldet - nur mit Tracking und nur zweimal die Woche versandt. Denn für mich ist es Belastung und Risiko zugleich, zur Post zu fahren, das Schlangestehen kostet auch sehr viel mehr Zeit als früher. Wir haben es hier im Elsass nicht so locker wie in Deutschland vielerorts. Ich denke, jeder vernünftige Mensch wird das akzeptieren können. Maßanfertigungen / Wunschschmuck kann man weiterhin direkt bei mir bestellen und Kleinigkeiten werden ich auch in Social Media direkt anbieten.

Meine digitalen Workshops hibbeln in den Startlöchern, es fehlt nur noch ein wenig Hardware (etwas tricky, weil vieles ausverkauft) und die Handreichungen wollen vorbereitet werden. Es geht um Art Journaling und ganz speziell wollen wir miteinander ein "Träumebuch" oder "Escape Book" anfertigen. Ich bereite auch gerade kleine Wundertüten mit Materialien vor, die man dazu kaufen kann - da ist z.B. pflanzenbedrucktes Papier drin, das ich selbst herstelle, aber auch Holz wie oben auf dem Foto. Per Newsletter erfahrt ihr, wann und wie es genau losgeht!

Die Teilnahme geschieht auf mehreren Ebenen: Es gibt Dateiunterlagen mit Fotos, mithilfe derer ihr vorab erfahren könnt, was ihr braucht und wie manches funktioniert, auch kleine Anleitungen werden hier festgehalten. Die gibt es wahrscheinlich als pdf per Mail - samt Aufgaben. Daneben verschalten wir uns dann zu festen Terminen live auf Zoom und haben damit die Möglichkeit der Videokonferenz inklusive Chat. Ich kann euch etwas erzählen und ihr habt die Möglichkeit, direkt Fragen zu stellen oder eure Sachen zu zeigen. Und wie im echten Leben gibt es Nachfolgeworkshops, wenn ihr mal zeitlich nicht teilnehmen konntet oder es schon ausgebucht war.

Wenn ihr Zoom eh auf dem Computer habt, ist es gut. Ihr müsst es aber nicht herunterladen, um einem Webinar zu folgen - das läuft auch über den Browser. Teilnehmer bekommen einen Link mit vertraulicher ID und Passwort und müssen dann nur pünktlich einloggen. Aber das alles werde ich auf meiner Website erklären.

Und weil dieser Weg auch für mich komplett neu ist, werde ich euch als "Versucherle" eine kleine Einführung vorab kostenlos anbieten. Die Webinare zu den Art Journals sind selbstverständlich kostenpflichtig.
In dieser Einführung zeige ich euch, warum wir den Buchrücken aus einem Holzstab basteln und erzähle, was es mit diesem Symbol auf sich hat. Ihr erfahrt Interessantes aus alten Mythen und von Weltenbäumen und schmückt euren ganz eigenen Stab nach Lust und Laune. Ich liefere euch Anregungen und zeige euch Techniken dafür. Und wer kein Träumebuch herstellen möchte oder nachher nicht am Webinar teilnimmt, kann diesen Stab auch einzeln als "Träumestab" verwenden ... oder vielleicht taugt er ja sogar zum Zaubern?

Ihr könnt hierfür sogar schon mal loslegen, sprich, das Material beschaffen!

Wichtig: Wir reißen dafür keine Äste von lebenden Bäumen ab, sondern achten die Natur und unsere Mitwesen. Irgendein Baum wird uns das "Rückgrat" für unser Buch schenken - wir finden genügend tote oder längst abgebrochene Äste auf dem Boden! Oder ihr habt Reste von der Gartenarbeit. Dadurch, dass sie Wind und Wetter ausgesetzt sind, haben sie meist einen sehr eigenen Charakter. Einer davon wird sich in eure Hand schmiegen und die richtige Größe haben - und wir können uns beim Baum bedanken.

1. Unsere Träumebücher werden ein Hochformat von ca. 16 x 12 cm haben. (Als AnfängerInnen beginnen wir mit dem sehr viel stabileren Hochformat, Querformat ist aber auch denkbar!). Je gerader die Äste, desto einfacher die Montage. Je trockener der Ast, desto besser - grünes Holz wird immer nacharbeiten.

2. Maße des Astes: Länge: ca. 20 - 22 cm, Umfang ca. 28 mm (= Radius 7 mm) bis 40 mm (= Radius 13 mm).

Der Ast fürs "Rückgrat" muss länger sein als das Buch hoch ist, also mehr als 16 cm messen. 20 - 22 cm sind ideal - lieber später nochmals einkürzen als zu früh!
Für die Dicke bleibt bei einem Umfang von mindestens 28 mm bis ca. 40 mm, je dünner der Ast, desto stabiler sollte das Holz sein! Wir wollen ja nicht, dass der Buchrücken irgendwann bricht. Zu dicke Äste wirken klobig. Einfach ein wenig herumprobieren.
Warum Umfang?
Weil ihr das in der Natur einfacher messen könnt, für den Radius bräuchtet ihr nämlich eine Schieblehre oder ein Zentimetermaß und geübte Augen. Stattdessen nehmt euch einen dicken Faden oder eine sehr dünne Schnur, die nicht dehnbar sind. Macht einen Knoten für den Anfang. Einen zweiten Knoten für unser Mindestmaß bei 28 mm und einen dritten Knoten für ein Höchstmaß, z.B. 40 mm. In der Natur legt ihr die Schnur einfach so um den Ast, dass der erste Knoten zum Anfangspunkt wird. Der Ast sollte dann so dick sein, dass die um ihn gelegte Schnur irgendwo zwischen den beiden letzten Knoten schließt - so ist er perfekt. Besonders schöne Äste dürfen aber gern mal aus den Angaben ausbrechen, das ist keine Norm, nur ein Anhaltspunkt! Und wenn ihr einen richtig großen Ast ins Herz geschlossen habt, bastelt daraus eben einen Zauberstab ohne Buch.

3. Die Bearbeitung:
Entrindet halten die Äste länger. Denn Rinde als weiches organisches Material kann sich nicht nur mit der Zeit zersetzen oder bröseln, sie zieht auch Insekten an, die sie auffressen. Das bedeutet aber nicht, dass die Buchrücken nicht auch Rinde haben können! Damit sie länger hält, schrubbt sie frei von Moosen oder Flechten und achtet darauf, dass der Ast keine Bohrlöcher von Insekten hat. Man kann ihn auch eine Woche lang in die Kühltruhe legen und dann bei Zimmertemperatur langsam wieder auftauen - das schützt aber nicht vor späterem Befall.
Aber wir arbeiten ja bewusst mit Naturmaterialien. Und unsere Träumebücher sind so gestaltet, dass sich die Äste sehr leicht austauschen lassen, falls einmal einer kaputtgehen sollte.
Manchmal lässt sich die Rinde ganz leicht mit den Fingernägeln abziehen. Wenn ihr das Taschen- oder Schnitzmesser verwendet: Immer vom Körper weg schneiden! Und nicht das Bein als Unterlage verwenden ...

Für unser kostenloses Probierwebinar könnt ihr dann auch mehrere Äste zurechtlegen und euch spontan entscheiden. Es wird beim Fertigen der Träumebücher überhaupt um Spontaneität und um Chaos gehen. Wir wollen nicht Materialien unseren Willen aufzwingen, sondern lernen, auf sie zu hören, ihnen nachzuspüren, was man mit ihnen anfangen könnte. Der Reiz des Art Journaling, wie ich es praktiziere, liegt darin, auf Fehler, Unperfektes und Zufälle zu reagieren, so dass Schönheit entsteht. Wir wollen uns überraschen lassen. Und genau deshalb ist das für absolute AnfängerInnen geeignet! Ihr müsst eigentlich nur schon mal in eurem Leben Papier mit Leim geklebt haben oder einen Draht gebogen, Papier mit einer Schere geschnitten haben. Und was auch nicht übel ist: Wenn ihr schon einmal Faden in eine Nadel gefädelt habt und völlig ungelenke, einfachste Stiche machen könnt. Ihr müsst jedoch weder perfekt nähen noch sticken können.

Wer sich interessiert: Dranbleiben mit meinem Newsletter! Und ich freue mich natürlich über Zulauf (auch wenn die TeilnehmerInnenzahl pro Workshop natürlich begrenzt ist, denn ich will mich wie im echten Workshop um jeden von euch kümmern können). Ansonsten bin ich darauf angewiesen, mein Leben durch den Direktverkauf meiner Kunst und Spenden im Blog (rechts im Menu) zu finanzieren - denn es sieht nicht so aus, als ob in diesem Jahr physisch vor Ort noch nennenswert etwas möglich sein wird. Das ist schade - denn die Arbeit an Art Journals live hat viel mit Berühren und Tauschen zu tun. Das digital umzusetzen, wird nicht einfach sein, aber wer weiß, welche Formen wir dafür finden.
Hauptsache, wir alle bleiben gesund!

