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30. April 2020

Die Touristen

Heute morgen standen zwei Touristen ohne jeden Abstand am Hoftor. Das kommt zuweilen vor, weil es an dem Sträßchen keinen Gehweg gibt und man ja irgendwie vor Traktoren ausweichen muss. Aber wieso waren sie nicht zur offeneren Seite hin ausgewichen? Sie standen so dicht davor, dass Bilbo bellte und mich herbeirief.

Sich endlich wieder berühren können - wie sich in der Natur alles berührt ...


Sie hatten sich hilflos verfranst und hatten Fragen. Ich bellte erst einmal, sie sollten doch den Sicherheitsabstand einhalten! Den Sicherheitsabstand? Es gäbe da einen youtube-Kanal, sagten sie, den hätten sie abonniert, der sage immer "Wir müssen alle sterben". Und wie es denn wäre, wenn man sich die Todesart einfach aussuchen könne?

Da wurde ich knatschig und erzählte ihnen, wie ich in den ganz frühen Anfangszeiten von COVID 19, als eigentlich noch keiner ohne Kontakt nach Wuhan das haben konnte, an einer einfachen Erkältung fast verzweifelte. Jedem einzelnen Huster hörte ich nach, ob er der Anfang vom Ende wäre. Ich bestellte mir online ein Fieberthermometer, das sechs Wochen später ankam - die Apotheke hatte keine mehr. Als mir eines Tages die Rippen schmerzten vom trockenen Husten, verriet ich meiner Nachbarin, wo mein Hausschlüssel für sie deponiert sei, und sie versprach, Bilbo zu nehmen, falls "sie mich abholten". Aber sie lachte und meinte, ich klänge wie eine stinknormale Erkältung. Was es dann auch war. Vielleicht. Oder auch nicht. Getestet wurden ja nur schwere Fälle.

Das Touristenpaar nahm einen Meter Abstand und erzählte einfach weiter vom herrlichen Urlaub, der herrlichen Natur. Irgendwie fand ich die beiden sympathisch und bat sie an den Frühstückstisch im Hof. Den einen Meter würden wir schon irgendwie schaffen. Oder waren es anderthalb oder zwei? "Wir werden alle sterben", sagten wir im Chor und lachten wie blöd. Der Meter verkürzte sich zusehends. Wir hatten ja kein Maßband dabei.

Die beiden waren mit dem Kanu bis zu uns gekommen. Irgendwo an der Donau hatten sie angefangen, weiter über den Rhein bis in die Vogesen. Und jetzt säßen sie sozusagen auf dem Trockenen. Und Bilbo saß ihnen abwechselnd auf den Füßen. Er wusste nichts von Abstandhalten - das wurde lediglich nach Sympathie geregelt oder Gefahr. Er schlief wohlig. Endlich mal wieder andere Menschen, Lebewesenkontakt, wenn ihm schon die vierbeinigen Kumpels vorenthalten waren.

Wir hatten plötzlich eine Menge Spaß. Rückten zusammen, berührten uns, wie man sich in herzlichen Unterhaltungen eben berührt. Eine Hand legt sich auf einen Arm, ein sanftes Klopfen auf den Oberarm, ein Streicheln über den Rücken. Es ist hierzulande normal, auch wenn es bei Wildfremden durchaus länger dauert. Aber wir hatten so viele Geschichten zu teilen, dass wir wie im Rausch redeten, von der Natur, den Mitwesen darin.

Ich entschuldigte mich, dass ich nichts anderes im Haus hätte als Wasser und Kaffee, weil ich heute doch nicht einkaufen gehen wollte. All das Gedöns mit Passierschein ausfüllen, Desinfektionsritualen, Ängsten, Warteschlangen ... dann das Eingekaufte über Nacht in Quarantäne stellen, Desinfektionsgedöns. Ich hatte beschlossen, über das durch den Feiertag verlängerte Wochenende mit wenig durchzukommen. Es besuchte einen ja doch keiner. Am Montag würde das Gedöns reichen.

Wir lachten und sie genossen ihren Kaffee. Ich wunderte mich kurz, woher der Kuchen für alle auf den Tisch kam. Aber ich war ja beim Frühstück gesessen?

Es war ein Fest. Ein Fest des Teilens, sich Mitteilens, der Berührungen. Uns war in diesem Moment alles egal.

Da rumpelte es plötzlich laut auf dem Speicher. Sehr laut und sehr lange. Marder wären dazu zu klein gewesen. Wir schauten uns erschrocken an und ich ging, um nachzuschauen. Als ich das Haus betrat, war es im Treppenhaus auf einmal seltsam licht und luftig. Riesige uralte Bäume hatten sich vollkommen mit den Mauern verwoben. Je höher ich stieg, desto näher gelangte ich an deren Krone. Dicke, saftig begrünte Eichenäste durchdrangen das Gebälk des Speichers - sie waren voller lachender und quietschender kleiner Kinder. Die kamen offenbar aus dem ganzen Dorf zusammen, denn es waren sehr viele. Sie schaukelten in den Ästen, hüpften, spielten, knuddelten in Haufen. Einige von ihnen schliefen zusammengerollt zwischen Hundwelpen in einem Nest. Ein ganz kleines saß in Windeln an den Bauch einer Eule gedrückt. Alles in Ordnung also.

Das sind nur spielende Kinder, sagte ich zu den Touristen und erzählte ihnen von unserem Museum, das sie unbedingt auf dem Weg besuchen müssten. In dem würde es auch manchmal komische Geräusche geben, weil die Puppen darin sich bewegten, wenn man nicht hinschaute. Manchmal könne man es aus dem Augenwinkel ahnen. Wir tauschten Adressen aus und verabschiedeten uns herzlich mit dicken Umarmungen, die länger dauerten als früher. Ich wusste, was ich jetzt machen wollte: Mich zu den Kindern und Hundewelpen legen und endlich von all diesem Virenwahnsinn in der Welt ausschlafen!

Stattdessen schleuderte mich ein gemeiner Zeitriss zurück ins Wachsein. Trotzig drehte ich mich um, zog mir die Bettdecke über den Kopf, als würde ich damit diese Welt der Berührungen und Naturwesen länger festhalten können. Es wuchs kein Baum ins Zimmer. Und vor dem Gartentor herrschte die übliche gähnende Menschenleere.

PS: Den youtube-Kanal "Wir werden alle sterben" gibt es wirklich. Vorsicht, nichts für schwache Frühstücksnerven ... er kann bis in Träume wandern!

PPS: Wer es immer noch nicht gemerkt hat: Aufwachen!!!

28. April 2020

Die trinkende Biene oder Was ist wesentlich?

