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30. November 2019

Ein anderes Schreiben

Es ist ein wenig still derzeit (abgesehen von meiner Teeküchentwitterei). Das liegt schlicht daran, dass ich einen Feuerwehrjob zwischendurch angenommen habe, eine Fleißarbeit auf Zeit. Ich bin danach einfach froh, wenn ich den Computer ausschalten kann.

Im Moment bin ich etwas eingesponnen, äh, eingespannt ...


Wenn mein Hirn am Abend noch ein paar Windungen übrig hat (hahaha), denke ich oft über mein Nature Writing Projekt nach und habe da auch einen neuen Artikel geschrieben, wie ich vor Jahren loszog, um im Wald nach einer der berühmtesten Erdölquellen der Welt zu suchen und etwas abzufüllen. Wichtig dabei: Wildschweine!

Ich taste noch herum und stelle fest, dass es ein völlig anderes Schreiben ist, ob man bloggt oder längere Texte verfasst. Nicht, dass das eine neue Erkenntnis wäre, aber inzwischen weiß ich die Unterschiede zu schätzen. In dem Moment, in dem ich für ein Buch wochenlang in Recherchen versunken bin oder erst einmal ausholen kann, weil der Atem eines Buchs ein langsamerer und längerer ist - in dem Moment ist ein Blogbeitrag schon zu lang. Zuerst war mir ein wenig ungemütlich, ob ich nicht viel zu viel über mein Projekt verraten würde - die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Aber dem ist nicht so, weil die für mich persönlich wirklich spannenden Dinge ungesagt bleiben, zum Nachdenken in mir nachwirken.

Nachdem ich mich künstlerisch mit Sketchbooks beschäftigt habe, erlebe ich mein Blog "Landscapes of Change" als eine Art Notizbuch der besonderen Art. Ich mäandere zwischen Denklinien, die ich nicht vergessen will, erzähle kurze Geschichten, die mir sagen: Hier lohnt es sich, in die Tiefe zu gehen. Oder: hier musst du diesen spannenden Beleg wiederfinden, der irgendwo in der Recherchekiste liegt. Und gleichzeitig fühlt es sich wie die berühmten Mausbisse an.

Das war mal ein Ratschlag von jemandem, wenn man eine schier überwältigende, elefantengroße Sache vor sich habe. Elefanten hätten Angst vor Mäusen, hieß es, also würde es reichen, als kleine, ängstliche Maus einfach dem Elefanten ins Bein zu beißen. Ich habe keine Ahnung, ob sich Elefanten tatsächlich um Mäuse scheren. Und ich empfinde es auch als gar nicht nett, nicht nett zu Elefanten zu sein. Aber das mit den hartnäckigen Mausbissen funktioniert, wie mich so manche leergefressene Mausefalle lehrte, die von den Mäusen ausgetrickst wurde.

Über ein unendlich scheinendes Thema bloggen zu müssen, fördert das Fokussieren ungemein. Ich muss ständig überlegen, was ich eigentlich darstellen und erreichen will - und was andere interessieren könnte. Denn nichts ist schlimmer als langweiliges Gefasel der Dorfchronistenart. In meiner Kiste liegen Texte, wo sich jemand akribisch über die Holzpreise im 18. Jahrhundert auslässt und man beim Lesen fast einschläft. Hundert Seiten lang. Solche Texte haben ihre Berechtigung im musealen Raum, ich picke mir den einzigen Satz heraus, der für mich wichtig ist und bedaure, dass man diese Wortgräber nicht digital durchsuchen kann. In einem Blog kann man sich so etwas nicht leisten. Ich komme also gar nicht erst in Versuchung, zu lange über Holzpreise zu faseln.

Anderes Thema: Ich freue mich sehr, dass ich viele FB-Bekanntschaften auf Twitter oder Instagram wiedergefunden habe. Für letzteres habe ich leider auch kaum Zeit im Moment. Es ist einfach so: Ich arbeite hart dafür, dass mein Zahnarzt und sein Zahntechniker ein tolles Weihnachten haben. Wir haben leider, durch 30 Jahre verfehlte Politik diesbezüglich, dreimal so hohe Preise wie in Deutschland, von denen auch mit Zusatzkasse nur extrem wenig erstattet wird. Das neue Gesetz von Macron, das verhindern soll, dass sich FranzösInnen am Zahnersatz echt ruinieren, wird leider erst 2020 richtig greifen. Ich verstehe jetzt plötzlich, warum bei uns Websites boomen mit Anleitungen, wie man sich einen eigenen Zahn in eine Lücke kleben könne - und warum immer mehr Menschen nicht mehr mit offenem Mund lachen. Es ist gruslig. Und so weit will ich einfach nicht abstürzen müssen. Also arbeite ich gerade für zwei. Deshalb bitte nicht böse sein, wenn ich mich mal nicht melde und auch Mails ewig herumliegen!

22. November 2019

Kairos gepackt!

Die alten Griechen kannten zwei Götter: Chronos für die verfließende Zeit und Kairos (καιρός) für den "rechten Zeitpunkt". Daraus leitete sich dann auch das Gefühl für das "rechte Maß" ab, diesen goldenen Mittelweg, der als Ideal galt. Kunst und Kreativität haben extrem viel mit Kairos zu tun, mit der Fähigkeit, die richtige Gelegenheit zur richtigen Zeit beim Schopfe zu packen. Und wie das mit flüchtigen Göttern so ist, die vielbeschäftigt zwischen Olymp und Menschenwelten herumhuschen: Oft sieht man dem daraus erwachsenden Glücksfall nachher nicht an, wie viel Arbeit und Geduld wirklich dahintersteckte, um so einen nackten Kerl beim Schopf packen zu können.

Francesco Salviati: Kairos (auch "Engel der Justitia" genannt), 16. Jhdt. (Wikipedia, public domain). Hier wird Kairos als derjenige dargestellt, der sozusagen Justitias Waage kalibriert. Oft trägt er geflügelte Schuhe und immer einen kahlen Schädel mit einem langen Haarstrang vorn. Daher kommt übrigens das Sprichwort "die Gelegenheit beim Schopf packen".

Oft muss man einfach sehr lange warten können und darauf vertrauen, dass einen das eigenen Gefühl nicht trügt, mögen andere noch so sehr unken. Nicht selten wird man zum Hasardeur und spielt mit Situationen, weil einem vielleicht anderes gar nicht übrig bleibt. Kairos ist leider ein Meister der Verkleidungskünste und offenbar kann er sich auch unsichtbar machen - ihn zu erkennen, rechtzeitig zu erkennen, ist nicht leicht.

Bei mir ist heute so ein Tag, wo Kairos und Heureka miteinander bechern. Alles läuft völlig anders, als ich es geplant hätte, Überraschungen passieren, Katastrophen wie die Zahngeschichte ziehen Tröstliches nach sich. Und so kommt es, dass ich erst einmal etwas völlig Verqueres mache, was scheinbar gegen jede Vernunft spricht: Mitten im Weihnachtsgeschäft pausiere ich bis Ende des Jahres mit meinem Etsyshop. Da ich inzwischen zu 95% Maßanfertigungen mache, bin ich schlicht ausgebucht (aber trotzdem ansprechbar über die üblichen Kanäle).

Und dann hat sich ein anderer Glücksfall ergeben, den ich dringend brauchte, um Heizungsmonteur und Zahnarzt zu bezahlen - ein Job als "Feuerwehr", den ich auf Zeit einschiebe. Und einer, auf den ich selbst riesig gespannt bin, denn es geht um eine neue App über Wildbienen, für die ich Daten digital aufbereite. Ich werde also selbst wieder jede Menge Neues lernen über eins meiner Lieblingsthemen, Insekten! So schließen sich Kreise.