20. Mai 2020

Das Gift, das heilt

Im Moment lese ich gefühlt Tonnen von Stoff für ein Essay, an dem ich schreibe. Da ist alles dabei von trocken-drögen Texten über Linguistik über hochinteressante wissenschaftliche Studien bis hin zu Mythen oder sehr subjektiven Erlebnisberichten. In dieser Zeit des wilden "Textsurfens", wenn ich mich vorsätzlich mit schrägsten und abseitigsten Texten konfrontiere, kommt irgendwann der Zauberpunkt, wo genau die richtigen Texte zu mir finden. Ich nenne das den "Badewanneneffekt", der übrigens als solcher gleichermaßen Kreativität beflügeln kann - oder auch Verschwörungstheorien. Manchmal auch Kerle wie Mr Pender (s. Link), denn in diesem Effekt steckt auch das Geheimnis von Suspense.

Sprache manipuliert unser Erleben. Die Emotionen verändern sich, je nachdem, ob wir von süßen Kirschtomaten oder von Killertomaten reden. Die Tomate selbst kann nichts dafür ... es ist unsere Haltung ihr gegenüber, die sich ändert.

Ein solcher Text mit Aha-Effekt flatterte mir via Twitter vor die Nase, es ist das Transkript einer Podiumsdiskussion beim Center for Humans And Nature mit dem Titel "Empathy and Entanglement". Auch für viele von euch sehr lesenswert (long read). Es geht darum, wahrzunehmen, wie all unsere Krisen miteinander verbunden sind: Klimakrise, Artensterben, zunehmende Armut und wirtschaftliche Ungerechtigkeit, die Pandemie. Daraus resultieren immer häufigere Gefühle von Verlust und Trauer, mit denen wir umgehen lernen müssen. Die Diskutierenden kommen aus unterschiedlichen Bereichen und suchen nach Wegen aus dem Dilemma, nach Wegen der Rückbindung an die Natur. Eine von ihnen Trebbe Johnson, fiel mir auf, weil sie eine Menge zu "meinem" Thema zu sagen hat: unseren Umgang mit verwundeten Plätzen.

Trebbe Johnson ist Autorin, Multimedia-Produzentin und Wildnis-Guide, spezialisiert auf Visionssuchen. Gleichlautend mit einem ihrer Buchtitel gründete sie die internationale Bewegung "Radical Joy For Hard Times", wo Menschen sich verwundeten Orten annähern und wieder in Beziehung treten mit Natur.

Die Idee ist verblüffend einfach, in den USA kommt sie aus dem indigenen Denken, aber ähnliche Rituale hatten wir in Europa auch noch lange, wenn etwa Menschen den Hausbaum grüßten oder sich beim Tier für die Nahrung bedankten. Und doch ist sie radikal konträr zu unserem heutigen Gehabe als vermeintliche "Krone der Schöpfung", die einfach nur nimmt, ausbeutet. Die dann aber auch hilflos und verzweifelt vor den durch Menschen zugefügten Wunden in der Natur steht, diesen natürlichen Raum negativ belegt, fürchtet, meidet, ausklammert - und womöglich schnell vergisst. Lassen sich Trauer und Schönheit gleichzeitig aushalten?

Es geht in ihren Texten darum, eine Haltung des Gebens einzunehmen. Sich nicht mehr einfach wohlfeil zu bedienen, sondern der Natur auch etwas zurückzugeben. Das kann Aktivismus sein. Man kann Straßenbäume vor der Abholzung retten oder Geld fürs Bäumepflanzen sammeln. So viele Möglichkeiten. Die meisten davon aber bringen uns nur noch virtuell in Kontakt mit den Orten. Gäbe es eine Möglichkeit, sich selbst wieder mit Landschaften zu verbinden und ganz ganz klein anzufangen mit dem Geben? So dass auch Menschen teilnehmen könnten, die sonst kaum etwas für Umweltschutz übrig haben?

Die Menschen, die bei "Radical Joy" weltweit mitmachen, hinterlassen einem verwundeten Ort ein kleines Geschenk (Anleitung mit Download eines kostenlosen Führers). Sie beschreibt es sehr eindrücklich in der eingangs erwähnten Podiumsdiskussion, wie sich das Verhältnis der Schenkenden zu einem Ort verändert, wie man das, was man nicht anschauen wollte oder konnte, bewusster wahrnimmt. Und was das alles mit eigenen Verwundungen und Trauer zu tun haben kann, verdeutlichen die Geschichten der Menschen. Es klingt einfacher als es ist: Um einen Ort zu retten oder zu heilen, müssen wir als Menschen auch uns selbst von vielem heilen, das uns im Wege steht.

Wem das zu esoterisch klingt: Es geht eigentlich um Land Art, denn jenes Geschenk ist ein kreatives Konstrukt aus Naturmaterialien. Es geht aber um weit mehr als um ein Kunstwerk, denn es ist nicht dazu da, auf einer Ausstellung zu landen. Und es gibt auch nicht nur den einen Künstler, die eine Künstlerin. Zuerst einmal wirkt hier die Natur kreativ, indem sie die Materialien spendet, wir interagieren durch unsere Reaktionen, Ideen - und vor allem Emotionen. Denn es geht ja darum, dieses Geschenk einem Ort zu schenken, den wir als negativ erleben: einer Mülldeponie, einem vergifteten Feld, einem Berghang mit Kahlschlag. Es geht um all die negativen Emotionen und um die Wahrnehmung, wieviel Natur da noch ist, was an diesem Platz übrig blieb, was sich entwickelt - und im Weiterdenken: Was mit unserer Hilfe werden könnte. So leben etwa auf Mülldeponien viele Tiere. Menschlein nähern sich einmal nicht als Überwesen, sie müssen genau hinschauen, um das zu erkennen.

Mich hat das alles deshalb fasziniert, weil ich auf meinen Wanderungen manchmal instinktiv so etwas wie subversive Land Art mache. Da war ein Platz mit Kahlschlag, auf dem Waldarbeiter immer wieder ihren Müll hinterließen, mit der Zeit auch immer schlimmeren Plastikmüll, mitten in einem wunderschönen ursprünglichen Wald. Es war ihr Rastplatz.

Weil ich keinen Müllbeutel dabei hatte, sammelte ich zunächst den Müll auf einen Haufen und fing an zu spielen. Plastiktüten wurden zu Monstern, Dosen bekamen Fratzen. Die Müllwesen feierten um einen Baumstumpf. Aber im Hintergrund wurden sie beobachtet: von feinen Wesen aus Zweigen und Zapfen, Naturfundstücken. Wenn ich den Müll schon nicht transportieren konnte, empfand ich hierbei doch irgendwie Hoffnung. Vielleicht würde so jemand aufmerksam, der einen Rucksack dabei hatte und die Sachen mit ins Tal nahm?

Was dann geschah, war seltsam: Die Naturwesen fand ich beim nächsten Mal rüde zertrampelt. Der Müll feierte weiter ... Ich baute trotzig neue Naturwesen. Wieder wurden sie zerstört. Beim nächsten Mal saßen meine Astwesen den neu hinzugekommenen Müllwesen im Nacken, noch größer, noch schöner als das größte Plastikmonster. Danach war der Müll weg. Die Baumwesen saßen im Kreis, bis sie vom Wetter und der Erosion aufgelöst wurden - die Waldarbeiter hinterließen dort nie wieder Müll. Solche Ideen kommen mir spielerisch. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es anderswo auf der Welt Menschen gibt, die Ähnliches machen. Meine Inspirationsquelle ist eigentlich Bilbo, der zuweilen in seinem Sammellagern vielsagende Kombinationen erschafft.

Fetisch oder Kunst? Für Bilbo ist beides Quell großer Freude: Stinkesocken und Karotten. Letztere wurde hier sorgfältig umwickelt und damit für Menschenaugen "unsichtbar gezaubert".

Nun will ich das Essay über unseren Umgang mit verwundeten Orten und Natur in Zeiten schreiben, die uns selbst Narben verpassen. Also ging ich früh morgens mit Bilbo zu jenem Gelände, das niemand mehr betreten darf, weil es Sondermülldeponie ist. Ich wollte auf der Wiese Gräser flechten und dies dem Stückchen Erde schenken, das alle hassen, meiden, verdrängen. Wo jeder nur wegschaut.

