Heute morgen hat mich eine ungeheuer wichtige Frage bewegt. Sie füllte mich derart aus, dass nichts anderes mehr wichtig schien. Denn obwohl ich schon mein Leben lang auf das Sujet schaute, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher.
Trägt ein Schmetterling die Vorderflügel über den Hinterflügeln oder umgekehrt?Das ist jetzt kein Haken mit Köder. Ich hatte alles gelernt über die Adern in Schmetterlingsflügeln, die unterschiedlichen Teile, aber wie genau ist ein Schmetterling gebaut, wenn man ihn nachmachen müsste? Ich stelle mir die Frage, weil ich gerade Schmetterlinge aus Papier herstelle, die anders als Kinderbasteleien möglichst echt aussehen sollen. Die Frage stellen sich auch Menschen, die Schmetterlinge zeichnen oder malen wollen. Es ist der Blick, der Wissenschaft und Kunst vereint: Wissen wollen, wie etwas ganz genau aussieht, funktioniert, lebt. Etwas erforschen, um etwas anderes zu erschaffen.
Auf die Recherche folgt meist das große Staunen. Für WissenschaftlerInnen öffnen sich Welten voller neuer Fragen, für KünstlerInnen geht es ebenfalls an Experimente mit Farben und Materialien. Und nicht selten geschieht es dann auf diesem Erkenntnisweg, das man eine Ahnung davon bekommt, wie klein und unwissend wir Menschlein eigentlich sind. Wir glauben, alles zu wissen. Aber wenn man uns plötzlich danach fragt, welcher Flügel in ausgebreitetem Zustand auf welchem liegt, was dann?
Dabei steckt darin allein eine Wunderwelt sinnvollen Zusammenspiels. Würde nämlich der Hinterflügel über dem Vorderflügel liegen, weil er so schön aussieht, könnte der Schmetterling in zusammengeklapptem Zustand keine Fressfeinde abschrecken. Nur bei umgekehrter Flügellage blicken seine "Augen" und Schockfarben den hungrigen Vogel an. Alles ist an seinem Platz, dem idealen, bestmöglichen Platz, so dass sich die feinen Schüppchen auf den zerbrechlichen Flügeln nicht abschuppen, die Farben nicht verlorengehen. Das ist im mikroskopischen Bereich so genial aufeinander abgestimmt, dass Bioniker Schmetterlingsflügel erforschen, um besonders effektive Solaranlagen zu schaffen!
Was ich damit beschreiben will, ist ein Gefühl, das mich bei schöpferischer Arbeit begleitet. Es füllt mich dann ganz intensiv aus, ich kann es fast körperlich spüren. Und es tut so unendlich gut, dass es einen alles andere, alles Schlimme, Dumme und Negative im Moment des Schöpfens vergessen lässt. Es ist ein heilsames Gefühl.
Wie kann ich es in Worte fassen? Auf der einen Seite verliere ich mich in Fragen, die aus Antworten entstehen. Immer wenn ich glaube, endlich die Antwort gefunden zu haben, gebiert sie zig neue Fragen. Ich recherchiere, ich schaue nach, frage, lese, sehe genauer hin - und es treibt mich. Es ist ein Sog, der mich nicht loslässt und den ich auch vom Schreiben her kenne: Neugier. Unbändige und lustvolle Neugier treibt mich an.
Wenn ich ein Sachbuch geschrieben habe, gab es am Anfang die Phase des wilden Sammelns, eine der schönsten bei der Buchentstehung. Ich hatte ungefähr mein Thema vor Augen, ließ es aber bewusst noch offen. Denn ich wusste ja, dass ich nichts wusste. Und dann legte ich los. Verschlang hungrig alles, was ich zu dem Thema finden konnte. Vielleicht bin ich darum süchtig nach Bibliotheken und nach dem Internet als einer unermesslich großen Bibliothek: Jedes noch so wilde Herumsurfen macht mich zur Entdeckerin.
Ich entdecke Kontinente, manchmal Kosmen von fremdem Wissen. Ich erkunde Planeten von Fachgebieten, mit denen ich mich vielleicht noch nie beschäftigt hatte.
Manchmal legt mein Raumschiff der Neugier auch schon mal eine Notlandung hin, dann habe ich mich im Weltall verfranst und muss mich neu orientieren.Aber eigentlich immer im rechten Augenblick tut sich eine Zeitreisetür auf und jemand erzählt mir, wie ich den Rückweg zum Thema finde: ein Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, eine Wissenschaftlerin aus dem 19. Jhdt., ein Bild oder ein Text, ein Buch oder eine Datei. So sammle ich Kisten und Sticks voller Wissen und Faszination an dieser Welt. Nur deshalb weiß ich jetzt, dank der Schmetterlingsflügel, was ein Gyroid ist und warum Nanostrukturen bei den Solarzellen der Zukunft eine Rolle spielen.
