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25. Januar 2020

Sie twittern mir die Ohren ab

Vögel zu füttern ist heutzutage fast eine Wissenschaft. Während sich die einen und anderen noch streiten, ob man's denn überhaupt tun soll, kann man auf Websites, in Videos und sogar Workshops im echten Zweibeinerleben lernen, wie genau man es perfekt machen könnte. Auch ich habe mich da durchgewühlt, denn ich finde es erschreckend, dass ich die Vogelarten inzwischen an einer Hand abzählen kann. Je mehr Wissen und Wissenschaft ich konsumierte, desto mehr erfuhr ich: Ich mache alles richtig. Doch gestern blieben plötzlich die Vögel aus, obwohl es schneidend kalt war. Warum?

Wer mit Hühner redet, kann auch Vögel verstehen ...


Man muss das einfach machen wie mit dem Hund. All den Perfektionskram beiseite lassen, Studien helfen auch nicht. Wohl aber Vögel beobachten! Zuzuhören ... Heute, beim Ausbringen von Sonnenblumenkernen. Nachdem ich gestern - vergeblich - die Superduperkörnermischung kredenzt hatte.

Kohlmeisen: Na endlich! Warum hat das so verdammt lang gedauert! Das Körnerfutter von gestern war ja die Pest!

Blaumeisen: Man hat die Sonnenblumenkerne darin mit der Lupe suchen müssen, hat wohl sparen müssen, die Menschin.

Ich: Aber die Mischung ist wissenschaftlich perfekt! Und ihr habt sie anfangs immer gefressen!

Freche Blaumeise: Seh ich aus, als bräuchte ich Winzelkörnchen? Ich bin nicht nur aufgeplustert, ich schaff so einen riesigen Sonnenblumenkern und Ruh ist!

Spatzenbrüder: Das Körnchenzeug fällt in Erdspalten. Mach's uns nicht so schwer, im Winter sind wir fauler. Schmeiss Großes!

Kohlmeisen: Mit Mehlwürmern stimmst du uns auch nicht um, denkst wohl, wir seien käuflich?

Ich: Aber ich dachte wegen der Energie ...

Kohlmeisen: Wir wollen unsere Sonnenblumenkerne wiederhaben. Basta.

Freche Blaumeise: Den Amseln machst du's ja auch schön.

Ich: Die fressen anderes. Und suchen auf dem Boden. Die können nicht Akrobatik am Häuschen.

Freche Blaumeise: Denen hast du Obstsalat unter der Fichte angerichtet.

Ich: Wollt ihr Obst?

Kohlmeisen im Chor: Die Menschin kapiert aber auch gar nichts. Ach wie so blöhöhöd, ach sind die Mehehehenschlein, ziep!

Ich: Warum seid ihr auf die Amseln neidisch?

Kohlmeisen: Die haben einen lachenden Baum.

Ich: Wieso lacht die Fichte?

Kohlmeisen: Das können doch sogar Vogelküken sehen, die halbfauligen Äpfel, die du da immer hinschmeißt ... da schmatzen die Pilze dran. Die Bakterien, die Kleinstlebewesen, das Bodenleben. Und wenn die alle schmatzen, lacht der Baum, dann ist er nicht mehr allein. Und dann freuen sich die Amseln ganz tierisch mit.

Ich: Ihr erzählt Märchen?

Kohlmeisen: Menschomensch, seid ihr dumm. Ihr nennt das Biotop.

Ich: Ihr habt doch auch eins.

Freche Meise: Die Rose, in der unser Häuschen hängt, lacht nicht. Die friert und bibbert.

Ich: Und treibt schon langsam aus.

Spatz: Und ist traurig. Deinen Körnerkram fressen höchstens die Mäuse. Das Bodenleben bibbert auch.

Ich: Und mit Sonnenblumenkernen ist das anders?

Spatzen, Kohlmeisen und Blaumeisen im Chor: Jaaaaaaaa! Die sind saftig, schmatzig, fett, lecker. Für alle. Und die Schalen werden zu Humus. Dann lacht die Rose. Wir wollen was zum Lachen haben!

Ich: Okeeeeeeee, ihr habt gewonnen.

Ich schreite zum Beutel mit den Sonnenblumenkernen und serviere nur die. Kaum habe ich das Fenster geschlossen, piepst und schmettert's fröhlich in der Rose, Spatzen tschilpen am Boden und wer nicht balancieren kann, hüpft aufs Fensterbrett zum Kerneknacken. Die Fichte lacht. Die Rose lacht. Und das Bodenleben schmatzt wohl auch.

21. Januar 2020

Ein Workshop wird geköchelt

Eigentlich hätte ich vorgestern vor einem Jahr schon fertig sein müssen. Profis, die einen Workshop bei einem Veranstalter geben wollen, hacken routiniert ihre Daten in die Tasten, trinken einen Kaffee - und fertig. Ich dagegen stelle mich diesmal besonders blöde an, obwohl ich genau weiß: Ich will einen Workshop machen, mit Menschen Paper Art fertigen. Und zwar so, dass jede und jeder das kann, ungeachtet von Vorkenntnissen. Und einen gewissen Sinn soll es auch noch haben.

Ein Musterbuch entsteht. Ich werde es im Workshop benutzen, um Techniken zu zeigen oder zu erklären, wie sich Materialien entwickeln, wenn man sie aufleimt. Man soll fühlen können, was man da tut. Gleichzeitig lerne ich beim Herstellen, auf welche Schritte im Kurs ich besonders achten muss: Etwa, wie man absoluten Laien auf einfache Weise ein wenig über Komposition beibringen kann. Zu sehen ist hier der Zustand, nachdem ich dem handgefärbten Papier eine Grundkomposition verpasst habe. Danach folgt die Feinarbeit. Materialien: Stoffe, Papiere, Naturfundstücke, Weißleim.


Das war schon das erste Problem: Perlendrehen ist in einem Workshop jetzt nicht so wirklich erheiternd. Es ist eine monotone Arbeit wie Tütenkleben - und die Behandlung danach dauert mit allen Arbeitsschritten eine Woche. Die ist dann auch eine richtige Sauerei. Überhaupt ist das Schmuckfertigen eine langwierige Sauerei, dazu braucht es außerdem Spezialwerkzeug und ja, tatsächlich auch Können. Das Feld ist weit bei Paper Art - ich suchte also etwas "Niederschwelliges", wie das so schön modern heißt. Sprich, auch Menschen, die von sich selbst behaupten, sie könnten nicht kreativ sein, sollen mitmachen können! Und vielleicht den Effekt nicht erst nach einer Woche Trockenzeit sehen.

Eine der einfachsten Grundkompositionen ist ein asymetrisches Kreuz. Dazu kann man dann in anderen geometrischen Formen kombinieren, entweder, indem man die Kreuzform verstärkt oder wie hier als Gegenspannung eine Art gebogener Diagonale bildet. Aufgeklebt wurden bedrucktes Papier, Fetzen aus einem alten kaputten Rock und handbeschriebener, handbedruckter Kaffeefilter. Der wird übrigens in gebrauchtem Zustand bearbeitet und nur darum so interessant. Durch Befühlen und Schauen werde ich intuitiv entscheiden, wie ich die Seite weiter bearbeiten könnte.