Ich komme mir dieser Tage irritierend unproduktiv vor. Das mag daran liegen, dass durch die Coronakrise ein Großprojekt erst einmal auf Eis gelegt wurde und dadurch ein mir liebgewordener Teil meiner Arbeit wegfiel. Andere Auftraggeber zieren sich noch, so schnell zuzusagen wie üblich. Und ein "klitzekleines" Zwischenprojekt ist nun schon öffentlich, fühlt sich also für mich so an, als seien die "Hausaufgaben" erledigt. Ein völlig blödsinniges Gefühl, denn ich arbeite kräftig an einem eigenen Projekt!

In meinem Garten finde ich immer mehr Arten von Wildbienen ganz ohne Bienenhotels: Ich räume ihn im Herbst nicht auf und habe Inseln, wo Wildkräuter nicht nur wachsen dürfen, sondern auch, wie dieser Löwenzahn, von mir ausgesät werden.

Die Arbeit

Wer wissen will, was ich so treibe, wenn ich von "CMS" und digitalen Lernmanagementsystemen rede, kann sich ein Beispiel online anschauen in der "Wildbienenwelt". Zusammen mit dem Team des Ulmer Verlags habe ich da mitgearbeitet. Meine Arbeit steckt z.B. hinter dem Wildbienenfinder und den Steckbriefen der einzelnen Spezies (Beispiel). Man muss sich das so vorstellen: Am Anfang stehen Texte und Bilder, in diesem Fall beides analog aus einem riesigen Fachbuch (es wiegt tatsächlich eine Menge). Eine Redaktion und die IT entwickeln zusammen ein Konzept für eine digitale Lösung, eine meist interaktive Umsetzung der Inhalte, die vom Web aus oder als App gedacht wird.

Das Content Management System (CMS) wird von den IT-SpezialistInnen programmiert und ich bin dann sozusagen der Nerd mit Lesebrille, der (schon immer) im Homeoffice - in obigem Beispiel - für die Digitalisierung der analogen Daten sorgt. Diese Arbeit wird je nach Projekt sehr viel komplexer, etwa wenn ich Lernlektionen erstelle, die so eindeutig und klar formuliert sein müssen, dass Auszubildende sie verstehen und das System aufgrund von Codes Antworten der Prüflinge als korrekt oder falsch einordnen kann. Ich denke also sozusagen Text gleichzeitig von Menschenseite her und als "robot" und überlege, wo wer Schwierigkeiten bekommen könnte.

Das braucht höchste Konzentration und hat in meinem speziellen Fall Nebeneffekte. Weil ich ein fotografisches Gedächtnis habe und in digitalen Räumen und Datenbanken Pfade erinnere wie in einem Computerspiel, bin ich anschließend vollgestopft mit lateinischen Namen von Spezies und anderem Wissen. Auch wenn ich in diesem Bereich selbst Fachwissen habe, kommt immer Neues hinzu. Und weil ich ja während der Ausgangssperre inzwischen auch mit Ameisen und Käfern rede, ertappe ich mich schon mal bei einem Ausruf wie "Hey, Bombus (Hummel), mach dich nicht so fett, ich trink hier meinen Kaffee und du bleib beim Nektar da drüben!"

Das Gehirn

Die Rotfransige Sandbiene wird mir auf immer im Gedächtnis bleiben, weil mir ihr Name begegnete, als ich besonders viel Sitzfleisch brauchte. Ich sehnte mich danach, endlich aufzustehen und laufen zu können, dachte scherzhaft, dass man von solcher Computersitzerei ja womöglich eines Tages Hämorrhoiden bekommen könne. Und da war sie: Andrena haemorrhoa, die ich wegen der Assoziation nie mehr vergessen werde, auch wenn das arme Tier nun wirklich nichts mit Hämorrhoiden zu tun hat.

So stopft sich mein Gehirn voll mit Wissen und ich betrachte selbst meine Schneckenhaussammlung in einem großen Blumentopf mit völlig neuen Augen: Es gibt Wildbienenarten, die leere Schneckenhäuser brauchen, um ihre Nester darin anlegen zu können. Andere nisten nur in dicken markigen Brombeerästen oder nur in den abgestorbenen Stängeln der Königskerze. "Dinge", die wir oft säuberlich wegräumen, weil sie uns stören oder weil wir sie für "Unkraut" halten. Solche Bienen besiedeln dann auch kein Bienenhotel, das auf schick getrimmt ist ... Wir räumen ganze Lebensräume weg! Und seit ich abgestorbene Königskerzen erst ausreiße, wenn die neuen jungen Pflanzen im Frühjahr wachsen, hat sich der Lebensraum sogar auf eine verblüffend erfreute Spezies ausgeweitet: Bilbo von Butterblum liebt diese "Wegweiser" für seine Pinkelstrecke.

Gestern war dann also so ein Tag, an dem ich mich irgendwie "nutzlos" und unproduktiv fühlte. Ich weiß auch warum: Ich muss derzeit nicht stundenlang hochkonzentriert auf den Monitor starren, habe keinen Zeitdruck und keine Deadlines. Das ist für Perfektionistinnen, die sich künstlich den Druck durch Prokrastination erhöhen, so ähnlich, wie plötzlich im Dschungel zu stehen. So viele mögliche Wege! So verdammt viel Freiheit auf einmal! Alles ist möglich! Weiterschaffen?

Die Wildbiene

Eine kleine Wildbiene machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich fand sie halb tot auf der Treppe liegen, sie hatte offenbar den Weg nach draußen nicht mehr gefunden. Also mixte ich schnell ein paar Tropfen Lindenblütenhonig in Wasser und nahm die Biene samt Schälchen mit in die pralle Sonne. Sicherte sie mit Blüten vor dem Umfallen und wartete lange, bis sie endlich vorsichtig die Zunge aus ihrem Rüssel herausstreckte und etwas trank. Es dauerte sehr lang, bis sie überhaupt fähig dazu war zu trinken. Und bei ihrem winzigen Körper fiel sie auch erst einmal ins klebrige Nass, ich musste sie dann vorsichtig mit Wassertropfen vom Klebrigen befreien und sie ließ es zu, sich in einer Kuhle meines T-Shirts zu trocknen.

Die Zeit stand still und es gab nur noch die kleine Biene mit ihren großen Augen und mein Warten, ihre Zunge zu sehen. Sie saß auf meiner Hand, als wisse sie, dass ich ihr helfen wollte. Irgendwann nahm sie Nektar aus den angebotenen Blüten. Zuerst von Gelb, dann naschte sie lieber Blauviolett und Rotviolett. Ich beobachtete, mit welch verblüffender Gelenkigkeit sie ihren gesamten Körper putzte und trocknete, schließlich den Pelz auf der Unterseite mit den Beinen wieder aufrichtete. An den rotvioletten Storchenschnabelblüten hatte sie Gefallen gefunden, zu ihnen führte auch der erste taumelig kurze Flug.

