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30. September 2011

Schreiben und Lehren

Jetzt dürfen alle hämisch grinsen, die meine Abneigung gegen Schreibratgeber der amerikanischen Art kennen. Ich werde Ratgeber schreiben. So, und jetzt genug gegrinst: Ich werde es mir weiterhin verkneifen, Schreiben nach Bauklötzchenmethode lehren zu wollen. Ein Creative Writing Kurs bei mir hätte wahrscheinlich fatale Folgen und wäre so anders, dass die braven Schüler nach einer Stunde die Flucht ergreifen würden. Ich widme mich lieber den Themen, die ich auch beherrsche...

Schimpfe nie wieder jemand über Social Media, die würden beruflich nichts bringen. Das liegt dann meist an der Art des eigenen Gebrauchs derselben. Und daran, dass sich Dinge nicht direkt in Zahlen ausdrücken, sondern indirekt durch Kontakteknüpfen und Inhalte zustande kommen. Drum freue ich mich sehr, dass meine ganze Bloggerei, die ganze Twitterei und Facebookerei, Früchte tragen. Ein E-Book-Verlag, der ab und zu mitgelesen hat, will Ratgeber zu diesen Themen mit mir produzieren (das haben wir per FB ausgehandelt, so viel zu modernen Kontaktformen). Es geht erst einmal um Self Publishing (und die Entscheidungsfragen auch für Verlagsautoren) und zum anderen um PR fürs eigene Buch. Kein Endlosgelabere wie hier im Blog, sondern klare Entscheidungshilfen und Tipps.

Und natürlich liegen da noch einige Themen auf der Straße, denn vieles, was fürs Self Publishing überlebenswichtig ist, wird auch als Kompetenz für Verlagsautoren zunehmend wichtiger - wie etwa der wirklich professionelle Gebrauch von Social Media und Blogs.

Parallel habe ich vor, zu diesen Themen auch Kurse zu geben, in der man die graue Theorie praxisbezogener und persönlicher lernen kann und womöglich am eigenen Projekt erproben. Das nächste wird also ein Konzept fürs E-Learning sein, wobei ich im Moment mit yahoo-groups als der einfachsten und billigsten Technikplattform liebäugle. "Körperliche" Kurse wären natürlich auch möglich, dazu bräuchte man allerdings Räumlichkeiten - und die Autorinnen und Autoren müssten reisen und für Unterkunft und Essen sorgen. Ich überlege noch, ob ich das in die nächsten Zentren und Verkehrsknotenpunkte Karlsruhe oder Baden-Baden legen würde oder so eine Art Sommerschule im Elsass auf dem platten Land (ohne Nahverkehr) anbieten wollte.

Wie sieht denn der Bedarf beim Publikum aus?
In welcher Form würdet ihr einen Kurs buchen? Wo seht ihr die Unterschiede zwischen Online-Kursen und Real-Life-Lernen? Was erwartet ihr von solchen Workshops? Gibt es Dinge, die ihr speziell lernen oder trainieren wolltet? Habt ihr eher Bedarf an Gruppenuntericht, an First-Steps oder an sehr persönlichem Coaching?

Während des Schreibens meiner Bücher nehme ich jede Anregung gern entgegen! Und am liebsten direkt hier im Blog, damit auch diejenigen etwas davon haben, die nicht bei FB oder Twitter sind. ;-)

29. September 2011

Regiokrimi goes bloody hell

Das hier ist nicht der Tatort, das ist ein Regiokrimi, wie er leibt und lebt" - so etwas in einem Regiokrimi zu lesen, wo ich doch so gut wie nie Regiokrimis lese (außer denen aus Baden-Baden und Los Angeles), verblüfft schon. Nun hat es auch noch den Schwarzwald erwischt, komplett mit Genussgedöns und Blutsoße. Ideal für den kleinen Imbiss zwischendurch: "Tatort Schwarzwaldsteig: Dinner for two". Womit ich mal wieder Zarathustras miese Kaschemme empfehlen wollte.

27. September 2011

Handwerk macht es nicht fett

Was die Feuilletonistin zelebrieren darf, nimmt man der Autorin übel: Verrisse schreiben. Also macht es die Autorin am Beispiel eines namhaften Autors, dem nichts mehr schaden kann - und sie schaut auch als Autorin auf das Buch: Warum kann ein handwerklich gut gemachter Roman so wenig wirklich berühren? Warum kippt eine Story unter zu viel beachteten Bausteinen à la American Ratgeber ins Fehlen von Leben?

Ich muss gestehen, dass mich die Wut schon länger packt. In immer mehr Unterhaltungsromanen, leider vorzugsweise im Spannungsgenre - werden mir handwerkliche Kniffe derart um die Augen gewatscht, dass ich nicht hingerissen bin, sondern die Risse genau erkenne - wie der Autor seine Scharniere geölt hat, wie er sägte und feilte. Ich will aber ein spannendes Buch lesen, keinen Schreibunterricht genießen.

Absoluter Aufreger ist mir inzwischen der bis ins Krankhafte überstrapazierte "Cliffhanger". So nennt man im Fachjargon die Technik, mit der ein Autor etwas offen lässt, was den Leser darum atemlos zum nächsten Kapitel jagen lässt. Die dämlichste Form des Cliffhangers wäre der offene Verweis auf die Zukunft: "Würde sie ihm entkommen?" Gestandene Autoren sind natürlich etwas geschickter, sagen das nicht explizit und brechen die Szene kurz vor dem Zeitpunkt ab, wo klar wird, in welche Richtung sie driftet: "Sie hoben ihre Pistole gleichzeitig." PUNKT-AUS-Kapitelwechsel. Weil das nun aber im Verlauf von 500 Seiten ziemlich viel Fantasie und Aufmerksamkeit braucht, hat sich eine einst elegante Form zum billigen Trick gemausert: Man arbeitet zum Kapitelwechsel auch noch mit Perspektivwechseln. Oder einfach gesprochen: Eine Story A und eine Story B wechseln sich immer dann miteinander ab, wenn die eine davon auf Hochspannung steht. (Früher waren es mehr, aber LeserInnen verstehen sowas angeblich nicht mehr).

Geht es Ermittler Nr. 1 an den Kragen, beißen wir uns schon die Fingernägel durch, macht der Autor sein kleines Ätschebätsch und wechselt auf Ermittler Nr. 2, der gerade gemütlich einen Donut herunterwürgt. Entdeckt die englische Lady im Jahr 2007 etwas Monströses hinterm Kamin, von dem wir unbedingt wissen wollen, ob es sie ums Erbe bringt, schwenkt der freche Kameramann genau in diesem Moment auf die tüteriche alte Vorfahrin aus dem 19. Jahrhundert, um dann wieder genau an der Stelle in die Gegenwart zurück zu springen, an der ihr ein maliziöser Galan an die Wäsche geht. Nichts gegen solche Cliffhanger, wenn man sie beherrscht und vor allem äußerst wohldosiert anwendet.

Inzwischen scheint von den Lektoraten ein Cliffhanger-Gebot auszugehen. Anders kann ich mir den ermüdenden Gebrauch dieser kleinen Spannungskitzler kaum erklären. Waren das noch Zeiten, als man wie Hitchcock Suspense wirklich aus dem Inneren aufbaute, langsam, schleichend, lähmend und irre aufregend! Heute muss ich nur in Krimis einer bekannten Sorte mit dem Finger hineinstechen, schon hab ich den bösen bösen Cliffhanger aufgespießt. Er kommt immer am Kapitelende, immer öfter, und unheimlich gern mit dem A-B-Bäumchen-Wechsel-Dich. Eines kann dieses Stilmittel nun ganz gewiss: Uns aus der Geschichte reißen, uns während des Lesens aufklären: Achtung, das ist nicht das Leben, das ist ein handwerklich hergestelltes Kunstprodukt! Zu viel Handwerk kann töten. Vor allem, wenn es selbst nicht lebendig gewachsen ist, sondern vorsätzlich konstruiert wird. Warum aber lässt man uns nicht mehr dem schönen Schein anheimfallen und einer spannenden Story verfallen?

"Ruhelos" von William Boyd ist so ein Buch, bei dem es von Anfang an hörbar im Gebälk knarzt und mir zuruft: "Schau mal, was für einen tollen Ratgeberkniff ich hier wieder verwendet habe! Merkst du, wie ich dich hier an den Stuhl nageln will? Gut, der eine Rückblick wäre ein Kapitel zuvor logischer einzufügen gewesen, aber wenn das Lektorat nicht meckert?" - Ich befinde mich ständig im inneren Dialog mit dem Autor, der mir erzählt, was er handwerklich alles draufhat, und mich damit zur Weißglut bringt, weil ich mich nicht auf seine Story konzentrieren kann. Dabei sind die Schnapper, die mir das deutsche Lektorat von BTV beschert, wahrscheinlich nur meiner déformation professionelle geschuldet. Ich lache los, als jemand einer Aussage die Spitze nehmen will und stattdessen "die Spitze abbricht". Die "orientalische Frau" hat Wurzeln im asiatischen Vietnam - alles Osten oder was? Nett sind Sätze wie: "Ich hätte ihn über meinen Verdacht betreffend die zwei Deutschen im Hinterzimmer informiert" - warum nicht einfach das "betreffend" vor "informiert" stellen? Die Protagonistin schminkt sich mit ihrem "dunklen Augenschatten" - da hüpft das Lid vor Vergnügen! Aber hoppla, bei einem Spionageroman sollte man nicht lachen. Auch nicht, wenn einer statt seiner Contenance die "Konspiration" verliert und eine Limousine "chauffeurbetrieben" wird.

Normalerweise sehe ich über solch herrliche Bonmots hinweg, wenn mich die Story packt. Die aber ist nun ausgerechnet von jenem unselig regelmäßig und absehbar durchgepeitschten A-B-Schema, bei dem sich Mutter und Tochter die Cliffhanger liefern dürfen. Während bei der mütterlichen Spionin die fehlende Innenwelt nicht auffällt, zeigt die Tochter deutlich: Der Autor kann sich nicht genügend in eine Frau einfühlen. Ob Sex, ob Muttergefühle, ob Alltag mit der Freundin: Das hat ein Mann so geschrieben, wie sich ein Mann Frauen vorstellt. Andere männliche Autoren können das übrigens. Warum hat er weibliche Protagonistinnen gewählt? Weil gut verkäufliche Romane so etwas haben müssen? - Nun haben wir also eine alternde Spionin, die behauptet, man wolle sie ermorden. Und eine Englisch lehrende Tochter, die nicht Fisch nicht Fleisch ist, ihr Leben dahinvegetiert und buntes Volk um sich sammelt.

Achtung, jetzt kommt der Plot. Irgendwie muss die Vergangenheit da rein, sonst wird das ja keine Story. Also schreibt die Mutter für die Tochter in regelmäßiger Kapitelabfolge Tagebuch vom Krieg. Dumm nur, dass sich das Tagebuch in der gleichen Stimme Boyds liest wie das dröge Leben der Tochter - warum dann dieser Kniff? Genau - um die Cliffhanger zu haben. Immer wenn es bei der Drögen pappt, klebt Boyd das Tagebuch ein. Und wenn sich darin endlich etwas tut, schwappt er ins Oxford von 1976. Das allein würde ihm so keiner abnehmen. Er muss also noch tiefer in die Handwerkskiste greifen. Dort liegen diese Dinger herum, die schon Hitchcock benutzt hat: die red herrings - so nennt man falsche Fährten in der Dramaturgie.