So kam ich auf die Art Journals, für die es nicht wirklich Bezeichnungen in anderen Sprachen gibt. Ein Thema steht auch schon fest, denn das gibt etwas Sicherheit und Orientierung. Völlige Freiheit beim Machen verunsichert oft, wenn man noch nie gemacht hat. Schmetterlinge! Schmetterlinge sind für mich ideal, weil sie jeder und jedem etwas sagen. Weil sie Schönheit verkörpern. Und auch naturfernen Menschen einen Zugang zur Natur schaffen.

Womit ich schon beim Hintersinn wäre. Ich will ja nicht einfach nur mit Papier und Zeugs basteln, das im Fall des Workshops übrigens nachhaltig sein soll: Wir arbeiten mit Recycling und "Müll", nur die Unterlage ist feines Künstlerpapier. Die Schmetterlinge ermöglichen uns den Zugang zur Natur, zu Insekten und Arten - und dann sind wir schon bei einem Thema, das zum Bauerngarten des Kulturerbezentrums passt: Artenschutz. Insektensterben. Sensibilisierung im "Maisland". Was können wir für die Schmetterlinge tun, während Ackerränder verschwinden und in Gärten oft nur noch Steine "blühen"?

Reale Schmetterlinge werden eine Rolle spielen. Man kann sie wie bei einer Collage aus alten Zeitschriften ausschneiden, aber auch welche zeichnen oder malen, vielleicht sogar sticken oder aus gepressten Blättern formen. Man kann sie dreidimensional flach aus Papier oder Stoff basteln - der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt und die Materialien sind vielfältig.


Mir geht es um einen Aspekt, der bei allem Klima- und Naturschutz im Moment etwas zu kurz zu kommen scheint. Auch die taz fragte neulich, was nach der wissenschaftlichen Aufklärung kommen müsse, um die Menschen zu packen. Genau das ist der Punkt: Man kann Menschen politisch begeistern oder durch Fakten überzeugen. Aber für echte Visionen und die Handlungen, diese ins Leben zu bringen, braucht es mehr als eine technologische oder analytische Herangehensweise, weil das ein kreativer Vorgang ist. Um kreativ zu werden, muss mich etwas berühren, meine Gefühle ansprechen. Visionen entstehen nicht gewollt und am Reißbrett geplant, sie wachsen aus einem ungeheuer reichhaltigen Kompost der Fantasie, der Gefühle, dem, was mich ausmacht, wie ich die Welt wahrnehme, mich in der Natur wahrnehme und vielem mehr. Solche Arbeit braucht mehr als Worte. Auch wenn es esoterisch platt klingt: Da muss man die Herzen ansprechen.

Farben sind ein wichtiges Thema. Grundsätzlich darf die Farbauswahl beim Art Journal völlig frei und spontan erfolgen, ja sogar je nach Tageslaune schwanken. Das Wort impliziert ja: Man arbeitet da an einem bestimmten Tag dran und an einem anderen kann, wie beim Tagebuch, alles völlig anders sein. Trotzdem habe ich mich immer gefragt, wie die großen Könnerinnen ihre Bücher so harmonisch wirken lassen, als seien sie fast organisch gewachsen. Ich habe das Geheimnis erst durchs Basteln entdeckt: Ich sammle die Materialien für ein Buch im Voraus zusammen und stecke das zum spontanen Aussuchen in eine Schachtel (Foto hier auf Instagram). So kann ich leicht in einem bestimmten Farbspektrum bleiben. Das Wissen vom Farbkreis sagt mir, was harmonisch passt und was auffällig akzentuieren würde. Oder warum hier ein Quietscheorange stört, obwohl bestimmte Orangetöne zu den Brauntönen passen könnten.


Und deshalb soll dieser Workshop Freude bereiten, wir wollen Schönheit schaffen, gemeinsam genießen, vielleicht Glücksmomente erleben. Empowerment. Kann ich eine wildfremde, zufällig zusammengewürfelte Gruppe von Menschen dafür begeistern, miteinander Dinge zu teilen? Kann ich vielleicht völlig naturfernen Menschen etwas in die Hand geben, das sie neugierig macht auf Natur?

Und so ist neben all der Logistik (z.B.: Welches Material ist inklusive und was wird es kosten?) das Basteln derzeit für mich eine Quelle der Ideen, weil ich selbst be-greife, fühle, probiere.

Diese Art Journals sind nicht nur ein Vergnügen für die Augen, sondern auch für den Tastsinn. Hier vereint: Papiere, ein Stück gewirkte Borte, Ahornsamen, gefärbter Mull (von Mullkompressen) und Baumbast. Den Baumbast werde ich durch Sticken fixieren. Übrigens duften diese Seiten sogar oft, weil man natürliche Färbeverfahren eine ganze Weile riechen kann. So kann man z.B. Färben mit Kaffee noch lange am Kaffeeduft erkennen.


Ich will anfangs kleine Bündelchen mit Material verteilen. Unterschiedliche Papiere, Stoffreste, Zeug zum Kleben. Umwunden mit Papiergarn und Rindenbast, Schnurresten - was man ebenfalls brauchen kann. Dekoriert mit Fundstückchen aus der Natur, Zweigen als Buchhalterung für den Rücken. Auf welche Weise ich sie verteilen werde, weiß ich noch nicht. Aber jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer wird mindestens ein Stück daraus mit jemand anderem tauschen müssen. Wir wollen ja etwas miteinander teilen! In der Richtung habe ich noch andere Ideen.

Zuerst einmal wird das ein Halbtagsworkshop werden, eine Art Übersicht. Langwierige Techniken werde ich dann nur erklären können, wie die künstliche Alterung des Papiers, das uns als Buchseiten dient. Die dauert zwei Tage und das kann jede/r für sich zuhause ausprobieren. Und wenn dann Interesse für mehr besteht, kann ich Workshops für einzelne Techniken nachschieben, etwa den Hammerdruck mit frischen Pflanzen. Oder eine Gruppe aufmachen, die sich regelmäßig trifft.

Ein paar "Gimmicks" in Sachen Schmetterlinge werde ich einbauen, die ich hier nicht verraten möchte. Wir werden auch spielerisch lernen, welche Arten in unsere Region häufig sind und welche vom Aussterben bedroht sind. Was man praktisch im eigenen Umfeld tun kann, um sie zu fördern. Unsere Büchlein werden insofern irgendwie auch Merkhefte werden. Für die eigene Verpuppung zum Kreativen, für mehr Aufmerksamkeit für Insekten um uns herum.

Wie edel diese Stoffreste sind, kann man am Foto kaum sehen, aber man fühlt es. Der Querstreifen glitzert außerdem golden. In das Material bin ich ganz verliebt, weil es so vielseitig ist und ich sogar Perlen daraus fertigen kann. Es handelt sich um Seidenabfälle aus der Sariherstellung, die sonst auf Deponien landen würden. Es gibt auch Projekte, die dabei kleine Frauengruppen unterstützen.