Gleichzeitig hat mich mein Projekt zu den "Borderlands" zwischen Naturparkidyll und Erdölbrachen gepackt, richtig gepackt wie vor Jahren schon einmal. Und diesmal weiß ich sehr genau, dass der Kairos, der richtige Zeitpunkt dafür, gekommen ist! Das merke ich nicht nur am Feedback zum Blog. Ich habe durch Zufall erfahren, dass das betreffende französische Erdölmuseum in diesem Jahr die Genehmigung bekam, in den nächsten Jahren nicht nur endlich das Museum zu vergrößern, sondern auf einem der "lost places" eine "Cité des Energies" zu errichten (Fernsehbeitrag auf Elsässisch). Als ich sah, dass daran Leute mitarbeiten, die ich aus der ehrenamtlichen Arbeit im anderen Museum kenne, habe ich erst einmal gejuchzt.

Es fühlt sich alles völlig stimmig an, auch in jenem Projekt will man das Thema Erdöl und Erdölgeschichte aus modernerem Blickwinkel betrachten - und mit nachhaltigen Energien verknüpfen wie Geothermie oder Biogas. Ein Ökohaus steht schon da und soll zum Empfangszentrum werden - und natürlich wird das alles wegen der Finanzen nun von höherer Stelle mitgetragen, u.a. dem Naturpark. Wenn ich über die Planungen lese, rufe ich zwischendurch laut "yeah", so sehr trifft sich das alles mit meinem eigenen neuen Blickpunkt in Sachen Anthropozän und Klimakrise. Manchmal muss man nur einfach arg lang warten können, wenn man seiner Zeit voraus war.

Den Stinkefinger habe ich in Gedanken auch gezeigt - und zwar in Richtung eines sehr renommierten deutschen Sachbuchverlags. Als damals meine Agentur das Ölprojekt anbot, wollte der Programmchef einen aktuellen Aufhänger haben, warum Erdöl jetzt das Thema sein könnte. Immerhin hat er sich da mehr Arbeit gemacht als die anderen, wo Lektorinnen wortwörtlich meinten: "Ach Erdöl ist jetzt so teuer geworden, das fühlt sich nicht gut an, das macht nur schlechte Emotionen, da wollen die Leute nicht noch drüber lesen." Dabei sprach man schon zu jener Zeit vom Oil Peak und der Notwendigkeit, nachhaltigere Energien finden zu müssen!

Ich war während der Anfrage gerade daran, ein TV-Team zu beraten, das eine Doku über Pechelbronn drehte und sich ebenfalls für die Gegenwart interessierte. Damit konnten wir aufwarten: Demnächst sollte der Präsident (es wurde dann, glaube ich, sein Minister) kommen, um eine der modernsten Geothermie-Forschungsstätten der Welt einzuweihen, ein internationales Projekt, dem man seine Bedeutung nicht ansieht, denn es klebt unauffällig an einer kleinen Landstraße außerhalb von Soultz-sous-Forets. Die Forschungen sind heute abgeschlossen, man fördert die Erdwärme aus bis zu 5000 m Tiefe. Damals war das wissenschaftlich wie geologisch sozusagen der heißeste Sch...ei... und es beruht ja auf den Erfindungen der Gebrüder Schlumberger, die ich dann im Elsassbuch beschrieben habe. Das TV-Team war begeistert und auch bei der Eröffnung dabei.

Der Herr Programmchef jedoch rümpfte nur die Nase. Erdöl sei ja schon ein schräges Thema, aber Geothermie ... das interessiere doch keinen. Was, Tiefengeothermie ... ob ich denn wenigstens einen Doktor in so einem Zeug hätte, dass ich wüsste, wovon ich spräche. Er hat sich gebildeter ausgedrückt, was seine Aussagen nicht heller machte.
War übrigens der gleiche Mann, der mein Rosenbuch nicht verlegen wollte, weil ich für eine Frau viel zu intelligent und nicht sanft genug schriebe. Aber das schnappte sich ja ein anderer Verlag.

Mit tiefer Befriedigung, soviel herrliche Schadenfreude muss sein, habe ich dem also jetzt in Gedanken den Stinkefinger gezeigt. Was da in der Cité des Energies auch in Zusammenarbeit mit dem Geothermieprojekt aufgebaut werden soll, wird ein richtig großes Ding. Und wen sehe ich als einen der Partner des Museums? Schlumberger. Ganz genau die. Nicht mehr die Klitsche der beiden Gebrüder, sondern eine der größten Firmen der Welt, die mir vor Jahren schon jedes historische Fotomaterial beschaffen wollten. Stinkefinger, jawollja! Oder um es gesitteter auszudrücken: Kairos klopft laut an die Scheibe. Ihn jetzt nicht hereinzulassen, wäre sträflich. Das Thema IST heiß.

Kurzum, ich bin auf dem richtigen Weg, habe bis Weihnachten fürchterlich viel zu arbeiten und bin glücklich, weil sich so viele Kreise schließen, weil auch das Abwegigste nicht umsonst war und ich jetzt endlich erwachsen genug bin, um nicht mehr auf Besserwisser zu hören.

Ich bin mir jetzt schon sicher: Auch die Pause im Atelier wird mir gut tun, nach all den neuen Experimenten wird sich viel setzen. Und dann melden sich auch da neue Entwicklungen, das spüre ich im kleinen Finger! Den Kairos habe ich nämlich erst mal für heute an seiner Haarsträhne festgebunden. Vielleicht zeigt er mir Wildbienen aus Papier?

Fotos aus dem Erdölland gibt es übrigens immer mal wieder auf Instagram.

21. November 2019

Weihnachtsrauschverweigerung

Unterm Jahr sind wir uns alle einig: Unser System des völlig überhitzten Konsumierens zu immer niedrigeren Preisen, teils aus Geiz, teils aus echter Not, wird uns eines Tages Kopf und Kragen kosten, wenn wir so weitermachen. Schon jetzt fliegt uns das, was aus einem ursprünglich positiv gedachten Kapitalismus wurde, in seinen Auswirkungen um die Ohren. Ein völlig entfesseltes System, in dem man inzwischen sogar rein virtuell herumzocken kann, wenn man denn kann, bringt einen Rattenschwanz an Problemen mit sich: Klimakrise, Artensterben, soziale Ungerechtigkeit und indirekt Hass, Populismus, Extremismus. Es gibt Abhandlungen über die Zusammenhänge.

Was wir nicht wirklich brauchen, wird uns aufgeschwatzt.


Aber einmal im Jahr werden dann sogar diejenigen, die auf entsprechenden Demos mitlaufen, rückfällig: in der Weihnachtszeit. Und weil inzwischen in vielen Branchen die WeihnachtskonsumentInnen die Hauptumsätze einbringen, werden die immer früher und immer lauter umworben. In Deutschland sollen schon die ersten Weihnachtsmärkte eröffnet haben - Mitte November! Manche heißen deshalb frech Winterwelten, um sich früher einzumogeln, während draußen der Herbst erst die Blätter färbt. Es geht um Umsatz. Um Geld. Schon lange nicht mehr um Weihnachten als Fest der Liebe *hust* ... Und auch die fiebrig glänzenden Augen von Kindern, die früher bis zum letzten Moment aufs Christkind warten mussten, um sich über seltene Freuden umso mehr freuen zu können, sie werden wohl seltener. Es ist normal geworden, Lebkuchen im August zu essen und Mitte November unter Kitschbeleuchtung Glühwein zu trinken. Hier im Elsass lassen manche ihren Weihnachtsschmuck schon so lange hängen, bis er durch Osterputz ausgetauscht wird. Man könnte eigentlich gleich nach Halloween ...