Weil die Wiese zu hoch stand und die Gräser Staubwolken abgaben, konnte ich dem niedrigen Bilbo nicht zumuten, den normalen Weg zu laufen. Ich peilte eine Ecke an und wollte von dort aus den Graszopf über den Zaun werfen. Wollte einmal lauschen und riechen und sehen, was an Natur dort möglich war. An jener Ecke stehen auf einem Abraumhügel sehr große Eichen. Wer die Gegend nicht kennt, kann das fast als idyllisch empfinden, wenn nicht daneben die Schilder vor Lebensgefahr jenseits des Zauns kündeten. Eichen sind fast die einzigen Bäume, die dieses Gift ertragen.


Wir näherten uns und ich lauschte. Jenseits des Zauns gab es das schönste Konzert, das man sich vorstellen kann: Nachtigallen sangen. Ich musste daran denken, wie sehr all die Wesen der Nacht meine Erinnerung an die Ausgangssperre wegen des Coronavirus prägen, in dieser Zeit erhöhter und verschobener Aufmerksamkeit. Nachtigallengesang, der schwere, veilchen- bis hyazinthenartige Duft der Nachtviolen - Nachtwesen, die durchaus den Tag erobern, aber erst in der Dämmerung so richtig leuchten und klingen. Die Zeit einer Dämmerung, eines Verschattens ...

Als ich mich durchs hohe Gras zum Zaun kämpfte und jenem Ort mein Geschenk übergab, gab die Wiese plötzlich den Blick frei auf das, was sonst nur Dornengestrüpp auf dem Abraum ist. Im scharfen Gegenlicht des Morgens funkelten weiße Spritzlichter im Eichendunkel, wie Blütenschaum wogte es im Wind, als hätten Feen in einem Trickfilm kleine Fünkchen ins Schwarz gesetzt. Es nahm mir den Atem, so schön war es. Dieser geschundene Platz überraschte mich mit einer filigranen Schönheit, die ich mir als Mensch kaum vorstellen konnte.

Ich habe natürlich neugierig nachgeschaut, was da auf einmal wuchs. Es war eine Pflanze, die man eher im Rheintal findet und seltener bei uns: Gefleckter Schierling.

Eine der giftigsten Pflanzen unserer Breiten. Sie taugt als "Protagonist" nicht nur in einem Krimi - es gibt unzählige davon. Sogenanntes Unkraut. Verhasst, gefürchtet, gemieden, ausgerottet. Weil viele Menschen nicht damit umgehen mögen, dass nicht alles auf dieser Erde zu ihrem eigenen kurzsichtigen Nutzen existiert.

Es war Schönheit pur, diese Blütenleichtigkeit, das Spiel mit Licht und Dunkel. Und gleichzeitig wächst hier Gift auf Gift, wobei das von Menschen hinterlassene Gift unter der Erde weitaus gefährlicher ist. Das oberirdische Gift heilt zumindest oberflächlich einen Platz. Schierling gehört zu den Pionierpflanzen, die keine hohen Ansprüche haben und Orte besiedeln können, an denen sonst nichts wächst. Ruderalvegetation nennt man solche Pflanzengesellschaften auch, die als erstes auf völlig verwüsteten Gebieten und an von Menschen gestörten Standorten gedeihen. Sie bringen Tiere mit, sind Nahrung - oder verrotten und werden zu Humus. Wo diese Pflanzen absterben und vom Bodenleben umgewandelt werden, siedeln sich bald anspruchsvollere Pflanzen an. Giftige Pflanzen wandeln giftigen Boden. Das erste Geschenk ist Schönheit. Die Kraft, wieder genau hinschauen zu können und von diesem Punkt aus tätig zu werden, aus der Lähmung zu kommen. Wir können nämlich eine ganze Menge mehr tun als Graszöpfe schenken. Aber der Graszopf bringt das ins Gefühl hinein, macht es greifbar. Be-greifbar.

Aufgrund der Pandemie habe ich im Moment keine Arbeitsmöglichkeiten vor Ort. Ich freue mich darum ganz besonders über kleine Spenden für die Kaffeekasse - für diese Arbeit hier. Einfach rechts im Menu auf die Spendentaste klicken (Paypal), funktioniert ab 2 Euro. Danke im Voraus!

14. Mai 2020

Neue Pläne!

Wenn ich etwas öffentlich aufschreibe, mache ich mir dadurch selbst Beine. Das ist wie eine Deadline und gleichzeitig gut, weil ich damit Ziele formulieren muss. Deshalb habe ich mir vorgenommen, nicht ewig am absolut perfekten Webinar herumzuschrauben, sondern mich gleich sehr bald in ein unperfektes hinheinzustürzen - das gibt's dann auch als Schnupper-Übungs-Dingens kostenlos. Gelehrt wird interaktiv via Zoom (zur Teilnahme muss man nicht die ganze Software herunterladen) - und wenn ich nicht genügend deutschsprachige InteressentInnen zusammenbekomme, ich kann das auch auf Französisch oder Englisch.

Ein sehr einfaches Traumstöckchen aus Lindenholz wurde hier zum Rückgrat eines Art Journals. Ich habe es mit Resten von Sariseide, Perlchen und Kupferdraht verziert. Es kann dann ganz einfach mit Kupferringen ins Buch eingefügt werden, aber auch als "Zauberstab" ohne Buch dienen. Solche Hölzer kann man auch ritzen, bemalen, bekleben - je nach Lust und Laune!


Traumstöckchen basteln wir beim ersten Webinar miteinander und hören von alten Mythen und Märchen, in denen Stäbe und Stöcke eine Rolle spielten. Die kann man einfach so für sich aufheben oder verschenken, weil sie schön sind und inspirieren. Der eigentliche Hintergedanke: Sie werden später zum Buchrücken für Art Journals. Wann es losgeht, was man dafür braucht und wie es funktioniert, gibt's dann im Blog; wer es nicht verpassen will, abonniert meinen Newsletter!

Ich lerne im Moment viel und lasse mich gern von interessanten und klugen Leuten inspirieren. Mein Lieblingsplatz ist das Emergence Magazine geworden, die tolle Sachen für die Community auf die Beine gestellt haben. Vieles, was schon gelaufen ist, kann man als Konserve anschauen. Dann fehlt zwar der interaktive Teil mit Chat und Gesprächen auch in Kleingruppen, aber für die Vorträge geht das sehr gut. Sie haben dort auch eine extra Abteilung zum Thema Pandemie, mit Essays und Kunst, die ich sehr schätze. Es geht nämlich dabei darum, was das alles mit uns macht und wie wir Wege des Aushaltens und Bearbeitens finden können (das Linkkarussel ganz oben).

Aber Vorsicht - es verführt sehr zum Buchkauf, weil dort inzwischen wirklich die Crème de la Crème des Nature Writing schreibt. Bei einem der Webinare stellte ein Teilnehmer eine absolut faszinierende Frage über Sprache in entkörperlichten Zeiten. Alle waren hin und weg, dass dieser Mann am Webinar teilnahm und so googelte ich dann neugierig David Abram und erinnerte mich. Er prägte in den 1990ern die amerikanische Ökobewegung maßgeblich und aus dieser Zeit, nämlich von 1996, stammt auch sein Buch "The Spell of the Sensuous: Perception and Language in a More-Than-Human World", das ich gerade ziemlich verschlinge. Als Spracharbeiterin sowieso. Ich hatte damals viel davon gehört, es aber nie gelesen. Es ist verblüffend, wie hochaktuell es heute wieder ist.
Wie extrem lange solche Gedanken nach Deutschland brauchen: Es wurde endlich 2012 von einem kleinen deutschen Verlag übersetzt: "Im Bann der sinnlichen Natur - die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt". Mein Rat: Wer Englisch kann, lese es im Original. Die deutsche Übersetzung liest sich in meinem Augen hölzern. Zum Einlesen in Abrams Stil gibt es online das Essay "In the Ground of our Unknown" über Schönheit und Empathie.

Ich werde demnächst meinen Shop wieder öffnen und wieder Schmuck und Kunst online verkaufen, denn es muss ja dringend Geld zum Essen reinkommen. Neben dem Weg über Etsy kann man auch direkt Maßanfertigungen bestellen. Die Post arbeitet nun wieder normal. Trotzdem muss ich meine Logistik neu überarbeiten, um auch mich zu schützen (ich will nicht ständig auf der Post herumhängen) - und das macht Arbeit. Was mich dabei übel trifft: Ich wollte Schaukästen für Insekten selbst bauen, mit Acryl- oder Plexiglas. Abgesehen davon, dass es kaum noch welches auf dem freien Markt gibt - es wird inzwischen als das neue Gold gehandelt ... Ich muss mir also auch hier etwas anderes überlegen oder genug Glasrahmen finden.

