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7. April 2020

Workshop für Escape Books - Tag 22

Ich war heute zum ersten Mal seit dem 16. März wieder im "Schtetl", denn an jenem Tag ahnten wir, dass Macron eine Ausgangssperre verhängen würde. Eine halbe Woche lang musste ich mich überwinden, überhaupt nach draußen zu fahren. Nicht, weil ich keine Lust gehabt hätte! Aber ich hasse Einkaufen sowieso und halte Läden, wo jeder alles antatscht, für die besten Virenschleudern. Vielleicht deshalb, weil mir an jenem 16. März eine Kassiererin ihren Husten aufhängte und ich qualvolle Tage verbrachte, ob ich jetzt auch "das da" hätte. Zum Glück war es nur eine stinknormale Erkältung gewesen.

Im vergangenen Jahr hatten riesige "Ostereier" in den Blumenbeeten die Straßen geziert, Schulkinder und örtliche Kreative hatten sie bemalt. Das fällt dieses Jahr weg ...

Verrückt, in einer Zeit globaler Schnellstreisen nach über 22 Tagen zum ersten Mal wieder in einen Ort zu kommen, der nur etwa 6 km entfernt liegt, zu dem man eigentlich fast laufen könnte. Noch dazu in vollem Frühling - das letzte Mal war noch alles kahl. Sonst bin ich da ständig oder fahre durch.

Diesmal fuhr ich im falschen Film. Volle Mittags-Rush-Hour und ich war fast die Einzige auf der Straße. An der Hauptkreuzung sah ich noch zwei andere Autos, auf der Ausfallsstraße begegnete ich einigen wenigen. Leere. Leere Straßen, leere Gehsteige, reihenweise geschlossene Läden, wo sonst das Leben quietscht. Eine einsame Ampel schaltet stur auf rot, um den Verkehr vor der verlassenen Schule zu verlangsamen. Im Quartier mit den großen Supermärkten habe ich die Wahl zwischen Aldi und Leclerc und entscheide mich nicht nur wegen der Preise für ersteren. Mir ist nicht nach Überangebot, riesigen Riesenläden und langem Herumsuchen. Mein Einkaufszettel ist ausgeklügelt.

Es ist das erste Mal, dass ich seit dem Confinement einkaufen gehe und ich weiß, dass ich brav Abstand halten muss. Ich hole meinen Wagen, irgendwo stehen Menschen wartend herum oder rauchend. Ich frage einen Mann: "Darf ich da einfach rein?" - Er lächelt und nickt, es ist der "Ordner", der zuweist, wann man einen Laden betreten darf. Je nach Fläche und Platz ist genau festgelegt, wieviele Menschen sich innen aufhalten dürfen. Hier sind es zehn und ich bin eine der Glücklichen.

Auf dem Boden Pfeile, wie ich durch die Reihen laufen muss, damit sich die Menschen nicht entgegenlaufen. An einer Stelle gibt mein Hirn auf, weil man partout nicht zur Frischetheke abbiegen kann, aus keiner Richtung. Da muss ein Fehler im System sein oder ich bin zu dumm. Improvisierend laufe ich rückwärts ...

Die Angestellten tragen Masken und Handschuhe. Aber auch bei den Menschen, die einkaufen, sieht man die abenteuerlichsten Vermummungen. Ich lache einem Mann zu, der eine Piratenflagge überm Gesicht trägt: Ganz meine Idee, als ich mir ausdachte, es müsste Mimikprojektionen für Masken geben. Es gibt Damen mit gehäkelten Handschuhen, in deren Maschen so richtig alles mögliche leben könnte. Eine Frau, die dem Autoaufkleber nach sicher noch vor Wochen gegen muslimische Verschleierung gekräht hat, ist bis zu den Augen in einen endlos langen Schal gewickelt. Ich bin "nackt" und setze auf Seife und Abstand. Erfreulich übrigens während der gesamten Zeit: Nie habe ich die Nachfahren der Gallier derart diszipliniert erlebt. Die Mehrheit hält sich nicht nur an die Vorschriften, sie scheinen auch gut aufgeklärt. Empathisch schaut plötzlich jeder, wie er Platz machen kann!