Was liegt näher, als bei der alternden Lady mit Andeutungen von Alzheimer oder Paranoia zu arbeiten! Passt perfekt zu den Spionen und zu einer Frau, die sich verfolgt fühlt. Dumm nur, dass wir Leser gleich zu Anfang wissen: Das kann es nicht sein. Wäre das wahr, würde der Plot nach spätestens zwei Kapiteln versacken. Es sei denn, der Autor führte uns komplett an der Nase herum. Tut er aber nicht. Er bastelt auch bei der Tochter ganz brav und übernimmt sich sogar. Spielen wir das mit der Paranoia doch noch ein wenig weiter, hat er sich wohl gedacht. Und so kocht sich in deren Küche ein seltsames Gemisch von Leuten zusammen, die beim iranischen Geheimdienst sein könnten oder von ihm verfolgt, die bei der RAF sein könnten oder nicht - und die - wen wundert es, natürlich alles alles gar nicht sind. Sondern einfach nur langweilige Erdenbürger, wie eben jene nichtssagende Tochter auch, die womöglich einen von diesen heiraten wird, weil ihr nichts besseres einzufallen scheint.

Zugegeben, mit viel Toleranz und weniger déformation professionelle liest sich der historische Teil wirklich so spannend, dass man es mit einer Grippe und diesem Buch aushalten kann. Schade nur, dass man lange vor der Protagonistin ahnt, wer der Bösewicht ist, der wahre Bösewicht. Es knarzt eben zu laut im Gebälk, es fehlen die wirklichen Verwirrungen. Und das liegt daran, dass die red herrings allein keinen Suspense hervorbringen. Suspense müsste aus vielschichtigen, schillernden Charakteren kommen. Doch die sind platt, Schablonenfiguren aus dem Spionagerezeptbuch. Wir wissen also, wer es ist und wer die Frau um die Ecke bringen will. Ob der Doppelagent dann sein Spiel mit Deutschen oder Russen oder sonstwem treibt, ist eigentlich unerheblich. Das Verwirrspiel wird darum zum Ermüdungsspiel. Ermüdet war Boyd womöglich gegen Ende selbst. Wie er den Schluss herunterreisst, erklärt statt spielen lässt, teilweise völlig unmotiviert dem Leser vor die Füße haut, das hat schon fast wieder die Grandezza eines deus ex machina. Das ist der Wundertrick, den manche anwenden, wenn sie sich nicht mehr zu helfen wissen, wie man ein Handlungsknäuel ordentlich aufwickelt: Ein Wunder geschieht, ein irrer Zufall fügt alles zusammen. Dumm nur, dass jede Menge loser Enden bleiben. Was vorher groß aufgebaut war, um zu verwirren, verpufft einfach als heiße Luft.

"Ruhelos" ist der ideale Spionageroman fürs Krankenbett: Er regt nicht auf und ist ein absoluter Pageturner, weil man wissen will, ob das Buch wirklich so schlapp ausgeht, wie es konstruiert ist. Zwei Szenen haben Thrillerqualitäten, der Rest dümpelt im braven Wechselgesang der Handlungstränge dahin. Immerhin: Die Tarnmethoden der Spionin, ihre Flucht in eine andere Persönlichkeit, sind höchst unterhaltsam. Aber irgendwie kennen wir auch das alles von einer Story, die ebenfalls sehr handwerklich gemacht war: von James Bond. Der Unterschied macht's. Bond hat die Cliffhanger radikal auf die Spitze getrieben und mit seinem schwarzen, trockenen Humor gewürzt.

Zu viel Handwerk ohne jeden organischen Bruch kann das Leben eines Romans töten und Figuren zu Abziehbildern machen. Das ist William Boyd meiner Meinung nach bei diesem Buch erstaunlich gut gelungen.

William Boyd: Ruhelos. Berliner Taschenbuch Verlag

25. September 2011

Die erste große Rezension

Wie immer, wenn sich hier weniger tut (welch Ironie), empfehle ich einen Blick in meine anderen Blogs, deren aktuelle Beiträge rechts oben immer als Anreißer erscheinen. Ein Klick auf das Nijinsky-Blog führt zur ersten "richtigen", großen Rezension meines neuesten Buchs. Das hat zwar schon einige Blogempfehlungen hinter sich, aber nun ist es Lesetipp bei QWIEN, dem Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte in Wien - mit einer Rezension, die wunderbar beschreibt, was es mit dem Buch auf sich hat.

24. September 2011

Die "Lebenskunstwerkerinnen" aus Petersburg

Manche Bücherperlen findet man im Buchhandel leider nur, wenn man einen Spleen hat und ihm nachrecherchiert. Einer meiner Spleens ist die Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine multikulturell und künstlerisch nur so brodelnde Zeit, in die ich mich mit einer Zeitmaschine sofort versetzen lassen würde. Wie stark die Avantgarde-Stadt Paris (aber auch Berlin, Wien und München) dabei von den EmigrantInnen geprägt wurde, wird oft ein wenig vergessen - weil wir deren Schriften meist nicht in Übersetzungen vorliegen haben.

Erst in den letzten Jahren hat sich das Wissen um die Bedeutung der russischen Avantgarde und des sogenannten Silbernen Zeitalters für die Entwicklung in Westeuropa vor dem Ersten Weltkrieg verbreitet. Das ist vor allem dem amerikanischen Fachmann und Professor John Ellis Bowlt zu verdanken, der nicht nur akribisch Quellenforschung in Russland betreibt, sondern auch noch göttlich unterhaltsame Fachbücher und Katalogbeiträge schreiben kann. Seine Artikel im großen Prestel-Prachtband über Wassily Kandinsky haben mich nicht nur begeistert, sondern regelrecht infiziert, mich mit diesen Verbindungen zu beschäftigen. Inzwischen warte ich schon sehnlichst auf Neuerscheinungen von ihm und bedaure zutiefst, dass man - abgesehen von wenigen Ausnahmen - all diese Texte im amerikanischen Original lesen muss.

Umso überraschter war ich, mein "Leib- und Magenthema" in einem kleinen, aber feinen deutschen Verlag zu finden. In Britta Jürgs AvivA-Verlag. Die Verlegerin widmet sich seit vielen Jahren außergewöhnlichen Frauen und macht ihre Texte oder Bücher über sie sichtbar. Schwerpunkt sind dabei die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts. Für ihre Arbeit als Verlegerin wird Britta Jürgs bei der Frankfurter Buchmesse als "BücherFrau des Jahres 2011" ausgezeichnet werden. Das Buch, in dem ich mit Bleistift immer noch intensiv schmökere, trägt den Titel "Abende nicht von dieser Welt. St. Petersburger Salondamen und Künstlerinnen des Silbernen Zeitalters".

Es ist schon verrückt, wie wenig wir vom Aufbruch in die Moderne und über die Bohème in Russland wissen - obwohl sie doch so stark die Pariser Bohème beeinflusst hat. Die Ballets Russes, Sergej Diaghilew und Vaslav Nijinsky, das hat sich verbreitet. Die Künstlerin Natalja Gontscharowa ist neuerdings wieder bekannt, weil ihre Werke Rekordsummen bei Auktionen erzielen, weil sie plötzlich im Markttrend liegt. Kaum jemand erinnerte sich früher an die Frau, die wie Picasso auch für Diaghilew Kostüme und Bühnenbilder schuf.

Das Buch von Ursula Keller und Natalja Sharandak lässt all die extravaganten und mutigen Ausnahmefrauen jener Zeit vor unseren Augen erstehen; erzählerisch, aber akribisch recherchiert. Die große Stärke des Buchs ist, dass hier die weibliche Bohème endlich auch aus weiblicher Sicht gezeigt wird. Nicht mehr als bloßes Anhängsel männlicher Schriftsteller und Künstler wie Mereshkowski, Belyj oder Mandelstam und wie sie alle heißen, die Männer, deren Namen man in der Schule zuerst lernt. Hier begegnen uns die "Madonna der Décadence" Sinaida Gippius, die schwärmerische Marina Zwetajewa, die große Anna Achmatowa genauso wie die "Frau in Männerkleidern" Jelisaweta Kruglikowa und die eher dürftig bekleidete Tänzerin der Ballets Russes, Ida Rubinstein.

Lesend begeben wir uns in eine Zeit, in der sich Frauen lange vor ihren Geschlechtsgenossinnen im Westen öffentlich Wissen, Bildung und Kunst aneignen konnten. Das blieb nicht ohne Folgen - sie bildeten nicht selten den Mittelpunkt in den literarischen, philosophischen und künstlerischen Salons, inszenierten sich selbst, erprobten die Verbindung von Leben und Kunstwerk. Ende des 19. Jahrhunderts bis über die Jahrhundertwende hinweg experimentierten diese Frauen nicht nur mit lesbischen oder bisexuellen Beziehungen, sondern machten sich überhaupt Gedanken um Konzepte von Familie, Frausein und Liebe. Da wird die Liebe zu Dritt in jeder nur denkbaren Form ausprobiert, werden Formen platonischer und sexueller Verbindung nebeneinander gelebt. Im "Lebenskunstwerk" der Avantgarde ist Leben und Kunst nicht zu trennen, das eine durchdringt und beeinflusst das andere. Umso tragischer oder auch fruchtbarer wirkt sich das Scheitern aus, der Selbstversuch oder die unbändige Schwärmerei.

Dieses Buch räumt gründlich auf mit dem herkömmlichen Bild von einem "rückständigen" Russland oder einer Pseudoromantik, wie sie manche Klassiker überliefert haben mögen. Diese Frauen haben Charakter, sind ungeheuer stark - und sie suchen sich innerhalb der gesellschaftlichen Konventionen ihren eigenen Weg, von dem ihre Geschlechtsgenossinnen in Paris noch träumen. Dort ist es ganz und gar nicht normal, dass Frauen an Bildungsanstalten und Kunstschulen aufgenommen werden wollen, geschweige denn können. Manche dieser Frauen ist ihrer Zeit sogar weit voraus, experimentiert mit einem Gedankengut, wie es erst in den 1960ern richtig aufkam. Die Autorinnen geben den Künstlerinnen und Salondamen ihre wahre Rolle zurück, indem sie zeigen, wie diese Frauen Einfluss auf ihre manchmal berühmteren Männer nahmen, wie sie die Männer ihrer Zeit in den Salons prägten. Oft fragt man sich bei der Lektüre, was von dieser weiblichen Stärke im 21. Jahrhundert geblieben ist.

Was in meinen Augen das Buch am lohnendsten macht, ist der Perspektivwechsel. Die Geschichte wird nicht einfach nur erzählt - zahlreiche Originalzitate in deutscher Übersetzung aus den Werken dieser Frauen oder Erzählungen von Zeitgenossen vertiefen das Bild. Wir erfahren nie nur eine Seite, sondern sehen die Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Perspektiven. Was hat Anna Achmatowa korrekt erinnert, wo inszeniert sie womöglich sich selbst? Lügt sie sich wirklich etwas zusammen, weil wir das bei einem Zeitzeugen ganz anders lesen? Wer hat recht, wenn es um Marina Zwetajewa geht: der Literaturkritiker, der innige Freund Ossip Mandelstam, die Dichterin selbst in ihrer Lyrik oder der lesbische Liebe ablehnende Biograf? Wohltuend dominieren die Autorinnen nicht die LeserInnen in deren Meinung - sie zeichnen stattdessen ein buntes Kaleidoskop, stellen Originaltexte zusammen, erklären Verbindungen - und es ist an uns, eine Entscheidung zu treffen, was wirklich gewesen sein mag. Es bleibt aber auch erlaubt, die Unzulänglichkeit von Augenzeugen und Überlieferungen zu akzeptieren und die beschriebenen Persönlichkeiten so zu sehen, wie sie wohl damals schon auf ihre Umgebung wirkten: schillernd, unfassbar, faszinierend - und einfach ganz anders als die Frauen der bürgerlichen Welt.