Und immer wieder erinnern uns die Büchlein an Nachhaltigkeit und Müllvermeidung im positiven Sinne. Denn wer einmal von diesem "Virus" befallen ist, wird überall Bastelmaterial entdecken: Das alte T-Shirt oder ein zerschlissener Kopfkissenbezug, gebrauchte Tee- und Kaffeefilter, Reste von Fäden, Schnüren und Geschenkbändern, das Glitzerpapier am Hals einer Sektflasche oder der Pizzakarton für ein stabiles Cover. Ich selbst hatte schon ein schlechtes Gewissen, so viel in meine Atelierregale zu stopfen, aber wenn ich es richtig überschaue, habe ich womöglich geahnt, dass ich einiges für einen Workshop verbrauchen werde. Und dort auch zum Verkauf anbieten kann. Jetzt bin ich jedenfalls gespannt, wie meine Planungen weitergehen und vor allem: Was die Teilnehmenden Schönes erschaffen werden!

Auf meinem Instagram-Account kann man mitverfolgen, wie die Musterseiten ausgearbeitet werden. Dort zeige ich z.B. gerade, wie ich das wilde Sticken auf der einen Seite in seiner Zufälligkeit auf der Rückseite für neue Kompositionen nutze.

Seine Durchlaucht wird bürgerlich

Er hat zuviel über die Royals gehört. Gestern legte Bilbo schnell mal seinen Adelstitel ab. Der Grund: Er hatte sich - während ich extrem durch Pflanzenbeobachtung abgelenkt war - auf einer halb zersetzten Maus gewälzt. Er weiß, dass ich nicht rechtzeitig reagiere, wenn ich etwas beobachte. Fortan hörte er also auf den bürgerlichen Namen Monsieur Stinkel!

Das royale Ritual der neuen Bürgerlichkeit.


Aber keine Angst. Die Zweibeinerin hatte mit scharfen Augen gesehen, dass Monsieur Stinkel vor lauter Wollust die Maus um Haaresbreite verfehlt hatte. Und die war auch schon nah genug am Kompostzustand, so dass der Stink nicht mehr gar so schlimm stinkelt. Monsieur Stinkel trug lediglich seine Schlammabzeichen voller Stolz nach Hause. Die kann man trocknen lassen und dann auskämmen. Da, wo er rankommt, hat er längst Katzenwäsche gemacht, die ja eigentlich - wie das Beispiel beweist - von Hunden erfunden wurde.

Und heute?

Monsieur Stinkel findet das bürgerliche Leben à la Harry und Meghan nun doch öde und will wieder Seine Durchlaucht Bilbo von Butterblum genannt werden. Er liegt an der Atelierheizung (sowas gibt's!) und quatscht als Inspirational Manager ständig rein:

Warum willst du einen Workshop ausgerechnet über Schmetterlinge machen? Hunde sind die Krone der Schöpfung!

Ich kontere: Vergiss es. Das mit der Krone hat schon eine Spezies versaut. Demut statt Dünkel, mein Lieber!

Dann mach einen Workshop "Hundeln für Menschel".

Was soll das sein?

Sozialverhalten. Sich kümmern, schmusen, fressen und so.

Stell doch den Antrag im Museum und mach!

Seine Durchlaucht dreht sich zur Heizung. Er wird nur für Inspirationen bezahlt und grummelt: Dass du ja den Leuten sagst, dass all die tollen Teilchen aus dem Wald, die sie zum Basteln bekommen, von mir gesammelt wurden!

Ich hab sie geschleppt.

Für irgendwas müsst ihr Zweibeiner ja nütze sein. Müssen es wirklich Schmetter...

Zum Teufel, ja! Es geht um Insektensterben, bedrohte Tierarten. Ihr seid nicht bedroht.

Jetzt knatscht er: Sprechende Hunde SIND bedroht!

Wie soll man gegen solch einen Mitarbeiter ankommen? Ich mache mir derweil Notizen, wie man Papierschmetterlinge sprechen lassen könnte ...

15. Januar 2020

Neue Pläne

War das gut, dass ich euch über euer Blogleseverhalten gefragt habe, das hat mir einige Anregungen gegeben:
  • Beim nächsten Dauerregenzuvielzeitwetter das Layout aufbessern und aufhübschen.
  • Mal in Richtung Hörstoff experimentieren (siehe Wetter oben).
  • Noch mehr tolle Geschichten auftun.
  • So weitermachen.
Herzlichen Dank an alle, die Feedback gegeben haben! Und natürlich an all diejenigen, die stumm und fleißig lesen.

Jeder Mensch kann kreativ tätig sein - mit ein wenig Anleitung und den richtigen Materialien entstehen schöne Dinge (Foto: Künstlerbuch mit Gelatinedruck und Schablonentechnik.)


Apropos Wetter und Zeit ... das ist immer so eine Sache, wenn man viel Neues plant und ja auch noch einen Doppelberuf hat.

Zuerst habe ich Lust, etwas Neues zumindest zu beobachten, wenn nicht gar zu lernen. Ich kann mir selbst noch nicht glauben, dass ich demnächst in eine traditionelle Männerdomäne vorstoßen werde (allerdings nicht als einzige Frau): Ich werde den Club de Marqueterie besuchen. Auf Deutsch heißt die Technik Marketerie (ich lerne das nie), aus Holzfurnieren werden dabei Bilder und Muster gearbeitet, für Bilder oder auf Möbeln. Durch den weltweit berühmten Charles Spindler wurde das Kunsthandwerk im Elsass beliebt, auch sein Nachfahr ist weltbekannt. Vor nicht allzu langer Zeit konnte ich Werke von Georges Vriz sehen, der eine neue Technik entwickelt hat, die man in Echt sehen muss - er schleift übereinanderliegende Hölzer transparent, dreidimensional.

So etwas Ähnliches schwebt mir vor mit Holzfurnier und Papier. Hier auf dem Bild habe ich reine Collagetechnik angewandt und ein hauchdünnes metallisches Plättchen mit Rost aufgelegt.


Und eine Künstlerin, deren Name ich leider vergessen hat, fertigt Marketerie aus Stroh und schafft damit wunderbare abstrakte, sehr farbenfrohe Bilder. Früher nannte man das Marketerie für Arme, heute entsteht daraus auch ungewöhnliches wie Schmuck. Fotos gibt es hier von Cindy Dell, die dafür Stroh mit Holz kombiniert, von Violette Beluzzi, Sabine Machabert oder Lucie Richard. Man könnte fast sagen: Die Frauen, die diese einst rein männliche Domäne erobern, sind am experimentierfreudigsten und schaffen auch Objekte, die man bei dieser Technik früher nicht kannte.

