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30. März 2019

Wider das Wegwerfen

An die zwanzig Grad seit gestern - es ist Zeit, meine verzinkten Gartenlaternen mit Glaseinsätzen zu putzen und die handgeschmiedete aus Messing in den Holunder zu hängen. Sie haben mich keinen Cent gekostet, denn ich traf auf der Déchetterie ein junges Paar, das die Laternen in Originalverpackung und absolut ladenneu wegwerfen wollte. Die Zeit, die sie brauchten, um den Karton vom Metall zu trennen, nutzte ich für die Frage, ob sie sie mir überlassen würden. Erlöst packte die junge Frau mir die Beute in die Arme, ich hatte sie davor bewahrt, die Mülltrennung vornehmen zu müssen. "Ach, ist ein Dreck", murmelte sie, "ich hab die gekauft, aber Sie werden sehen, das ist Betrug, auf dem Foto sind sie durchsichtig, aber die Fensterchen sind grün. Ich hasse Grün!" Ich packte sie sorgfältig zu Hause aus und enfernte das grüne Schutzpapier vom Glas. Natürlich waren sie durchsichtig.

Kein Müll, sondern Museumsexponat im Maison Rurale in einer der Werkstätten.
Das war schon vor Jahren und seither wurde ich oft gefragt, wo ich diese schicken Laternen denn her hätte, vor allem das handgeschmiedete Kuriosum. Vielleicht hat es einst der Vater oder Großvater jener jungen Frau in vielen Stunden geduldiger Handarbeit angefertigt? Wie oft versuche ich, Leute davon zu überzeugen, intakte Gegenstände wenigstens bei Emmaus zu stiften, anstatt sie auf den Müll zu werfen. Das ist ihnen zu mühsam! "Ich hab keine Zeit für sowas!", entgegnen sie oft. Dabei gibt es immer jemanden irgendwo, der etwas gern hätte oder dringend benötigt - und von dieser Art Handel enstehen Sozialarbeitsplätze, werden Menschen mit Schwierigkeiten wieder in die Gesellschaft eingegliedert. Keine Zeit für sowas ...

Heute hängen solche Menschen wahrscheinlich anbetend vor den Videos einer Marie Kondo und reden sich stundenlang die Köpfe heiß in Facebookgruppen, was sie noch alles an sich selbst und im Äußeren abspecken könnten, um endlich an diese vielgepriesene "Essenz" zu kommen, die sie in ihrem scheinbar unaufgeräumten Leben verloren haben. Sie dürsten nach Halt in ihrem Leben - aber wo und wann haben sie ihn verloren? Was würde sich verändern, wenn sie sich frech und mutig einfach wieder Zeit nähmen? Die Zeit vielleicht, um in den Karton des allzu schnell Konsumierten zu schauen. Die Zeit, den Müll doch noch zu trennen, weil das etwas in unserer aller Welt bewirkt. Die Zeit, an andere zu denken und vielleicht doch zu spenden. Oder einfach die Zeit, die man beim Licht einer Laterne, in grün oder weiß, für sich selbst erübrigen kann? Hinter all dem leeren Überkonsum und dem getriebenen Aufräumen und Wegwerfen verstecken sich doch die Fragen nach den wahren Werten, nicht nach Geldwerten?

Im Maison Rurale tauche ich ein in eine Welt, in der Unordnung und Sammelwut im Exponat mündet und lese folgerichtig, was der französische Museologe und Ethnologe Georges Henri Rivière (1897-1985) einmal schrieb, der maßgeblich die Ideen von Volkskunde- und Freilichtmuseen geprägt hat:
Jedes Konzept oder Objekt, natürlich oder künstlich, stellt einen historischen, technischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder spirituellen Wert dar.
Oder wie es SchriftstellerInnen formulieren würden: Jedes Ding erzählt Geschichten.