Diese Salondamen aus Petersburg entstammen nur scheinbar einer räumlich wie zeitlich fernen Welt. Sie haben die Bohème des Westens befruchtet, die Avantgarde reichte zumindest bis zum Ersten Weltkrieg von Paris bis Petersburg. Sie haben aber auch den Frauen des 21. Jahrhunderts noch etwas zu sagen - egal, in welchem Kulturkreis sie leben mögen. Diese russischen Künstlerinnen lassen in ihren Biografien und Texten immer wieder aufblitzen, wie reich ein Leben sein kann, wenn Frauen es selbstbestimmt leben können. Wenn sie Zugang zur Bildung haben, wenn ihre Stimme gehört wird. Wenn sie die Mittel und Wege suchen, sich ihrer Kunst zu widmen, zu Schöpferinnen zu werden, zu Vordenkerinnen alternativer Gesellschaftsformen. Darum ist es ganz gewiss nicht nur ein Buch für Frauen mit einem Avantgarde-Spleen.

Lesetipps:

20. September 2011

Wodka, Hornhaut und Verrücktsein

Um eine Fanseite zu gestalten, muss ich mein eigener Fan werden. Eben habe ich bei Facebook außerdem entdeckt, dass es Autoren gibt, die sich selbst liken. Diese Strategie dürfte so manchen Gang zum Psychiater ersetzen. Gerade der genialische, bestsellerverdächtige, an seiner mechanischen Schreibmaschine leidende Autor wurde ja meist als Kind zu heiß gebadet und dann mit dem Klammersack gepudert. Und schreiben wir nicht alle, nur um geliebt zu werden, um endlich über den Urverlust unseres Schnullers hinwegzukommen?

Wer genügend Selbstachtung erarbeitet hat, dass er die Billigtherapie von Facebook nicht mehr braucht, kann sich in aller Bescheidenheit darum kümmern, was so ein verdammt guter, irre liebenswerter, künstlerisch wertvoller, bestsellerverdächtiger zukünftiger Pulitzer-Preisträger tatsächlich an Eigenschaften mitbringen sollte. 25 von den Dingern genügen, meint terribleminds. Ziemlich viel wird da mit Wodka erreicht. Und mit Hornhaut nicht nur an den Füßen. Aber Vorsicht!, sage ich. So mancher Freak, der mit wahnsinniger Disziplin gesegnet ist, landet im Kloster. So manches vorsätzliche Lügen prädestiniert einen für eine Bankerkarriere. Und so mancher "megalomanische Narziss" flötet heute ein gezähmtes Ommmmm!

Also wie immer: Vorsichtig einnehmen. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie diesen Kerl, der den Pulitzer Preis erfunden hat. Was, der ist schon tot? Da sehen Sie's. Wodka und Hornhaut - das kann nicht gutgehen.

18. September 2011

So viele Traurigkeiten

Da schlägt man einmal etwas bei Wikipedia nach und lernt gleich so viel über sich selbst. Für einen Text wollte ich genauer wissen, was der portugiesische Gesang "Fado" ist. Dabei stolpert man über den Begriff "saudade", den die deutsche Version von Wikipedia so erklärt:
Saudade ist eine spezifisch portugiesische und galizische Form des Weltschmerzes. Das Konzept der Saudade lässt sich mit „Traurigkeit“, „Wehmut“, „Sehnsucht“ oder „sanfte Melancholie“ nur annähernd übersetzen. Das Wort steht für das nostalgische Gefühl, etwas Geliebtes verloren zu haben, und drückt oft das Unglück und das unterdrückte Wissen aus, die Sehnsucht nach dem Verlorenen niemals stillen zu können, da es wohl nicht wiederkehren wird.
Diese Erklärung zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, Emotionen aus einer anderen Sprache zu übersetzen. Hier werde ich mit recht unterschiedlichen Formen von Traurigkeit konfrontiert, die eigentlich in ihrer Häufung nur aussagen: Die Portugiesen haben da ein Gefühl, das wir nicht genau nachvollziehen können. Es zieht irgendwie am Herzen, macht traurig, aber doch nicht gefährlich traurig - und eigentlich ist uns allen nur eine beschreibbare Situation gemeinsam, die es auslösen kann.

Plötzlich hatte ich eine Art Heureka-Erlebnis. Obwohl ich einigermaßen polyglott bin, tue ich mich in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich schwer, wirklich über mich und meine inneren Gedanken reden zu können. Wenn ich französischen Freunden und Kollegen sage, dass ich mir selbst immer gefiltert, fern, intellektualisiert vorkomme, wenn ich das auf Französisch mache, schauen sie mich meist völlig ungläubig an. Wenn ich dann auch noch gestehe, dass ich meine Gefühle eher auf Polnisch ausdrücken könne und auf Französisch am schlechtesten, halten sie mich für komplett verrückt. Aber ich sei doch Französisch-Übersetzerin, würde also ausgerechnet diese Fremdsprache am besten beherrschen! Ich würde doch fließend alles sagen können, über alles reden können.

In der Tat kann ich das. Wie aber erkläre ich, dass es nicht wirklich meinen innersten Kern des Seins berührt? Wie erkläre ich das Gefühl, dass ich auf Englisch am treffendsten bezeichne: "alienation"? Schon aliénation oder Entfremdung würde den Zustand anders bewerten ...

Ich habe mir den Spaß gemacht und die Wörter saudade, Weltschmerz und Melancholie bei Wikipedia durch unterschiedliche Sprachen gejagt - aus dem germanisch-angelsächsischen, dem romanischen und dem slavischen Raum. Jeder Mensch auf dieser Welt kann leicht bis selbstzerstörerisch traurig sein. Aber wie erklären unterschiedliche Kulturkreise Traurigkeit, wie nehmen sie ihre Gemütszustände wahr? Welche philosophischen oder soziologischen Erklärungssysteme benutzen sie? Gibt es Emotionen, die mit einem Kulturkreis besonders eng verbunden sind?

Dass die "German Angst" ein Konzept ist, dass anderen so fremd scheint, dass sie es als Fremdwort integrieren, wissen die meisten. Aber auch der Weltschmerz ist seit Goethes Werther ein recht deutsches Konstrukt, der als Germanismus im Englischen, Portugiesischen und Schwedischen Einzug gehalten hat und sogar im Russischen kyrillisch umgesetzt werden kann.

Der französische Text über "saudade" scheut sich vor dem Wort Melancholie und  benutzt stattdessen die "nostalgie" - ein Wort, das im Deutschen emotional vollkommen abgenutzt wäre. Dafür macht man sich Gedanken, wo das Gefühl genau zu orten sei, als reine Emotion oder als geistiges Konstrukt oder beides? Wie kompliziert das Gefühl dadurch plötzlich wird, wie reflektiert ... ! Die Polen dagegen haben gleich acht differenzierte Übersetzungen für den Weltschmerz, bevor sie weiter erklären. Und da kommen gleich noch Folgegefühle, mögliche andere Gefühle. Im Polnischen leidet man also nicht einfach unter Weltschmerz - man fühlt sehr viel feiner unterschiedene Seelenzustände, die unter diese Überschrift passen. Der englische Artikel über saudade analysiert die Übersetzungsmöglichkeiten gleich mit: Es gibt Sprachen, in denen es ein einziges Wort gibt, das diesem portugiesischen Gefühl absolut entspricht - und es gibt Sprachen, in denen man sich unter sehr vielen Vokabeln entscheiden muss, die alle einen ähnlichen Zustand in unterschiedlichen Nuancen bezeichnen.

Absolut spannend werden die Sprachvergleiche von Emotionen in ihrer Bewertung. Was in der einen Sprache eher als normaler Gemütszustand und künstlerische Ausdrucksform wahrgenommen wird, interpretiert man in der anderen bereits als pathologisch und psychiatrisch relevant. Gibt es also kulturell unterschiedliche Verrücktheitsgrade? Kann es sein, dass eine Kultur für gewisse Emotionen völlig normale Umgangsformen entwickelt hat, während man in der anderen Kultur mit eben jenen Emotionen bereits in Therapie geschickt wird? Allein der oberflächliche Wikipedia-Vergleich der Melancholie - obwohl absolut nicht repräsentativ - legt die Vermutung nahe, dass man dieses Wort in Frankreich besser nicht benutzt, wenn man ohne Tabletten leben möchte - während man in anderen Ländern daraus Kunst schöpfen kann. Ist das wirklich so?

Ich habe noch nicht alle Texte gelesen und vieles nur überflogen. Da tut sich ein überaus interessanter Horizont des wirklichen Übersetzens auf. Welche Emotionen empfindet mein fremdsprachiges Gegenüber denn wirklich? Welchen Stellenwert haben diese Emotionen in seiner Kultur - welchen in meiner? Wie geht die jeweilige Kultur mit diesen Emotionen um? Sind all diese Traurigkeitszustände eher etwas Positives oder etwas Negatives, werden sie als krank angesehen oder als reinigend oder wichtig? Ist jemand, der das dem Fado verwandte Gefühl der "alienation" empfindet, wirklich einfach nur "entfremdet"? Kann er nicht auch vollkommen bei sich sein, aber "unbehaust"?

Viel habe ich jetzt wieder über das Übersetzen gelernt. Aber auch Erstaunliches über mich. Es ist also gar nicht so verrückt, wenn man in einer Sprache perfekt Fachdiskussionen über Archäologie führen kann, aber die eigenen Gefühle nicht adäquat ausdrücken. Und es ist absolut faszinierend, wie "behaust" man sich in Sprache fühlen kann - so viel mehr als an einem realen Ort.

Inspiriert hat mich zu diesem Beitrag übrigens Christa S. Lotz, die in ihrem Blog so treffend den schlimmen Zustand beschrieben hat, wenn sich Schriftsteller zeitweise ohne die Möglichkeit des "wirklichen" Schreibens wiederfinden - sie nennt es "unbehaust sein". Dazu kam dann der Fado...

17. September 2011

Legalize her ...

Ich hielt mich bisher für eine ordentliche Staatsbürgerin. Jetzt weiß ich, dass ich manchmal eine bin, die ihren Kopf unterm Arm trägt. Mein Auto kommt langsam in die Jahre und so war es nach der Pendelei der letzten Wochen mit 80 bis 100 km am Tag nicht verwunderlich, dass es Mucken machte. Die letzte Fahrt nach Baden-Baden endete zum Glück gerade noch an der nächsten Tankstelle, deren Chef eben in den Feierabend gehen wollte. Nicht zu reden von all den großkotzigen Herren der Schöpfung in riesigen Luxuslimousinen, die versuchten, irgendeine Potenz mit wildem Hupen und Schimpfen wettzumachen, anstatt vielleicht mal zu fragen, warum mein Motor immer an der Ampel absoff. Es ist unwahrscheinlich, wie primitiv sich ausgerechnet Männer in Anzug und Krawatte gebärden können. An der Ampel und beim Popeln an derselben zeigen sie ihr wahres Gesicht ...

Aber es gibt zum Glück auch die Netten. Meine Garagisten zum Beispiel, Vater und Sohn. Die hätschelten mein Auto, dass offensichtlich verunreinigtes Benzin geschluckt hatte, und gaben ihm ein Gesöff zum echten Champagnerpreis zu trinken. Und zum Glück waren die Zündkerzen runter. Zum Glück. Für den Typ mussten sie nämlich in die Carte Grise schauen. Und bemerkten die Katastrophe.