Genau die - und eigene Versuche mit Holzfurnier oder Fremdmaterialien - haben mich aber inspiriert, ob man nicht so etwas mit Papieren oder Pappen schaffen könnte. Und genau darum muss ich unbedingt die Technik lernen, von den Könnern. Ausgerechnet ich, die ich gerade noch eine dicke Narbe auf dem Zeigefinger kuriere, der in die Autotür geklemmt gewesen war! Ausgerechnet ich, die aus Gründen extrem scharfe Schneidwerkzeuge wenig liebe. Ich weiß noch nicht, was daraus werden wird. Schlimmstenfalls eine gute Geschichte fürs Blog, bestenfalls eine neue Technik fürs Atelier.

Und etwas anderes wird sehr konkret, für das ich einige Zeit im Verborgenen vorgeschafft habe. Ich musste mich da erst als kompetent beweisen und Ideen entwickeln. Vor mir liegt das Bewerbungsformular für Workshops im Maison Rurale. Ich muss "nur noch" einen genauen Plan aufstellen, ein passendes Thema finden und einen freien Termin dazu - dann kann man dort mit mir in Paper Art eingeweiht werden, ganz praktisch. Soviel kann ich schon verraten: Wir werden keinen Schmuck fertigen, aber etwas anderes sehr Spannendes kennenlernen. Auf Europlais - ich kann spontan drei Sprachen mischen, aber Französisch wird natürlich Hauptsprache sein.

9. Januar 2020

Was wollt ihr lesen?

Ich hoffe im Positiven, dass ein extremer Einbruch an LeserInnenzahlen hier seit Jahresbeginn nur an irgendeiner Bereinigung von Google, einem Bug derselben und der Ferienzeit liegen. Die müsste aber so langsam mal vorbei sein? Im Moment sieht das so mies aus, dass ich mich ernsthaft frage, für wen ich überhaupt noch schreibe (Kommentare schreiben auch nur immer dieselben).

Soll ich gehen? Ich will aber nicht! ;-)


Darum frage ich euch: Was von meinen Beiträgen lest ihr besonders gern? Welche Schwerpunkte könnte ich deshalb 2020 setzen? Was schreckt euch eher ab? Oder ist Bloglesen plötzlich out? Soll ich meine Beiträge lieber als Podcast in ein Mikrophon quasseln? Wegen was kommt ihr besonders gern hierher?

Oder ist es die Technik? Gibt es ein Problem auf bestimmten Geräten? Reicht euch ein RSS-Abo nicht - hättet ihr lieber ein Mailabo ähnlich wie bei einem Newsletter? Das wäre eine Art Digest, der wöchentlich oder monatlich im Mailfach landete.

Oder kann ich zumachen, weil alle bei Whatsapp & Co hocken?

Ich bin immer für Vorschläge offen und lerne auch gern, warum plötzlich kaum noch jemand meine neuen Beiträge zu lesen scheint. Denn die brauchen oft verdammt viel Zeit und machen Arbeit ...
Kommentieren könnt ihr wie immer, wer wegen der DSDingens unsichtbar bleiben will, wählt einfach "Anonym" und dann kann man im Kommentar selbst einen Vornamen oder ein Alias nennen, das macht es netter und persönlicher. Absolut anonyme Kommentare landen erst mal in einer extra-Moderationsschleife, weil so meist Spam verschickt wird.

Update 12.1.2020

Inzwischen kommen die LeserInnen zurück, es lag wohl doch nur an der Ferienzeit. Und Google scheint erfolgreich ein paar ukrainische Rotlichtbots zerbröselt zu haben. ;-)

Ich danke herzlich allen, die mitgemacht haben oder noch kommentieren werden, ihr habt mir wertvolle Anregungen gegeben. Sonst schafft man ja immer in den Nebel hinein ... ich freue mich z.B. sehr, dass noch Leute RSS-Feeds abonnieren, nachdem die mal eine Weile totgesagt waren.

Zum Thema Podcast - ich hatte mal spaßhalber zwei Blogbeiträge bei Spreaker eingelesen, also nicht wirklich ein Podcast, sondern Hörtext. Das war die einfachste und (noch) kostenlose Variante, wo ich einfach ins Handy babble. Die beiden Episoden kann man hier anhören (mein Profil bei Spreaker). Oder einzeln:

Ein Hund wird Händler
Von Pilzen, Hunden und der Erde

8. Januar 2020

Wie sag ich's Kindern?

Es passt gerade so wunderbar zu meinem letzten Beitrag und spricht mir aus dem Herzen, darum ein Lesetipp im Atlantic: The Concession to Climate Change I Will Not Make.



Genau das finde ich so wichtig, auch in unserem täglichen Umgang miteinander:
I think about trying to teach him love and wonder first, before he inevitably learns fear. I would like him to be fascinated by a Manhattan red oak, a red-tailed hawk perched in its limbs, or a morel mushroom at its roots, before he thinks, This forest is going to die, with everything in it. When the thought of climate doom arrives, I hope it will arrive in a mind already prepared by curiosity and pleasure to know why this world is worth fighting to preserve.

Ich denke mir das manchmal bei Menschen, die nur noch moralinsauer sein können und sich selbst das Lächeln verbieten: Es ist wichtig, um Wälder zu kämpfen. Aber wann haben sie das letzte Mal die Rinde eines Baums gestreichelt, ihren Rücken an einen starken Stamm gelehnt oder sind mit den Augen im Moos spazierengegangen? Diese Verbindung lässt uns ganz anders kämpfen.

Es ist ein schön leiser Artikel eines Vaters, der angesichts seines Babys darüber nachdenkt, wie er mit ihm über die Welt im Klimawandel reden will, ein Beitrag über permanenten Verlust im Leben und die Gemeinsamkeit der Generationen.

7. Januar 2020

Wir brauchen dringend Medizin!

Demnächst bin ich beim Jahresessen unseres Museumvereins eingeladen, von dem ich lange nicht alle Mitglieder kenne. Wir sind samt PartnerInnen immerhin so viele, dass wir eine ganze Mehrzweckhalle füllen. Und es wird sicherlich so schön wie bei unseren Festen im Museum: Man kann mit wildfremden Leuten am Tisch nette Gespräche haben. Hilfreich gegen die Hemmschwelle oder auch Ängste mancher Menschen sind dann meist diejenigen, die ich als "connectors" bezeichnen möchte: Menschen, die vermittelnd wirken und einfach mal zwei getrennte Wesen an die Hand nehmen und zusammenführen. Die eine Unterhaltung wieder neu entfachen, wenn sie zu ersterben droht, weil nicht jede/r so geübt ist, mit Unbekannten loszuquasseln. Ist das Eis gebrochen, sind alle Seiten glücklich. Diese "connectors" wirken wie Medizin.

Ochsen sagt man Sturheit nach, was sie wohl über Menschen sagen würden?