Das Innehalten

Ich blieb bei ihr, bis sie die große Runde zwischen den Wildkräutern und dann in die Ferne flog, hatte alle Zeit und allen Druck vergessen und war einfach nur glücklich wegen der kleinen Biene. Verblüfft stellte ich fest, dass ich inzwischen wie ein Stein bedeckt war mit Besuchern, die auf mir herumkrabbelten und herumhüpften, aufflogen oder landeten. Winzige Insekten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, aber auch Blattläuse und wohlbekannte Käfer benutzten mich als Ausflugsziel. Das T-Shirt war weiß, an dem lag es nicht.

Mir passiert Ähnliches oft beim Laufen mit dem Hund im Wald. Ich bin nicht der Typ, der lauthals singt, damit die Wildschweine fliehen. Ich werde immer stiller. Meine Gedanken beruhigen sich irgendwann und es gibt so viel zu sehen und zu staunen. Ich gehe in Gedanken als Winzling zwischen Flechten spazieren oder versinke im Anblick eines wunderschönen Baumpilzes. Oft drängelt der Hund, weil ich im Maigrün junger Blätter verharre oder dringend an einem Kraut riechen muss. Es ist, als würde ich mich selbst auflösen, ich bin innerlich still, denke an nichts mehr vorsätzlich, lasse mich einfach nur füllen von Bildern und Eindrücken und Natur. Manche kennen das von der Meditation. Und dann kommen sie, die Tiere. Plötzlich blickt mich ein Reh von der Seite an oder ein Käfer lässt sich auf meiner Schulter mittragen. Oder ich blicke in die Augen eines Wildschweins und das dreht einfach um und geht. Es ist ein Zustand, in dem ich nicht mehr nach Nutzlosigkeiten oder Aufgaben und Erledigungen frage. Das Einzige, was in solchen Augenblicken einen Sinn hat, ist die Schönheit einer Flechte, der Duft eines Krauts - und dass ich das wahrnehmen und genießen kann.

Die Maschinerie

In diesen Tagen des Innehaltens bin ich gleichzeitig extrem intensiv mit Computer und Technik beschäftigt. Ich muss ja mein neues System einrichten, musste es so einrichten, dass ich den "Nerdjob" wieder machen kann und noch mehr: Ich werde meine Workshops digital geben. Und da muss ich auch wieder Neues lernen und vor allem die Technik weiter einrichten. Alles nicht so einfach während der Ausgangssperre, wo schon ein Kabelkauf zum Abenteuer werden kann.

Gleichzeitig bin ich im digitalen Gebabbel so aktiv wie sonst nie. Abgeschnitten von Realkontakten sind mir Twitter und Signal, inzwischen auch wieder etwas Instagram, Türen zu anderen Menschen. Eben habe ich die Rede des Premierministers live über Twitter angehört, um mir abends die Nachrichtensendungen zu sparen und das lange Herumgequatsche. Ich telefoniere stundenlang und habe sogar wieder Skype installiert.

Worüber ich mich am meisten freue: Wildfremde Menschen aus Social Media oder Kontakte, die man mal früher aus Facebook kannte, kommen ein Stückchen ins Leben herein. Manche haben mir angeboten, bei Technikfragen zu helfen, andere wollen mir zeigen, wie Zoom funktioniert. Es bilden sich Grüppchen von Menschen, die sich gegenseitig helfen. Und auch die Leute von unserem leider geschlossenen Museum verknüpfen sich zusehends digital. Manchmal kommen mir die Tränen, wenn ich durch digitale Texte und Fotos ein Lebenszeichen bekomme, hineinschauen kann, wie ein kleiner Stab dort die Sammlungen und den Bauerngarten pflegt.

Ich war bisher der Meinung, es seien Social Media, die den großen Stress erzeugen, das Gefühl des Getriebenseins. Das ist bestimmt der Fall, wenn man sich nicht beschränkt und nicht eine gewisse Psychohygiene im Umgang mit gewissen Auswüchsen pflegt. Aber ich stelle fest, das Getriebensein kommt von viel schlimmeren Faktoren, die gerade ausfallen. Dem übertriebenen Konsumleben zuvorderst, dass sich allem Denken aufgezwungen hat. Dem Funktionieren-Müssen Tag für Tag, ohne jedes Atemholen. Dem Arbeiten, weil man eben das arbeitet, weil eben diese Deadline ansteht, weil man eben Geld verdient, um die Rechnungen bezahlen zu können. Das Getriebensein entstand mir, wenn ich zu oft die Frage vergaß: Was will eigentlich ICH? WIE möchte ich arbeiten, damit ich Sinn empfinden kann? Was könnte ich tun, um diese Wege zu verstärken?

Die Chancen

Nicht, dass ich nicht schon arbeiten würde, was mir auch Spaß macht - das Wildbienenprojekt ist ein Beispiel dafür. Aber als Freiberuflerin muss man ja immer wieder nachjustieren. Und so sehe ich die Beschränkungen im Moment als Chance, denn wir werden noch länger mit welchen leben müssen. Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen "Maschinendenke" und Menschenbedürfnissen. Wie also kann ich z.B. einiges von dem, was wir als Sozialleben und Sozialkontakte so schätzen, in die Maschine bringen, ins Digitale? Kann man wirklich mit digitalen Workshops kreativ werden, Emotionen transportieren? Man kann. So, wie man etwas Waldstille und Wildbienensummen in einen Blogtext packen kann, kann man Technologie positiv für mehr Zwischenmenschlichkeit nutzen.

Aber dafür muss ich erst ein wenig die Schulbank bei den Erfahreneren drücken. Ich bin schon ganz aufgeregt vor meinem ersten Zoom-Webinar in zwei Tagen, wenn Robin Wall Kimmerer, die Autorin von "Braiding Sweetgrass", aus den USA und Robert Macfarlane, Autor von "Underland", aus Großbritannien zusammengeschaltet miteinander sprechen werden und wir aus aller Welt Fragen stellen können. Live und mit Bild und Ton. So habe ich mir das Kommunizieren quer über den Globus hinweg als Kind immer erträumt. Ich bin so neugierig auf diese neuen Möglichkeiten!

Die Lehrer hier in Frankreich nutzen für den digitalen Unterricht meist Zoom und die Chat-App Discord. Eine Lehrerin gestand mir lachend, dass sie das mit Discord eben mal schnell von ihrem Sohn gelernt habe und das sei einfach toll mit all den Möglichkeiten. Als er wegen seiner Computerspiele damit herumdaddelte, hatte es kaum jemanden interessiert. Außer vielleicht einige Aktivistengruppen, die darüber arbeiten. In Deutschland ist die bekannteste die Bürgerrechtsbewegung Reconquista Internet. Die Leute lernen schnell. Die Möglichkeiten verändern sich.