Die neue Freiheit ist anstrengend. Noch zieht es mich kein bißchen in die Stadt oder zum Einkaufen unter Menschen. Einfach, weil es kein bißchen mehr Spaß macht, sondern nur noch Mühe. Man merkt das den Menschen auch an, sie sind erschöpft, haben Angst, sind gehetzt, allerdings auch offener, freundlicher. Stattdessen profitiere ich davon, endlich frei wandern zu können und vorgestern durfte dann Bilbo entscheiden, wo wir wie abbiegen würden. Er führte mich in einen meiner Lieblingswälder, einem Abschnitt, wo 120 bis 200 Jahre alte Eichen stehen (Fotos auf Instagram). Es hat mich fast umgehauen, im Kopf, aber auch körperlich - ich schlief zum ersten mal seit ca. zwei Monaten überhaupt mal wieder richtig. Dass ich im Moment nur noch erschöpft bin, sind Nachwirkungen der traumatischen Zeit, aber jetzt kann ich zum Glück endlich wieder im Naturpark frei herumlaufen. Übrigens ist mir in zwei Stunden keine einzige Menschenseele begegnet!

Ich schreibe. Was das alles mit mir macht, mit anderen macht, geht mir viel durch den Kopf, indem ich über bestimmte Dinge reflektiere. So hatte ich im Wald einen seltsamen Aha-Effekt, weil ich fest glaubte, noch nie so viele blühende Robinien in jenem Eichenwald gesehen zu haben. Ich fand den Wald verwandelt, anders als sonst. Als ich aber die Stämme betrachtete, erkannte ich meinen Fehler: Diese Bäume waren Jahrzehnte alt. In Social Media begegnet mir das Phänomen auch: Menschen glauben, noch nie zuvor bestimmte Vogelarten gesehen zu haben oder Pflanzen. Tatsache ist: Wir hören anders in der Stille. Wir sehen anders im Entzug, nach dystopischen Bildern. Spannende Sache mit den Wahrnehmungen!

Das ist nur einer der Gedankengänge, die mich umtreiben. Heute war es z.B. die Frage, was es mit uns macht, dass wir keine Gesichter mehr sehen, nur noch Augen (es gab diesbezüglich ja vor nicht allzu langer Zeit noch erbitterte politische Debatten, die das Thema leider nie objektiv oder anthropologisch betrachteten). Gleichzeitig waren die einzigen mir ständig und täglich verfügbaren Gesichter während der Ausgangssperre die von Bilbo, von Ziegen, Schafen, Enten, Straußen, mit einer intensiven Mimik, die mir zeitweise vertrauter wurde als die der verhüllten Mitmenschen. Ich bin in der Materialsammelphase, der Phase des Brainstormings für ein Essay. Darin soll es um das Beziehungsgeflecht von durch die Pandemie (oder andere traumatische / dystopische Verändungen, z.B. Klimawandel) verwundeten Menschen und verwundeter Landschaft gehen.

Ich schreibe das übrigens, weil es dringend aus mir heraus muss - ohne zu wissen, ob ich es irgendwo veröffentlichen kann. Ohne erst mal einen Auftraggeber zu aquirieren. Einen verrückten Traum diesbezüglich habe ich schon, aber ich will frei schreiben und in dem Tempo, das dieser Text brauchen wird. Erstaunlicherweise schließen sich da auch einige Kreise zu uralten Texten, die ich irgendwann einmal verfasst habe, etwa in den 1990ern oder frühen 2000ern (?) für die BBC. Das fühlt sich ein wenig an wie Heimkommen, auch wenn ich Welten entfernt bin von dem, was da auf uralten Festplattensicherungen herumkreucht. Praktischerweise kann ich das als Steinbruch benutzen. Denn irgendwann muss ich ja auch ausschlafen!

9. Mai 2020

Kurz vor knapp!

Es ist fast soweit: Wir müssen nur noch heute und morgen aushalten, Tag 54 und 55 der Isolation, dann beginnt am Montag das allmähliche und vorsichtige Déconfinement. Oder wie man im Deutschen sagen würde: Die Ausgangssperre ist vorüber und die "Lockerungen" kommen. Dabei ist Frankreich zweigeteilt in grüne und rote Regionen (ständig aktualisiert) - wir sind im roten Bereich, wo es mit Krankenhausbetten knapp werden könnte.

Nix wie weg - endlich frei durch die Einsamkeit wandern dürfen!


Ich will mit den unzähligen Regeln nicht langweilen, nur die für mich wichigste nennen: Ab Montag brauche ich keinen Passierschein mehr und darf mich Luftlinie im Umkreis von 100 km oder bis zur Departementsgrenze innerhalb frei bewegen. Das reicht dicke zum Wandern. Und auch wenn uns die Eisheiligen wahrscheinlich erst einmal einen Strich durch die Rechnung machen mit ersehntem Regen und weniger ersehnter Schweinskälte, werde ich am ersten möglichen Tag den Rucksack packen. Und dann gibt es eine Festtags-Wanderung, bei der Bilbo ganz allein entscheiden darf, welche Abbiegungen wir nehmen und wie lang wir unterwegs sein wollen. Der Gedanke an diese Freude hat mich die ganze Zeit aufrecht gehalten.

Es war nicht immer einfach, am Horizont die Wipfel eines fast 200 Jahre alten Eichenwaldes zu sehen und nicht mehr hinlaufen zu dürfen. Ich bin da oft, kann dort lange an einen Baum gelehnt sitzen und versuchen mir vorzustellen, was er alles erlebt haben könnte, erzählen könnte. Oder ich sitze dort, die Hände spürend auf der Erde, und denke daran, wie beschränkt ich als Homo sapiens eigentlich bin: Weil ich das Myzel der Mykorrhiza im Boden nicht spüren kann, mit dem die Lebewesen um mich herum kommunizieren und Nahrung austauschen. Wir reden über das Gewusel bei Twitter. Im Boden wuselt es um so viel mehr! In einer Handvoll humosen Bodens gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf der Erde.

Von einer in jenem Waldabschnitt gefällten Eiche habe ich in Töpfen Eicheln gesetzt und sie trieben nun aus. Auch das hielt mich aufrecht - diese Babybäume wachsen und grünen zu sehen. Die Zeit hatte insofern auch etwas Gutes: Sie zwang zum Innnehalten und zum Blick auf die kleinen Dinge, die man sonst allzu oft übersieht. Als gestern Mails von Ämtern und Behörden kamen, dass sie wieder ansprechbar seien, dachte ich noch: Schade. Es war so schön ruhig gewesen ohne die Administration.

Ich möchte einige Befreiungen nicht missen und hinüberretten in den Pseudoalltag, der nicht mehr der gleiche sein wird.

In den letzten Wochen bin ich viel in Mikrowelten spazieren gegangen.

Kinder rennen unten auf der Straße und quietschen vor Lachen - noch dürfen sie das maximal eine Stunde, einen Kilometer weit. Auch viele Erwachsene werden am Montag außer Rand und Band sein - was allzu menschlich ist. Vielleicht werden einige erst einmal über die Stränge schlagen. Andere wie gelähmt verharren. Ähnlich wie ich werden Menschen tun, was sie am meisten vermissten. Ob es das Einkaufen ist? Weil endlich der Laden offen hat, in dem man seit Wochen dringend etwas kaufen musste? Oder weil man im überfüllten und doch eigentlich entleerten Leben vorher nur das als Freude hatte? Es wird die moralinsauren Kommentare geben, das Besserwissen und das Sich-Selbst-Besser-Machen. Dabei wird es da draußen einfach menscheln, denn auch Homo sapiens ist nur ein Tierchen.

Nicht allen hat es gut getan, wir werden noch lange mit den psychischen Folgen zurechtkommen müssen, auch ohne Versorgung. PsychotherapeutInnen in dem Ausmaße, wie wir sie bräuchten, wachsen ja nicht auf Bäumen. In solchen Zeiten vermehren sich allerdings die Rattenfänger scheinbar durch Zellteilung (zumindest bei Social-Media-Accounts funktioniert diese Technik bestens: copy & paste). Wenn Menschen labil sind und unsicher, wenn sie diffuse Ängste haben oder ihnen einfach alles zu komplex und zu kompliziert geworden ist, werden sie leicht manipulierbar. Davon nähren sich Sekten, Verschwörungstheoretiker und politische Extremisten gleichermaßen. Letztere liefern dann allzu gern den ideologischen Überbau, um die Verführbaren nach ihrer Gehirnwäsche gleichzuschalten. Sie stehen allüberall in den Startlöchern. Unsere Welt vor Corona driftete teilweise übel nach extrem Rechts. Und solche Leute wollen nur zu gern das Ruder herumreißen. Vergessen wir das nicht!