Als wahres Kontrastprogramm bekam ich heute bei Twitter live einen Einblick ins sogenannte Sifftwitter, dessen Mitglieder an nichts anderem arbeiten, als 24 Std. am Tag Hass und politische Verfolgung zu organisieren und zu streuen. Aber darum soll es nicht gehen. Ich will auch nicht die alte Leier anwerfen, Social Media seien ja ach so übel. Nö, denn gerade bei Twitter habe ich auch fantastische und interessante Kontakte machen können. Ich will in diesem Jahr auf das Positive, Konstruktive schauen: Was ist bei diesen positiven Kontakten so anders? Warum funktionieren sie in einer Weise, dass man sich völlig spontan auch im Echtleben auf einen Kaffee treffen würde?

Ich muss ausholen, was dieser Beitrag soll. Ähnlich wie die meisten bin ich immer mehr überwältigt und überfordert von Horrornachrichten und apokalyptischen Bildern, deren Ausblenden die Welt aber auch nicht besser machen würde - sondern nur mich dümmer. Dazu die Kriegsgefahr durch Dumpforange - als hätten wir nicht genügend massive Probleme zu lösen. Heute Sifftwitter dazu und ich meinte scherzhaft zu einer Bekannten, jetzt könne ich einen Schnaps gebrauchen. Ich saß beim Frühstück, der Schnaps war natürlich rein virtuell. Aber er zeigte mir, was in diesem Moment dringend nötig war: Ich wollte mich mit etwas nähren. Mich nähren mit etwas, das vermeintlich schnell und durchschlagend hilft: Medizin.

Weil der Bedarf an Medizin gegen Widrigkeiten öfter hochkommt, interessiere ich mich derzeit für Menschen und Angebote, die das leisten. Die konstruktiv damit umgehen, dass wir in so einer tumultartigen Wendezeit leben. Und ich lese das Buch "Braiding Sweetgrass" von Robin Wall Kimmerer, das mich ziemlich überrascht hat. Ich dachte, ich hätte Nature Writing von einer Biologin gekauft, würde Fakten über die Natur lernen***. Stattdessen interessiert sich die Wissenschaftlerin für genau die Fragen, die mir auf den Nägeln brennen: Wie schaffen wir es, in diesen Zeiten nicht durchzudrehen, nicht in Schwärze oder Hoffnungslosigkeit zu versinken, sondern durchaus glücklich zu leben und zuversichtlich zu handeln? Was könnte unsere Medizin sein, wie können wir uns selbst nähren? Oder wie es viel zu flach in der Coaching-Erleuchtungsliteratur heißt: "unsere Akkus aufladen." Flach deshalb, weil es doch wieder nur das kapitalistisch ausbeutbare Bild des perfektionierten und funktionierenden Menschen kolportiert, dem andere den Strom abzapfen.

Nun hat Robin Wall Kimmerer als Native eine eigene, uralte Medizin und schenkt uns damit einen neuen alten Blick auf die Natur und menschliches Miteinander, aber auch das Miteinander aller Lebewesen. Davon können wir viel lernen. Überhaupt wird es Zeit, endlich einmal auf das zu hören, was indigene Völker dieser Erde uns zu sagen haben. Aber das einfach zu kopieren, wäre auch nur eine Aneignung. Kimmerer hat jedoch diese faszinierende Art, so offen und allgemeingültig davon zu erzählen, dass wir selbst draufkommen: Traditionen des Miteinanders habe wir auch! Wir haben sie nur vergessen.


Früher hatte jeder mindestens einen Hausbaum in Hausnähe im Garten.


In meiner Lebensspanne habe ich das noch erlebt. Als ich ins Elsass zog, also vor etwa 30 Jahren, haben die alten Leute auf dem Land noch ihren Hausbaum gegrüßt. Es war ein völlig normales Ritual der Wertschätzung, das die Jüngeren nicht wunderte. Alte Männer zogen den Hut, ein Bonjour murmelnd, manche nickten nur leicht, manche schämten sich vor anderen und beließen es bei einem längeren Blick. Den "Hausbaum" pflanzte man bei der Geburt eines Kindes, in der Zeit der Hausgeburten vergrub man damit die Plazenta zur Düngung - und natürlichen Entsorgung. Es waren oft Baumarten, die einmal die Kinder nähren konnten: Obst- und Nussbäume oder als Schnapslieferant und Medizin Holunder. Frauen teilten da also ein Stück von sich selbst und Männer ihre Energie mit einem Lebewesen, dessen Früchte viele Jahrzehnte später noch die Kinder nähren würde. Vergangenheit und Zukunft wurden gedacht im Moment des Pflanzens. Zum Dank grüßten die Leute ihre Hausbäume täglich beim Gehen oder Kommen und hinterließen ihnen an bestimmten Festtagen oder einfach als Dankeschön Geschenke. Etwas Kaffeesatz oder Gemüsekompost, aber auch mal ein Glas Wein oder den kalten Rest Milchkaffee. Bäume und Menschen begegneten sich als Lebewesen, nährten sich gegenseitig.

Und ja, das ist der Baum, über den heute alle lachen, wenn es heißt, man habe ein Haus gebaut, ein Kind gezeugt und einen Baum gepflanzt. Heute versteht kaum noch jemand, dass ein Baum zur Familie gehören kann. Können wir überhaupt wieder zu einem Zustand gelangen, indem wir die Lebewesen dieser Erde wirklich als solche wahrnehmen und wertschätzen - und dabei gleichzeitig vom üblen Irrtum der "Krone der Schöpfung" runterkommen? (Anm. 1)

Da ist noch eine Geschichte, die ich vielleicht schon einmal erwähnt habe: die von den gärtnernden Mäusen. Sie ist vielleicht am rechten Platz, wenn manche Menschen nur noch dunkelste Apokalyptik verbreiten. Ich meine damit ausdrücklich nicht die Menschen, die sachlich Katastrophen wahrnehmen und warnen oder sich für den Klimaschutz engagieren. Sondern die Gefühlsextremisten, die vorsätzlich aus oft recht eigennützigen Gründen Panik schüren und gleichzeitig die verlachen, die Handlungsspielräume sehen und einfach mal machen. Die gärtnernden Mäuse lehren mich, dass alles mit allem zusammenhängt und der oberflächliche Schein oft trügt.

Es geht um Bilbos "Buddelwiese", eine große, an Felder und Wald angrenzende Wiesenfläche, die vom Bauern genutzt wird und eine der wenigen ist, die im Frühjahr im Goldgelb wilder Schlüsselblumen leuchtet. Die sind selten geworden in den Nordvogesen, stehen unter Schutz und waren auf dieser Wiese fast ausgerottet.

Ende März / April leuchten die Schlüsselblumen mit dem Löwenzahn um die Wette.


Das Problem war zunächst der Bauer selbst, der sich immer größere Maschinen auslieh. Muss er, weil er immer weniger verdient, also schneller fertig sein muss. Das wollen die VerbraucherInnen so. Und so hat er mit der Zeit mit seinem Trecker den Boden immer übler verdichtet, immer öfter Heu gemacht und die Wiese noch mehr geschädigt. Manche Wildblumen blieben aus, auch Schlüsselblumen blühten nur noch sehr vereinzelt hier und da. Und in den Jahren der Dürre, als das Gras auf der Wurzel verbrannte, ging es dem Boden anderweitig nicht gut.