Ich habe die schöne Ausrede, dass ich nicht die Einzige bin, der das passiert. Seit die C.T. (entspricht dem TÜV) auf einmal nicht mehr ihre Erinnerungsbriefe verschickt, erinnern sich viele Franzosen nicht rechtzeitig. Und die Flics kassieren fröhlich ab (einschließlich des Autos). Seit Juli fuhr ich ohne C.T., viel zu oft, viel zu weit, an einigen Verkehrskontrollen vorbei. Mir ist jetzt noch ganz schlecht, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können. Wie glücklich bin ich über diese Panne! Wer liest schon regelmäßig in seinen Autopapieren?

Sie haben mir gestern nachmittag noch für heute den einzigen freien Termin vor der Mittagspause verschafft und mein Auto anstandslos durchgebracht, während ich mit der Garagistin getratscht habe. Bis dahin fuhr ich für den Ernstfall mit einem abgestempelten Zettel, dass ich den Termin habe, und dem Ratschlag, jedes Autofahren für die Zeit davor zu leugnen. Alles ist nun gut und mein Provisorium, das die Elektronik ersetzt, läuft und läuft und läuft - seit bald drei Jahren schon.
War das eine Heimfahrt! Endlich angstfrei. Endlich wieder legal. Nur wie ich da meine Papiere sortiert und wieder eingepackt habe, fiel mir auf, dass auch mein Pass bald abläuft. Wenn ich nicht rechtzeitig aufs Konsulat komme, geht es mir wie meinem Auto ...

15. September 2011

Im Mörderland

Ein Mörder, der in Baden-Baden reiche ältere Damen um die Ecke bringt, schleicht sich durchs Elsass. Und weil er dem Roulette ebenso verfallen scheint wie dem Morden, trifft  man ihn natürlich auch in Bad Niederbronn wieder. Den übel spannenden Krimi "Baden Badener Roulette" von Rita Hampp habe ich zwischen meinen Fahrten in die Kurstadt der Reichen auf der deutschen Seite verspeist. Heute weilte ich auf des Mörders Spuren in der Region um Bad Niederbronn - der Ausflugsgegend, die in meinem Elsassbuch ein besonders idyllisches Kapitel bekam.

Leider hatte ich meinen Fotoapparat vergessen. Auf der anderen Seite wäre ich womöglich für das, was ich fotografieren wollte, verprügelt worden. Wenn es eine Illustration für das französische Wort "déclin" (Verfall, Niedergang, Sinken) gibt, so habe ich sie heute in Form eines Städtchens gesehen, das in meiner Studentenzeit eine beliebte Reiseetappe war. Heute lebt in jenem Canton eine der größten Wählerschaften der rechtsradikalen Front National von ganz Frankreich - und man sieht das. Man sieht es und man spürt es.

Uralte Villen, an denen der Zahn der Zeit nagt, künden davon, dass hier einst Reichtum herrschte. Die alte Adelsfamilie de Dietrich sorgte seit der Französischen Revolution für Wohlstand im Tal und entwickelte die alten Schmieden bis hin zu modernen Zugfabriken. Und weil das seit Jahrhunderten so war, kümmerte man sich in der Region der Arbeiter und Bauern nicht viel um anderes. Das Geld kam ja herein, Generationen arbeiteten in den gleichen Fabriken. Ein bißchen Tourismus gab es nebenbei, aber eigentlich blieb man autark.

Irgendwann kam die feindliche Übernahme. Irgendetwas dreht sich immer noch in den Hauptfabriken. Aber es ist nicht mehr das Gleiche. Die Maismonokultur zerstörte gewachsene bäuerliche Strukturen. Gemüse wird heute überall aus Spanien importiert. Arbeitslosigkeit ging um, die Jungen zogen weg, in die Großstädte, nach Paris, den Entwicklungsmöglichkeiten nach. Irgendwann schauten auch die Touristen genauer hin und blieben aus. Sie fuhren noch tiefer hinein ins Land, wo man in der Ferme Naturprodukte kaufen kann und in urigen Restaurants typische Speisen genießen. Heute scheint die Region mehr von ihrem Ruf zu zehren denn von touristisch interessanten Schönheiten.

Viel hat man getan im Arbeiterstädtchen, neue Kreisverkehre und Parkplätze angelegt, Blumenrabatten an den Straßen gepflanzt. Und doch kann das alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Häusern immense Brachflächen klaffen, abrissbedingt oder bald frei, weil windschiefe Häuser und Schuppen bald zusammenstürzen werden. Immer und immer wieder die Schilder "à vendre - zu verkaufen" - die Häuser grundsanierungsbedürftig. Vor zwanzig, dreißig Jahren wären sie noch als "Gutsherrenvilla" anzupreisen gewesen. Im Stadtkern selbst wechseln sich die sauber restaurierten Häuser der Banken ab mit urigen vergessenen Ecken, in denen Vogesenkitsch blüht und Plastikstörche neben Plüschkaninchen und riesigen Muscheln die Fenster zieren. Hier gibt es noch das Frankreich der Klischeefilme, diese seltsamen gemischten Läden, angefüllt mit buntem Chaos und rührend im winzigen Schaufenster verblichene Waren vergangener Zeiten anpreisend.

Doch wenn der ortsansässige Fotograf Handys und Handykarten verkauft und die Besitzerin des Tabac Baguette und süße Teile - dann ist das eher ein Aufbäumen gegen das Ende; nämlich der Versuch, ein nicht mehr funktionierendes Geschäft mit einem neuen Standbein zu retten. Idylle wie auf Postkarten bietet noch das winzige historische Judenviertel. Doch wenn sich die Türen der uralten Fachwerkhäuschen öffnen, präsentiert es sich auch heute als ein Viertel der Ausgestoßenen. Hier scheinen die Alten und die Gebrechlichen zu leben und die Jungen auf Sozialhilfe. Freundlich und hilfsbereit ist man dort, doch zu lachen scheint es wenig zu geben. Von dort ins Stadtzentrum zu laufen, ist irgendwie gruslig. Nie habe ich auf einer so kurzen Strecke so viele abgebrannte Dachstühle und ausgebrannte Häuser gesehen, zu weit verstreut und isoliert, als dass es ein einziger Brand gewesen sein konnte. Praktizieren sie hier den heißen Abriss? Oder Schlimmeres? Ich weiß es nicht.

Ich hatte riesiges Glück, mit meinem viel zu lange nüchternen Magen auf einen typischen "Johrmärik" zu treffen, wie er früher die Bevölkerung ganzer Vogesenketten anzog. Auf jenen regelmäßig, aber nicht allzu oft stattfindenden Krämermärkten versorgten sich die Hochlandbauern früher mit Kleidung, Küchengeschirr, Werkzeug und allen möglichen Nahrungsmitteln, die man selbst nicht anbaute. Man traf die Verwandtschaft aus entlegenen Tälern, in den Restaurants gab es das deftig-feine Kirwe-Essen - und das Feiern und Tratschen musste über den harten Winter reichen, wenn man festsaß im Schnee.

Ich liebe diese Märkte! Nichts macht mehr Spaß, als Köstlichkeiten zu entdecken, die es in den Supermärkten längst nicht mehr gibt. Auch heute drehten sich Hühnchen und Haxen in langen Reihen an Spießen und wetteiferten im Duft mit eingelegten Oliven, fangfrischen Forellen, Landbrot und Würsten und Ziegenkäse vom Bauernhof. Es gibt immer noch den Imker, den Stand mit Wachstischdecken in rustikalem Musterkitsch, den Transporter mit dem Stopfgarn für die Socken und die Wolle für die Schals. Bestimmte typisch französische Haushaltsgeräte kauft man auf diesen Märkten - es gibt sie nicht im Laden, und ich frage mich immer, wer diese Sachen eigentlich eigens produziert. Hier ist noch alles aus Metall statt Plastik, die Bauersfrau will schließlich etwas fürs Leben. Die Gemüseschneidemaschine mit Handkurbel, die Käsereibe aus Inox und die Salatschleuder, an der man so herrlich wild drehen kann.

Auf solchen Märkten kauft man Gewürze beutelweise und Heilkräuter gleich dazu. Hausfrauen lassen sich viel zu teure Wunderputzmittel andrehen. Man feilscht um ein Bund Zwiebeln, die Alten holen sich ihr Rossbiff beim Pferdemetzger und die Jungen ihre Nems bei der Asiatin. Wer mag all diese glimmerbestreuten, nuttig wirkenden Outfits kaufen? Die Jeans riechen tüchtig nach Chemie, aber dafür kosten sie nur zehn Euro. Opa braucht wollene Socken für den Winter und seine Frau verdrückt sich schnell an den Stand mit den BHs in Übergrößen, die es im Laden so nicht gibt.

So kann man den Markt durch die rosarote Brille betrachten. Wenn man genauer hinschaut, ist er nicht mehr so idyllisch. Ich war die einzige "Einheimische", die sich bei der freundlichen Griechin anstellte und köstliche Oliven und gefüllte Weinblätter erstand. Die Elsässer kauften sie abgepackt, in schlechterer Qualität und teurer, aber eben am Elsässer Stand. Wo früher die Bauern von den Höhen Kirschen und anderes Obst herunterbrachten, Gemüse aus dem eigenen Garten und vom Acker, gibt es heute nur noch die türkischen Stände wie überall im Land. Immerhin kommen wir so wieder an eine richtige Gemüse- und Salatauswahl - angebaut wird weit und breit nichts mehr. Aber die Menschen gingen nicht freudig an die bunte Pracht. Wieder nur Ausländer an den Ständen, ein paar Hausfrauen und viel böse Bemerkungen, viel böses Blut, das aus den Gesichtern sprach.

Der Gang über diesen Markt war im Gegensatz zu dem in meinem Städtchen wie ein Sprung ins kalte Wasser. Wo ich lebe, trifft man sich zum Schwätzchen, quatscht die Händler an, kennt viele, die von weit her kommen, vom letzten Jahr und den Jahren davor. Man schaut weniger auf die Hautfarbe als auf Qualität und Preis. Der Markt bei uns ist bunter, reicher. Hier stellen Frauen ihren selbstgemachten Schmuck aus, andere haben ein Jahr lang für ihren Stand gestrickt und irgendwer bringt längst vergessene Kräutertees. Es geht dreisprachig wild durcheinander. Man muss sich nicht schämen, wenn das Französisch nicht so will - die älteren Elsässer können es ja auch nicht richtig. Der Markt in meinem Städtchen ist bunt und herzlich, hat eine warme Atmosphäre und macht in seiner Urigkeit einfach Spaß.

Der Markt in jenem Städchen hatte eine gestörte Atmosphäre. Nur noch die ganz alten, die Damen am Rollator, schienen das alte Treiben von damals zu leben. Ein Marktschreier war so launig, dass ich bei ihm eine neue Geldbörse kaufte und ein paar Minuten wirklich Spaß hatte an seiner unerschütterlich guten Laune. Dieser Markt war seltsam angeordnet. Zuerst die "einheimischen" Einheimischen und die Luxusfressware, dann die Händler aus der Ebene um Hagenau, die Händler aus dem sonstigen Elsass, die Türken, die Ausländer, die Türken und schließlich die Afrikaner. Dorthin verirrten sich nur noch Leute wie ich und diejenigen, die an diesem Ende des Marktes ankamen.