Die Welt, in der ich mich bewege - wohltuend ohne jeden Heimatschmalz oder das heute wieder aufkeimende, alles verklärende reaktionäre Denken - diese Welt erzählt von vergangenen Zeiten, welche immer mehr Menschen nur noch aus historischen Filmen oder Romanen kennen. Trotzdem ist uns diese Zeit näher, als wir glauben. Auch meine Eltern besaßen anfangs in der Küche nur einen "Spülstein", in den man eine Wanne setzen musste, um darin Geschirr zu spülen. Ihre Generation hat allenfalls am Samstag gebadet, weil es mühsam war, Wasser von der Pumpe zu holen und auf dem Herd heiß zu machen. Was soll der alte Kram? Wen interessiert das denn noch? Wir drehen die Wasserhähne auf und drücken auf den Knopf der Spülmaschine. Rückwärtsschau bringt doch nichts! Aber ist das wirklich so?

Beim Studium der Papiere für die Führungen ebenso wie vor Ort fällt es mir oft plötzlich wie Schuppen von den Augen. Hier lässt sich nicht "tümeln", denn die Räumlichkeiten und Werkzeuge sprechen eine beredte Sprache von der Armut, der harten Arbeit aller Generationen und einer für heutige Zeiten unglaublichen Enge zwischen Geschlechter- und Altersrollen, zwischen Hofarbeit und Religion. Freiräume? Selbstverwirklichung? Freiheit im Denken und Leben? Würden wir der Familie von damals per Zeitmaschine begegnen können, wir müssten ihnen solche Konzepte wahrscheinlich wie Aliens erklären.

Die Leute von der Sorte "früher war alles viel besser" könnten rüde erwachen, wenn sie genau hinblicken. Die so oft gerühmte Großfamilie mit ihrem Miteinander der Generationen könnte man eher als Nutzgemeinschaft bezeichnen. Von der Kindheit an bis zur Pflegebedürftigkeit galt der Mensch als Arbeitskraft. Wer essen und wohnen wollte, musste arbeiten. Und je älter man wurde, desto höher rückte man im Haus auf - in die kleineren, engeren Kammern. Nur die Kinder waren ungeheizter untergebracht. Funktionierte die Hofarbeit nicht mehr, blieben das Werkeln und die Handarbeiten, die Kindererziehung und Betreuung.

Vor der Erfindung von Dosennahrung und Tiefkühlkost, von fließendem Wasser oder Melkmaschinen, verlangte die Arbeit in Küche, Haus, Hof, Viehställen und Garten so viel von den Menschen ab, dass die Rollenverteilung als Arbeitsteilung kaum Ausbrüche zuließ. Selbst wenn die Kinder schon zur Schule gingen, hatten sie ihre festen Aufgaben, die Frau sorgte fürs Haus, der Mann für die Landwirtschaft. Das alles umklammerte die Religion, die ihrerseits die Regeln vorgab und die Sonntage, aber auch viele Abende ausfüllte. Wer aus einer solchen Welt ausbrechen wollte und andere Vorstellungen vom Leben hatte, der oder dem blieb nur eines: die Koffer packen und auswandern, am besten gleich aufs Schiff und nach Amerika. Dort schien alles möglich.

So sehr uns die Vergangenheit lehrt, wie erfindungsreich Menschen sind und wie gut wir es heute haben, so aktuell ist aber auf der anderen Seite dieses alte Leben auch für die Zukunft.

Gewiss hat man damals nicht viel Ahnung von Umweltschutz gehabt - und es gibt üble Havarien gerade in dieser Gegend, in der einst Erdöl gefördert wurde. Trotzdem verblüfft das Leben auf einem solchen Hof dadurch, dass es eine Kreislaufwirtschaft war. Marie Kondo würde schreiend von einem solchen Hof rennen: Hier wurde eben nichts weggeworfen, nicht einmal die menschlichen und tierischen Exkremente, die man als Dünger nutzte. Alles, was nur möglich war, wurde verwertet.