Plötzlich kamen die Mäuse, Heerscharen. Feldmäuse, habe ich festgestellt (ohne genau zu wissen warum), siedeln sich hier besonders stark auf solch geschädigten Böden an. Ob es die Bodenverdichtung ist, das niedrigere Gras oder das Mistauffahren im späten Winter - ich weiß es nicht. Heute kann ich auf diesen Wiesen nur noch laufen, wenn ich aufmerksam den Boden beachte. Zu leicht verknackst man sich den Fuß in den Löchern, in trockenen Sommern brechen ganze Gänge ein. Für Bilbo ein Schnüffelparadies.

Feldmäuse, die zu den Wühlmäusen gehören, erkennt man daran, dass sie vor ihrem Mausloch alles kurz fressen und auch auf ihren oberirdischen Gängen alle Vegetation abweiden. Sieht aus wie Straßenbau. Sie fressen Gras, Kräuter, Samen und auch mal Getreide. Aber sie sind wählerisch.

Das sieht man daran, dass in solchen Wiesen Tuffs von Gras stehenbleiben, oder Wiesenblumen. Wie ich diese Wiese über Jahre hinweg beobachte, haben sie die Mäuse verwandelt. Bestimmte samenreiche Blütenpflanzen vermehren sich stärker. So kam ich auf die eher witzig gemeinte Bezeichnung der gärtnernden Mäuse: Sie fressen diese Pflanzen nicht an, wohl aber speisen sie ihre Samen. Gleichzeitig hat sich eine neue Grasart um ihre Nester und auf den Gängen verbreitet, die es früher nicht gab. Es ist ein sehr dicht wachsendes, extrem feines Gras, das ich erst bestimmen kann, wenn es Blüten haben wird. Es wird von ihnen nicht angerührt. Es ist, als würden die Mäuse nicht nur bestimmte Blumen, sondern auch diese kleinen Graspolster züchten. Zwischen denen wiederum wachsen neuerdings alle möglichen Wildkleearten, Ampfer oder Glatthafer.

Wir dürfen den Blick für das Winzige nicht verlieren.


Letzteren hat jemand anderes angeschleppt, denn der wuchs früher nur am Waldrand. Diese Grassorte ist vitamin- und mineralstoffreich und süß, Bilbo nutzt sie für die Verdauung, Wildschweine lieben sie. Und die kommen seit einigen Jahren auf diese Wiesen, weil sie noch etwas anderes gern fressen: Klee, Ampfer und - vor allem Mäuse! Ein Leckerbissen. Bei der Kälte müssen sie ihnen nur an ihren Gängen auflauern oder ein wenig nachhelfen: Die Mauseburgzentren werden aufgewühlt. Zu den niedlichen "Mäusegärtchen" mit dem dichten Kleingras kommen die Saukuhlen, in denen das Wasser steht. In den feuchten Brachen siedeln sich neue Kräuter an und Feuchtwiesenblumen. Dabei schleppen die Wildschweine im Pelz und Kot neue Samen mit, wie eben den Glatthafer; gärtnern, wenn man so will, auf ihre Weise mit.

Natürlich schmeckt das Aufwühlen dem Bauern gar nicht. Aber weil Zeit und Geld fehlen, bosselt er gar nicht mehr so viel herum wie früher, um die Tiere zu bekämpfen. Er hat nämlich bemerkt, dass beide Spezies an der Durchlüftung seiner Wiese arbeiten und es reicht, den Boden im Frühjahr nur einmal oberflächlich zu vertikulieren! Vor allem hat er gesehen: Die Wildschweine und auch Raubvögel halten die Mauspopulation in Schach. Jetzt verteilen sich manche Pflanzen noch leichter.

Und die Schlüsselblumen? Die mögen die freigefressenen Maus"straßen" und die feuchten Wildschweinkuhlen noch mehr als den Boden früher. Das Vertikulieren macht ihnen nichts aus, im Gegenteil, es teilt ganze Polster zu Einzelpflanzen, die wiederum neue Polster bilden. Und so sind auch irgendwie die Mäuse daran schuld, dass es auf einer zu sehr bearbeiteten Wiese wieder seltene Schlüsselblumen gibt. Noch mehr haben sie geschafft: Das von ihnen geförderte Gras ist extrem trockenheitsresistent. Es war als einziges in den letzten Dürrejahren im Sommer grün und hat damit den Boden geschützt. Es hält Feuchtigkeit im Boden und schützt Bodenleben und Humus. Und das Ende der Geschichte? Dieser Bauer kann einmal mehr im Jahr Heu machen, während seine KollegInnen in die Röhre schauen. Auf den Wiesen ohne Mäuse war alles vertrocknet, wirklich alles.

Mich nähren diese Mäuse. Sie lehren mich, dass in einem Ökosystem nichts unsinnig ist, was so mancher Laie dazu erklärt. Vor allem aber zeigen sie mir, wie faszinierend Natur sich organisieren kann, wenn man sie nur in Ruhe lässt und nicht gleich alles zum Schädling erklärt, was man nicht mag. Natürlich werden die Wildschweine geschossen, wenn sie überhand nehmen. Aber eben auch nur dann. Denn sie sorgen dafür, dass es nicht zuviele Mäuse gibt. Alle zusammen fördern die Blütenvielfalt der Wiese und die wiederum Schmetterlinge, Wildbienen, Insekten.

Natur ist so eine Medizin, die wir dringend brauchen. Natürlich müssen wir genau hinschauen, wenn es um Artensterben oder das Zugrunderichten von Lebensräumen und Biotopen geht. Um das aber wirklich richtig zu kapieren, um uns überhaupt berühren zu lassen, müssen wir einen neuen Blick für die Natur bekommen. Einmal alle Besserwisserei fahrenlassen und von unseren Mitgeschöpfen lernen: den Tieren, den Pflanzen und Pilzen, dem Bodenleben und allem, was wir nur unterm Mikroskop erkennen können. Wie leben die alle miteinander, was teilen sie miteinander? Wo wird die Balance gestört, weil plötzlich etwas fehlt oder etwas anderes zuviel ist? Wo und warum sind wir einfach nur Störenfriede wie dieser ungebetene nervende Besuch, der einfach nicht gehen will?

Diese Art von Medizin ist nichts, was man sich einfach mit einem Rezept abholt und konsumiert. Sie wird einem geschenkt, wenn man die Perspektive verschiebt und komische Sachen fragt. Etwa: Was wäre, wenn Mäuse Gärtner wären? Vielleicht könnten wir dann auch den Umgang mit den Menschen besser hinbekommen? Was wäre wenn ...?



*** Wenn ich öfter Dinge im Blog mehrfach erwähne, liegt es wie in diesem Fall nicht an Vergesslichkeit. Manches begleitet mich länger, in immer neuen Aspekten. Und da mein Blog nicht nur von StammleserInnen angesteuert wird, sondern viel via Google, möchte ich auch ZufallsleserInnen die wichtigsten Zusammenhänge bieten.