Als es zwölf schlug, machte ich mich mit meinem Krimskrams auf. Heiß war es inzwischen geworden, doch mich fröstelte. Schwarz verkohlt starrten die Balken von ausgebrannten Dachstühlen. Im Bistro am Platz hatte man die eingeschlagenen Scheiben notdürftig verklebt. Das alte Kirwe-Restaurant, in dem ich in meiner Studentenzeit noch so köstlich gespeist hatte und das so viele Jahre niemand hat übernehmen wollen, ist jetzt ein Dönerrestaurant. Endlich steht das Haus nicht mehr leer. In einem mit Plastikmüll zugestellten Hinterhof waren noch die Schemen einer "Le Pen"-Graffiti zu sehen. Und dann kam wieder das ehemalige Schaufenster mit seiner verblichenen Elsassherrlichkeit: der Plastikstorch mit dem winzigen blonden Häkelpüppchen im Glitzerrock zu seinen Füßen, die ordentlich in Reih und Glied gelegten Muscheln von einem längst vergangenen Strandurlaub, die verstaubten Plüschhäschen...

Lesetipp:
Rita Hampp: Baden-Badener Roulette, Emons Verlag
Auch wenn Rita Hampps Krimis als Regiokrimis laufen und natürlich wunderbar das Lokalkolorit wiederspiegeln, so sind sie doch alles andere als die üblichen unter diesem Label verkauften "verkappten Reiseführer mit Blutanreicherung". Die liebenswerten und starken Charaktere ihres Ermittlertrios wachsen einem schnell ans Herz und die mit feiner Psychologie ausgesponnenen Fälle sind so recht etwas für LeserInnen, die es über haben, in gefoltertem und missbrauchtem Gedärm herumzuwaten. "Baden-Badener Roulette" garantiert Unterhaltung im besten Sinne und ist so spannend, dass ich in der Zeit absichtlich Spaghetti gekocht habe. Da kann man nämlich beim Rühren einfach weiterlesen ...

14. September 2011

Dauermüde

Ja, mich gibt's noch. Dauermüde von zu vielen Terminen, langen Pendelfahrten und Nachtarbeit. Ein Problem mit dem Auto, das gestern eine nächtliche Fahrt durch endlose einsame Weiten von Wald zum nervlichen Höllentrip machte und mich nachher in die Werkstatt zwingt, ist auch nicht dazu geeignet, meine Laune zu heben. Zumal ich morgen mit dem gleichen Auto in aller Höllenfrühe (warum, zum Teufel, sagen manche Herrgottsfrühe?) irgendwo in den Vogesen mein Blut abzapfen lassen muss. Das macht hierzulande nämlich nicht der Arzt, sondern immer das Labor. Und das liegt natürlich hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Termine gibt's nicht. Man setzt sich da rein in die Abzapffabrik, träumt von Proviant und frischem Kaffee und darbt hinter all den ortsansässigen Bauern und Fabrikarbeitern, die sich schon eine Stunde vor Öffnung angestellt haben. Einziger Trost: Auf dem Rückweg, der durch einen zweiten Termin verzögert wird, haben dann garantiert alle Bäcker geschlossen. Supermärkte gibt es da hinten nicht, nur viel viel Wald und Berg - und das macht bekanntlich noch hungriger.

Kurzum: Schriftstellern und dieses wilde Kontakte-Meeting-Veranstaltungs-Kommunikations-Leben vertragen sich auf Dauer überhaupt nicht. Gewiss, viele Kolleginnen und Kollegen schreiben im Zug oder im Café. Aber im medizinischen Labor? Im Kundenraum der Autowerkstatt?

Ich bräuchte mal einen ruhigen Job vom Schreibtisch aus. Übersetzen wäre jetzt nicht übel. Und dann alle Formulare, Leute, Probleme, Motoren und gesperrten Straßen einfach wegdrücken. Einfach nur an einem Buch schreiben - welch schöner Wunschtraum!

11. September 2011

Ein Buch öffnet Türen

Einmal im Jahr feiern das Außenministerium und die Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland ein großes internationales Festival. Das Festival "Aus Russland mit Liebe", das jedes Mal in einer anderen deutschen Stadt ausgerichtet wird, soll den Menschen die Russische Föderation näherbringen und für Annäherung unter den Völkern sorgen. Festivalort in diesem Jahr war "die heimliche Kulturhauptstadt Russlands in Deutschland", wie es in den Grußworten hieß: Baden-Baden. Im prächtigen Palais Biron, einer riesigen Jugendstilvilla mit ausgedehntem Park an der Oos, die als Tagungszentrum dient, war der würdige Rahmen garantiert.

Palais Biron in Baden-Baden (alle Fotos per Klick zu vergrößern)

Wie war ich eigentlich als Gast dorthin geraten? Wenn ich das nur so genau wüsste ... Vordergründig war mir durch mein Buch über Nijinsky eine Einladung vermittelt worden. Aber als dann vor der Rede des Generalkonsuls der Russischen Föderation, Herrn R. Karsanov, die Stuttgarter Choristen die beiden Nationalhymnen intonierten, bekam ich tatsächlich Gänsehaut und schaute auf ein seltsamens Quirlen und Rühren in meinem Leben zurück. Hatte alles begonnen, als ich etwa mit sieben oder acht Jahren von meiner Mutter eine herrlich praktische "Geheimschrift" lernte, nämlich kyrillische Buchstaben? Wir verwendeten sie als Umschrift fürs Deutsche und schrieben uns Zettelchen, die keiner außer uns lesen konnte. Oder waren meine Bilderbücher schuld, welche die Oma aus dem Osten schickte, und in denen es von Bären wimmelte, die Mischa hießen, und von Hunden mit dem Kosenamen Bobik?

In meiner Teeniezeit herrschte der sogenannte Kalte Krieg. Die wirklichen Bedrohungen bekamen wir gar nicht mit, wir schauten uns im Kino James Bond an und betrachteten die Sache als exotisches Abenteuer. In der Nachbarstadt Baden-Baden gab es irgendeine russische Militärvertretung, die einzige auf westdeutschem Boden; wir nannten sie die "Botschaft" und ich weiß bis heute nicht, was es wirklich war. Etwa einmal im Monat tauchten in unseren Straßen fremdartige Limousinen mit Fähnchen auf und strengst bewachte Personen durften einkaufen gehen. Das reizte uns - ihre Sprache klang so melodiös und irgendwie war das alles ziemlich gruslig und aufregend. Sie durften nämlich mit niemandem sprechen. Sofort waren diese seltsam ausgepolsterten Kerls zur Stelle. Die bewachten Männer sahen aus, als seien sie wichtig, aber eigentlich waren sie Gefangene ihrer Entourage.

Was, wenn einer von denen flüchten wollte, wie sie es im Fernsehen zeigten? Wie romantische Mädchen in dem Alter damals waren, arbeiteten wir einen Schlachtplan aus, wie wir die Leute verstecken und heimlich verköstigen würden. Dumm nur: Für dieses Abenteuer mussten wir sie erst einmal verstehen! Wir hatten schließlich kein Synchronstudio wie James Bond. Als wir hörten, dass einer der Französischlehrer Russisch konnte, war die Sache beschlossen. Wie beknieten ihn, eine Russisch-AG einzurichten. Schade nur, dass es im Westen keine richtigen Lehrbücher gab und Sprache von uralten Schallplatten kam. So habe ich mich durch den Assimil gequält und nie sprechen üben können. Wirkliches Russisch habe ich erst gehört, als die Russen in den Neunzigern nach Baden-Baden kamen.

Die Solisten der "Petersburger Virtuosen" spielten vor der märchenhaften Kulisse des Parks und des Schwarzwalds

Da stand ich nun gestern, das fragmentartige Schulrussisch ist irgendwo im Hinterkopf tief vergraben. Zusammen mit dem Polnischen reicht es immerhin, nebulös den Reden folgen zu können. Der üble Kalte Krieg, der meine ganze Kindheit und Jugend begleitet hat, ist endlich und zum Glück Geschichte. Nie hätte ich mir damals zu träumen gewagt, dass es eines Tages möglich würde, sich zu besuchen, wieder gemeinsam zu feiern und beide Sprachen zu hören. Aber wie viel ist noch zu tun, um sich wirklich zu verstehen! Auch in Baden-Baden ist nicht alles eitel Sonnenschein. Ich werde dort immer wieder mit übelsten Klischees konfrontiert, es gibt auch tatsächlich einzelne Menschen, die solche Klischees immer wieder massiv vorleben - aber wie viel wird eigentlich unternommen, um die anderen wahrzunehmen und sich wirklich zu begegnen?

Wie schwierig Völkerverständigung wirklich ist, erlebe ich bei meiner Arbeit tagtäglich zwischen Deutschland und Frankreich. Offiziell Nachbarn, angeblich gute Freunde, man isst im anderen Land, macht Urlaub und kauft ein - hat womöglich persönliche Freunde auf der anderen Seite der Grenze. Und trotzdem kracht es oft auf der einfachsten zwischenmenschlichen Ebene. Und zwar immer dann, wenn es an Empathie fehlt, wenn sich Menschen nicht vorstellen können, dass Menschen in einer anderen Kultur eben manche Sachen anders denken und tun. Schlimmer noch als Vorurteile setzen sich Klischees fest, Postkartenidyllen, die an der Wirklichkeit scheitern müssen. Aber wer mag hinter die Postkartenfotos blicken? Manchmal komme ich mir vor wie eine Löwenbändigerin, wenn ich zwischen zwei klischeebeladenen sturen Eseln für wirkliche Verständigung werben will. Und allzu oft frage ich mich, warum es so schwer ist, in die Haut des anderen zu schlüpfen. Vielleicht einfach einmal zu versuchen, die eigene Kultur und Mentalität wie ein Alien zu betrachten und festzustellen: Wir sind alle irgendwie komisch für Außenstehende - und alle nur Menschen.

Nun kann man Deutschen und Franzosen eine einfache Hausaufgabe geben: Sie können sich auf ARTE "Karambolage" anschauen und dadurch lernen, wie der jeweils andere "tickt". Völkerverständigung hat viel damit zu tun, sich selbst relativieren zu können, ohne den Stolz zu verlieren, einfach man selbst sein zu dürfen und den anderen er / sie selbst sein zu lassen. Wie aber bringt man die Angehörigen zweier Staaten zusammen, die sich noch nicht so lange besuchen können, zwischen denen auch geographisch mehr Entfernung liegt? Wie vermittelt man Kultur an einem einzigen Tag, in einem einzigen Haus?

Detailansicht des Palais Biron, das trotz der Modernisierung auch innen wunderschöne Jugendstil-Details aufweist

Seit meinen Zeiten in Polen habe ich bei offiziellen Ansprachen nicht mehr so oft zwei Wörter in absoluter Wertschätzung gehört: Kultur und Künste. Politiker sollten sich öfter einmal klarmachen, dass ihr Geschwätz zwar Unheil anrichten kann oder welches verhindern - aber Kunst und Kultur eigentlich staatstragende Bestandteile sind. Hier findet die internationale Kommunikation auf Menschenebene statt. Wo Menschen wirklich und wahrhaftig miteinander interagieren - das ist auf der Ebene von Kunst und Kultur. Was wollte ein Staat eines Tages präsentieren, wenn er Kunst und Kultur kaputt sparte und niedrig schätzte?