Es macht mir Freude, Wildbienen durch Honiglösung zu retten oder Wildbienen in Datenbanken einzugeben. Ich werde mich immens darauf freuen, meine durch Corona gestrichenen Workshops eines Tages nachholen zu dürfen, dabei Materialien zu tauschen, Dinge zum Anfassen und Berühren zu zeigen. Aber ich werde mich von nichts abhalten lassen, diese Freude digital zu vermitteln. Emotionen und lachende Gesichter auf dem Bildschirm zu sehen, virtuell zu scherzen, wenn ein Versuch daneben geht. Wenn ich hier still bin, dann lerne ich dafür und schlage mich mit der Hardware herum. Oder ich trinke Kaffee mit Menschen, die weit weg von mir sitzen und die doch näher gerückt scheinen. Wir können tatsächlich unsere "neue Normalität" umträumen, neu gestalten!

PS: Ich schulde vielen Leuten eine Mailantwort, die sich jetzt sicher fragen, warum ich hier so viel tippe, aber sie "vergesse". Tu ich nicht. Ich habe eben erst mein Mailsystem im neuen Computer rekonstruiert, kann aber - das fehlende Kabel - mein Backup noch nicht aufspielen, das ich für viele Mailadressen brauche. Es liegt an der Technik. Ich habe früher neue Computer von jemandem fertig einrichten lassen. Im Moment habe ich ja nicht mal Kontakt mit denen, die mir bei Problemen halfen. Also habe ich auch das ganz allein gelernt ... Es dauert alles etwas länger, aber ich melde mich!

PPS: Grund zur Vorfreude: Ab 12. Mai sollen wir in Frankreich endlich wieder in einem Radius von 100 km bewegungsfähig sein, ich kann dann also zum ersten Mal wieder so lange mit dem Hund durch den Wald laufen, wie wir Lust haben. Laufen können in der Natur - dann bin ich endlich wieder Mensch!

18. April 2020

Menschen aus der Vergangenheit

Tag 33 des relativen Eingesperrtseins und ich denke spontan, ich sei doch wahrscheinlich ein idealer Häftling, weil immer noch so brav. Aber sofort fällt mir ein, dass ich trotz allem einen ungeheuren Luxus der Freiheit lebe. Ich kann aus den vier Wänden heraustreten in den sonnigen Garten, mir die Sonne auf die Haut brennen lassen und die Weite des Himmels erleben. Ich werde nicht bestraft, sondern geschützt. Ich kann meinen Passierschein ausfüllen und zum Einkaufen fahren oder zum Tanken. Ich bin nicht wirklich eingesperrt und ich kann ein kommendes Ende absehen.

Ich erinnere mich plötzlich wieder an Menschen aus fernen Zeiten, als wären sie noch da.


Ein anderer Häftling kommt mir dieser Tage in den Sinn, ein echter. Sein Name ist mir im Augenblick nicht präsent, aber der Mann steht gestochen scharf vor meinem inneren Auge. Als müsse er nur durch eine Matrix schreiten und stünde neben mir. Ich höre sogar seine Stimme. Namenlos, wie er im Moment ist, steht er für unzählige andere, für Millionen, von denen die meisten ein viel schlimmeres Schicksal erlitten. Aber darf man Schicksale aufrechnend vergleichen, weil der mit dem "leichteren" "nur" fürs Leben gezeichnet war?

Er war damals schon alt, als ich ihn Anfang der 1980er für eine Seminararbeit über die Rolle der badischen evangelischen Landeskirche im Dritten Reich als Zeitzeugen kontaktiert hatte. Seine Qualen erlitt er damals, weil er die Zustände nicht mehr aushielt, die Diktatur, den menschenverachtenden Alltag - und in den Widerstand ging.

Nie vergesse ich die Szene, die er mir schilderte und die er immer wieder erinnerte, auch zu der Zeit noch als Lebenshalt. Er war nahe daran, im Gestapogefängnis durchzudrehen. Sie nahmen ihm alles, was er zum Menschsein brauchte: zuerst die Menschen, die Wärme, das Essen und dann auch noch das Licht. Es sei wie ein Heureka-Moment gewesen, erzählte er mit Tränen in den Augen, als er erkannte, dass sie ihm eines nicht würden nehmen können - es sei denn, sie nähmen ihm das Leben. Es war sein Geist, seine Seele. Das Letzte, was ihm geblieben war. Und in seinem Geist hatte er all die Gedichte gespeichert, die er einst auswendig gelernt hatte, oft genug widerwillig.

An der Stelle brach ihm immer wieder die Stimme, weil es sein Überlebensmirakel gewesen war: Er rezitierte diese Gedichte. Zuerst laut. Als sie ihn dafür schlugen, lautlos im Kopf. Er tauchte ein in jede Zeile, jeden Reim und jedes Wort. Er schuf sich einen Plan aus Gedichten für eine Struktur der Finsternis und Lyrik gegen die Traurigkeit und Lyrik zum Ausweinen. Irgendwann, als ihm die Zeilen so vertraut wurden, dass sie hohl klangen, fing er an, mit ihnen zu sprechen, lautlos zu reden mit Poesie. Er begann zu reimen, stellte Zeilen um und eigene hinein. Er sprach mit den Dichterinnen und Dichtern hinter den Texten. So überlebte er den Horror. Es ließ ihn zeitlebens nie mehr los, aber er war dankbar: Die Gedichte hatten seine Seele gerettet. Ohne sie wäre er wahnsinnig geworden.

Mir fallen dieser Tage viele Menschen ein, die viel Schlimmeres und Unaussprechliches überlebt hatten und deren Bekanntschaft mir bis heute als besonderes Privileg erscheint. Als kleines Kind lebte ich durch den Beruf des Vaters in einem Altenheim und hatte so viele Omas, wie ich mir nur wünschen konnte. Ich ging mit ihnen im Park spazieren, besuchte sie auf eine Tasse Kakao - und sie erzählten viel, erzählten von früher. Vieles erfühlte ich nur, verstand es nicht. Anderes sah ich vor mir wie einen Abenteuerfilm, in den Farben eines Kindes gepinselt.

Da war die etwa 100jährige Frau, die drei Kriege überlebt hatte. Die mir einschärfte, dass es einfach nur zwei wichtige Dinge auf dieser Welt gäbe: Das Leben im Augenblick zu genießen und wirklich zu leben - und die Liebe. Und wenn es genug von dieser gegeben hätte, wenn die Menschen endlich die Liebe zu ihren Mitmenschen wirklich auf die Reihe brächten, dann müssten Menschen auch keine Kriege mehr aushalten. Tut euch sowas nie an, sagte sie immer mit wackelndem Zeigefinger. Und noch lange später rechnete ich nach, was sie wirklich vom 1875er Deutsch-Französischen Krieg erlebt haben mochte. Ihre Mutter war eine blutjunge Frau mit dem zweiten Kind. Was ich nie verstanden habe und was sich nicht nachrechnen ließ: Wie konnte diese Frau nach all dem, was sie erlebt hatte, noch derart an die Liebe glauben?!