Anm. 1: Der Urtext spricht von Mitgeschöpflichkeit und einer Rolle der Menschen als "Gärtner" im altmesopotamischen Sinn, d.h. als HegerIn und PflegerIn der Schöpfung. Das waren damals mehr Pflichten, Ökosysteme zu erhalten, kein Grund für Hybris.

Anm. 2: Ich möchte an dieser Stelle denjenigen danken, die es durch Spenden für meine Blogarbeit (rechts im Menu unter "Wer liebt, gibt") ermöglichen, dass ich mich auch ausführlich solch zeitaufwändigeren Themen wie diesem widmen kann!

1. Januar 2020

Die Neujahrsbrezel

Am Sonntag, als sich in deutschsprachigen Social Media eine der unsinnigsten und übelsten Hassspiralen aufbaute und die Shitstorms von Rechtsradikalen gehackt wurden, schaltete ich überdrüssig ab und ging zu einer Veranstaltung im Kulturerbezentrum, wo uns ein Bäcker etwas über den elsässischen Brauch der Neujahrsbrezel erzählen wollte. Während ich noch über so viele Exemplare des Homo "sapiens" den Kopf schüttelte, bekam ich ein paar erhellende Lehrstunden nicht nur über Brezel.

Im Zimmer der Großmutter entwickelte sich ein Gespräch ...


Nun ist es ja vordergründig (!) "Omakram" (sagen manche, die es nie erlebt haben), was da so läuft: Wir erzählen Leuten in einem Bauernhof etwas von früher, der mit Gegenständen von ca. 1920-1950 eingerichtet ist, manchmal auch älter. Vor allem die Augen von alten Leuten leuchten natürlich, weil sie sich an ihre Kindheit erinnern. Fluchten ins Früher? Schöne heile Welt? Mitnichten: Wir MitarbeiterInnen wissen genau, wie gern solche Themen von den Falschen gekapert werden - und wir wissen, wie wir das verhindern oder im Ernstfall damit umgehen. Unsere Kultur ist zutiefst europäisch, offen, verbindend.

Eigentlich wollte ich die Gelegenheit nutzen, bei der Führung einer Kollegin mitzulaufen und etwas durch Zuhören zu lernen, denn diesmal war das Thema Rauhnächte. Aber es war so brechend voll, dass ich mich plötzlich mit einer Frau abgeschlagen von der Gruppe in "Großmutters Stube" wiederfand und ihr von dem erzählte, was hier zu sehen war. Während unsere Zeitgenossen die "gute alte Zeit" gern mal verklären mit ihren Großfamilien und deren Zusammenhalt, sah die Realität weniger rosig aus: Es herrschte knallharte Arbeitsteilung! Die Oma Stempfeldingens musste ihr Dasein im kleinen Zimmer mit kleinem Ofen erwirtschaften. Sie war für die Erziehung der Kinder zuständig, wenn die nicht gerade in der Schule lernten oder in der Landwirtschaft mit anpacken mussten. Sie pflegte die zu Hause gebliebenen Kranken und war verantwortlich für die Instandhaltung der Wäsche.

"Und wo war der Opa?", fragte die Besucherin. Ich deutete auf ein Wandbild aus preussischer Zeit: Der Opa war im Krieg, in diesem Fall dem unseligen 1875er, als sich Deutsche und Franzosen als erbitterte Feinde entgegenstanden und das Elsass wie so oft Spielball der Machthungrigen war. Er wollte den Krieg nicht, wurde in die Armee gezwungen. Den Vater hatten sie gelassen, der musste die Landwirtschaft führen. Diesem blutigen Krieg würden die ebenfalls völlig unsinnigen beiden Weltkriege folgen, das Massenabschlachten. Und so viele überflüssige andere Kriege auf dieser Welt, weil die Jüngeren nie aus der Geschichte zu lernen schienen und die Alten nicht redeten.

Die Kirchen und das magische Brauchtum waren tröstende Macht und eine Art Verwurzelungsort in jenen Zeiten. Wer vor lauter Schufterei und Überlebenskampf nicht ausbrechen konnte, suchte Trost. Darum liegen im Herrgottswinkel neben der Bibel immer auch die Schnapsflaschen.

Die Frau ist etwa in meinem Alter, wie rigoros dieses Leben war, wusste sie nicht in diesem Umfang. In der Küche fragt sie mich neugierig, wie Butter gemacht wird und ist erstaunt: Buttermachen ist der absolute Renner bei unseren Schulgruppen! Kinder von Eltern, die oft gar keine Butter mehr essen. Die kommen extra dafür ins Museum - oder zur Kalligrafie mit alten Tuschfedern. In der Cafeteria steht noch ein Flipchart mit einem elsässischen Satz mit Betonungszeichen und Kinderzeichnungen vom Sprachunterricht. Ein kleiner Hund lernt da gerade sprechen. Die Größeren versuchen sich am Fachwerkbau. Ausgerechnet die Kleinsten haben Spaß an einer heutzutage komplett unsinnig erscheinenden Technik ihrer Ururur...großeltern: Wer muss schon heutzutage wissen, wie man Butter macht?

Sie sind fasziniert, weil sie mit eigenen Händen be-greifen, wie sich dieser Naturschatz von Milch in das verwandelt, worauf sie ihre Nusscreme schmieren. In den Ställen sehen sie, wie man sich auch um die Tiere kümmern musste. Sie schmecken den Unterschied. Sind erstaunt, dass so ein im Supermarkt nachlässig in den Wagen gelegtes Ding ein Geheimnis in sich trägt, wenn es nicht in Massenproduktion und anonym gemacht wird: Sie geben ihre eigene Energie in die Butter. Vielleicht sogar Liebe. Sie essen etwas, das sie selbst erzeugt haben. Reichen die Energie weiter.

Aber schon kleine Kinder suchen Entwicklung, Arbeitserleichterung: Die Baratte, das Fass mit dem Holzstampfer, ist körperlich harte Arbeit für Erwachsene. Die Gläser mit dem schlau gemachten Zahnradmechanismus zum Kurbeln konnten dagegen schon damals die Kleinen betätigen. Fortschritt, bessere Portionierbarkeit, bessere Hygiene, heute der Spaß - aber damals eben auch Kinderarbeit. Dieses Schwarzweiß, an das man schon damals nicht geglaubt hat, wenn man nicht fanatisiert wurde, hat es im menschlichen Zusammenleben nie gegeben. Sie begreifen ihre Freiheit. Und dass sie andere Zwänge haben.



Es sind an diesem Tag Leute aus unterschiedlichen Nationen anwesend. Ich höre neben dem Französischen Deutsch, aber auch Englisch. Viele sprechen Französisch und kommen von sehr weit her, von Outre-Mer, von anderswo. Sie wollen in ihrem Weihnachtsurlaub etwas über den von außen exotisch wirkenden Outre-Foret lernen. Ein junger Mann fällt auf, wie er aufmerksam den Kopf nach oben reckt. Er ist einfach unwahrscheinlich schön mit seinen dunklen Augen und geschwungenen Gesichtszügen. Er trägt die Kopfseiten kurz rasiert, die Haare auf dem Oberkopf zusammengebunden. Lang wallen sie über seinen Rücken, von einem wunderbaren Blauschwarz. Er könnte ein Native aus den USA sein oder von einer Südseeinsel kommen.