Lassen wir uns aber auch nicht irre machen davon. Unter einem Bolsonaro, unter einem Trump und wie die narzisstischen Autokraten alle heißen, mögen die AnhängerInnen noch verblendet jubeln. Aber sie verlieren auch Familienangehörige und FreundInnen für immer, es ist längst ein Verrecken und kein würdiges Sterben mehr in diesen Ländern. Die Menschenverächter wollen ja nicht retten, sondern nur sich selbst bereichern. Es könnte auch andersherum kippen, in ein Aufwachen.

Menschen um mich herum, auch Fremde, mit denen ich in diesen Tagen per Video verschaltet war, stellen sich die Frage: Wie schaffe ich es, mich vom aufkommenden Dumpfbrumm oder Extremismus nicht runterziehen und lähmen zu lassen? Birgt diese Krise wirklich die Möglichkeit, Dinge besser zu machen? Oder ist das auch nur Geschwätz?

Ich bin realistisch optimistisch. Obwohl, oder gerade weil ich auch in die Abgründe sehe, glaube ich, dass wir eine Menge bewirken können. Wie und ob man mit Durchgeknallten einer gewissen Szene noch kommunizieren kann, darüber gibt es viele Hilfestellungen im Netz (z.B. hier). Manchmal hilft es, ganz einfach die schlimmsten Dreckschleudern aufzugeben wie Facebook oder Whatsapp. Die Hardliner wird man nicht mit Argumenten ändern können - das ist wie mit Sektenmitgliedern.

Was wir tun können: Unsere Energie aufs Konstruktive setzen und uns mit Menschen vernetzen, die etwas Neues ausprobieren oder aufbauen wollen. Oder einfach Vernunft und Verbesserungen ins Alte bringen. Es gibt so viele Betätigungsfelder, dass wir bestimmt eines finden, um nicht wie die Maus erstarrt auf zischende Schlangen zu blicken. Und wenn es "nur" das gute Überleben dieses Jahres sein wird - ein Kraftakt, den wir nicht unterschätzen sollten.

Ich selbst richte meine Energie momentan tatsächlich auf die große Frage: Wo sollte ich in Zukunft meine persönliche Energie einbringen? Und wo nicht mehr? Womit möchte ich mich künftig - gerade in dieser recht körperlosen Zeit - inniger verbinden, um einen Sinn zu spüren?

Es geht mir wie den meisten derzeit: Ich bin unendlich müde und erschöpft. Und doch kribbelt und brodelt es in mir und irgendetwas will da raus ...


6. Mai 2020

Fertig vom Einkaufen

Der Psychostress beim Einkaufen eben war in etwa vergleichbar mit Einkaufen in einem völlig fremden Land ohne alle Sprachkenntnisse, in dem alles völlig anders funktioniert, als man sich das ausmalen könnte. Vor dem Déconfinement und nicht zu nah am Feiertag habe ich mich ins Städtel begeben und in den Lerclerc gewagt, bei uns das Äquivalent zu mittelgroßen Hypermarchés, die nicht nur Essen verkaufen. Auf der Website klingt die Einführung in das neue Einkaufen reichlich clean und wie eine Wissenschaft. Ich werde es so schnell nicht wiederholen!

Das fehlt mir gewaltig: Einkaufen auf dem Markt. Das Gemüse in den Supermärkten ist größtenteils eine Tragödie. (Foto vom Herbst, als die Welt noch in Ordnung war und es einen Markt gab).


Was ich berichte, findet noch unter Ausgangssperre statt, sprich, wir dürfen im Moment nur einzeln das "Lebensnotwendige" einkaufen, alle Läden, die nicht in diese Kategorie gehören, haben geschlossen. Dazu brauchen wir einen Passierschein, den wir ausdrucken und als eidesstattliche Erklärung ausfüllen - Kontrollen gibt es, Bußgelder auch. Morgen erfahren wir, wie es ab Mo. weitergeht, dann soll der Passierschein hinfällig sein, aber das Bewegungsradius soll auf 100 km beschränkt werden. Was jetzt schon wie ein Hohn klingt, denn ich sah heute so viele Autos wie noch nie aus völlig abseitigen Departements, die sichtlich nach Urlaubslaune aussahen - ich frage mich, wie die das machen.

Ab Montag gibt es in den meisten Läden getrennte Einkaufszeiten. Leclerc macht erst ab 9 Uhr fürs normale Publikum auf, aber schon extrem früh: Zuerst für alle in Krankenhaus- und Pflegeberufen, dann eine Stunde für Menschen ab 70. Kann man sich nicht dazwischenschmuggeln, das geht nur mit Nachweis.

Entweder war ich zu blöd oder das System ist extra knifflig: Ich musste mich erst mal zum Eingang für die Schlange durchfragen. Das ist ein aus Einkaufswägen und Absperrbändern gebautes Schlangenlinienfahren, so dass man nur noch einzeln durchkommt, aber dann im Ernstfall nebeneinander steht ... nun ja, der Mindestabstand in Frankreich beträgt ja auch nur einen Meter. Habt ihr schon mal so richtig fest geniest? Eben. Aber da gibt es wohl kulturelle Unterschiede. Maximal 40 Leute dürfen in den riesigen Einkaufsmarkt hinein, ein Security-Mensch regelt das in Zweiergrüppchen, zwischendurch flirtet er mit der Backwarenverkäuferin oder Kassiererinnen auf dem Nachhauseweg, ziemlich auf Tuchfühlung übrigens.

Schon beim Warten habe ich mein Problem erkannt, denn ich trug eine selbstgebastelte Maske. Zwar beschlug die Brille nicht, weil sich der T-Shirt-Stoff anschmiegte - aber ich muss normalerweise im Laden die Brille absetzen und in der Hand halten. Sonst kann ich nichts lesen. Ich besitze zwar eine Brille für Nah und Mittelprächtig, aber die müsste ich dann wieder im Auto zum Fahren wechseln. Von wegen, tatsch dir nicht ins Gesicht! Also laufe ich herum wie eine missgestaltete Laufente: Brille nach unten auf die Nase gezogen, wo sie plötzlich auf der Maske rutscht, mühsam darüber hinweglesend und dann mit Kopf nach hinten in die Ferne blicken. Wobei ein kurzer Schmiss nach hinten die Brille am Rutschen hindert.

Bei den Pfeilen in den Gängen am Boden hatten sie gespart, der Parcours war nicht zu halten. Und er war frustrierend, denn die Hälfte von all dem, was ich seit Wochen dringend brauchte, war ausverkauft. Nudeln gibt es satt und im Sonderangebot. Klopapier gab's auch in Hülle und Fülle, zu übelsten Preisen. Aber ich bekam die letzte Zahnpasta. Allemagne liefert nicht nach. Vin mousseux war wieder leergeräubert und ich schnappte mir auch schnell noch einen Rosé davon. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie muss man nach solchen Tagen das Leben begießen, die eigene Toughheit, den Auszug als Ritterin ins Coronaland. Entweder liefert la France nicht nach - oder la France ist in diesen Zeiten deftig dem Alkohol verfallen oder desinfiziert sich inwendig - es ist nicht leicht. Dafür hat kaum jemand geschnallt, dass das billigste, stinkendste Eau de Cologne 70% hat, also tatsächlich desinfizieren kann: die Hände!

Desinfektionsmittel gab es nämlich wieder nicht. Auch nicht beim Betreten des Ladens, wie versprochen. Bei Rausgehen konnte man sich aus einer festgeklebten Gemeinschaftsflasche immerhin was auf die Hände pumpen. Kaufen? Fehlanzeige. Seit Ausbruch des Virus habe ich in Frankreich das berühmte Gel hydro alcoolique nur in Regierungsankündigungen gesehen, nie real und schon gar nicht zum Kaufen.

Da komme ich zum hiesigen Reizthema Masken. Ab Montag werden die zumindest in Schulen, auf Arbeitsplätzen und im  ÖPNV Pflicht. Warum nur da? So wird verschleiert, dass es immer noch nicht genügend gibt. Leute, die im Laden welche tragen (eine Minderheit), haben ausschließlich selbstgenähte oder abenteuerliche Konstrukte auf. Frei verkäuflich sind sie nicht, es gibt sie nur rationiert an der Kasse - und das erst seit Dienstag. Überraschung: Keine Mehrfachmasken da. Nur Wegwerfmasken. 10 Stück zum teuflisch gestiegenen Preis von 5,90 Euro. Entweder verbucht über die Kundenkarte. Oder, wer keine hat wie ich: Vorlage von Pass / Ausweis, Name, Adresse und Nummer werden notiert, erst dann gibt's die Masken! Fahlt nur noch ein Bezugsschein.

Wie das eine Familie mit drei, vier Kindern machen soll und sich das auch noch leisten könnte, ist mir ein Rätsel. Frankreich versagt hier immer noch jämmerlichst. Versprechungen, dass das mit den Masken noch werden könnte, glaubt niemand mehr.