Und da wird es spannend für mich. Man hielt in den Ställen nebenan Tiere nicht nur, weil man Fleisch essen wollte. Tiere waren auch Verwerter von dem, was man sonst hätte wegwerfen müssen: Essensreste, Molke (die man früher nicht trank), Gartenabfälle, Erntereste. So verwandelte sich im wahrsten Sinn des Wortes Abfall wieder in Nahrung und die nährte wiederum "Nahrung" auf zwei oder vier Beinen. Die Tiere waren zunächst für den Eigenbedarf vorgesehen und dadurch vielfältig: Schweine, Gänse, Hühner, Hasen, Kühe. Eine Kuh galt als großer Segen - Milch konnte man nicht nur trinken, man machte daraus Quark, Butter und Käse. Bauern, die mehr Kühe als für den Eigenbedarf halten konnten, verkauften diese Produkte und kamen damit auf ein dickes Zubrot. Tiere wurden damals alt. So einen "Dauerlieferanten" für Milch oder Eier schlachtete man allenfalls im Alter. Es waren die Schweine, die man damals verzehrte.

Anders als heute waren die Fleischmengen geringer. Eine Dreigenerationenfamilie (sechs Erwachsene und Kinder) schlachtete zwei Schweine - eines vor dem Winter und eines nach dem Winter. Die Tiere wusste man zu schätzen, sie lebten fast unter einem Dach mit der Familie, in Hungerjahren teilte man so manches Essbare mit ihnen. Verwertet wurde nach dem Schlachten wirklich alles, nichts blieb übrig. Für Festessen unterm Jahr hielt man sich ans Kleinvieh. Und schließlich rackerten auch Tiere mit den Menschen auf den Äckern: Ochsen und Pferde ersetzten die heutigen Maschinen.

Einen ähnlichen Kreislauf konnte man auf dem Dachboden sehen. Nichts wurde weggeworfen, auch nicht kaputte Gegenstände. Denn irgendwann würde man vielleicht genau diese eine besondere Schraube brauchen oder einfach zwei alte Teile zu einem neuen, funktionierenden zusammenbauen. Fehlte einem ein Teil für eine Reparatur, tauschte man sich mit anderen Leuten im Dorf aus, die ebenfalls ihren Kram horteten - oder man suchte bei den fahrenden Händlern. Nichts wegzuwerfen - das bedeutete, im Ernstfall alles selbst reparieren zu können und vor allem Geld für Ersatzteile zu sparen. Nichts wegzuwerfen, bedeutete aber auch, die Erinnerungen ans eigene Leben und das der Vorfahren zu behalten, weil Dinge Geschichten erzählen. Und weil so viele Menschen so vieles nicht weggeworfen, sondern gesammelt und gespendet haben, können wir heute nicht nur museal erfahren, wie sich Leben und Kultur entwickelten - wir können in so einem Kulturerbezentrum auch lernen.

Wenn wir heute ganz hipp von Zero Waste und Kreislaufwirtschaft fachsimpeln, haben wir das Rad eigentlich nur zum zweiten Mal erfunden. Wir wissen heute sehr viel mehr und können modernere, effektivere Methoden umsetzen. Aber eigentlich ist die Denke dahinter ein alter Hut, aus Zeiten, als der Mensch noch in direktem Kontakt mit der Natur lebte. Lernen können wir auch von denen. Ich bin mir sicher, die Menschen von damals hätten, wenn sie die Technik gehabt hätten, Regenwassertoiletten eingebaut. Eine Zisterne besaßen auch sie.

Ich bin gespannt, was ich noch alles entdecken werde!

In Zukunft werde ich im elsässischen Maison Rurale ehrenamtlich Führungen übernehmen, darauf bereite ich mich gerade vor. Selbstverständlich sind diese über das Museum zu buchen, nicht über mich: Infos anklicken

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