Manchmal erinnert etwas an die Heimeligkeit des Besonderen ...


Ich habe gut lästern, fast klingt es ein wenig falsch in meinem Ohr. Gehöre ich doch zu denjenigen, die wirtschaftlich auf Weihnachten angewiesen sind, weil da schlicht die meisten Menschen Geschenke kaufen. Weil dann das Geld lockerer sitzt. Seit ich mein Atelier habe, ist der Stress, der bisher meist Ende November beginnt, im Vergleich zum Rest des Jahres enorm. An Heilig Abend falle ich wie EinzelhändlerInnen und KunsthandwerkerInnen totmüde ins Bett und will nur noch bis Jahresende durchschlafen. Das kann ich dann im Januar, wenn nichts läuft. Was also jammere ich eigentlich?

Ich sehe eine ungute Entwicklung vor allem bei den Kleinstunternehmungen vieler KollegInnen aus den Bereichen Kunst und Kunsthandwerk. Die beim althergebrachten Weihnachtsfest wirklich geschätzt wurden. Da entsteht eine Diskrepanz: Sie legen sich viel mehr krumm für die Kundschaft, haben angeblich mehr Möglichkeiten - aber die Umsätze sinken kontinuierlich. Bisher konnte ich nicht genau greifen, wo das Problem liegen könnte. Zwei Dinge haben mich auf eine Spur gebracht.

Der heiße Hinweis war eine Werbemail von Etsy an uns ShopinhaberInnen. Man bietet uns an, jetzt nicht nur mit dem Black Friday Umsätze zu generieren, sondern gleich mit einer ganzen Black Week oder wie auch immer sich die Aktion nennen mag. Es gibt digitale Hilfen zur Verwaltung und für die Coupons, wie verführerisch (ich verweigere mich da übrigens).

Wir alle kennen diese aus den USA längst zu uns geschwappte Extremschnäppchenjagd, die ein sehr zweischneidiges Schwert ist: Auf der einen Seite befördert sie das wilde, unbedachte, meist nicht nachhaltige Konsumieren und den Geiz. Auf der anderen Seite ist das für die zunehmende Schicht der prekär Beschäftigten und der Armen oft der einzige Termin, um sich mit etwas zu versorgen, was man sich zum normalen Preis schon lange nicht mehr leisten kann. Eine Teufelsspirale.

Je größer man geschäftlich aufgestellt ist, desto eher kann man sich solches Verkaufen leisten. Da wird mit Mischkalkulation gearbeitet, da verzichtet man auf ohnehin völlig übertriebene Spannen oder kauft vorher im Großgebinde in China und sonstwo in Asien ein. Neuerdings soll sich Nordkorea als Geheimtipp entwickeln - die Menschen sind dort so jämmerlich arm und versklavt, dass sie für uns zu noch niedrigeren Niedrigstpreisen fertigen. Eine Teufelsspirale: Turbokonsum dieser Art befördert Sklaverei und bitterste Armut dort, wo es den Menschen ohnehin nicht gut geht. Es rechnet sich, je weiter im Westen wir leben. Es rechnet sich, je größer und reicher man schon ist, denn dann machen die Unsummen und Unmengen von Kleinvieh erst Mist.

Aber man kann es sich eben gut vorstellen bei einem Handy, einem Staubsauger oder dem Elektrokrempel, den wir im Februar schon wieder entsorgen, weil kaputt und nicht reparierbar. Musste ja billigst gefertigt werden. Es hat in unserem System seine Berechtigung, weil unser System auf Konsum und Wachstum ausgerichtet ist. Solange man genau das stützen will.

Wenn jedoch schon eine Plattform wie Etsy auf den Black Train aufspringt, was hat das für Konsequenzen? Es geht dort, wenn man es ernst nimmt und die schwarzen Schafe abzieht, um Handgemachtes! Um Menschen, die etwas als Hobby fertigen oder als FreiberuflerInnen, die sich im Idealfall irgendwann eine klitzekleine Manufaktur aufbauen können. Falls sie sich MitarbeiterInnen leisten können, handelt es sich oft um Familienmitglieder, in der Weihnachtszeit helfen Freundinnen und Freunde aus. Diese Menschen haben fixe Materialkosten, budgetieren oft nicht einmal ihre Unkosten richtig und können von Hand eben nur ein gewisses Maximum schaffen. Alles darüber wird unschön, billig. Oder es wird zur Selbstausbeutung.

Und genau das geschieht, wenn Kunst und Kunsthandwerk sich zu Black Weeks und anderen Ramschaktionen überreden lässt. Auch zehn Prozent Rabatt liegen nicht auf der Straße für solche Menschen. So manches Kleinstgewerbe entpuppt sich deshalb auch in unserer reichen Welt als freiwilliger (?) Sweatshop.

Mir begegnen so oft KollegInnen auf Märkten und Messen, die mich ganz jämmerlich an die Heimarbeiterinnen des 19. Jahrhunderts gemahnen. Ich erinnere mich noch gut an die Frau, die traumhafte Colliers in Perlenwebtechnik fertigte, sich Augen und Finger verdarb, den ganzen Tag schuftete, um genügend "Masse" zu machen. An einem Collier arbeitete sie mindestens drei Tage, die japanischen Glasperlen sind teuer. Und dann legte sie das Preisschild hin: 20 Euro. Zwanzig Euro brutto für drei Tage Arbeit, für das Material, für Kosten wie Arbeitszimmer, Heizung, Strom etc. Ich weiß, dass genau diese Frau beim Black Friday mitmachen wird, dass sie geschuftet hat, um möglichst viel für einen "Supersale" zu fertigen.

Und dann geht es ihr vielleicht so, wie ich das beim Kreustichfestival über Stickerinnen mitangehört habe. Sagt eine Besucherin zu ihrer Freundin: "Kauf das nicht. Das bekommst du nachgeworfen auf Alibaba und selbst bei Amazon. Das kannst du in Shanghai nach Kilos kaufen!" Nein, natürlich nicht das. Es sieht nur oberflächlich so aus, ist natürlich nie so gut und akribisch gearbeitet. Aber wer schaut einem geschenkten Gaul schon ins Maul? Habenhabenhaben wollen, möglichst wenig geben.

Bei eben dem Festival gab es für mich ein zweites Augenöffnen. Eigentlich waren es drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann. Sie führten vor, was man heutzutage selbst in Frankreich nur noch seltenst zu sehen bekommt: Spitzenklöppelei und Goldapplikationsstickerei, wie man sie noch an Trachten sieht. Es sind die Momente, wo unsereins nur noch andachtsvoll staunt, so viel Können, Geduld, Akribie, aber auch körperliche Anforderungen sind da vonnöten. Die professionelle Spitzenklöpplerin meinte, sie könne die Klöppel nur deshalb so schnell werfen, weil sie das seit ihrer Kindheit mache. Als andere mit Barbiepupen spielten, fing sie an, das Spitzenklöppeln zu erlernen. Und dann sagt sie, ganz beiläufig: "Wir brauchen Leidenschaft für so etwas. Bezahlt werden wir für diese Arbeit schon lange nicht mehr richtig."