Und eigentlich sind die Masken, beobachtet man die Leute, schlicht eine Lachnummer. Meine fiel mir beim Bezahlen an der Kasse schlicht übers Kinn nach unten. Ich hatte die Rechnung nicht damit gemacht, dass meine kleine hakige Nase beim Herunterbeugen abschüssig wirkt und eine Bindung hinten im Hals plötzlich Abfahrtski fährt. Und dann? Ranfummeln soll man ja nicht. Also hatte ich einen Schal. Der Rest der Leute telefoniert munter beim Schlangestehen. Genau, mit diesem völlig versifften Teil, das keiner desinfiziert, aber ständig betatscht ... Smartphone genannt. Das klebt an der Backe, auf der Maske und sonstwo ... Man kann's den Leuten aber auch nicht verdenken, es ist menschlich! Nicht auszudenken, wenn man zwischendurch was Trinken muss oder ein Eis essen will!

Das Einkaufen selbst habe ich abgekürzt. Es ist alles unwahrscheinlich teuer geworden. Die Einmalhandschuhe, die fürs Obst und Gemüse versprochen waren, gab es nicht. Schilder baten einen, die Einwegbeutel "wie einen Handschuh zu benutzen", um das Gemüse anzufassen. Damit waren die meisten - einschließlich mir - logistisch völlig überfordert, denn irgendwie sollte das ja auch noch in den Beutel hinein ... Kurzum: Jeder tatschte das Zeug an wie immer, mit bloßen Händen oder mit zweifelhaften, schwiemeligen, porösen Gummihandschuhen aka Baktereinschleudern.

Als es dann nicht nur nicht mal mehr Trockenhefe gab, sondern auch kein Backpulver mehr (Irish Soda Bread geht damit), wurde ich aus Verzweiflung todesmutig. Ich kaufte Labberfertig-Croissants in zu großer Plastikverpackung und ein Riesenbaguette zu 69 Cent, dem man eine Plastiktüte über die Papiertüte gestülpt hatte. In der Hoffnung, die Verkäuferin hat sich die Hände gewaschen ... Todesmutig, weil Riesenbaguettes zu 69 Cent auch ganz genauso schmecken wie sie kosten. Aber das sind diese Entbehrungsgelüste: Endlich mal ein Brot so weich wie Watte nach all dem schweren Zeug, das mir beim Backen oft schief läuft.

Schwätzchen, ein paar nette Worte wie sonst im Laden? Tja ... man erkennt die Leute nicht mehr! Leute, die sich eh nur schwer die Gesichter merken können, sind nun maskenblind. Und die fehlende Mimik ist wie ins Leere twittern. Nein, man sieht es den Augen nicht immer an, ob jemand lächelt. Es gibt Menschen, die lachen und die haben abgrundtief traurige Augen!

Es gab dann doch noch Grund zur "Freude". Ich ergatterte zwei viel zu teure Pakete Gartenerde und drei halbtote Tomatenpflanzen, die ich gerade aufpäpple. Meine Samen gingen nicht schnell genug auf. Vielleicht habe ich nun mit diesem Pflanzen Glück.

Menschen, die jetzt in finanziellen Schwierigkeiten sind, haben es zusätzlich schwer: Wir können nicht in die Discounter in Deutschland. Und ein Einkauf bei Leclerc ist vergleichsweise fast doppelt so teuer wie bei Aldi France ...

Damit bin ich nun endgültig Einkaufshasserin geworden. Das nächste mal wieder der kleinere gemütliche Aldi und der Dorfladen. Bei den großen allenfalls noch in den Drive. Bis anschließend alles einschließlich mir desinfiziert war und die Wäsche gewechselt, war ich zweieinhalb Stunden am Schaffen. Man hat ja sonst nichts zu tun! Corona, ich hasse dich, ich hasse dich inständig!

5. Mai 2020

Bald wieder Schmuckverkauf!

Heute ist ein guter Tag, auch wenn ich das Einkaufen schon wieder verschoben habe. Dafür habe ich in meine Ausgangsstunde das Maximum gestopft und wir wurden heute belohnt: Am Waldrand lieferten sich mehrere Nachtigallen einen Gesangs-Battle - ich setzte mich einfach unter den Baum und genoss das Konzert. Auch Bilbo kam auf seine Kosten: Eine Familie mit einem riesigen Drachen auf einer fernen Wiese faszinierte ihn so, dass er anschließend selbst versuchte, mit dem Wind zu fliegen.

Unsere erste Tat nach dem 11.5., sofern das Wetter stimmt: Endlich mal mehr als einen Kilometer und länger als eine Stunde laufen! Obwohl wir inzwischen prima Techniken haben, den Kilometer spiralig aufzustocken ...


Ich bin zwar - wie alle anderen auch - irgendwie dauererschöpft, aber seit heute gibt es etwas Hoffnung: Die französische Post will bis Ende Mai all ihre Büros wieder öffnen und fährt auch den Betrieb im Moment um eine Stufe höher. Zur Erinnerung: Die Beschränkungen waren gekommen, um das Personal zu schützen, aber auch, weil die Post sich andersweitig engagierte, bei Lieferungen von Medikamenten und Essen für alte Menschen vor allem.
Für mich, die mir alle Tätigkeitsmöglichkeiten weggebrochen waren, bedeutet dies: Ich kann dann endlich wieder Paper Art verkaufen! Es gibt allenfalls noch Verzögerungen an der Grenze, aber immerhin kann ich einigermaßen normale Ankunftszeiten annehmen. Das ist leider notwendig, weil nicht alle Kundschaft verständig ist, geduldig schon gar nicht.

Zunächst beginne ich mit all dem, was in einen Briefumschlag passt. Neu ins Sortiment sollen neben dem Schmuck später noch 3-D-Bilder mit Natur kommen, Pflanzen, Käfer, Schmetterlinge. Ich denke auch kleine "Wundertüten" an für Zubehör, um selbst Art Journals herzustellen. Die wollte ich ja in meinen Livekursen anbieten - hoffentlich bald wird es Online-Workshops geben. Ich lerne mich fleißig bei Zoom ein und brauche noch ein wenig Hardware. Auch das Konzept ist aufwändiger als physisch vor Ort.

Es gab eine Pressekonferenz von Macron heute, in der er sich jedoch sehr bedeckt hielt, um den Entscheidungen von übermorgen nicht vorzugreifen. Aber er klang so, als sei der 11.5. nun definitiv der Tag vorsichtiger Öffnungen. Bis gestern schien das Datum noch zu wackeln. Am Donnerstag erfahren wir dann hoffentlich auch, welche Zusatzeinschränkungen uns im Elsass treffen werden, denn wir liegen in der neuen "roten Zone" - im Gegensatz zur grünen, wegen der Fallzahlen. Grübeln bringt jetzt nichts und so habe ich den wärmer werdenden Tag genutzt für Hammerdruck für die Art Journals. Hier gibt es einige Bilder davon auf Instagram. Und wie Hammerdruck ganz einfach funktioniert, kann man in diesem meinem Sketchbook online sehen.

Und weil der Tag so schön war, habe ich noch ein Video, das ihr unbedingt sehen müsst - es ist die pure Schönheit eines Naturwunders. Eine Drohne in Form eines Kolibris mischt sich unter Monarchfalter und filmt sie beim Aufwachen!

1. Mai 2020

Das Feuer in die Welt tragen

Gestern abend (Do.), als das Sonnenlicht langsam verlosch, ging bei mir der Computerbildschirm an. Mein erstes Mal mit Zoom, ein Webinar. Über die Nacht begann Beltane - ein Feuerfest, ein Fest des Lichts in düsteren Zeiten. Aber wir freuen uns heute daran, dass der Himmel sich möglichst noch mehr verdunkelt, endlich Wasser auf die dürstende Erde gibt. Zuviel Feuer hat das Klima schon, so fühlt es sich an, wir brauchen dringend Regen. Früher soll es Beltane-Bräuche gegeben haben, wo in den Häusern alle Herdfeuer gelöscht wurden in der Nacht. Und dann hat man am Festtag das Feuer neu entzündet, von Hand, nicht mit dem Streichholz. Herdfeuer waren etwas Mythisches, Metapher für so vieles. Feuer können aber auch verheerend sein, wie die Waldbrände in Australien zeigten. Die Menschen sollen heutzutage ohne inneres Feuer sein, sagen viele. In Coronazeiten verlören wir das letzte bißchen an verbindendem Feuer mit den fehlenden Berührungen, der Distanz: Ist das so einfach oder eindeutig mit dem Feuer?