Eine andere der "Leihomas" ließ mich in ihrem Zimmer in Ali Babas Schatzhöhle tauchen. Sie war als Gouvernante in den Diensten eines amerikanischen Multimillionärs um die Welt gereist und hatte Andenken aus Ländern gesammelt, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Ihren seidenen Sonnenschirm aus Thailand, den Fächer mit der Aufnahme um 1900 aus Biarritz und den elfenbeinernen Brieföffner mit Münzen und Perlen aus Japan halte ich heute noch in Ehren - ich bekam das nach ihrem Tod. Sie erzählte herrlich abenteuerliche Geschichten von Maharadschas und afrikanischen Löwen, von der chinesischen Mauer und prunkvollen amerikanischen Bällen. Obwohl sie die Kinder hütete, bekam sie viel davon mit und ich war begeistert davon, einer Frau begegnen zu dürfen, die all das verkörperte, was unsere Eltern schrecklich fanden. Kleine Mädchen sollten eines Tages gefälligst heiraten. Sie hatte das nie getan, sie hatte lieber die Welt bereist.

Ihren unbändigen Lebenshunger bezog sie von einer Katastrophe, die sie nie hat erleben müssen. Immer wieder zeigte sie mir Schiffspapiere und erzählte mir die Geschichte, die ich erst vor kurzem dank Internet vollständig recherchieren konnte. Als Kind hatte ich nur die Hälfte verstanden. Ich sah nur ein schnittiges riesiges Dampfschiff, mit dem sie ihren Dienst angetreten hatte: Der Multimillionär holte sie damit aus Deutschland über Irland nach Amerika. Er hatte im letzten Moment umbuchen müssen, sich fürchterlich geärgert und eigentlich alle Hebel in Bewegung gesetzt. Aber selbst sein großes Geld konnte ihm kein Ticket mehr auf dem bereits ausgebuchten und viel schöneren Schiff besorgen. Später, in Amerika, haben sie gemeinsam Dankesgebete gesprochen. Durch dumme Zufälle und zu langes Zögern waren sie nicht auf der Titanic gewesen.

Erinnerungen sind Zeitmaschinen. Ich staune noch heute, wie nah einem Ereignisse scheinen, wenn man Augenzeugen dazu gehört hat. Ich staune über die Zeitspannen von Generationen. Wenn ich Mitte der 1960er jemanden gesprochen habe, konnte ich Menschen erleben, die vom 19. Jahrhundert erzählten oder vom Untergang der Titanic. Diese reichhaltigen und langen Leben beeinflussten ihr Sein, ihre Zimmer, ihre Art sich zu bewegen. Vergangenheit wurde lebendig, wenn sie erzählten. Und es klangen immer auch die zu kurzen Leben mit, die zu kurzen Leben von anderen ihrer Zeit. Es schienen auch die anwesend zu sein, denen mit einem Schlag alles genommen wurde. Die nicht das Glück hatten, ihre Talente zu entwickeln, eine große Liebe zu erleben, das Leben zu schmecken. Es schien zunächst keinen Unterschied zu machen, was einen dahinraffte: das Kindbettfieber, die Granate im Schützengraben oder die Spanische Grippe. Aber es gab einen riesigen, einen schlimmen Unterschied: Das eine war von Menschen gemacht, von Menschen verschuldet und in vollem Grauen sinnlos. Es wäre vermeidbar gewesen. Das andere waren Natur und Zeit: Man wusste nicht genug, hatte nicht unsere Erkenntnisse und ahnte nichts von späteren Medikamenten und Impfungen.

In diesen Tagen des Menschenentzugs kommen sie alle wieder, die Erinnerungen an längst "verblichene" Menschen aus meinem Leben.

Verblichen wie alte Fotos, wie das Foto oben vom Teil der Familie, die in die USA auswanderte. Sie schickten diese Postkarte nach Europa, um zu zeigen, wie gut es ihnen gehe und dass doch dringend dringend endlich die anderen nachkommen sollten, weg von diesem Hitler, der ganz sicher alle ins Unglück stürzen würde. Das war noch Ende der 1920er. Der Bruder der beiden Frauen rechts, mein Opa, hat das nie geschafft. Die Geschichte liegt heute in New York, in der Brooklyn Art Library. "This Crazy Little Dream" kann man auch digital durchblättern und natürlich vor Ort ausleihen. Als ich es 2018 abschickte, schloss sich für mich ein Kreis: Eine lange verschwiegene, verheimlichte Geschichte reiste dorthin zurück, wo alles seinen Anfang genommen hatte: unter der Freiheitsstatue, die damals noch Traurigen und Geschundenen Mutterfigur war, MigrantInnen willkommen hieß.

Und wie sich dieser Kreis der Emigrationen schloss, öffnete er gleichzeitig einen Teufelskreis, den ich in meiner Gegenwart erlebe, wenn ich sehe, welchem Irrsinn die Nachkommen heute unter jenem Unaussprechlichen ausgeliefert sind ... zum Teil aber sogar - mir völlig unverständlich - selbst unterstützen. Es ist ein gebrochener Kreis, ein Bruch, der so schnell nicht heilen wird. Ob es wirklich immer nur an Liebe fehlt, wenn Menschen andere oder die Welt zerstören? Es gehört da wohl noch etwas im Übermaß dazu, das es befeuert: die Gier?

Ich blättere virtuell viel in meinem Sketchbook und fühle wieder, welche Kraft diese Menschen angetrieben hat, denen Liebe und Alltag nicht genug waren: es war die Kunst, die Kultur. Der zweite von rechts auf dem Foto, der Mann, der sich da wie alle anderen für die in Europa Gebliebenen in Sonntagsstaat geworfen hatte, war einmal noch zu Besuch gekommen, als ich ein kleines Kind war. Er (im Sketchbook Josef genannt) ist einer von denen, die ich wirklich erlebt habe. Auch seine Berührung ist nie vergangen, die Fantasie, die er mir befeuerte mit dem Erzählen aus einer völlig anderen Kultur. Die fremden Sprachen, die so spannend klangen. Denn er war zu früh emigriert, um noch fließend Deutsch zu lernen wie die anderen. Die Britzelbrutzelgeräusche im Radio auf Kurzwelle, das seien die Leitungen über den Ozean, sagte er, die singen. Weswegen die Vögel immer auf Leitungen säßen, denn die könnten alles hören, was da gesprochen würde - hin und her über die Weite hinweg. Ich glaubte es ihm und lauschte fortan, was Amseln erzählten und Britzelbrutzelgeräusche und ich erzählte mit.

Er floh mit seiner Familie nach dem Wahnsinn von Erstem Weltkrieg und Spanischer Grippe. Schuftete sich in Armut hoch als einfacher Metallarbeiter und kam irgendwie über die Great Depression. Was er hinterlassen hat, ist pure Schönheit. Er hatte sich auf Aluminium und Bronze spezialisiert und arbeitete bei einer Firma, die uns in Europa nichts und den Menschen in Cleveland heute noch alles sagt: Die weltberühmten Art Deco Türen der Severance Hall in Cleveland - daran hat er mitgebaut (mehr Fotos).