Wie entspannt das Einkaufen ist, wenn man so viel Platz um sich herum hat. Man fühlt sich nur etwas gehetzt wegen der Leute, die dann bald draußen in der Schlange standen. Die will man ja nicht zu lange warten lassen, eines Tages steht man selbst in der Schlange. Keiner drängelt an der Kasse hinter einem, auch hier werden die Menschen verteilt. Ein fast dystopisches Gefühl bei einem Aldi.

Und dann die große Überraschung: Es gibt eigentlich alles, nichts ist weggehamstert! Und das, obwohl ja Ostern kommt und ermahnt wird, man möge die Einkäufe diesmal vorher machen. Wirklich aus sind nur Flüssigseife, Hefe und Blumenerde. Klopapier und Pasta gibt es genügend. Was die Leute hier besonders kaufen, das sind Gnocchi, Erdbeerkonfitüre, Wein und Sekt. Und was mache ich? Kaufe eben das. Eigentlich sollte man mir dafür die französische Staatsbürgerschaft schenken, wenn das nicht akklimatisiert ist!

Die Kassiererinnen haben Schichtwechsel, lachen lustig miteinander, scherzen. Die Leute lassen ihnen Zeit. Niemand drängelt. Im Gegenteil. Wie ich machen andere Komplimente, dass es so schön ist, sie mit so guter Laune zu sehen und dass das anstecke. Anstecke mit Freude. Und das, wo sie doch so einen harten Job haben. Wir bedanken uns. Die Kassiererin strahlt so sehr, dass ihre Maske mitlächelt. Können wir das mit der Zeit und dem Nichtdrängeln und den Komplimenten bitte für immer beibehalten?

Auf die Endsummen darf man nicht schauen. Zwar sind per Regierungsbeschluss die Preise für Lebensmittel eingefroren worden für die Dauer der Ausgangssperre, aber man kauft anders ein. Mehr Vorräte auf einmal. Mehr Süßkram und Knabberzeug, Seelenschokolade. Desserts. Wein. Kann ja nicht schaden, wenn man gleich einen Karton zu Hause hat ... bis einem dann einfällt, dass der Osterbesuch ja gar nicht kommen darf. Die Leute kaufen plötzlich wieder Schnaps, um sich Kräutermedizin anzusetzen. Nur, damit sie wegen Wehwehchen nicht in die Apotheke müssen und weil die Ärzte nicht zugänglich sind. Auf einmal werden wieder Rezepte für Kräuterliköre ausgetauscht. Und genau das habe ich vergessen. Ich wollte eigentlich Rum kaufen, um Löwenzahnblüten darin einzulegen. Ein köstlicher, blutreinigender Likör mit blumigem Aroma. Naja, soweit Alkohol Blut reinigt. ;-)

Nebenan im Elektronikladen werde ich ein Vermögen los. Da sind die Preise offenbar nicht gedeckelt. Immerhin finde ich eine Maus, die übrigens eine wahre Rennmaus ist, so schnell und empfindlich ist sie. Endlich kann ich wieder surfen und klicken! (Und darum bequem diesen Beitrag schreiben). Die Maus gab's für 7,50 Euro. Aber zwei Druckerpatronen für 50 Euro - da bekam ich das innere Heulen und ließ das Druckerapierhäufchen für 6 E liegen. Dass wir für jeden Ausgang einen Passierschein ausdrucken müssen, hat diese Folgen. Wir hätten Druckerzubehör hamstern sollen, nicht Klopapier.

Übrigens bin ich guten Muts, meinen bestellten Computer doch normal zu bekommen. Ich habe mir sagen lassen, dass die Regierung Computer und Zubehör als "lebensnotwendig" eingestuft hat, sprich, bei den Lieferdiensten haben solche Pakete Vorfahrt.

Und dann werde ich wirklich den Workshop für "Escape Books" machen. Ich habe mich nämlich heute ausführlich mit jemandem über die psychischen Folgen dieser Zeit unterhalten. Die meisten drücken wir ja instinktiv noch weg, aber irgendwann werden sie über uns hereinbrechen. Wir unterhielten uns über Menschen, die nach der Ausgangssperre z.B. Ersatzrituale entwickeln müssen, weil sie sich nicht von ihrer Verstorbenen verabschieden durften. Und mit Art Journals lassen sich wunderbar Rituale machen und Emotionen verarbeiten. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Ich muss jetzt mit dem Hund die herrliche Sonne genießen!

Bleibt gesund und kommt gut durch die Zeit!


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