Es ist das erste Mal, seit ich hier lebe, dass ich diesen riesigen, einzelstehenden Weißdorn nicht besuchen kann, den ich zum Glück in allen Jahreszeiten und von allen Seiten fotografierte. Er steht am Rand einer Obstbaumwiese mehr als den erlaubten Kilometer weit weg. Ich kann ihn von Ferne wehmütig betrachten, aber seine kleinen Geschwister am Waldrand begrüßen. Die Zeit der Ausgangssperre hat mich nicht entfremdet, sie hat mir gezeigt, wie überlebensnotwendig auch Beziehungen zu Pflanzen sind.

Vorprägungen

Ich muss in der Vergangenheit beginnen, mit meinem ersten Heureka im Internet. Ich komme immer etwas später als die ersten Ausprobierer. Von 1993 an lebte ich vier Jahre in Warschau in einer Zeit, die wir uns heute kaum vorstellen können: Erst vier Jahre zuvor hatte es zum Teil freie Wahlen gegeben und mit der Demokratie kam die Marktwirtschaft. Ein Land erfand sich völlig neu und was es nicht gab, kam aus dem Ausland. So auch mein Computer: ein Teil aus einem US-Laden in Warschau, mit japanischem Innenleben und Software in polnischer Sprache. Und er konnte dieses Internet, von dem sie im Westen alle schwärmten. In einem Land, in dem aber damals selbst das Telefon bei Regen nicht funktionierte, hieß das noch mehr Technik: Für ein rares Stündchen klinkten wir einen dicken Prügel von Funktelefon an, das eigentlich fürs Auto gedacht war - und kamen dadurch in ein ultralangsames, wackliges Netz.

Und irgendwann passierte es beim neugierigen Surfen, in einer Zeit, als Flüge heftig Geld kosteten und Menschen sich Faxe schickten: Ich traf bei Geocities auf einen Typen mit einer Website, der ansprechbar war, wie alle damals auf Englisch. Der saß auf Papua Neuguinea.

Mir blieb die Luft weg. Ich quatschte über einen US-japanisch-polnischen Computer als aus Frankreich kommende Deutsche in Polen mit jemandem auf Papua-Neuguinea - der Insel, zu der ich als Kind so oft mit dem Finger auf dem Globus gereist war, weil sie einem Drachen ähnelt. Und irgendwie hatte ich mir so die Welt immer gewünscht, wenn ich faszinierende Namen vom Globus pickte oder später von der Vereinigten Föderation der Planeten schwärmte oder Brieffreundschaften in aller Welt pflegte. Einfach jemanden anquatschen können. Egal wo auf dem Erdball. Feststellen, dass uns Menschen, so verschieden wir sein mögen, so vieles verbindet.

Was dann folgte, kennen wir alle: Zuerst warnte man uns vor Internetsüchten, dann davor, über all der Virtualität nicht den Sinn fürs Leben zu verlieren. Irgendwann merkten wir, dass man die aufkommenden Social Media benutzen lernen muss und viele warnten vor der gefährlichen Verschränkung eines algorithmengetriebenen Lebens. Jetzt sitzen wir vor der größten Disruption, die wir nicht vorhersahen: Entkörperlicht pflegen wir Kontakt an Computerbildschirmen, dürfen uns nicht berühren, uns nicht phsyisch näherkommen. Es ist wie mit dem Feuer: Die Sache könnte gefährlich werden - oder große Chancen bieten. Denn das sind keine Pixelmonster auf dem Bildschirm, sondern echte Menschen aus Fleisch und Blut und mit Gefühlen!

Langer Rede kurzer Sinn: Mit solchen Vorprägungen beschaffte ich mir endlich auch Zoom wie alle meine Nachbarn um mich herum, wie alle SchülerInnen ... und meldete mich für ein Webinar an. Kurz zuvor hatte ich noch mit einem Bekannten kurz darüber gesprochen, ob es möglich wäre, all die Feelings eines Livetreffens ins Digitale zu bringen. Kann ein Medium ohne Berührungen berühren?

Das Webinar

Das Thema war ein Knaller für mich. Das von mir hochgeschätzte Emergence Magazine brachte zwei wunderbare Buchautoren zusammen: Robin Wall Kimmerer aus den USA, die Autorin von "Braiding Sweetgrass. Indigenous wisdom, scientific knowledge and the teaching of plants" - und Robert Macfarlane aus Großbritannien, Autor von "Underland" und anderen feinen Büchern aus dem Bereich Nature Writing. Beide würden über Braiding Sweetgrass sprechen, Fragen aus dem Publikum beantworten, die Autorin würde auch einiges vorlesen. Eine Bestsellerautorin und ein Bestsellerautor der besonderen Art.

Es erwartete mich schon mal keine normale Lesung, weil mich beide Bücher schlicht innerlich umgehauen haben, in mir nachwirken, in mir Dinge verändern. Abgesehen davon, dass ich als Buchautorin die Sprache und die bei beiden doch unterschiedliche Erzählkunst schlürfe wie einen seltenen Wein. Solche Bücher begegnen mir selten. Braiding Sweetgrass habe ich heute zu Ende gelesen und würde am liebsten ein zweites Mal damit anfangen ... Auch "Underland" las ich im Original.

Ich hatte plötzlich wieder diesen Papua-Neuguinea-Effekt: Es blies mich um. Greifbar vor mir die Autorin und der Autor der geliebten Bücher - und die saßen, wie alle in diesen Zeiten, ganz privat ihn einem normalen Raum, so wie ich und all die anderen auch.

Wenn das Planen von Ausgehen, das Anlegen besonderer Kleidung oder das Aufhübschen, das Gemurmel in einem vollen Saal und berühmte Menschen auf einer Bühne etwas mit uns machen, dann macht es auch etwas mit uns, wenn diese Menschen ohne Bühnendistanz und Brimborium einfach in unserem Wohn- oder Arbeitszimmer sitzen.

Macfarlane sendete aus einem Kellerraum mit Bücherregal, die Moderatorin des Magazins saß neben einem Fenster mit Topfblumen. Hinter mir der Ateliertisch und zu meinen Füßen mein Hund. Es ist ein anderes Sprechen, in seiner Direktheit, in seiner Privatheit. Ja, es gibt Unterschiede diesbezüglich auch im Digitalen (es macht ja auch einen Unterschied, ob man dem Chef eine Fassade vorspielt mit Anzug und Krawatte, oder ob er plötzlich merkt, dass ein Kind im Homeoffice herumrennt).

Als die Autorin die Anwesenden in ihrer indigenen Sprache begrüßte, kullerten mir die Tränen. Denn gleichzeitig rauschte ein Chatstream mit Grüßen herein, der um die ganze Erdkugel reichte und neben Englisch in indigenen Sprachen aus Australien, Neuseeland oder Hawaii kam. Wir hatten nicht nur unterschiedliche Zeitzonen überwunden (für die Autorin war es 12 Uhr mittags, für mich 21 Uhr), sondern auch die Datumsgrenze überschritten. Und all diese Menschen bewegten ähnliche Gedanken und Fragen, Ängste und Freuden. Man kann das gar nicht kitschig genug sagen: In dem Moment weißt du, dass du nicht allein bist, sondern ein Teil von etwas Großem.

Andere mögen darüber lachen und sagen: Bei Facebook sind auch massig Leute. Oder: Das ist doch Alltag. Aber nein. Es ist auch technisch ein großer Unterschied, ob ich zufällig Menschenmassen aufeinander treffen lasse, diese allenfalls durch Algorithmen verbinde, ob ich eine dieser immer irgendwann nicht mehr zu bändigenden FB-Gruppen betrete, in der irgendwann alle Äußerungen nur noch in Selbstdarstellung enden, vielleicht in Trollerei. So viele Menschen in so einem Webinar auch anwesend sein mögen - sie haben ein Ziel, wollen lernen, etwas erfahren, haben gemeinsame Vorkenntnisse (in diesem Fall die Bücher). Das ist aktive Vernetzung.

Und wie beim Feuer im Guten wie im Schlechten, kann ich mit Vernetzung haltbare Bande fürs Leben schaffen. Digitalität hilft aus der Vereinzelung zu Gleichgesinnten. Wenn ich mit Ameisen rede, gelte ich vielleicht in meinem Umfeld als schräg. Aber auf dieser faszinierenden Erde gibt es eben eine Menge Menschen, die auch mit Ameisen reden. Und mit denen kann ich auch kommunizieren! Vielleicht werden sich dadurch noch sehr viel mehr Menschen für Ameisen interessieren?

Natürlich funktionierte das schon immer, seit es Internet gibt und am Anfang die Mailinglisten. Es wurde mit Social Media technisch gesehen leichter. Und es ist in einer Zoom-Schalte völlig anders: Ich zeige Gesicht. Mimik und Emotionen sind in Echtzeit sichtbar, auch virtuelles Lächeln steckt an! Es geht noch weiter: Ich bürge für das, was ich sage, mit meinem Körper.