Zeit wird relativ in diesen Tagen. Reale Menschen verschwimmen mit virtuellen Kontakten, mit verblichenen Fotografien und Bruchstücken der Erinnerung. Und ich frage mich: Was wird bleiben von uns? Welches sind die Essenzen des Lebens, die wir hinüberretten wollen? Was wäre eine Erinnerung wert am Ende eines reichen Lebens? Und warum reden wir so viel über Wirtschaft, nach all den Crashs, die immer nur die Armen trafen und die Krisengewinnler noch reicher machten? Warum reden wir nicht darüber, wie wir sie endlich umbauen könnten? Vor allem aber denke ich an all uns Kunst- und Kulturschaffende und wie seit der Coronakrise all das abgeschnitten vom Leben ist, was wir zu geben haben. Vielleicht ist Kunst - gemessen an Toilettenpapier - Luxus. Aber im Gegensatz zu dem Mist, den wir in und nach Krisen irgendwann wegspülen, sind Kunst und Kultur das, was bleibt. Wenn wir sie wertschätzen lernen, in unserem Geist bewahren, lebendig halten im Außen.

12. April 2020

Frohe Ostern

Ich wünsche euch von ganzem Herzen frohe Ostern - auch wenn sich das Fest in diesen Zeiten gespenstisch anders anfühlen mag.



Möge es, auch unter schlimmen Umständen, ein Zeichen der Hoffnung sein, der Frühlingskraft!

7. April 2020

Workshop für Escape Books - Tag 22

Ich war heute zum ersten Mal seit dem 16. März wieder im "Schtetl", denn an jenem Tag ahnten wir, dass Macron eine Ausgangssperre verhängen würde. Eine halbe Woche lang musste ich mich überwinden, überhaupt nach draußen zu fahren. Nicht, weil ich keine Lust gehabt hätte! Aber ich hasse Einkaufen sowieso und halte Läden, wo jeder alles antatscht, für die besten Virenschleudern. Vielleicht deshalb, weil mir an jenem 16. März eine Kassiererin ihren Husten aufhängte und ich qualvolle Tage verbrachte, ob ich jetzt auch "das da" hätte. Zum Glück war es nur eine stinknormale Erkältung gewesen.

Im vergangenen Jahr hatten riesige "Ostereier" in den Blumenbeeten die Straßen geziert, Schulkinder und örtliche Kreative hatten sie bemalt. Das fällt dieses Jahr weg ...

Verrückt, in einer Zeit globaler Schnellstreisen nach über 22 Tagen zum ersten Mal wieder in einen Ort zu kommen, der nur etwa 6 km entfernt liegt, zu dem man eigentlich fast laufen könnte. Noch dazu in vollem Frühling - das letzte Mal war noch alles kahl. Sonst bin ich da ständig oder fahre durch.

Diesmal fuhr ich im falschen Film. Volle Mittags-Rush-Hour und ich war fast die Einzige auf der Straße. An der Hauptkreuzung sah ich noch zwei andere Autos, auf der Ausfallsstraße begegnete ich einigen wenigen. Leere. Leere Straßen, leere Gehsteige, reihenweise geschlossene Läden, wo sonst das Leben quietscht. Eine einsame Ampel schaltet stur auf rot, um den Verkehr vor der verlassenen Schule zu verlangsamen. Im Quartier mit den großen Supermärkten habe ich die Wahl zwischen Aldi und Leclerc und entscheide mich nicht nur wegen der Preise für ersteren. Mir ist nicht nach Überangebot, riesigen Riesenläden und langem Herumsuchen. Mein Einkaufszettel ist ausgeklügelt.

Es ist das erste Mal, dass ich seit dem Confinement einkaufen gehe und ich weiß, dass ich brav Abstand halten muss. Ich hole meinen Wagen, irgendwo stehen Menschen wartend herum oder rauchend. Ich frage einen Mann: "Darf ich da einfach rein?" - Er lächelt und nickt, es ist der "Ordner", der zuweist, wann man einen Laden betreten darf. Je nach Fläche und Platz ist genau festgelegt, wieviele Menschen sich innen aufhalten dürfen. Hier sind es zehn und ich bin eine der Glücklichen.

Auf dem Boden Pfeile, wie ich durch die Reihen laufen muss, damit sich die Menschen nicht entgegenlaufen. An einer Stelle gibt mein Hirn auf, weil man partout nicht zur Frischetheke abbiegen kann, aus keiner Richtung. Da muss ein Fehler im System sein oder ich bin zu dumm. Improvisierend laufe ich rückwärts ...

Die Angestellten tragen Masken und Handschuhe. Aber auch bei den Menschen, die einkaufen, sieht man die abenteuerlichsten Vermummungen. Ich lache einem Mann zu, der eine Piratenflagge überm Gesicht trägt: Ganz meine Idee, als ich mir ausdachte, es müsste Mimikprojektionen für Masken geben. Es gibt Damen mit gehäkelten Handschuhen, in deren Maschen so richtig alles mögliche leben könnte. Eine Frau, die dem Autoaufkleber nach sicher noch vor Wochen gegen muslimische Verschleierung gekräht hat, ist bis zu den Augen in einen endlos langen Schal gewickelt. Ich bin "nackt" und setze auf Seife und Abstand. Erfreulich übrigens während der gesamten Zeit: Nie habe ich die Nachfahren der Gallier derart diszipliniert erlebt. Die Mehrheit hält sich nicht nur an die Vorschriften, sie scheinen auch gut aufgeklärt. Empathisch schaut plötzlich jeder, wie er Platz machen kann!

Wie entspannt das Einkaufen ist, wenn man so viel Platz um sich herum hat. Man fühlt sich nur etwas gehetzt wegen der Leute, die dann bald draußen in der Schlange standen. Die will man ja nicht zu lange warten lassen, eines Tages steht man selbst in der Schlange. Keiner drängelt an der Kasse hinter einem, auch hier werden die Menschen verteilt. Ein fast dystopisches Gefühl bei einem Aldi.

Und dann die große Überraschung: Es gibt eigentlich alles, nichts ist weggehamstert! Und das, obwohl ja Ostern kommt und ermahnt wird, man möge die Einkäufe diesmal vorher machen. Wirklich aus sind nur Flüssigseife, Hefe und Blumenerde. Klopapier und Pasta gibt es genügend. Was die Leute hier besonders kaufen, das sind Gnocchi, Erdbeerkonfitüre, Wein und Sekt. Und was mache ich? Kaufe eben das. Eigentlich sollte man mir dafür die französische Staatsbürgerschaft schenken, wenn das nicht akklimatisiert ist!