Bei meinem ersten Buch habe ich mir noch ein schlechtes Gewissen machen lassen, weil ich nicht "effektiv" arbeiten würde, mich zu leicht ablenken ließe, viel zu viel Zeug in eine Kiste stopfte, was nachher kein Mensch brauchen würde. Aber dann entdeckte ich schnell, dass mein Buch aus all dem gewachsen war. Sicher würden die Leserinnen und Leser manches nie erfahren, was noch heute in dieser Kiste auf dem Speicher schlummert. Aber ein Buch ist so viel mehr als Text. Ein Buch besteht vor allem aus all dem Ungesagten. Und aus meinen Befindlichkeiten beim Erarbeiten.
Befindlichkeiten ... das ist offenbar heutzutage ein ungeliebtes Wort. Kürzlich habe ich mich auf Facebook für "Befindlichkeiten" rechtfertigen müssen, weil das Thema solche doch nicht vertrage. Halt, stopp! Es war anders: Ich bin in alte Muster zurückgefallen.
Ich war wieder in dem verteufelten Spiel zwischen den Erwartungen anderer und der Frage, ob ich sie erfülle. Ich habe nur geglaubt, mich für Befindlichkeiten rechtfertigen zu müssen. Dabei sind sie in der schöpferischen und denkerischen Arbeit essentiell wichtig. Menschen suchen zu erkunden, warum manche Bücher oder Kunstwerke andere Menschen mehr berühren als andere. Ich glaube fest daran, dass es u.a. daran liegt, wieviele "Befindlichkeiten" ihre SchöpferInnen zugelassen haben und wie sie sich öffnen für ihre Gefühle im Schaffensprozess. Wie durchsichtig sie dabei werden und im Werk "verschwinden".
Heute weiß ich, dass die Phase des wilden Sammelns die wichtigste überhaupt in meinem Schaffensprozess ist. Hier erlebe ich auch, ob mich ein Thema endgültig "beißt", so dass ich die Leidenschaft dafür über einen langen Zeitraum aufrechterhalten kann. Manche Themen sterben sang- und klanglos in dieser Zeit. Sie hätten später auch andere Menschen nicht begeistert. Nicht, weil das Thema keins war, sondern weil ich die Falsche für das Thema bin. Ich hätte halbherzig geschrieben oder gefertigt, hätte "funktioniert", aber nicht "erschaffen".
Dieser Zwiespalt ist mir wieder einmal aufgegangen bei den Vorbereitungen für einen ländlichen Kunsthandwerkermarkt. Das meiste, was ich an Schmuck erschaffe, ist zu kostbar, um in der Sommerhitze auf Bierbänken zu liegen. Was könnte ich dort anbieten? "Katzen gehen immer gut", riet mir eine Kollegin. Warum machst du nicht Pappmachée-Katzen? Ein Blick auf Pinterest belehrte mich eines anderen: Das kann man mit Schulkindern machen und das machen Millionen. Das bin nicht ich. Ich versuchte mich an einem stilisierten Huhn aus geklebten Streifen. Hühner gehen auf dem Land immer gut. Es gibt einen Stall mit Geflügel auf dem Gelände. Ich spürte nichts! Absolut nichts. Ich hatte ein prachtvolles Bild von einem künstlerisch gestalteten Huhn vor Augen. Aber es drängten sich all die Bilder von Osterkitsch dazwischen, von Billigstkram aus Ostasien. Bevor mein Huhn einen Schnabel und Füße bekam, sah es aus wie eine verunfallte alte Sunkist-Packung und flog in den Mülleimer. Ich sah meine Käfer vor mir. Die liebe ich. Ich würde jedoch bis zum Termin nicht genügend bauen können - sie sind aufwändig.
So flatterten die Schmetterlinge in meinen Kopf - und da war ich wieder ganz ich. Als Kind schon faszinierten sie mich und ich konnte ihre Geschichten hören, die sie mir erzählten. Sie hatten Sprache in Farben. Ich konnte noch nicht schreiben, entwickelte aber eine "Geheimschrift", die ich mit bunten Wachskreiden aufschrieb. Ich schrieb auf, was mir die Schmetterlinge erzählten, übersetzte ihre Farbdialoge in bunte Wachskreidengeheimschrift. Ich werde also eine Bierbank mit Schmetterlingen füllen.
Und bis der erste so aussieht, wie ich ihn haben möchte, sammle ich als fleißige Biene Wissen und Unnützes, Faszinierendes und alles, was meine Neugier noch mehr anstachelt. Und meine Liebe.
Da bin ich beim anderen Thema: Ist solches getriebenes Sammeln nicht Konsum?
Was hat das Thema Konsum hier zu suchen?