Das war auf dem russischen Festival absolut nicht der Fall. Und ich muss zugeben, ich war wieder einmal neidisch auf all die anderen Künste, die keine Übersetzer brauchen und direkt ins Herz hinein wirken: die Musik, die Bildende Kunst, die Kochkunst, das Ballett (war alles da) ... Die Reden der hochstehenden Persönlichkeiten konnte man nur verstehen, wenn man die Sprache verstand und weil sie übersetzt wurden. Für alles andere braucht man keine Übersetzungen. Liebe geht bekanntlich durch den Magen und Kunst wirkt auch direkt. Wenn wir das doch einfach öfter in den Alltag hinüberretten könnten. Uns gegenseitig öfter in die Kochtöpfe schauen, miteinander Musik hören, die ersten ungelenken Worte wagen. Ich erlebe so viele Hemmungen bei Leuten, die Sprachkenntnisse haben und trotzdem nicht zu sprechen wagen - aus Angst vor Fehlern. Als ob es aufs Perfekte ankäme! Hände und Füße reichen doch auch im Urlaub! Es gibt ein Verstehen jenseits der Vokabeln - die Vokabeln kommen mit der Zeit von selbst. Auf der anderen Seite: Sind das eigentlich nur Probleme der Völkerverständigung? Wann haben wir das letzte Mal tatsächlich mit unserem Nachbarn zuhause geredet, uns wirklich ausgetauscht?

Noch etwas ist mir gestern aufgefallen. Ich musste immer schmunzeln, wenn ich als "richtige" Schriftstellerin vorgestellt wurde. (Offenbar muss man das heutzutage dazusagen). Das Echo war erstaunlich. Die meiste Zeit komme ich mir eher wie ein gesellschaftlicher Paria vor und höre nicht selten so dumme Sprüche wie "hammse denn auch einen richtigen Beruf?" oder "hättse nicht was Anständiges lernen können?" oder "was arbeitet so eine denn den ganzen Tag?" Bei den Russen ganz anders. Da scheint es ein äußerst ehrenvoller Beruf zu sein und die erste Frage richtet sich aufs letzte Buch. In dem Moment, in dem der Name Nijinsky fällt, beginnen die Augen zu leuchten. Den kennen und verehren sie alle. Keiner muss heimlich bei Wikipedia nachschlagen. Und schon ist man miteinander im Gespräch.

Der gestrige Tag war ein Kontakteknüpfen und Kennenlernen. Weil man ja, wenn man sich einen verrückten Traum erfüllt hat, wieder einen neuen träumen darf, wünsche ich mir einfach mal ganz frech eines Tages eine Übersetzung ins Russische. Mein kleiner Finger sagt mir, dass das eine dieser verrückten Visionen ist, die sich irgendwie verwirklichen lassen müssten.

Der weitläufige Park mit seinen uralten seltenen Bäumen grenzt direkt ans Oosufer, wo auf der anderen Seite der Dahliengarten liegt. Das Auge sieht bis zum Schwarzwald nur Grün - mitten in der Stadt
Ganz besonders hingerissen bin ich aber in Bezug auf ein neues Sachbuchprojekt, das ich zusammen mit der Deutsch-Russischen-Kulturgesellschaft auf den Weg bringen will. "Das ist ja dein Lebensthema, die Grenzgängerei", meinte kürzlich ein Freund und Kollege dazu. Aber wie sollte ich armer kleiner Wicht all das allein recherchieren können, noch dazu mit rudimentären Russischkenntnissen!

Seit gestern bin ich einfach nur überwältigt und tief berührt von der spontanen Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, mit der ich nicht gerechnet hätte. Irgendwelche Menschen, die ich noch nicht einmal persönlich kenne, würden für mich in russischen Archiven und Bibliotheken suchen, andere übersetzen, wieder andere besondere Bücher beschaffen, wenn es nötig wäre. Und ich habe in Baden-Baden nicht nur die Neureichs, die allein die Schlagzeilen machen, sondern hochgelehrte Menschen von Universitäten, Übersetzer, Gebildete, die ich alles fragen kann. Nicht einmal die Genehmigung fürs Stadtarchiv muss ich selbst beantragen, das macht meine russische Übersetzerkollegin für mich.

Unter solchen Bedingungen habe ich noch nie ein Buch vorbereitet. Es fasziniert mich, bevor ich auch nur ein Exposée ganz durchdacht hätte. Für "Faszination Nijinsky" habe ich mir mühsam Quellenfragmente in Übersetzungen aus allen möglichen Ländern zusammensuchen müssen, weil nicht einmal per Internet alles zugänglich war. So viel gemeinsame Geschichte und Kultur wurde nie ins Deutsche übersetzt. Wie oft habe ich in einsamen Stunden gebangt, irgendein Rechercheloch nicht stopfen zu können! Und auf einmal geht der Schlagbaum an dieser Recherchegrenze hoch. Ich kann fragen, nach Herzenslust wühlen. Schöner können die Bedingungen fürs Sachbuchschreiben doch nicht sein, oder?

7. September 2011

Was schafft die Frau eigentlich?

Sie geht viel zu oft ins Konzert, quatscht heute mal wieder viel zu viel in den Social Media herum ... was schafft die Frau eigentlich?
Im Moment bin ich als Lektorin bei einer ziemlich miesen Autorin angestellt. Kippt mir die Tante eine Tonne Daten vor die Füße mit dem Arbeitstitel "Ich bastle ein Buch" und meint: "Mach da mal 'nen bestsellerverdächtigen Ratgeber draus." Honorarfrei außerdem! Schon beim Ausdrucken stöhnte die Technik, unglaublich, wie viele Kilometer Text diese Frau absondert.

Ich also erst mal mit Rotstift ran, seitenweise diagonal durchstreichen, ha! Wenn schon kein Honorar fürs Lektorat, dann muss ich auch nicht jedes Emotionsgesabbel lektorieren. Abgesehen davon, dass die Frau fünfmal dasselbe erzählt, als wäre sie schon tüterich.
Die Hälfte roter Krähenfüße hab ich schon mal geschafft. Mit Arbeitsanweisungen zum Kürzen, zum Einfügen praktischer Checklisten, zum Vertiefen von wirklich wichtigen Themen. Nochmal so ein schrecklicher Tag und dann muss die Autorin wieder ran und das sauber per Copy & Paste und noch mehr Delete und Neutexten in ein Manuskript bringen. Ob bei dem Text auch was dabei sei für ihren Vortrag auf dieser Karlsruher Buchmesse im Oktober, will sie wissen! Fragt sie mich!!! Ohne Honorar sag ich der gar nichts. Ich könnte ihr ja sogar ein Rohkonzept für diesen Vortrag schreiben, in dieser Tonne Daten ist schon was versteckt. Ich könnte sie aber auch knallhart auflaufen lassen.

Jetzt hat sie sich zu einer Beteiligung hinreißen lassen. Weil ich ihr reißenden Absatz verspreche und bei Kindle momentan jeder Dritte Millionär wird, konnte ich ihr 50% der Tantiemen abschwatzen. Und was gibt die Tante zur Antwort? Ich solle gefälligst endlich Feierabend machen, sie bezahle nämlich alles, nur keine Überstunden!

Osteuropäische Literatur

Welch Überraschung: Suhrkamp goes Social Media - mit einer hochspannenden Debatte: "Gibt es eine osteuropäische Literatur?" - die auch bei Facebook öffentlich geführt wird.

Man sollte sich bei letzterem nicht durch die typisch deutsche Definitionswut beeindrucken lassen, bei der über osteuropäisch, mitteleuropäisch, ostmitteleuropäisch ostwestostöstlich und mittelinkshintenoben gestritten wird - das erinnert mich an die Diskussionen um das "Prinzip Buch" im gleichen Medienkanal. Herrlich dazu der Schriftsteller Oleg Jurjew: "Ich bin ein russischer Autor, also, wie erwähnt, keinesfalls ein »Osteuropäer« – ich bin noch schlimmer!"
Viel spannender ist es zu lesen, was die AutorInnen selbst zu sagen haben, was sie von ihrer Geschichte und ihren Literaturen erzählen. Hier lassen sich wunderbar neue AutorInnen und Bücher entdecken! Und eine Literatur, die längst die neue amerikanische Literatur beeinflusst, während sie in deutschen Buchläden oft noch den Dornröschenschlaf schläft - zu Unrecht, wie ich meine!

Das ist eine von den Verlagsaktionen, die gern Schule machen dürfen!

Aus der Zeit fallen

Ich mache das erst das zweite Jahr, weiß aber jetzt schon: Der Übergang zwischen August und September wird auch 2012 wieder ein willkommener Punkt für mich sein, um aus der Zeit zu fallen. Frankreich erwacht meist um diese Zeit aus einer zweimonatigen Sommerstarre, die für mich als Freiberuflerin der blanke Horror ist. Während bei den Lehrern um mich herum acht Wochen Dauerparty angesagt ist, versuche ich, Ruhe zum Arbeiten zu finden und die Menschen ans Telefon zu bekommen, die man zum Arbeiten und Funktionieren so braucht. Keine Chance. Ob Handwerker, Kunde, Bäcker oder Arzt: Rien ne va plus. Nur die Einbrecherbanden, die in dieser Zeit die Häuser leeren, scheinen noch ein Arbeitsethos zu besitzen.

Wenn dann - wie jetzt am Samstag - die letzte Ferienabschieds-Party gefeiert wird, weil am Montag die Schule wieder beginnt, laufe ich zu Hochform auf und werfe mich in Schale. Jetzt gehe ich feiern, ätsch! Zwei Wochen lang Kammermusik pur beim Internationalen Musikfestival Wissembourg - die letzte Woche ist nun angebrochen. Auch Freunde haben festgestellt, dass die Atmosphäre einzigartig familiär und bezaubernd ist - man erkennt mit der Zeit die "Stammkunden" und trifft alte Bekannte wieder. Und trotzdem ist man ganz nah an Perlen, die sonst in großen Konzerthäusern auftreten und dort sehr viel teurer zu haben sind.

Diese Zeit ist nicht nur ein Baden in guter Musik, sondern auch in Emotionen. Gestern war das Petersburger Quartett wieder da, mit dem ich vor einem Jahr nach dem Konzert speisen durfte und hin und weg war, wie sie mir von Nijinsky erzählten. Das war jener bewusste Abend, an dem mein Trotz geweckt wurde: jetzt erst recht! Und dann sitzen sie wieder auf der Bühne ... Beschrieben habe ich bereits die Überraschung durch das Szymanowski-Quartett, deren zweites Konzert ich leider verpasst habe. Bekannte erzählten, es sei gigantisch gewesen, die Hälfte des Publikums habe geweint und ein aus Belgien angereister Musikkritiker habe gemeint, das sei seit zehn Jahren das beste Kammerkonzert für ihn gewesen. Wissembourg, die kleine unbekannte Perle - ich habe jetzt schon innerlich für das nächste Konzert dieses Quartetts 2012 vorgebucht.

Es geschieht aber noch etwas anderes durch diesen Konzertzyklus. Tage und Nächte verschieben sich. Man freut sich während des Arbeitens auf den Abend, macht sich schön und fängt mit der eigentlichen Hauptsache an, während rundherum alle vor der Glotze sitzen. Man kommt heim, wenn andere schlafen. Manchmal nimmt man sich drumherum mehr Zeit, trifft sich mit Freunden, isst gemeinsam vorher oder nachher. Und manchmal erlebe ich auch das internationale Gemisch, das plötzlich einen Hauch Welt zwischen die Fachwerkfassaden weht. Nervt die Motorsense vor dem Fenster beim Schreiben, habe ich als Trost die Aussichten auf Schostakowitsch oder Brahms, Prokovieff oder Mahler im Kopf. Und manchmal habe ich jetzt eine herrliche Ausrede für Termine: Geht nicht, an dem Tag mus ich ins Konzert!

Man zählt die Woche nicht mehr nach Wochentagen, sondern nach Konzert - nicht Konzert - Tag zum Ausschlafen - Tag mit frühem Feierabend. Kein Urlaub, die Arbeit läuft ja weiter. Aber ein Gefühl wie Urlaub, weil Teile der Tage in einer anderen Wirklichkeit stattfinden, weil sich abends die Zeit anders zu drehen scheint. Dienstag, wann war das letzte Mal Dienstag? War das nicht dieser Tag, an dem jenes wunderbare Gefühl ...?

Wenn es mir gelingt, derart aus der Zeit zu fallen, so hat das üble Nachwirkungen. Es scheint nämlich eine imaginäre Kreativitätsdrüse zu geben, die in solchen Zeiten den Körper mit ihrem Hormon vollkommen überschwemmt. Äußerlich funktioniere ich scheinbar normal. Tippe im Internet herum, nehme das Internet aber gar nicht ernst. Höre Nachrichten und schmunzle, wenn die altvertrauten Superkatastrophen und Superskandale immr noch Quote bringen, weil sie als angeblich "neu" aufgepeppt werden. Formular XY sollte endlich auf der Mairie beantragt werden. Formular XY kommt auch eine Woche später noch richtig. Und warum bitte sollte ein normal denkender Mensch seinen Briefkasten täglich leeren, wenn heutzutage alles Wichtige per Mail erledigt wird? So vieles verblasst, wird unwichtig.

Und dann stehen sie plötzlich im Raum: die Problemlösungen, die nächsten Arbeitsschritte, die Ideen. Vor allem die ganz verrückten Ideen, die man im Alltag nicht hochkommen lässt. Frech stemmen sie die noch dünnen Ärmchen in die Hüften und trotzen: "Letztes Jahr um diese Zeit hast du auch auf eine von uns gehört!" Ich lasse Formular XY also noch ein Weilchen liegen. In diesen zwei Wochen haben die Ideen Vorfahrt. Und wenn dann in die Stille zwischen der Musik das Telefon klingelt und die Ideenumsetzung sich meldet, dann gehört auch das zur Magie dieser Zeit. Nur keine Formulare. Formulare sind tödlich für das Funktionieren der Kreativitätsdrüse. Dann doch eher einen Happen Schostakowitsch nach dem Frühstück ... von der CD aus Russland, die einer der Pianisten immer aus Petersburg mitbringt.

Für Formulare ist die nächste Woche noch gut genug. Dann nämlich ist der ganze Zauber für ein Jahr vorbei und Disziplin angesagt. Eiserne Arbeitsdisziplin. Ideen wollen ja nicht nur ausgedacht, sondern auch in die Wirklichkeit geholt werden. Man kann ein Musikstück noch so wunderbar im Kopf komponieren, wenn man es nicht aufschreibt und nicht zur Aufführung bringt, wird die Musik nicht Fleisch.

5. September 2011

Suche nach Coverfoto

Es wird nun Zeit, sich an den allgemeinen Goldrausch zu hängen - meine beiden vergriffenen Romane sollen als E-Book erscheinen. Weil es keinen Print geben wird (dazu werden noch zu viele gebrauchte Exemplare im Antiquariat verheizt), muss das Cover wegen der Miniformate sehr schlicht gestaltet sein (und im normalen Kindle kommt es eh schwarz-weiß).

Meine eigenen Vorgaben: Kein Vorabendserienschmalz, kein Frauenromangezuckere, kein Frankreichklischeekitsch. Irgendwas, was schicker und literarischer aufzumachen ist, ruhig mit Augenzwinkern, weil auch in den Romanen Ironie steckt.

Der fürs Cover maßgebliche Inhalt von "Lavendelblues" (Original bei Amazon): Frau mit Faible für Rosen und mieslaufendem Laden zieht mit erfolgloser blonder Jazzsängerin los, um zu überleben. "Lavendelblues" ist Lebensgefühl - und zugleich die Schlüsselszene mit einem Song. Und worüber stolpere ich bei der Library of Congress (Gottlieb Collection): Die Sängerin trägt sogar die Rosen aus Fallschirmseide im Haar, die im Buch vorkommen. Ob man daraus ein Cover machen könnte?

June Christy sieht aus wie meine Estelle

Wäre da noch mein Roman-Erstling "Stechapfel und Belladonna" (Original bei Amazon), in dem es eine Ecke satirischer zugeht. Der soll zunächst endlich den strunzdummen und geschäftsschädigenden Untertitel verlieren und wird vielleicht sogar ganz umgetauft werden.

Der fürs Cover wichtige Inhalt von "Stechapfel und Belladonna": Eine Frau befreit sich von einem Mann und krempelt ihr Leben um. Auf dem Weg zum Ziel probiert sie sämtliche abstrusen Glücksfindungsstrategien dieser Welt aus. Das macht sie mit Blick fürs Absurde und viel Selbstironie. Und was finde ich im "Nationaal Archief" für niedliche Fotos:

Trennung von Tisch und Bett ...

... oder die Flintenweiber? ;-)
Was meint ihr? Hab ich mich schon blind geschaut oder wäre "Vintage Style" mal was anderes? Das (moderne) Cover-Drumherum muss man sich natürlich noch dazudenken ...
Was für ein Buch würdet ihr mit solchen Coverfotos erwarten?

Zum Nachlesen: Der erste Entwurfs-Reinfall in Kitschlavendel

4. September 2011

Autoren in Scheiben: Kombinieren? (3)

Nachdenken über Publikationsformen in drei Teilen:
Was würde ich denn raten? Verlag oder Self Publishing?

Pauschal kann ich gar nichts raten, jeder Mensch, jedes Buch muss individuell gesehen werden. Einmal am Anfang eine Verlagsbewerbung zu schaffen, kann Türen öffnen, kann zum Qualitätssiegel werden. Auf der anderen Seite schaffen es in der letzten Zeit immer mehr Self Publisher, durch ihren Erfolg (statt der zermürbenden Warterei) Verlage auf sich aufmerksam zu machen. Prominentestes Beispiel in Deutschland ist Nele Neuhaus. Was erfreulich ist: Ein wirklich professionell (!) gemachtes PoD-Buch ist heute kein Hemmschuh mehr bei Verlagen.

Ohne professionelle Qualität geht gar nichts - ob mit oder ohne Verlag. Es zeichnet sich jetzt bereits ab, dass eine ganz tiefe Spaltung im SP-Markt zwischen professionell arbeitenden Autoren und fehlergespicktem Müll oder sogenannten Spam-Titeln entsteht. Da werden gnadenlos AutorInnen untergehen. Auf der anderen Seite beobachtet man aber vor allem im Genre das Phänomen, dass fehlerhafte Bücher erstaunlich viele Fans anziehen - wenn die Story packend und ungewöhnlich geschrieben ist. SP scheint zu schaffen, wofür sich einige Verlage nicht mehr genügend Zeit nehmen: Talente zu entwickeln, die mit ein wenig Hilfestellung zu echten Profis werden können. Könnten, wenn sie denn diese Hilfe annehmen würden. Drum spart nicht an Cover und Lektorat!

Die meisten Newcomer jammern über die Bewerbungshürden, über unzählige Formbriefe mit Verlagsabsagen. Dabei braucht ein guter Probetext mit Exposée nicht sehr viel mehr Zeit als die Social Media Arbeit fürs eigenproduzierte Buch! Wie alles auf der Welt, will dieses Bewerben aber gelernt werden. Es gibt Dinge, die man dabei unterlassen sollte, und Dinge, die man unbedingt beherrschen muss. Die meisten Anfänger wählen schon die Verlage völlig falsch aus (jajaja, ich habe auch eine Absage für den Erstling von Random House). Dann hakt es meist an der Textqualität und Selbsteinschätzung - das Gros der unverlangt eingesandten Manuskripte ist in der Tat schlicht grottenschlecht. Oder die Autoren hätten es besser schreiben können, haben aber nicht gewusst wie - oder sich nicht die Mühe gemacht. In Autorenforen kann man sich heutzutage diese Hilfen und Tipps holen. Es gibt sogar Autorengruppen im Internet, die sich gegenseitig die Exposées kritisch zerpflücken. Informieren und Lernen kann eine Bewerbung verbessern.

Ich persönlich bin absolut zwiegespalten, welchen Weg ich AnfängerInnen empfehlen sollte. Die harten Bewerbungsvorgänge stählen in der Tat für das Geschäft danach, wenn man es einmal geschafft hat. Als professioneller Autor braucht man unendliche Geduld, innere Gelassenheit, Kritikfestigkeit, Beharrlichkeit, das Umgehen mit dem Scheitern, stetes Arbeiten an der eigenen Persönlichkeit wie am Text - und vor allem Teamfähigkeit. Wie kann man all das lernen, wenn man immer den einfachsten und bequemsten Weg geht?

Auf der anderen Seite haben alle Verlagsautoren vor ihrer Verlagslaufbahn grauenhafte Experimente und oft himmelschreienden Schrott geschrieben. Im Unterschied zu heute hat man den Schrott zum Glück meist in der Schublade gelassen. Aber auch ich habe vermessen als Schülerin ein gereimtes Schauderepos an die örtliche Zeitung geschickt und Möchtegern-Fantasy für Fanzines verbrochen. Ich habe am harschen bis witzigen Echo gelernt und meine Selbstkritik verbessert. Und noch etwas: Ich habe meine eigene Schreibstimme nicht blockiert, die sich erst über Jahre hinweg entwickeln muss. Das Problem sehe ich bei der Haltung vieler junger Talente, die im Internet um die perfekte Art diskutieren, ein Buch zu platzieren und zu verkaufen. Das Scheitern und Leiden will sich keiner mehr zufügen. Texte, wie man zum Bestsellerautor wird, haben Hochkonjunktur. In den letzten Jahren habe ich eine Handvoll sehr begabter, aber noch unreifer Talente daran kaputtgehen sehen. Statt Schreibratgeber hätten sie das offene, wilde Experiment gebraucht, um sich auszutesten und zu finden. Warum also nicht mal ein grottenschlechtes Buch selbst veröffentlichen - und einfach mal schauen, was passiert? Warum sollen die lahmen E-Books nachahmender Fans schlechter sein als unsere Imitationen hektografierter Fanzines damals? Es ist doch für alle Platz!

Ich würde die Entscheidung von der Art des geplanten Buchs abhängig machen. E-Books eignen sich hervorragend für internetaffine Themen und ein solches Publikum; auf den Reader wird man sich auch gern Bücher laden, die man sich im Laden nicht offen zu kaufen traut. Reiseführer entwickeln auch Verlage zunehmend als App. Schmöker bieten sich an, aber die Fangemeinde für einen belletristischen Schmöker selbst aufzubauen, dürfte extrem schwierig sein. Ein älteres Publikum zieht immer noch gedruckte Bücher vor, ein Buch in der Hand ist auch bei der Lesung von Vorteil. Belletristik verkauft sich im SP ungleich schwerer als Sachbücher - Verlage haben da einfach eine andere Power. Habe ich schon genügend (!) Fans oder muss ich sie erst noch aufbauen - da geht Minimum ein Jahr ins Land, wenn nicht mehr. Will ich all die Zusatzarbeiten selbst machen? Will ich und kann ich vorab investieren? Will ich lieber von Vorschüssen leben und mich mehr aufs Schreiben konzentrieren? Gibt es mindestens einen Verlag, auf den mein Buch sozusagen wie die Faust aufs Auge passt? Schreibe ich über ein zu eng gefasstes Nischenthema? Bin ich eher der Unternehmertyp, der die Ärmel aufkempelt? Oder brauche ich einen Verlag, für den ich schreibe und dessen Lektor mir dann sagt, wo es langgeht? Was beherrsche ich selbst professionell? Wie fest kann ich ein Zielpublikum umreißen - je fester, desto besser für SP. Könnte ich meine Extra-Fähigkeiten in einen Verlag einbringen, um noch mehr zu erreichen?