Im Gespräch werden dann die Gründe sichtbar, warum auch im traditionsbewussten Frankreich, das eigentlich seltene Berufe fördert, immer mehr Zweige des Kunsthandwerks absterben. Einen wirklich gerechten, wertschätzenden Lohn können sich bei den heutigen Verhältnissen nur noch die wirklich Reichen leisten. Noch heute können sich Stickerinnen, die in der Haut Couture bei den Luxusmarken unterkommen, glücklich schätzen, es ist eine Minderheit unter allen Könnerinnen, dabei verdienen sie nicht viel. So manche hat ein Zubrot als Lehrende, über Workshops oder Vorträge. Denn auch die sehr reichen Menschen kennen den Spruch von "Geiz ist geil" - oder wie meine Oma zu sagen pflegte: "Von den Reichen kannst du sparen lernen". Deshalb werden die meisten Arbeiten dieser Art selbst von den berühmtesten Pariser Modelabels nach Indien outgesourct. Nicht nur, weil die Leute dort absolut fantastisch arbeiten - sie arbeiten vor allem um einiges preiswerter!

Das Konsumkarussell dreht immer schneller und wilder.


Eine noch kleinere Minderheit von KunsthandwerkerInnen hat einen sehr besonderen und modernen Dreh gefunden, hat das Handwerk völlig "entstaubt" und im Luxusbereich angesiedelt. Kürzlich sah ich die Arbeit einer Glaskunsthandwerkerin, die eine uralte, spezielle Tradition von Glasbildern für die damals ärmere Landbevölkerung mit echtem Gold, neuem Design und Riesenformaten so verwandelt hat, dass ihre Manufaktur inzwischen von reichen Ölscheichs, russischen Milliardären und asiatischen Selfmademen für deren Paläste gebucht wird. Sie hat es verdient, aber sie hat auch Glück. Was sie erschafft und beherrscht, ist so eigen, dass es auf längere Sicht nicht kopiert werden kann. Und selbst dann ist es diesem Klientel wichtig, dass die Marke stimmt, das Exponat eben aus Paris und nicht aus Asien kommt.

Aber wie traurig sieht es bei den anderen aus, welche die Mehrheit und den raren Nachwuchs stellen. Die eine macht es als "nettes Hobby nebenher", während der Ehemann gut verdient und ihr den Rücken dafür freihält. Die andere zehrt, noch jung und enthusiastisch, von Leidenschaft und Liebe zum Metier - wie lange wird sie das durchhalten? Einer hat ein Auskommen, weil er sich ebenfalls in ganz Europa und über die Grenzen hinweg aufgestellt hat, weil immer noch Museen und Sammlungen Fachmenschen wenigstens zum Restaurieren brauchen.

Was das mit Ramschsales zu tun hat? Auf der gleichen Messe gab es Kilometer von Spitzen, die einem regelrecht nachgeworfen wurden. Die leider nicht immer als das deklariert waren, was dahintersteckte: billige Maschinenware. Sie sahen nur so aus als ob. Und man bekommt sie tatsächlich nach Gewicht bei Alibaba & Co.

Keine Frage, die Billigspitzen haben ihre Berechtigung. Man will nicht für alles Teures verarbeiten. Oder kann sich etwas anderes nicht leisten. Sie sind ja auch irgendwie schön. Schlimm ist nur, dass die Spitzenklöpplerinnen und der Goldsticker in so einer Halle mittendrin sitzen müssen - und alles staunt und keiner kauft. Es ist ja der direkte Preisvergleich da! Nicht der Qualitätsvergleich. Es wird auch nicht mehr darauf geschaut, ob das jemand beruflich macht, zum Lebensunterhalt. Ist doch alles ein nettes Hobby. Hat die Frau doch seit ihrer Kindheit nur gemacht, weil's Spaß macht. Hoppla?!

Ich kann und mag das alles nicht mehr, diesen Turbokonsum mit Wertschätzungsverweigerung. Wir kaufen immer schneller, oft immer dümmer, weil man uns die Hintergründe und Folgen vorenthält. Und so mache ich noch konsequenter das, was ich bereits in meinem Elsassbuch beschrieben hatte mit den Weihnachtsmärkten: Ich habe den Plastikkram und die billigen Blingblings einfach über. Veranstaltungen rund ums Thema genieße ich jedoch so viele wie selten zuvor: Da geht es um die ganz alten Traditionen, die Hintergründe und Geschichten. Ich werde mir das ein oder andere Rezept für Bredele abschauen und endlich einmal vom Fachmann lernen, wie man eine traditionelle Neujahrsbrezel backt. Mit Menschen zusammensein, reden, gemeinsam essen. Es ist ein Krafttanken, während die anderen über Weihnachtsmärkte oder durch Läden hetzen, weil auch die Ansprüche der Beschenkten immer größer werden.

Muss man wirklich immer schneller, immer mehr produzieren, auf den Markt werfen, Profite steigern und steigern? Und wenn die Rabatte ins Unermessliche steigen, andere ausbeuten?

Ich frage mich immer öfter, ob es in diesem heißlaufenden System nicht auch andere Wege geben könnte, die nicht so viele Menschen herausschleudern vom Kettenkarussell. Wie man selbst den Teufelskreisläufen entkommen könnte. Warum wir eigentlich Ware mit Geld bezahlen und nicht ganz anderes. Antworten habe ich keine. Ich lese neugierig. Und zeitweises Entkoppeln hält zumindest mir den Kopf zum Nachdenken frei.

Lesestoff passend zum Thema:

19. November 2019

Warmbabbeln

Das Hundefutter für den Rest des Jahres ist da. Und weil seit Tagen eine vorwitzige Blaumeise an mein Bürofenster klopft, lag im Paket diesmal auch Vogelfutter - sie und ihre Kumpels sind glücklich. Und ich bedanke mich bei diesem Anlass einmal ganz herzlich für eure Spenden in die Paypal-Kaffeekasse meines Blogs (rechts im Menu), denn die laufen direkt in Richtung Bilbo, für Veterinärsrechnungen oder Futter und Leckerlis. Ich schwöre, er gibt mir nichts davon ab! ;-)

Nur ich armes Viech halte gerade oberirdisch durch ...


Ich "babbel" jetzt einfach mal hier herum, weil ich wie auf Kohlen wie auf Eiswürfeln sitze und warte. Die Heizung will seit letzter Woche nicht anspringen und Heizungsmonteuren geht es offenbar ähnlich. Oder wie die Firma mir versicherte: "Wir kommen seit zwei Wochen mit Notfällen kaum rum!" Mir kommen bei so vielen "Dépannages" Gedanken an Obsoleszenz, tatsächlich halten auch Heizungen und Warmwasserboiler heutzutage nicht mehr so lange wie früher, das sagen sogar Fachleute. Diesmal haben youtube-Tutorials leider nicht gereicht, um das Ding mit einfachem Einschalten zum Brummen zu bringen und ich denke mit Grauen an die Rechnung. Hoffe so sehr, dass es nur ein klitzekleiner Fehler, eine winzige Verschmutzung ist, die mich endlich wieder warm werden lässt. Das bin ich einigermaßen oberflächlich dank Amazon. Im Gegensatz zu sämtlichen Baumärkten konnten die mir innerhalb eines Tages einen elektrischen Radiateur liefern.