Eine alte Dame neben mir flüstert: "Ich kann gar nicht aufhören, ihn anzuschauen, der ist so schön! Aber ich schäme mich, dass ich mit dem Anstarren rassistisch rüberkommen könnte." - "Und wenn Sie ihm einfach sagen würden, dass Sie ihn schön finden?", flüstere ich zurück. Sie kichert verschämt, einem Mann das zu sagen, das würde sie in ihrem Alter nie tun. So ist sie nicht erzogen.

Was würde eigentlich passieren, wenn wir uns einfach geradeheraus sagten, wenn wir jemanden schön finden oder nett oder freundlich oder interessant? Wenn wir fremden Menschen spontane Komplimente machen würden?

Stattdessen eiern wir gegenseitig um uns herum, trauen uns nicht, haben Angst, verpassen Gelegenheiten und Chancen. Meist ist es gar nicht einmal die Angst vor etwas oder jemand Fremden. Wenn man genau hinschaut, sind die Leute nur verunsichert, weil sie nicht gelernt haben, damit umzugehen. Weil sie es nicht gewohnt sind. Sie haben Angst, zu versagen, Fehler zu machen. Kleine Kinder haben diese Angst noch nicht, die regeln das noch ganz natürlich. Diese Befürchtungen sind nämlich anerzogen. Und genauso kann man sie brechen ...

Ich kenne das internationale Gemisch aus meinen Führungen: Meist sind BegleiterInnen dabei, die leise simultan dolmetschen, was ich gern "das Grundrauschen der Welt" nenne. Ich liebe es. Auch an diesem Tag plätschert es angenehm und dann ist es plötzlich still: Unsere Guide hat vom Nusseschnaps und Nusselikör erzählt, der in den Rauhnächten eine Rolle als magische Medizin spielt, und eine Überraschung vorbereitet: Sie reicht ein Tablett mit Gläschen herum, teilt ihren selbstgemachten, zur Sommersonnwende in Rotwein angesetzten eigenen Likör aus grünen Nüssen.

Diese Geste verstehen wir in allen Sprachen und in diesem Moment summt die "Gute Stube" von fröhlichen Menschen, die zufällig hier zusammentrafen und nun Gläser weiterreichen. Neugierig nippen, etwas bisher völlig Unbekanntes oder von jungen Jahren an Vertrautes schmecken. Weil die Gläser nicht für alle reichen, teilt eine Französin spontan ihr Glas mit mir, auch andere geben den "Zaubertrunk" weiter. Ich denke belustigt daran, dass bei Twitter erst eine Debatte stattfinden würde, wer womöglich welche Krankheit übertragen könnte. Wir denken nicht nach, teilen einfach den Genuss. Kaum ein Gesicht, auf dem sich nicht irgendwelche Emotionen spiegeln. Ein Mann erzählt, wie sie das früher zuhause gemacht haben und wie er an Weihnachten als Kind auch mal nippen durfte. Er kennt noch alle Regeln des Zubereitens und Servierens genau.

Süß wie eine exotische Frucht hüllt mir der Likör Gaumen und Zunge ein. Die leichte Bitternis der grünen Walnüsse hat sich im Rotwein völlig transformiert in etwas Orangenartiges, saftig und samtig, mit kleinen Lichtern aus Zimt und Sternanis. Ein winziger Schluck nur und es explodiert eine Sonne im Mund. Die Ernte zur Sommersonnenwende, das Mazerieren an der Sonne in den Hochsommer hinein hinterlässt ihre Spuren in dem Getränk, das im tiefsten Winter ein Türchen öffnen wird in die heller werdenden Tage. Wie diese wild zusammengewürfelte, bunte Gruppe von Menschen Gläser weiterreicht und miteinander teilt, wie sie ihre Scheu voreinander verlieren, das fühlt sich ein wenig  an, als würde gerade etwas wie das Abendmahl erfunden. Ein uraltes Ritual wiederentdeckt.



Das Erlebnis setzt sich beim Vortrag des Bäckers fort, der uns erzählt, wie die Römer uns das panis tortus, das gedrehte Brot, mitgebracht haben. Die berühmte Äbtissin vom Mont Ste. Odile, Herrad von Landsberg, hat im 12. Jhdt. die Brezeln in ihrem illustrierten Hortus Deliciarum verewigt. Und wir holen sie heute noch als Neujahrsgeschenk vom Bäcker oder machen sie selbst. Jetzt fühlen wir plötzlich die lange Geschichte dahinter: Irgendwann haben die Gallier das von den Römern gelernt, was wir gerade von unserem Bäcker lernen.

Und wieder werden Tabletts herumgereicht. Die Cafeteria, in die immer mehr Bänke geschoben wurde, in der die Menschen sich drängen, summt nun auch: Es ist reichlich für alle da. Wir teilen die riesigen Neujahrsbrezel miteinander und grinsen - der Bäcker hat uns die Absolution erteilt, schon vor dem Fest zu naschen. Die Kinder dürfen derweil kneten - und naschen heimlich vom Teig. Ein paar Alte kichern, drum haben sie in der Kindheit unbedingt beim Backen helfen wollen. Dieses köstliche Gefühl von rohem Teig auf der Zunge, die dämlichen Ermahnungen, allzuviel mache Bauchweh. Das Bauchweh war es wert. Ob deshalb der Nusseschnaps an Weihnachten geöffnet wurde? Es gibt nichts Besseres gegen Bauchweh und Völlegefühl!

Es liegt ein Zauber über diesem Ort, den viele spüren, denn sie können sich kaum lösen. Wollen verweilen. Und natürlich wiederkommen. Und als ich in die Kälte hinaus gehe, denke ich: Wie würde unsere Welt aussehen, wenn wir öfter etwas miteinander teilten? Wie würden Begegnungen unter Wilfremden ablaufen, wenn wir nicht zuerst auf das Trennende schauen würden, sondern auf das Gemeinsame? Es muss nicht unbedingt ein Likör oder ein süßer Brotteig sein, was wir teilen. Wir können unsere Geschichten teilen, unsere Gedanken - und einfach einmal zuhören. Sogar in Social Media. Ich finde sogar, wir dürfen auch fremden Menschen einfach sagen, dass wir sie wunderschön finden!

Ich wünsche damit allen ein gutes neues Jahr - es liegt eine große Hoffnung in der Luft auf Transformation zum Besseren. Und da können wir an so vielen Orten und auch im Kleinen kräftig dran mitarbeiten! Wir können uns dem Trennenden und Spaltenden und Zerstörenden aktiv verweigern.

Mehr über das Elsass in meinem Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt."