Wenn ich alte Bücher zur Schmuckproduktion im
Atelier Tetebrec sammle, erlebe ich oft Überraschungen. BücherliebhaberInnen werden das kennen, wenn andere Menschen Spuren hinterlassen haben. Nicht ganz so beliebt sind Kaffee- und Tintenflecken, aber die zerquetschte, gepresste Mücke in einem Roman des 19. Jahrhunderts kann durchaus die Fantasie anregen: Las die Besitzerin womöglich im Garten - und zu welcher Zeit? Wenn diese Mücke erzählen könnte, was würde sie uns berichten?
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Ein Larousse um 1920 - und plötzlich fällt eine Bescheinigung in Schönschrift heraus - aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. |
Am spannendsten sind oft vergessene Zettel. Ich habe eine Sammlung religiöser Spruchbildchen und Poesiealbenbilder vom Beginn des 20. Jahrhunderts - sie fielen aus Büchern, die ich aus dem Müll gerettet hatte. Eben zerstückle ich gerade einen riesigen Larousse, eine französische Enzyklopädie von ca. 1920. Natürlich verwende ich nur wirklich kaputte Bücher, die nicht mehr zu retten sind, zu wertvoll wären mir sonst die Ausflüge in ihre Inhalte. Ich lese mich regelmäßig fest und staune! 1920 in Frankreich: Fast nur Männer auf den Abbildungen und jede Menge Waffenwissen. Der Krieg hat die allgemeine Kultur durchdrungen: Ich lerne alles über unterschiedliche Patronenformen und wie man welches Gewehr perfekt hält. Immer wieder Soldaten. Frauen tauchen allenfalls als alte Göttinnen auf, als Königinnen, wenn man sie nun wirklich nicht mehr totschweigen kann - und als Verkörperung von Schönheit. Nur Jeanne d'Arc, die haben sie auch noch ausführlich erwähnt.
Aber es ist ausnahmweise nicht das Lexikon, das mich gefangen nimmt. Es ist der Zettel, der herausfiel. "Certificate" steht darauf und jemand hat offenbar einen englischen Text erst einmal entworfen, mehrfach gestrichen, geändert. Es ist eine Spur in die Geschichte des Elsass, zu den unseligen Schicksalen, welche die Bevölkerung zwischen Naziokkupation und Flucht in die französischen Teile des Landes bis zur Befreiung erlitt. Ich möchte hier einfach den Text mit Originalstreichungen abschreiben. Als Zeugnis. Als Mahnung. Seine Worte sind einfach - die Geschichten dahinter könnten sicherlich Romane füllen. Es wäre zu schade, wenn man ihn vergäße ... denn auch in heutigen Kriegen bleibt Menschen manchmal nicht mehr, als einen solchen Zettel zu deponieren.
Certificate
Mrs N. N. was living in this house till two months ago. Then she was obliged to leave it because it is situated so near by the railway-station which was to several times attacked by
allied fighting planes.
The daughter of Mrs N. N., Mrs S., is always the proprietor of this house. She was driven
out away by the Germans in December
1940. Since that time she was living in south of France. She
is counting to will come back
in her house to village X as soon as possible.
Rückseite:
The proprietor of this house is Frenchman. He was obliged with his family to leave it, because it is situated so near by the railway-station, which was to several times attacked by fighting-planes.
Now he is living in the next village of Y, but he will come back in several days.
The soldiers are requested to take care the furnitures and all things in this house.
Oh wie cool! Solche Zettel finde ich heute nicht mehr, aber damals, als ich noch Bücher aus der Bibliothek auslieh, da fielen mir hin und wieder auch vergessene Dinge heraus. Postkarten oder manchmal auch ein Einkaufszettel. Nicht so spannend wie dein Fund, aber trotzdem charmant. :)
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
Sam
Ich hatte das Buch aus dem Emmaus, wo viele Dinge aus Haushaltsauflösungen landen. Dieser Larousse stand dort, seit ich das Emmaus kenne, also locker fast 20 Jahre! Und jedesmal lief ich traurig daran vorbei und dachte: Schade um das schöne Buch, so kaputt, das wird keiner mehr kaufen. Und der zweite Band fehlte außerdem.
LöschenSeit ich kaputte Bücher brauche, weil ich gut erhaltene nicht "schlachten" mag, erinnerte ich mich an den Schinken. Das Buch war voller Lesezeichen und Notizzettel ...
Liebe Grüße,
Petra