Klingt verrückt? Was wäre denn, wenn wir all die Leute in Social Media nicht als Schrift erlebten, sondern im Bewegtbild sähen? Wenn sich der fiese miese Troll als armes Würstchen entpuppte? Oder wenn sich die zurechtoperierte Instagram-Schönheit mehr als 30 Sekunden bewegen müsste und frei sprechen, ohne ihr Studio-Briborium, einfach so als Mensch? Genau das macht die Wirkung des Mediums mit Live-Video und Konferenzschalte aus: Ein Mensch bewegt sich, spricht, hat eine Wirkung. Kennen wir von der Bühne und von Youtube. Aber jetzt kommt Interaktion dazu. Der Mensch offenbart seine Art, wie er mit anderen Menschen umgeht. Wie ernst er sie nimmt. Wie er zuhört oder auch nicht. Wie er reagiert. Oder ob alles einfach nur hohle Show ist. Ob die Worte zu Gestik und Mimik passen. Denn Körpersprache lügt nicht.

Und das gestern war das genaue Gegenteil von all den SelbstdarstellerInnen und EgomanInnen mit ihren Clips, die nur auf Likes aus sind. Es war das Gegenteil von Bühnenshow und Fassade, auch wenn beide professionell und öffentlichkeitserfahren sind.

Wir erlebten zwei Menschen, die sich sichtlich nicht verstellten und die leben, was sie schreiben. Mir fiel das altmodische Wort Demut ein. Robin Wall Kimmerer nennt es "telling the truth", was da beim Schreiben idealerweise passiere, die Wahrheit erzählen. Als mir früher ein Agent sagte, nur darauf käme es an, nämlich die Wahrheit zu erzählen, hatte ich den Spruch kaum verstanden. Wie soll man etwa in der Fiktion bei der Wahrheit bleiben? Erst über die Jahre lernte ich, was wirklich gemeint war: Meine eigene innere Wahrheit zu erkennen, mich nicht zu verbiegen, nicht irgendwem nach dem Maul zu schreiben oder einem Trend hinterherzuhecheln. Diese eine, einzig wahre Essenz in sich zu finden, wo man wirklich etwas zu sagen hat. Auch auf die Gefahr hin, dass einen die eigenen Bücher umreißen, verändern, bearbeiten, etwas in dich als Autorin hineinschreiben. Die beiden haben das und das bringen sie im Live-Video rüber.

Aber ihr könnt das selbst sehen. Es ist online als Konserve anzuschauen. Einfach bei diesem Link auf die erste Veranstaltung gehen: "Braiding Sweetgrass" - da gibt es unter den Zeitangaben den Button "Watch Recorded Session".

Das Know How

Ich lerne gerade eine Menge über Liveauftritte im Internet, weil ich mir anschaue, wie es die Könner und Nichtkönner so machen. Ihr kennt die einschlägigen Homeoffice-Witze von der Konferenz mit Blazer und Krawatte über der Unterhose. Die wahren Aufmerksamkeitstöter sind unauffälliger: blendende Lichter im Hintergrund, Leute, die scheinbar ständig auf meine Tastatur schauen statt auf mich. Das alles kann man lernen, Tipps gibt es im Internet genug. Aber manches kann man eben nicht lernen ...

Weil mich kürzlich jemand fragte, ob das mit Zoom nicht viel schlechter sei als "in Echt": Ich denke, es kommt auf die Agierenden an. Wie sehr sie Nähe zulassen. Ob sie "die Wahrheit erzählen". Wer auf einer Bühne steht, weiß, was es braucht, die Distanz zum Publikum zu überwinden, andere zu berühren. Die Entfernung zwischen den Menschen dort kann unendlich groß sein oder winzig klein. In Konferenzschaltung fehlen mir natürlich unterschiedliche Elemente. Vor allem der Blick in die Menge. Leute, die an der falschen Stelle mit Bonbonpapier rascheln, haben ihr Mikro stumm geschaltet. Die Mischung zu aufdringlicher Parfums kann ich nicht riechen, allenfalls die eigenen Socken. Die Masse um ich herum vermittelt sich über andere Wege. Aber die auf der Bühne, der Leinwand, dem Bildschirm - die haben es entweder drauf oder machen sich lächerlich. Sie bauen auf künstliche Distanz oder Natürlichkeit. Sie bleiben starr oder zeigen Emotionen. Da wäre nämlich dieses Zaubermittelchen, das real wie digital gleichermaßen wirkt: Charisma.

Ich will keine Namen nennen, aber ich habe auch das Gegenteil von Packendem gesehen. Da sitzt ein Mensch in einer völlig öde wirkenden Büroecke bräsig im Drehsessel, verzieht absolut keine Miene und quatscht ohne jede Modulation in eine ungünstig aufgehängte Kamera. Während ich überlege, wann endlich jemand ihm die Bilder an die Wand nagelt, fällt er immer mehr vornüber, ohne den Tonfall zu ändern. So sehen Videokonferenzler am Laptop aus.

Die Gesprächspartnerin hockt von unten aufgenommen in einem leeren Flur, ein einziges Bild an der Wand. Hinter ihrem Arm liegt Zeug auf dem Boden und es lenkt mich teuflisch ab: Ich versuche zu rekonstruieren, ob sie kleine Kinder hat oder Katzen. Es geht um ein brisantes Thema, um einen Stoff mit Reibungsflächen. Aber als ich zum fünften Mal höre, was sie mit ihrer Ausbildung gemacht hat und warum sie das so gelernt und dann anders gemacht hat und doch eigentlich die und die Laufbahn ... Danke Mädel, denke ich, ich wollte Inhalte. Danke Junge, ich wollte Leidenschaft. Und breche ab.

Wenn ihr schon keine Leidenschaft empfindet für das, was ihr tut, worüber ihr erzählt, dann zeigt wenigstens menschliche Wärme und ab und zu mal Emotionen! Lächeln ist nicht verboten.

Das denke ich nach dem Reinfall. Es kann doch nicht so schwer sein, sich vorzustellen, dass hinter dieser Glasfläche echte Menschen sitzen! Man darf sogar Grimassen schneiden oder sich nachdenklich übers Kinn fahren. Statt einem Holzroboter zuzusehen, kann ich ein Hörbuch kaufen. Ihr wollt, dass ich mich begeistere? Dann begeistert mich! Seid selbst begeistert!

Ein Fazit

Ja, es ist Bühnenarbeit. Nur ohne dass ich das Publikum spüre. Es ist einfach wie bei Proben, wo niemand zuschaut. Lege ich deshalb weniger Energie hinein als bei der dritten Aufführung?

Ich mag Menschen, die für etwas brennen. Die "ihr Ding" gefunden haben und davon mitreißend erzählen. Nicht, weil sie irgendwelche Handlungen abziehen, von denen irgendein Coach gepredigt hat, sie seien mitreißend. Sondern weil sie echt sind. Man kann auch hochprofessionell agieren und trotzdem natürlich bleiben.

Robin Wall Kimmerer ist so eine Frau. Sie ruht derart in sich selbst, dass es eine Freude ist. Sie lebt, was sie spricht und spricht, was sie lebt. Da ist nichts Aufgesetztes. Aber da sind jede Menge Liebe und Leidenschaft. Sie scheut sich nicht vor Rührung und wässrigen Augen vor der Kamera. Und das kommt rüber. Sie zeigte uns, was sie am Anfang zur Coronakrise erklärte: In einer Zeit, in der plötzlich so viel Physisches wegfällt, haben wir die ungeheure Chance: Uns wieder mit dem zu verbinden, was wichtiger ist als äußere Hüllen und Fassaden. Sie verglich es mit indigenen Zeremonien, die eine körperlose Zeit darstellten. "Re-imaginating a new world" - das geht auch zusammen am Bildschirm, besser vielleicht sogar als allein in einem Umfeld, das Gedanken nicht teilen mag.

Sorry fürs TL;DR. Übervoll und inspiriert vom gestrigen Erlebnis tue ich mich unwahrscheinlich schwer, darüber adäquat zu schreiben (meine Einleitung mit dem Feuer sollte eigentlich mit etwas über Feuer aus dem Webinar enden, aber dann wäre das hier ein ellenlanges Essay geworden). Und dann kamen immer die Gedanken dazwischen, was das Medium an sich mit mir macht, mit anderen machen könnte. Vielleicht mögt ihr von Live-Schaltungen berichten, von euren Erfahrungen mit digitalen Webinaren oder Workshops? Was stößt euch ab? Was gefällt euch als Möglichkeit in diesem Medium besonders gut? Namen müsst und sollt ihr dabei nicht nennen.