Mir fällt auf, dass mich Warten auf etwas oder jemanden, die mich von der Arbeit abhalten oder genau dann kommen könnten, wenn es am allerwenigsten passt (ach ja, heute ist Internationaler Toilettentag), fürchterlich nerven. Vor allem bei der Sorte: "Wir rufen vorher an und geben Bescheid, wann wir kommen". Ich war diejenige, welche. Währenddessen richten Kohl- und Blaumeisen auf dem Fensterbrett draußen ein wahres Freudenmassaker im Futter an. Ich möchte glauben, dass es sich erst noch zu anderen Vogelarten herumsprechen muss. Aber auch die Wassertränke im Sommer wurde nur von ihnen und einer extrem dezimierten Spatzenbande aufgesucht. Ab und zu kam eine Amsel. Selbst hier im Naturpark ist es grauenhaft, wie aufs Insektensterben das Vogelsterben folgte. Und nein, Sommerfütterung hilft da nichts, die Tiere verrecken am Glyphosat und anderen Pestiziden der Maismonokultur.

Wer soll eigentlich diesen Beitrag freiwillig lesen bei so viel Herumjammern?! Ich verspreche: Aufgetaut wäre ich viel eher zu ertragen! Es gibt auch Positives zu berichten!

Mein neues Blog ist nun dank der Warterei so schnell entstanden und weil ich den Hund nicht im eisigen Flur alleinlassen wollte. Als ich sah, wie das arme Viech trotz all der Decken im eisigen Flur bibberte, wurde das opulente Sonntagsessen abgesagt und der Hund zum Heizerchen ins Zimmer gelassen. Nebst Picknick am Heizerchen. Wenn ich nicht da bin, gibt's für ihn "nur" den Flur, aus Gründen.

Zu meiner Überraschung läuft das neue Blog besser an als gedacht an, nah am Zielpublikum, das ich mir vorstelle, und endlich auch für all diejenigen Follower lesbar, die kein Deutsch können. Ich hatte befürchtet, ich müsse alles von Null an aufbauen, aber der erste Beitrag bei "Landscapes of Change" hat mehr Zugriffe als mein letzter Blogpost zur Ankündigung hier - und fast schon so viel wie die Beiträge, die hier unter Nature Writing laufen. Es ist also wirklich ganz klar eine kulturelle Sache, wie vermutet.

Das motiviert mich sehr, auch das Feedback in Social Media. Es ist einerseits nicht mehr das einsame Schaffen im stillen Kämmerlein, andererseits sehe ich jetzt fast live, wofür sich die Menschen interessieren und was ich damit noch alles anstellen könnte. Auch das Schreiben verändert sich, wenn Texte plötzlich über Grenzen hinaus lesbar sind - der Horizont weitet sich. Und anderes wird enger. So werde ich wohl zuerst einmal den Ort des Geschehens vorstellen müssen, denn wer kennt schon das kleine elsässische Dorf mit dem winzigen Erdölloch, in dem in Wirklichkeit Naturasphalt herumschwimmt. Auch in dieser Hinsicht bin ich froh: All die Fachbegriffe ums Erdöl beherrsche ich aus dem Effeff englisch und französisch. Ich müsste mich selbst erst ins Deutsche übersetzen.

Da ist noch eine lustige Geschichte, also eine, über die ich heute lachen kann. Ich werde gleich nachher das alte Marmeladenglas aus dem Schrank holen, das ich vor rund 20 Jahren mit Entdeckerfreuden gefüllt habe, daran schnuppern, ob es noch so riecht wie damals. An der Stelle, an der weltweit zum ersten Mal Öl im Fabrikmaßstab gefördert wurde, habe ich gelöffelt. Die Leute vom Museum hatten mir verraten, wo genau im Wald die Lache versteckt lag (heute gibt es Führungen dorthin) und ich habe mir bei der "Förderung" einen alten Löffel komplett ruiniert. Der Archivar hätte mir damals nicht die Kopie eines handgeschriebenen Manuskripts aus dem 18. Jhdt. in die Hand drücken sollen ...

Irgendwie habe ich experimentelle Archäologie nacherfunden, naiverweise in der eigenen Küche. Das Manuskript war das Handbuch des Direktors der weltweit ersten Raffinerie, in der noch in riesigen Pfannen herumgeköchelt wurde. Also dachte ich, was die damals konnten, kann ich auch. Und was in einer Riesenpfanne funktioniert, muss auch eine kleine Kasserole können. Was passierte, erzähle ich aber im anderen Blog!

Ich ertappe mich dabei, dass meine Gedanken um Wärme und Heizstoffe kreisen. Der Monteur soll heute Nachmittag kommen. Mal sehen, wie lange der Nachmittag noch wird ...

PS: Ich habe den Monteur sozusagen "herbeigebabbelt". Seit fünf Minuten läuft die Heizung wieder. Das Steuerungsteil musste ersetzt werden, eine Sache von einer knappen halben Stunde mit Tests. Im Atelier kommt es schon leicht lauwarm an ... Und jetzt kann sich Bilbo im Flur wieder an "seinen" Heizkörper kuscheln.

17. November 2019

Neues Blog: Landscapes of Change

Es ist soweit. Das neue Blog ist pro forma schon mal installiert, auch wenn es im Layout und inhaltlich noch an allen möglichen Ecken und Enden knarzt. Das Template ist aus Bequemlichkeit ein altmodisch fertiges von Blogger. Alles, was schick war, hätte viel Arbeit an den Codes verlangt ...

Vor über zehn Jahren sind Fotos an einem Platz entstanden, der nicht öffentlich zugänglich ist. Ich weiß nicht einmal, was alles schon weggerostet ist. Das war einmal die modernste Technik der Ölprospektion, sprich, man hat mit solchen Autos die Erde in der Tiefe vermessen. Über die Erfindung der Technik durch die Gebrüder Schlumberger schrieb ich in meinem Elsassbuch.


"Landscapes of Change. The Borderlands and Barrens of Petroleum" ist der vorläufige Titel. Im Menu gibt es eine Funktion, sich das Blog mit einfacher Menuwahl im Gesamten in alle möglichen Sprachen übersetzen zu lassen. Allerdings klingt das mit Google arg maschinell, wenn man den Text per Hand bei Deepl einsetzt, ist er erstaunlich besser verständlich, ist aber aufwändiger.

Im Lauf der Zeit muss ich noch Fehlstellen bestücken, Fehler finden. Auch an der Schrift werde ich womöglich noch herumschrauben. Aber Perfektionismus ist etwas für Leute mit zuviel Zeit. Die Texte wollen ins Leben. Auch wenn ich ihnen nicht die Zeit gönnen kann, die ich früher dafür gehabt hätte. Ich habe allerdings mal irgendwo gelesen, dass man bei einer Seite täglich in 365 Tagen ein nicht allzu dünnes Buch beisammen habe ...

12. November 2019

Lost Manuscripts

Lost places, lost manuscripts - ich durchwandere wieder beide und finde keine adäquaten deutschen Bezeichnungen dafür. Geografisch gesehen sind einige Plätze inzwischen aus Sicherheitsgründen sogar verbotener Grund, Sperrgebiet, restricted area, gesichert in meiner Erinnerung und in einem Backup mit Fotos, Plänen, Zeichnungen, Augenzeugenberichten - erweitert im Museumsarchiv. Letztere, die verschmähten Manuskripte von damals, liegen im gleichen Backup, sorgfältig über einige Computer hinweg migriert, weil sie mir wohl doch zu sehr am Herzen lagen, um sie zu löschen. Nach bald zwanzig Jahren lese ich heute meine alten Exposés, erinnere mich und bin sehr überrascht. Es wird zum Lehrstück übers Bücherschreiben und wie man bei sich bleiben könnte.

