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9. Mai 2020

Kurz vor knapp!

Es ist fast soweit: Wir müssen nur noch heute und morgen aushalten, Tag 54 und 55 der Isolation, dann beginnt am Montag das allmähliche und vorsichtige Déconfinement. Oder wie man im Deutschen sagen würde: Die Ausgangssperre ist vorüber und die "Lockerungen" kommen. Dabei ist Frankreich zweigeteilt in grüne und rote Regionen (ständig aktualisiert) - wir sind im roten Bereich, wo es mit Krankenhausbetten knapp werden könnte.

Nix wie weg - endlich frei durch die Einsamkeit wandern dürfen!


Ich will mit den unzähligen Regeln nicht langweilen, nur die für mich wichigste nennen: Ab Montag brauche ich keinen Passierschein mehr und darf mich Luftlinie im Umkreis von 100 km oder bis zur Departementsgrenze innerhalb frei bewegen. Das reicht dicke zum Wandern. Und auch wenn uns die Eisheiligen wahrscheinlich erst einmal einen Strich durch die Rechnung machen mit ersehntem Regen und weniger ersehnter Schweinskälte, werde ich am ersten möglichen Tag den Rucksack packen. Und dann gibt es eine Festtags-Wanderung, bei der Bilbo ganz allein entscheiden darf, welche Abbiegungen wir nehmen und wie lang wir unterwegs sein wollen. Der Gedanke an diese Freude hat mich die ganze Zeit aufrecht gehalten.

Es war nicht immer einfach, am Horizont die Wipfel eines fast 200 Jahre alten Eichenwaldes zu sehen und nicht mehr hinlaufen zu dürfen. Ich bin da oft, kann dort lange an einen Baum gelehnt sitzen und versuchen mir vorzustellen, was er alles erlebt haben könnte, erzählen könnte. Oder ich sitze dort, die Hände spürend auf der Erde, und denke daran, wie beschränkt ich als Homo sapiens eigentlich bin: Weil ich das Myzel der Mykorrhiza im Boden nicht spüren kann, mit dem die Lebewesen um mich herum kommunizieren und Nahrung austauschen. Wir reden über das Gewusel bei Twitter. Im Boden wuselt es um so viel mehr! In einer Handvoll humosen Bodens gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf der Erde.

Von einer in jenem Waldabschnitt gefällten Eiche habe ich in Töpfen Eicheln gesetzt und sie trieben nun aus. Auch das hielt mich aufrecht - diese Babybäume wachsen und grünen zu sehen. Die Zeit hatte insofern auch etwas Gutes: Sie zwang zum Innnehalten und zum Blick auf die kleinen Dinge, die man sonst allzu oft übersieht. Als gestern Mails von Ämtern und Behörden kamen, dass sie wieder ansprechbar seien, dachte ich noch: Schade. Es war so schön ruhig gewesen ohne die Administration.

Ich möchte einige Befreiungen nicht missen und hinüberretten in den Pseudoalltag, der nicht mehr der gleiche sein wird.

In den letzten Wochen bin ich viel in Mikrowelten spazieren gegangen.

Kinder rennen unten auf der Straße und quietschen vor Lachen - noch dürfen sie das maximal eine Stunde, einen Kilometer weit. Auch viele Erwachsene werden am Montag außer Rand und Band sein - was allzu menschlich ist. Vielleicht werden einige erst einmal über die Stränge schlagen. Andere wie gelähmt verharren. Ähnlich wie ich werden Menschen tun, was sie am meisten vermissten. Ob es das Einkaufen ist? Weil endlich der Laden offen hat, in dem man seit Wochen dringend etwas kaufen musste? Oder weil man im überfüllten und doch eigentlich entleerten Leben vorher nur das als Freude hatte? Es wird die moralinsauren Kommentare geben, das Besserwissen und das Sich-Selbst-Besser-Machen. Dabei wird es da draußen einfach menscheln, denn auch Homo sapiens ist nur ein Tierchen.

Nicht allen hat es gut getan, wir werden noch lange mit den psychischen Folgen zurechtkommen müssen, auch ohne Versorgung. PsychotherapeutInnen in dem Ausmaße, wie wir sie bräuchten, wachsen ja nicht auf Bäumen. In solchen Zeiten vermehren sich allerdings die Rattenfänger scheinbar durch Zellteilung (zumindest bei Social-Media-Accounts funktioniert diese Technik bestens: copy & paste). Wenn Menschen labil sind und unsicher, wenn sie diffuse Ängste haben oder ihnen einfach alles zu komplex und zu kompliziert geworden ist, werden sie leicht manipulierbar. Davon nähren sich Sekten, Verschwörungstheoretiker und politische Extremisten gleichermaßen. Letztere liefern dann allzu gern den ideologischen Überbau, um die Verführbaren nach ihrer Gehirnwäsche gleichzuschalten. Sie stehen allüberall in den Startlöchern. Unsere Welt vor Corona driftete teilweise übel nach extrem Rechts. Und solche Leute wollen nur zu gern das Ruder herumreißen. Vergessen wir das nicht!

Lassen wir uns aber auch nicht irre machen davon. Unter einem Bolsonaro, unter einem Trump und wie die narzisstischen Autokraten alle heißen, mögen die AnhängerInnen noch verblendet jubeln. Aber sie verlieren auch Familienangehörige und FreundInnen für immer, es ist längst ein Verrecken und kein würdiges Sterben mehr in diesen Ländern. Die Menschenverächter wollen ja nicht retten, sondern nur sich selbst bereichern. Es könnte auch andersherum kippen, in ein Aufwachen.

Menschen um mich herum, auch Fremde, mit denen ich in diesen Tagen per Video verschaltet war, stellen sich die Frage: Wie schaffe ich es, mich vom aufkommenden Dumpfbrumm oder Extremismus nicht runterziehen und lähmen zu lassen? Birgt diese Krise wirklich die Möglichkeit, Dinge besser zu machen? Oder ist das auch nur Geschwätz?

Ich bin realistisch optimistisch. Obwohl, oder gerade weil ich auch in die Abgründe sehe, glaube ich, dass wir eine Menge bewirken können. Wie und ob man mit Durchgeknallten einer gewissen Szene noch kommunizieren kann, darüber gibt es viele Hilfestellungen im Netz (z.B. hier). Manchmal hilft es, ganz einfach die schlimmsten Dreckschleudern aufzugeben wie Facebook oder Whatsapp. Die Hardliner wird man nicht mit Argumenten ändern können - das ist wie mit Sektenmitgliedern.

Was wir tun können: Unsere Energie aufs Konstruktive setzen und uns mit Menschen vernetzen, die etwas Neues ausprobieren oder aufbauen wollen. Oder einfach Vernunft und Verbesserungen ins Alte bringen. Es gibt so viele Betätigungsfelder, dass wir bestimmt eines finden, um nicht wie die Maus erstarrt auf zischende Schlangen zu blicken. Und wenn es "nur" das gute Überleben dieses Jahres sein wird - ein Kraftakt, den wir nicht unterschätzen sollten.

Ich selbst richte meine Energie momentan tatsächlich auf die große Frage: Wo sollte ich in Zukunft meine persönliche Energie einbringen? Und wo nicht mehr? Womit möchte ich mich künftig - gerade in dieser recht körperlosen Zeit - inniger verbinden, um einen Sinn zu spüren?

Es geht mir wie den meisten derzeit: Ich bin unendlich müde und erschöpft. Und doch kribbelt und brodelt es in mir und irgendetwas will da raus ...


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