Die Kassiererinnen haben Schichtwechsel, lachen lustig miteinander, scherzen. Die Leute lassen ihnen Zeit. Niemand drängelt. Im Gegenteil. Wie ich machen andere Komplimente, dass es so schön ist, sie mit so guter Laune zu sehen und dass das anstecke. Anstecke mit Freude. Und das, wo sie doch so einen harten Job haben. Wir bedanken uns. Die Kassiererin strahlt so sehr, dass ihre Maske mitlächelt. Können wir das mit der Zeit und dem Nichtdrängeln und den Komplimenten bitte für immer beibehalten?

Auf die Endsummen darf man nicht schauen. Zwar sind per Regierungsbeschluss die Preise für Lebensmittel eingefroren worden für die Dauer der Ausgangssperre, aber man kauft anders ein. Mehr Vorräte auf einmal. Mehr Süßkram und Knabberzeug, Seelenschokolade. Desserts. Wein. Kann ja nicht schaden, wenn man gleich einen Karton zu Hause hat ... bis einem dann einfällt, dass der Osterbesuch ja gar nicht kommen darf. Die Leute kaufen plötzlich wieder Schnaps, um sich Kräutermedizin anzusetzen. Nur, damit sie wegen Wehwehchen nicht in die Apotheke müssen und weil die Ärzte nicht zugänglich sind. Auf einmal werden wieder Rezepte für Kräuterliköre ausgetauscht. Und genau das habe ich vergessen. Ich wollte eigentlich Rum kaufen, um Löwenzahnblüten darin einzulegen. Ein köstlicher, blutreinigender Likör mit blumigem Aroma. Naja, soweit Alkohol Blut reinigt. ;-)

Nebenan im Elektronikladen werde ich ein Vermögen los. Da sind die Preise offenbar nicht gedeckelt. Immerhin finde ich eine Maus, die übrigens eine wahre Rennmaus ist, so schnell und empfindlich ist sie. Endlich kann ich wieder surfen und klicken! (Und darum bequem diesen Beitrag schreiben). Die Maus gab's für 7,50 Euro. Aber zwei Druckerpatronen für 50 Euro - da bekam ich das innere Heulen und ließ das Druckerapierhäufchen für 6 E liegen. Dass wir für jeden Ausgang einen Passierschein ausdrucken müssen, hat diese Folgen. Wir hätten Druckerzubehör hamstern sollen, nicht Klopapier.

Übrigens bin ich guten Muts, meinen bestellten Computer doch normal zu bekommen. Ich habe mir sagen lassen, dass die Regierung Computer und Zubehör als "lebensnotwendig" eingestuft hat, sprich, bei den Lieferdiensten haben solche Pakete Vorfahrt.

Und dann werde ich wirklich den Workshop für "Escape Books" machen. Ich habe mich nämlich heute ausführlich mit jemandem über die psychischen Folgen dieser Zeit unterhalten. Die meisten drücken wir ja instinktiv noch weg, aber irgendwann werden sie über uns hereinbrechen. Wir unterhielten uns über Menschen, die nach der Ausgangssperre z.B. Ersatzrituale entwickeln müssen, weil sie sich nicht von ihrer Verstorbenen verabschieden durften. Und mit Art Journals lassen sich wunderbar Rituale machen und Emotionen verarbeiten. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Ich muss jetzt mit dem Hund die herrliche Sonne genießen!

Bleibt gesund und kommt gut durch die Zeit!


6. April 2020

Ich rede mit Käfern - Tag 21

Drei Wochen Ausgangssperrenisolation nebst den Katastrophennachrichten hier im Grand Est - und ich lebe noch. Ich rede inzwischen auch mit Ameisen und Käfern, renne aber noch nicht mit dem Kopf gegen vermeintliche Gummiwände. Ich esse zuviel zu gut. Und ja, man kann aus Dosen und TK-Gemüse und abenteuerlichem Discounterzeug recht lecker kochen, wenn man genug Pasta hat. Bin Meisterin in Dissoziation und Verdrängung. Genieße das Leben. Knuddle wahrcheinlich den Hund viel zu viel und habe ihm bereits angeboten, wenn es ihn nerve, einiges auf einen Plüsch-Schwarzwaldelch abzuladen. Empört meinte Bilbo, ein Plüschtier sei nun wirlich kein adäquater Ersatz für einen Edlen Beaglemix von Butterblum. Am Telefon versenden wir Küsse und Umarmungen, als gäbe es kein Morgen. Ins Badische schallt mein neuer Schlachtruf: Schniposa! Einmal wieder mit lieben Menschen Schnitzel, Pommes und Salat im Biergarten mampfen!


Die Welt wird manchmal unscharf in diesen Tagen ...


Humor ist die ganz große Rettung, vor allem die Fähigkeit, über mich selbst zu lachen. Wenn ich mal wieder einfach so in ein schwarzes Loch falle, weil das alles nicht wirklich auszuhalten ist, wenn man genauer darüber nachdenkt. Oder wenn ich in Rührungstränen ausbreche, weil vom Museum eine Mail von unseren Gänsen kommt, die eben dieses, also unser Kapitol, bewachen und laut schnattern werden, wenn der böse Coronax endlich aus den Sandalen gehauen ist. Wir träumen von Wildschwein am Grill und dichtbesetzten Bänken. Die Gänse gibt es übrigens wirklich und sie fehlen mir. Sie sind Bestandteil jeder meiner Museumsführungen gewesen.


Eine unserer Museumsgänse. Es sind ziemlich wehrhafte Tiere, gemeinsam haben sie den Hahn gemördert. Seitdem dürfen sie frei herumlaufen, was der neue Hahn sehr zu schätzen weiß. Und die BesucherInnen sowieso.

Inzwischen, dank der gestiegenen Temperaturen, überwiegt aber doch der Genuss. Wir hatten bis zum Schluss nachts Minusgrade und die Friererei zehrte an den Nerven.

Und dann schlug der Technikteufel in einer Weise zu, dass mir echt nur noch zum Kreischen und Fluchen zumute war: Ausgerechnet jetzt! Ausgerechnet in dieser Situation! Als unverbesserliche Optimistin möchte ich das mal so beschreiben: Dass sich eine meiner beiden Festplatten plötzlich verabschiedete, war hinnehmbar - es war zum Glück nicht die mit dem System. Der Computer lief also mit irgendeiner älteren Version von Windows 7, sah ein wenig aus wie anno dunnemals, tat aber. Dann verabschiedete sich die Maus, die sonst rot leuchtet und nun immer öfter verlosch. Ich lache sonst immer über Nerds, die zig noch funktionstüchtige Teile irgendwo gestapelt haben. Ich bin eine von denen, die Neues nur kauft, wenn das alte wirklich kaputt ist. Die Maus, die ich fand, war einfach nur tot.