Erdöldistillerie 1885 in Pechelbronn (Archiv Erdölmuseum, mit freundl. Genehmigung). Von den historischen Orten stehen manchmal nur noch Mauerreste. Gibt es ein Erzählen, das Menschen mit hinein nehmen kann in die vergangenen Räume, das diese Welten wiederentdeckt im Spiegel unserer heutigen Zeit des Klimawandels, der Fragestellungen zum Anthropozän? Kann man Bücher erzählen wie Filme, reich an inneren Bildern? (Ja, man kann).


Meine ersten entwickelten Texte zum Thema stammen aus dem Jahr 2000 - was für eine lange Zeit, in der ich mich als Autorin weiterentwickelt habe, in der auch das Sujet gereift ist. Meine Schreibpause hat mir noch dazu den kompletten Abstand von der Buchbranche geschenkt, einen Abstand von sämtlichen Erwartungen, die einem in diesem Betrieb von allen Seiten angetragen werden. Ich habe viel gelernt und ich bin endlich frei. In Zeiten des Self Publishing theoretisch sogar frei genug, den größtmöglichen, zum Scheitern verurteilten Blödsinn zu veröffentlichen. Die Zeiten haben sich geändert: Ich weiß heute, was ich will und kenne sogar KönnerInnen und Vorbilder, von denen ich weiter lernen möchte.

Insofern war die Überraschung groß, das Werden unterschiedlicher Sedimente von Manuskriptfassungen zu sehen. Die massiven Eingriffe meines allerersten Agenten, dem ich fristlos mit Anwalt kündigen musste, als ich bemerkte, dass er meine Karriere zerstörte statt förderte. Aber ich habe mich ja auf diese Änderungen eingelassen und es ging auch damals wohl nicht anders: Ich war meiner Zeit zu weit voraus.

Meine ersten Fassungen lesen sich wie Fernsehdokus von heute, wo ein Archäologe oder Moderator (leider viel zu selten Frauen) durch eine steinige Wüste schlappen, auf Zeug zeigen und erklären, wie doll sie ins Schwitzen kamen, als sie diesen einen besonderen Stein in der Hand hielten. Kameraschwenk: Der Stein liegt im Labor, Wissenschaftler erzählen von Messmethoden. Und weil sie nicht doll ins Schwitzen kommen, mischt sich der Erzähler wieder ein und erzählt von der geheimnisvollen Mumie, die diesen Stein schon mal in der Hand hatte.

Sprich, meine ersten Texte hatten etwas Verbotenes: Damals landete man Sachbücher nur, wenn sie absolut unpersönlich, eben "sachlich" geschrieben waren, akademisch in der Wir-Form oder populär in der Man-Form. Autorinnen und Autoren (meist Männer) hatten unsichtbar hinter ihrem Text zu verschwinden. Das war offenbar so gar nicht "mein Ding".

Ich mischte mich ein. Die Texte erzählen voller Leidenschaft, wie ich Dinge entdecke oder rekonstruiere, Augenzeugen treffe, die ich als eigenständige Figuren live erzählen lasse. Ich schwenke zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den Emotionen der Betroffenen und kühler Wissenschaft. Das war nicht gefragt, damals offenbar ein No Go. Ich kam in die Schublade "Mädle schwätzt gern vom Pferdle, typisch weiblicher Emotionalkram".

Es mussten Jahre vergehen, in denen sich zeigte, dass gerade dieses Schreiben als eigenes Genre aus dem englischsprachigen Raum herüberschwappte. Vorsichtig nannte man es im deutschen Sprachraum "erzählendes Sachbuch" oder auch "literarisches Sachbuch" - je nach Verlag. Und die waren rar gesät. In Wirklichkeit hatte ich das schon Mitte der 1980er gelernt, im Journalismus, man schrieb damals selbst in regionalen Tageszeitungen große Features und Reportagen, es gab richtig Geld für ganze Serien. Aber Journalismus war das eine - Bücher waren noch etwas anderes.

Später benutzte ich meine alten Manuskripte als Steinbruch: Einer der zuerst "verbotenen" Texte wurde zum Vorwort in "Das Buch der Rose", es ist eine Geschichte laienhafter experimenteller "Archäologie", wo es gelang, durch Rosenableger einen alten Lageplan eines Schlosses zu verifizieren, der sich dann auch wirklich fand. Die Leserinnen schrieben mir, wie spannend das war. Fast unverändert fand dann eine meiner ersten Textfassungen über die Gebrüder Schlumberger und ihre sensationelle, die Welt verändernde Entdeckung in mein erstes "erzählendes Sachbuch": "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt". Ich habe heute noch die Zusage der Firma Schlumberger, für eine Veröffentlichung jede Hilfe für ihre historischen Fotoarchive zu bekommen, in denen wundervolle Schätze lagern. Kurzum: Irgendwann wurde diese Art Schreibe eingekauft, aber sie war immer noch zahm gegen die Anfänge jener Texte.

Was wäre gewesen, wenn ich in diesen Jahren alle Erwartungen und Briefings und Lektoratswünsche in den Wind geblasen hätte, um stur "mein Ding" durchzusetzen? Es war technisch nicht möglich, weil es kein Self Publishing gab. Man machte entweder brav mit und war gut genug - oder man schaute in die Röhre. Die Branche war kein bißchen experimentierfreudig, ist sie eigentlich auch heute nicht. Aber heute kann man selbst experimentieren und entweder scheitern - oder Erfolg haben.

Was ich heute anders machen würde, hätte ich diese Möglichkeiten vor zwanzig Jahren gehabt?

  • Ich würde an mein Thema glauben, wenn ich seine Relevanz mehrfach belegen kann und wenn es über die Jahre so stark bleibt.
  • Ich würde meine Schreibe ausprobieren an TestleserInnen, allerdings Menschen vom Fach, die Ahnung vom Schreiben haben. Aber aus unterschiedlichen Bereichen kommen (Buch, Film, Radio, Journalismus). Würde schauen, ob sie funktioniert.
  • Wenn ich Vorbilder entdecke oder Bücher, die so ähnlich funktionieren, würde ich sie wie eine Fahne unter der Nase von AgentInnen und VerlegerInnen schwenken: Schaut her, andere machen das auch! Und wenn ihr euch nicht traut, ich trau mich!
  • Ich würde mich nicht mehr für jedes einzelne Briefing neu verbiegen, völlig neue Bücher entwerfen, Wochen an unterschiedlichen Exposés vertun, die meine Urgeschichte bis zur Unkenntlichkeit verändern - sondern schauen, ob ich relevante Leute finde, die an diese Urstory glauben.
  • Ich würde nach Schreibtraditionen suchen, in denen ich mich bewege, und davon lernen, lernen, lernen.
  • Ich würde Menschen, die mir nur aufgrund meines Geschlechts Etiketten aufkleben oder Texte danach beurteilen, sofort und sehr deutlich dorthin schicken, wo der Pfeffer wächst - und wenn sie in der Branche noch so bekannt wären. Solche Leute braucht heute niemand mehr.
  • Ich würde mir KritikerInnen suchen, die meine Form des Schreibens von anderswoher kennen - und die dürften dann meine Entwürfe zerpflücken und bekritteln, bis ich sie wieder und wieder geschliffen habe.
  • Ich wäre nicht mehr naiv, leichtgläubig, in der ach so typischen AutorInnen-Bittstellerhaltung, sondern stur, hartnäckig und leidenschaftlich.
  • Ich würde nicht mehr Jahre brauchen, all das zu lernen ...