Ich kürze ab. Im Schöpfungsprozess hat es absolut nichts zu suchen. Denn dieses von mir beschriebene Sammeln ist ein Prozess, eine Zwiesprache, ein liebendes Miteinander fast. Es fordert mich als Lebewesen ganz und mit Haut und Haaren. Mit Intellekt und mit Gefühlen gleichzeitig. Dieser Schöpfungsprozess ist körperlich fühlbar. Die Kolleginnen wissen, wie es sich anfühlt, wenn der letzte Satz eines Buchs geschrieben ist, der letzte Pinselstrich eines Bildes gemalt. Zumindest beim Buch habe ich das immer gehabt: diesen absoluten Endorphinrausch - und das Loch danach. Jeder, der das kennt, weiß, dass es einen verändert. Panta rhei, soll Heraklit gesagt haben, alles fließt. Und von ihm stammt das Fragment:
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Das Sammeln als Konsument ist anders. Es soll unsere inneren, hungrigen Seelenhohlräume füllen, aber um Himmels Willen nichts und niemanden verändern. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir durch Kauf konsumieren oder indem wir uns auf technische Konsumstrukturen wie etwa Facebook einlassen. Es ist ein zutiefst reaktionärer und unschöpferischer Akt: Konsum gaukelt uns eine sichere Konstante vor, macht uns zum funktionierenden Rädchen eines Systems, in dem wir uns nur noch unseres Selbsts vergewissern werden, indem wir weiter konsumieren. Wer ausbricht, fällt auf sein wahres Ich zurück, erblickt sich ungeschminkt im Spiegel. Befindlichkeiten könnten in diesem Fall zerstörerisch sein, also schafft man Ersatz-Emotionen, oberflächliche Scheingefühle ... die sich wiederum mit Konsum befriedigen lassen. Schöne neue Welt und doch so alt. In meinem Buch "Das Buch der Rose" habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie es im Zeitalter der ersten Massenmedien und Massenproduktionen, im 19. Jahrhundert, zur Okkupation der echten Gefühle kam. Kitsch und billige Affekte ersetzten sie. Denn Affekte lassen sich leichter manipulieren.
"Konsum oder Schöpfung" - darüber ließe sich ein spannendes Essay schreiben. Weil ich aber im Moment Schmetterlinge aus Papier in Welten aus Glas und Papier erschaffen möchte, mache ich es kurz und zitiere lieber Goethe aus seinem Gedicht Eins und Alles:
Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
Ja, und die Killerschnecken?
AntwortenLöschenSpaß beiseite: Bei deiner Beschreibung der Recherchewege und -umwege habe ich mich mehrfach dabei ertappt, zustimmend zu nicken. Ich glaube, mit deiner Unterscheidung zwischen schöpferischem und konsumierendem Sammeln (und einer schöpferischen oder zumindest interagierenden und einer rein konsumierenden Herangehensweise an die Welt generell) bist du auf etwas Wichtiges gestoßen. Mein Unbehagen mit der Art, wie viele Leute inzwischen auch ans Lesen nicht nur von Büchern herangehen, lässt sich vielleicht auch in diese Muster einpassen (da fördern auch wieder Medien wie Facebook ein rasches Konsumierenwollen anstelle einer Auseinandersetzung mit dem Text).
Gut zu wissen, dass andere das nachvollziehen können. Manchmal denke ich, vielleicht empfinde ich das nur so verschroben.
LöschenDas mit dem Lesen - dazu gibt es ja Studien und auch Vermutungen aus der Hirnforschung - wollte ich zunächst selbst nicht glauben. Ich bin ja Extremvielleserin, beruflich. Was ich manchmal an wissenschaftlichen Texten online überfliege, nur um eine einzige Frage abklären zu können, erschreckt mich von der Menge her oft selbst. Und dann muss ich abschalten im Kopf ... und sitze bei Facebook. Gar nicht gut. Das wird dann nämlich sozusagen zur Zigarette. ;-)
Seit ich nebenberuflich an Datenbanken arbeite UND extrem viel (online) lese, schaffe ich abends keinen Roman mehr. Nach spätestens zwei Seiten weiß ich, wenn ein Buch Schwächen hat. Ich kann bestimmte Stile recht schnell nicht ab. Ich lese viel zu schnell. Komm dadurch nicht mehr in die Geschichten rein. Lese sowieso mehrere Bücher gleichzeitig.
Und dann fiel mir das Gegenprogramm in die Hände. Ich lese immer noch kaum Papierbücher. Aber inzwischen Nature Writing. Das ist oft EXTREM langsam, viel langsamer als ein Roman. Und ich kann es in Stückchen lesen, falls mir die Augen zufallen.
So lese ich seit Wochen an "A Buzz in the Meadow" von Dave Goulson. Der beobachtet einfach Insekten, vor allem Käfer. Nichts sonst. Und ich bin weg und lass mich verschlingen und mag das langsame Lesen. Weil es begleitet wird von einem langsamen Beobachten und Erleben der Natur draußen, mit dem Hund. Neuerdings setze ich mich mit dem Frühstückskaffee neben einen Käfer und bewundere das Tier.
Dann schalte ich Facebook an und ... im Comic stünde: "Wooooooosch!" Fühlt sich an wie Crash der Parallelwelten. ;-)
Ach ja, die Killerschnecken ... die haben Eier gelegt. Mal gespannt, was schlüpfen wird.