Aber immerhin, die Maus - mit der ich mich hier mühsam und langwierig eingeloggt habe - sie tut ab und zu, dank Wackelkontakt. Und nur schräg auf dem Kopf. Man darf mir gar nicht zusehen: Ich kippe das Ding, bis es tut, und lege dann mit der linken Hand vorsichtig das Mauspad auf. Ich weiß nicht, wie man diese Gehirnfähigkeit nennt, dann alle Bewegungen perfekt falschherum ausführen zu können. Ich bin jedenfalls saftig damit begabt. Aber das ist natürlich kein Zustand. Morgen, wenn ich mich endlich wieder in ein Einkaufszentrum wagen werde, hoffe ich, eine Maus zu finden. Und bereite mich trotzdem auf den Komplettexitus des Computers vor, ziehe Backups, sammle Daten. Selbst ich merke, dass sich da wohl der Prozessor verabschiedet. Ausgerechnet in dieser Katastrophenzeit! Nur mal so als Vorwarnung, falls ich vom Netz kippe (Twitter mach ich per Smartphone).

Also musste eine Lösung her. Und die kam von außen. Ich bin dafür so dankbar. Zwei liebe Menschen haben mir eine Spende zum Durchhalten geschenkt, die ich als Notgroschen zurückgelegt hatte. Ich konnte ihnen noch nicht mal Danke sagen per Mail ... siehe Maus. Damit kann ich mir einen neuen Computer finanzieren - und den habe ich vorhin bestellt!

Allein dieser Entscheidungsprozess war nicht normal. Vor Corona wäre ich nach Deutschland rübergefahren und hätte mir ein (dort viel billigeres) Teil im Laden geholt. Aber die Grenze ist ja dicht und fröhliches Herumfahren auch nicht mehr. Ich habe dann eine Firma in Frankreich gefunden, die aus alten Teilen neue Computer zusammensetzt, "refurbished", wie man so schön sagt, billiger als der Laden in Deutschland. Aber sollte ich das Risiko eingehen, ob das Paket ankommt? Auch Lieferdienste wie Amazon brauchen ja schon viel länger als sonst, die Post liefert nur noch 3x die Woche aus. Dann kommt Ostern. Feiertage, die nochmal alles verzögern.

Bei Twitter Meinungen eingeholt, mit Nachbarn über die Straße gerufen - das fehlt einem so, dass man einfach solche Lappalien mit Freunden und Bekannten bequakeln kann, die ja außerdem meist selbst andere Sorgen haben. Und bei der Firma angerufen, die eine normale Lieferung versicherten. Also käme der neue Computer irgendwann nach Ostern. Und ich warte nicht auf den letzten Drücker.

Dieses Hin und Her, das mich in normalen Zeiten belustigen würde, ist für mich ein schönes Beispiel, wie kompliziert plötzlich die einfachsten Dinge geworden sind. Und mein Nachbar riet mir zum Glück zum sehr schnellen Kauf, denn nichts würde derzeit schlimmer gehamstert als Computer und Computerzubehör. Er meinte, die Leute richten sich darauf ein, dass das Confinement bis mindestens Monatsende verlängert werde und auch ein stufenweiser Ausstieg noch kein normales Arbeiten ermöglichen werde. Tatsächlich kann man online regelrecht beobachten, wie die Maschinen weggekauft werden. Ohne die Spenderinnen hätte ich nicht einfach zuschlagen können!

Unmus ist immer eine Chance, denke ich. Man muss nur erkennen, welche.

Wenn man alles neu macht, kann man planen. Nachdem ich Listen mit Prozessoren, RAM und Speicher, Anschlüssen und Zubehör verglichen hatte, bemerkte ich, dass ich dafür einigermaßen wissen musste, wofür ich das Ding brauchen würde. Würde nicht ein bequemerer Laptop reichen? Welche Aufgaben musste das Ding können? Unwillkürlich ertappte ich mich dabei, dass ich längst keine bessere Schreibmaschine mehr brauchte, um etwa neue Bücher zu schreiben. CMS und Lernmanagementsysteme, fette Datenmengen und Datenbanken - auch wenn ich ein Großprojekt gerade abgeschlossen hatte - in dem Metier will ich gern bleiben! Und ich denke, ich liege nicht ganz falsch, wenn ich darauf wette, dass hier Zukunft liegt. All das Homeschooling und Homeoffice mag ja per Skype & Co. ganz gut funktionieren. Aber was wäre alles möglich, wenn man dafür auf richtig intelligente Oberflächen zurückgreifen könnte! Was ich in den letzten Jahren gelernt habe, ist jetzt wertvoll.

Als ich dann auswählen musste, ob ich eine Webcam dazu möchte, fiel auch der letzte Groschen. Mit dem neuen Computer kann ich endlich allen modernen Schnickschnack machen, den andere derzeit haben: Videokonferenzen, Gruppenschaltungen. Oberflächen, wo man im Livevideo etwas zeigt und gleichzeitig können Leute Fragen stellen, man kann mit ihnen quasseln ... und und und.

Mögen viele jetzt schmunzeln: Mein altes Teil hier kann nicht mal Skype.

Damit ist die nächste Herausforderung entstanden: Online-Workshops. Was ich zunächst umständlich über Fotos und Messenger im Kopf hatte, geht jetzt richtig. Fast wie in Echt. Und dann eben nicht nur in Coronazeiten, sondern grundsätzlich! Ich erreiche damit Menschen, egal, wo sie leben - ich erreiche euch. Und dann können wir gemeinsam Art Journaling machen. Nebeneffekt: Ich muss mein Büro = Atelier im Einfallswinkel der Kamera endlich aufräumen.

Das wird mir Unabhängigkeit auch von Veranstaltungsorten geben. Und wenn ich schon dauernd im Elearning für andere denke, warum das nicht mal auf mich anwenden! Ich finde, so ergänzen sich meine Tätigkeiten perfekt.

Die freie Zeit, bis das Paket hoffentlich heil hier ankommen wird, werde ich maximal nutzen: Mit dem Genuss des Nichtstuns. Ich werde endlich arg spät Tomaten säen, faul in der Sonne räkeln und den Winter vergessen. Ich werde statt des Elchs den Hund knutschen. Und feine Pläne machen, im Kopf vordenken. Inzwischen werde ich den Workshop erst mal bei mir selbst belegen, um zu testen und Material zu haben, das ich nachher zeigen kann. Und ich könnte wetten, bis dann sind auch wieder Auftraggeber bereit mit neuen Projekten. Die Workshops im Museum finden auch irgendwann statt: Aufgeschoben ist nicht Aufgehoben!

PS: Das ist sicher mein langweiligster und übelst gelaberte Blogbeitrag. Aber es tut einfach mal gut, solchen Kleinkram loszuwerden, mit dem man sonst Bekannten die Ohren vollsülzt, die man zufällig zum Kaffee trifft.