Lustig ist, dass ich es eigentlich noch vor mir selbst verheimliche, abstreite, dass ich längst an einem Buch arbeite. Es ist wohl die Angst, dass es zum Rohrkrepierer werden könnte. KollegInnen kennen das vielleicht: Erzählt man zu früh und zu begeistert von so einem kleinen Sämling, geht er manchmal über Nacht ein, weil zu viele darauf geschaut und geatmet haben. Und das Pflänzchen oder Tierchen oder was auch immer es ist, ist noch so klein, dass ihm ein Namen fehlt. Aber es ist egal. Falls ich scheitere, werde ich das zugeben und damit leben.

Es wird weder ein Buch über Erdöl noch über Erdölgeschichte werden, wie damals konzipiert. Ich bewege mich im Genre Nature Writing und da in einem Umfeld, wo es sehr stark um Ökologie(geschichte) geht, um einen Blick aufs Anthropozän, um Zusammenhänge. Und darum wird das Erdöl natürlich darin vorkommen. Heute kann ich wie die Moderatorin in einer Fernsehdoku mit vor Aufregung schwitzigen Händen durchs Buch schlappen, einen Stein in die Hand nehmen. Heute kann ich Leute fragen, die ihr ganzes Leben lang solche Steine befingern - und WissenschaftlerInnen dazu. Und wenn ich unterwegs eine Mumie sehe, kann ich auch von der erzählen.

Es ist ein Abenteuer für mich, weil ich erst spät von Vorbildern lernte und sich die Ideen erst noch formen. Es fühlt sich kurios an, weil ich mich diesmal nicht von Lektorinnen leiten lasse, sondern von einem Spürhund, der auch mal Dinge ausbuddelt, mit denen ich nicht gerechnet habe. Heute lausche ich auf die Natur, auf Reste, auf zerfallene und hartnäckige Spuren von Menschen.

Und ich schreibe öffentlicher als früher. Ich möchte darum ein zweites Blog zum Thema aufmachen, in dem ich Gedanken sortiere, Eindrücke schildere, vielleicht den ein oder anderen Text zeige. Und ich weiß, dass ich es mir jetzt mit vielen treuen Leserinnen und Lesern meiner Bücher verscherzen werde: Ich werde dieses Blog auf Englisch betreiben. Aus Gründen. Warum ein zweites Blog?
  • Wegen der Sprache (Die Chancen, solche Texte auch als Essays zu verkaufen, liegen zwischen Englisch und Deutsch bei gefühlt 10:1).
  • Wenn ich hier im Blog Beiträge zum Thema Nature Writing schreibe, schrumpfen die Zugriffe erstaunlich auf ein Minimum, das sich eigentlich nicht lohnt. Mit einem getrennten Blog kann ich Zielpublikum vllt. leichter erreichen.
  • Ich finde die Texte selbst leichter, wenn ich sie brauche.
  • Es werden hier keine LeserInnen genervt, denen das Thema piepschnurzegal ist. Es bleibt hier alles beim Alten.
Noch brauche ich einen saftigen Titel, auch für die URL - gebe dann den Link bekannt, wenn es so weit ist! Hach, bin ich aufgeregt (ja, schwitzige Hände)!

8. November 2019

In der Zwischenwelt

Ein seltsamer Tag - denn eben bin ich aufgewacht, gegen 17:30 Uhr. Normalerweise freue ich mich um diese Uhrzeit auf einen baldigen Feierabend. Aber heute ist alles anders. Ich bin mittags mit Bilbo einfach immer weiter gelaufen, viel zu weit, ohne Proviant noch dazu, weil ich urplötzlich ein Ziel im Kopf hatte, dass ich erreichen musste. Ein Ziel, das ich so oft erreichen wollte, immer wieder ausschlug: zu nass, zu unzugänglich, zu sehr auf Abwegen, zu weit. Irgendeine Ausrede war immer.

Zuerst kommen die Bilder unscharf. Manchmal träumt man sie erst ...


Mit Leichtigkeit hätte ich das Auto nehmen können, aussteigen und ein paar Meter nur laufen. Und dann mein Ziel in Augenschein nehmen. Diese seltsam gewachsene Baumgruppe - inzwischen in einem Privatgelände - die damals schon im Wald von der Art nicht hineinpasste, die damals schon aufgrund ihres Wuchses seltsam schien. Aber ich wollte ihr aus gutem Grund nachspüren, mich langsam im Schritttempo nähern, verweilen können: Hier wird mein Text beginnen. Hier hörte ich vor etwa 25 Jahren ein ins Gebein fahrendes Konzert, als ein moderner Komponist seine Musik spielte, die nicht von dieser Welt schien - er spielte auf den jungen Stämmen eben jener Baumgruppe.

Hatte ich all das noch richtig in Erinnerung? Welche Art von Baum war es? Würden sie heute noch stehen? Würde ich meine Erinnerungen am Abbild der Gegenwart schärfen können?

Wir sind so weit gewandert, dass die letzten Kilometer nach Hause mühsam waren. Ich spürte meinen Magen hohl und leer, träumte vom Öffnen des Kühlschranks. Ein heißer Tee sollte es außerdem sein, Lindenblütentee mit Esskastanienhonig, Met von Bäumen. Mit dem Tee, dem gefütterten Hund und zwei riesigen, dick belegten Broten verschwand ich in den Kissen, wollte nur meine erschöpften Knochen ausruhen und ein wenig in Robert Macfarlanes "Underworld" weiterschmökern. So schliefen wir beide ein, ich wie ein Stein, der Hund womöglich ebenso.

Ich träumte ziemlich wild, die Wanderung vermischte sich mit Bildern aus dem Buch. Als ich langsam aufwachte, war ich in dieser Zwischenwelt zwischen Schlafen und Wachen, in der einem oft die verrücktesten Ideen kommen. Notiert man sie sofort, erweisen sie sich meist als Unsinn. Aber oft bescheren sie einem auch einen Aha-Effekt. In diesem Zustand habe ich oft meine Bücher geplant. Mir steht eine Szene aus Macfarlanes Buch vor Augen, die ich zuletzt gelesen hatte.

Er klettert mit einem Bekannten in verbotenen Unterwelten herum, klettert in eine stillgelegte walisische Mine und gerät in eine fast magisch erscheinende Höhlung. In der Schwärze unter ihm ein dunkler Wasserspiegel, mit dem sich die Mine im Lauf der vielen Jahre gefüllt hat. Weit oben ein Loch ins Draußen, das einen Sonnenstrahl ins Nichts leitet. Doch es ist kein Ort der Andacht. Generationen von Landbewohnern haben durch dieses Loch ihre Autos entsorgt, einfach ins Minen-Nichts gekippt, nicht wissend, wo und wie der Schrott dort landen würde. Der Schlund nahm sie alle auf ...

Und MacFarlane steht nun unten vor dieser Masse von Autos und kann wie ein Archäologe am Wohlstandsmüll die unterschiedlichen Zeitschichten erkennen, kann sehen, wie sich die Materialien verändern oder auch nicht zersetzen, bis hin zur modernsten Schicht erzählt der Schrott von den Dorfbewohnern.

Blitzartig steht mir ein Bild vor Augen, dem ich auf der Wanderung kaum Beachtung schenkte, weil es so normal schien. In einem verlassen wirkenden Haus saßen Menschen beim Mittagessen beisammen und beobachteten uns durchs Fenster, weil auf jenem Weg allenfalls noch Waldarbeiter, Jäger oder Pilzesammler vorbeikommen. Ich sehe sie in ihrer Gemütlichkeit, kann mit meinem Hunger förmlich die dampfende Schüssel riechen, sehe den warmen gelben Lichtschein, während ich in der feuchten Kälte laufe. Als ich das Haus passiere, sehe ich im Geiste etwas, das ich vor 25 Jahren noch nicht wusste: Diese Menschen sitzen auf Hohlräumen in der Erde, auf unterirdischen Gängen, die es nicht mehr gibt. Denn genau in den Zeiten, in denen die Waliser in Macfarlanes Buch wohl am fleißigsten ihre Autos in der Natur entsorgten, füllte man auch die hiesigen Galerien bis zum Rand auf: mit Sondermüll, wie man das heute nennt. In den 1960ern waren sich die Menschen sicher, die Erde würde gnädig alles aufnehmen, verschlucken. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Sie würde es fressen, umwandeln. Man müsse nur lange genug warten, es bildete sich schließlich auch Humus aus Dreck!

Jetzt beim Aufwachen sehe ich das Bild überscharf, wie ein Nachbild auf der Retina: Eine Familie sitzt mit ihren Freunden in selbstvergessenem, stilvollen Genießen direkt am Rand des Abgrunds, seltsam vereint mit den Altlasten, die zu bergen nicht einmal der modernsten Spezialfirma gelang. Im Halbschlaf ein Lichtblitz - und ich sehe eine andere Familie zusammensitzen, gar nicht so weit entfernt, nur eine weitere Wanderung weit weg. Sie sind arm und schmutzig, das Häuschen eher eine Kate mit einer einzelnen Kuh im schmalen Garten, am Rand eines Dorfs, das einen irritierenden Eindruck macht. Es müsste ländlich aussehen, aber der gesamte Wald ist abgeholzt. Es müsste still in der Mittagsruhe liegen, aber durch die Hauptstraße fährt ein Gefährt nach dem anderen, voll beladen. Es hämmert und klirrt und schabt und macht.

Ich sehe, wie die Erwachsenen die Köpfe zusammenstecken, es haben sich einige versammelt. Einer hat einen Graphitstift in der Hand, schreibt mit ungelenken Buchstaben auf, was die anderen auf ihn einreden. Er ist der einzige am Tisch, der schreiben kann. Wütend und aufgebracht sind sie alle, denn sie spüren, in diesem Dorf ist etwas schon lange nicht mehr in Ordnung. Die Kühe sterben, wenn sie am Waldbach trinken. Die Kinder werden seltsam bleich, kümmern dahin, löschen einfach aus wie Lampen, die nicht mehr genügend Petroleum haben. Das Schlimmste aber: Ihre Ernten sind gefährdet, weil das Wetter verrückt spielt. Zuerst haben sie es nicht glauben wollen, dass die Stürme schlimmer wüten, die Sommer heißer sind. Jetzt haben sie den Übeltäter ausgemacht.

Es ist der französische König im fernen Paris, es sind die reichen Adligen und Bonzen, die auf dem Land ganze Wälder abholzen für ihre Treibjagden. Und allem voran trägt ein Mann Schuld, der ihnen eigentlich das Auskommen gebracht hatte, aber nun die letzte Natur zerstört. Sie sind alle zu gierig nach den Bodenschätzen. Die Bauern hauen mit der Faust auf den nackten Holztisch und diktieren wütend. Was der Mann schreibt, wird in die Geschichte eingehen als eine der ersten Petitionen in Sachen Umweltschutz an den König. Erst Hunderte Jahre später werden die Menschen wissen, wie recht diese Bauern hatten. Die schlimmen Rodungen haben das Mikroklima im Dorf vollkommen verändert, das Hantieren mit arsenhaltigen Chemikalien vergiftet ihnen Wasser und Böden. Heute fast vergessen, beginnt in dieser Kate das, was man heute einen Ökoaufstand nennen würde. Die Minenarbeiter werden sich beteiligen.

Und so beginnt der Anfang eines Textes im Halbschlaf, in der Zwischenwelt der Bilder, in die nun aber vor allem erst das Bild jener geheimnisvollen Baumgruppe eingesetzt werden wird. Denn sie wird den Bogen schlagen zu einer Welt, in der Forscherdrang, Neugier und Experimentierfreude irgendwann einer Welt weichen werden, die nur noch aus Gier, Profitstreben und Ausbeutung bestehen wird: schon vor der französischen Revolution. Jener Welt, die heute in Fässern und losen Jauchen, Chemikalien und Beton unter unseren Füßen immer noch zu explodieren droht. Ich bin hellwach und grabe wie eine Archäologin in einer großen alten Kiste mit Material. Irgendwo muss noch eine Kopie dieser Petition an den König liegen ...

5. November 2019

Achtung, ich schlunze!

Wenn ich hier etwas stiller bin, liegt es daran, dass ich nicht nur viel Arbeit zu erledigen habe und mit dem neugeborenen Hund große Waldtouren laufe. Nein, ich brauche auch sehr viel Zeit, um herumzuschlunzen. Und obwohl das eine fantastische Tätigkeit ist, zu der man am besten urgemütliche, alte verbeulte Klamotten trägt, obwohl es sogar ein therapeutisches Herumschlunzen gibt ... bei mir läuft das unter Arbeit!

Symbolbild: So ungefähr sieht Herumschlunzen bei Hundewelpen aus. Das ist übrigens Bilbo nach der Fahrt vom Tierheim zu mir, als ich ihn adoptiert hatte.


Ernsthaft. Es ist dieser wunderbare Zustand des professionellen Schreibens, bevor es zum Schreiben kommt. Dieses herrlich ziellose Herumrecherchieren, Herumschnuppern und Herumdenken, wild oder spielerisch. Manchmal laufe ich einfach drei Tage hintereinander zu der Stelle, an der mein Text beginnen wird, lasse mir von Tierspuren etwas erzählen, quatsche Gedanken ins Handy oder untersuche Totholz. Manchmal lese ich gnadenlos gut geschriebene Bücher, um zu lernen, was ich noch nicht kann. Ich zeichne und notiere. Und habe eine große Kiste vom Speicher geholt - altes Recherchematerial.

Es hat mich wirklich gepackt. Und wie ich gelernt habe, dass man solche Texte am besten mit einem absolut einprägsamen Bild aufmacht, ist mir das beim Laufen plötzlich eingefallen. Es ist ein Bild zum Sehen, Hören und Riechen, ideal. Es drängt den Wendepunkt zum Sachtext förmlich auf. Aber der muss eben noch wachsen und bevor er sich wie von selbst in die Tasten ergießen wird, muss ich vorbereitend herumschlunzen. Schlunzen macht kreativ.

Noch habe ich keinen Titel. Und wie ich mich kenne, kommt mit dem der rote Faden, der Text selbst. Mir schwebt etwas Richtung "Edgelands" oder "Borderlands" vor, aber das trifft noch nicht genau das, was ich meine und ist als Titel auch schon von einem Buch und einem Spiel besetzt. Allein dieses Hineinspüren macht schon Spaß. Was meine ich eigentlich genau, was will ich beschreiben, was habe ich zu sagen?

Ich fasse mich kurz: Noch wird das kein Buch. Ich arbeite aber ganz inoffiziell und ohne Zeitdruck an einem Essay. Besser gesagt: Noch schlunze ich herum, bis dieser Moment kommen wird, an dem ich Heureka brülle, weil der Plan dafür genau vor meinen Augen steht. Wobei ich gestehen muss: Ich brülle nie Heureka. Eher so etwas wie "Jappadappaduh!"