Nur eines sollte allen von vornherein klar sein: In Zeiten des wohlfeilen Self Publishing sollte sich niemand, wirklich niemand mehr Geldbörse und Karriere mit Druckkostenzuschussverlagen ruinieren. Damit bugsiert man sich auch in Zukunft effektiv ins schriftstellerische Aus. Also Preise vergleichen und das Kleingedruckte lesen, sich auch mal in seriösen Autorenforen über einen unbekannten Verlag erkundigen.

In welchen Scheiben gibt's mich künftig?
  • Wenn mein geplanter Roman etwas werden wird, geht der selbstverständlich wieder an Agenturen und damit Verlage. Da gibt es für mich absolut keine Alternative.
  • Meine Backlist braucht eigentlich "nur" noch Cover (und die Autorin Zeit), dann kann sie wieder erscheinen - die Romane als E-Book, das Elsass-Buch im Print.
  • Im Bereich "Auftragsschreiben" (Sachbuch für Privatauftraggeber) experimentiere ich gerade mit einer Hybridlösung, die ich für ein Projekt erstelle. Hier muss von Sponsoren nicht nur die Produktion bezahlt werden, sondern auch das Schreiben selbst. Ideal wäre außerdem ein professioneller Vertrieb. Theoretisch wäre sogar ein kleiner Verlag denkbar, der auf die Themen spezialisiert ist. Das ist noch in der Planungsphase und ich bin gespannt, ob der Weg gangbar ist.
  • Beim nächsten eigenen Sachbuch werde ich nach genauer Analyse entscheiden, welche Art des Verlegens ihm gut tun wird und die meisten Menschen erreicht.Beides ist möglich. Würde ich je wieder allein ein Sachbuch im Self Publishing machen wollen, würde ich auch hier für Vorfinanzierung von Unkosten und Vorschuss von außen sorgen, sei es durch Crowdfunding oder feste Sponsoren.
Wo seht ihr die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Veröffentlichungsformen? Hat sich durch die Öffnung in dieser Hinsicht etwas für euer Arbeiten verändert? Habt ihr ganz andere Erfahrungen gemacht als ich? Ich bin gespannt!

Autoren in Scheiben: Self Publishing? (2)

Nachdenken über Publikationsformen in drei Teilen:
Was spricht für Self Publishing?

Wie schon gesagt, kann man nicht alles über einen Kamm scheren, Verlage auch nicht. Durch die Buchhandelskonzentration bleiben immer mehr Verlage bei den Kettenbuchläden außen vor - weil sie zu klein sind, weil sie nicht die geforderten Rabatte oder Zahlungen leisten können. Dagegen hörte ich von eben diesen Kettenbuchläden, dass einige sogar in Einzelfällen SP(= self publishing)-Autoren aus dem lokalen Umfeld aufgenommen haben. Kommt dazu, dass nicht jeder Verlag über eine wirklich gute Marketingabteilung verfügt, dass nicht jedes Buch überhaupt Werbung bekommt. Immer mehr Autoren müssen sich auch in Verlagen selbst vermarkten. Hakt es dann außerdem noch beim Lektorat, das höchstens noch ein Korrektorat ist (im Fach- und Sachbuch reißt das ein) - warum dann nicht wirklich alles selbst machen und zum Unternehmer werden? Mit eigenem Risiko, aber auch eigener Erfolgschance.

Nicht jeder Verlagsautor schreibt gute Verkaufszahlen, aus unterschiedlichen Gründen. Wer sich am unteren Limit bewegt, kann sich durchaus selbst verkaufen. Viele AutorInnen erarbeiten sich heutzutage direkter und zielgenauer ein eigenes Publikum (das muss man aber können!) Der Dialog AutorIn - LeserIn wird immer wichtiger für den Abverkauf - hier sind Independent-Verlage stark, andere versagen eher, weil die Abläufe zu automatisiert sind. Ich habe das mehrfach angedeutet: Mit meinem selbst produzierten Buch habe ich trotz immenser Maloche Kontakte schaffen können, die mir kein Verlag hätte besorgen können. Kontakte nicht nur für den Buchverkauf, sondern auch für spätere Arbeiten. Und in den beiden Monaten, die es auf dem Markt ist, habe ich trotz Nischenthema immerhin schon die Verkaufszahl erreicht, mit der eine Abwicklungsfirma einst eins meiner Bücher innerhalb von einem Jahr an die Wand gefahren hat. Wenn im Oktober Artikel dazu erscheinen werden, verspreche ich mir eine weitere Steigerung. Man kommt nicht ins Feuilleton, aber in die Fachpresse oder Lokalpresse.
Self Publishing eignet sich zunehmend für Fach- und Sachbücher, vor allem bei fest umrissenen Zielpublikum, das man selbst ansprechen kann. Ich weiß von Fachbuchautoren, die eine Auflage von 2000 bis 3000 Stück in Eigenproduktion schaffen - im Hardcover längst keine Selbstverständlichkeit mehr in Verlagen.

Self Publishing verlangt Unternehmerpersönlichkeiten und Teamwork (mit Grafikern, Lektoren etc.), gewährt aber auch die totale Freiheit innerhalb der technischen Grenzen. Es eignet sich also hervorragend für Bücher, die nicht 0815 daherkommen. Interaktive Bücher, manchmal an der Grenze zum Videospiel oder zur App, werden zunehmend privat hergestellt, weil der etablierte Buchmarkt viel zu unbeweglich ist. Bis der Börsenverein fertig diskutiert hat, was das "Prinzip Buch" sein könnte, bewegen sich Tüftler und Leser längst aufeinander zu. E-Books können auch ohne Papierausgabe entstehen und Papierausgaben wieder schön gestaltet werden. Inhalte können direkter auf ein Publikum zugeschrieben werden. Meine Buchform mit Erzähltext im ersten Teil und Fachinterviews im zweiten würde wahrscheinlich keinem Verlag zusagen - wohl aber dem Zielpublikum. Nische, Experiment und Risiko haben wieder eine Chance.


Fortsetzung folgt...

Autoren in Scheiben: Verlag suchen? (1)

Nachdenken über Publikationsformen in drei Teilen:
Immer diese Schubladen!

Bücherleute sind ein kurioses Völkchen. Kürzlich riet ich irgendwo öffentlich im Internet zur Verlagsbewerbung und erntete vollkommen überraschte Ausrufe: "Was, ausgerechnet du rätst zum Verlag?" - Ja, zum Teufel noch mal, warum denn nicht?! -  "Aber du schreibst doch über Self Publishing." - "Aber du hast doch auch ein Buch selbst produziert." Ja, zum Teufel noch mal, das habe ich. Aber ich schreibe auch über Musik, ohne zur Pianistin zu werden; ich schreibe über Wälder, ohne demnächst eine Ausbildung zum Förster zu machen. Muss man die Welt immer säuberlich in Schubladen einteilen und Grabenkämpfe zwischen Schwarz und Weiß führen?

Das geht bei allem Hype und Trendgewäsch in manche Köpfe irgendwie nicht mehr hinein: Man kann zwei komplett unterschiedliche Wege ausprobieren und trotzdem beiden Wegen gegenüber kritisch bleiben, sie objektiv vergleichen. Zudem bin ich nicht aus voller Überzeugung in einem Fall den Weg des Self Publishing gegangen, sondern ursprünglich nur, um ein Verlagsprojekt zu retten, das am Geld scheitern sollte. Und gerade weil ich mir sehr kritisch selbst über die Schulter gesehen habe und sehe, kann ich auch die wahren Mühen, Herausforderungen, Nachteile und Vorteile erkennen. Vor allem aber weiß ich eins: Kein Buch ist gleich - die ach so wohlfeilen Zehnpunktetipps, die man im Internet liest, passen nie komplett auf alle Werke.

Die eigene Backlist aufbauen

Ich nehme mir also die Freiheit heraus, mich als Verlagsautorin zu begreifen, die nicht für alles einen Verlag braucht. Das aber wohldosiert und gut überlegt. So rate ich Kolleginnen und Kollegen, die mit vergriffenen Büchern zu tun haben, sich schnell die Rechte zurückzuholen (nach einer bestimmten Zeitspanne fallen sie übrigens automatisch zurück, was man beschleunigen kann). Dann sollte man die eigene Backlist aufbauen. Das hat den Vorteil, dass wieder mehr Titel am Markt sind und Fans auch das ein oder andere alte Buch erstehen können. Weil Neuauflagen von Backlisttiteln oft eher gering ausfallen, bietet sich die Form des E-Books an. Es kostet die kleinsten Investitionen. Das ist vor allem dann wichtig, wenn verramschte Exemplare den Gebrauchtmarkt überschwemmen - nur mit E-Books bleibt man hier konkurrenzfähig.

Eine Kindle-Ausgabe schafft jeder Laie mit ein wenig html-Geschick, bei reinen Textausgaben sowieso. Man braucht keine Korrekturen mehr, nur ein neues Cover. Für andere E-Book-Ausgaben und Shops gibt es Programme und Gepfriemel - oder man lässt sich das preiswert machen. Aufwändiger ist eine PoD-Ausgabe, weil der Buchsatz und das Layout neu erstellt werden müssen - dafür liegen die Rechte nämlich beim Verlag. Außerdem verursacht PoD Kosten. Ob Bedarf an gedruckten Büchern besteht, kann man mit den E-Books austesten. Sind noch gebrauchte Bücher aus der Altauflage auf dem Markt, lohnt sich das eigentlich nur, wenn man das Buch neu überarbeitet und ausstattet (ab einem gewissen Prozentsatz gibt's dafür auch neues Geld von der VG Wort!). Und man sollte bei der Entscheidung zwischen E und Papier die Art des Buchs und das Käuferverhalten analysieren: Der Ratgeber für ein Computerprogramm läuft als E-Book wahrscheinlich besser als der Kunstband, der Vampirschmöker besser als die Sammlung philosophischer Essays.

Was spricht für Verlage?

Wer ein Buch selbst produzieren kann, hat eigentlich den Kopf frei, sich bei Verlagen zu bewerben und nicht jedes schlechte Angebot annehmen zu müssen. Der weiß aber auch, woran es beim Self Publishing haken könnte. Was spricht für den alten Weg? Die alten Kernkompetenzen oder Tugenden von Verlagen, sofern sie noch vorhanden sind: Aufbau von Autoren und nachhaltige Pflege von Büchern, ein Lektorat, das den Namen noch verdient; Marketing. Hier lohnt es sich, beim Verhandeln genau hinzuschauen. Bekomme ich diese Leistungen nicht, kann ich selbst produzieren. Andere Argumente: Vorschüsse statt Eigeninvestitionen. Davon kann man sich schon wieder Schreiben finanzieren.

Unschlagbar sind Verlage im Moment noch bei der Präsenz im Buchhandel und im Vertrieb. Ich habe mich unter Self Publishers im deutschsprachigen Raum umgehört, die Spitze lag bei fünf verkauften E-Books pro Tag in einem sehr eindeutigen Genre - das traurige Gros der PoD-Autoren schafft in der Belletristik keine 100 Exemplare pro Jahr (200-300 liegen im Bereich der Spitze), nur Sachbuchautoren kommen an Nischenauflagen von Verlagen heran. Nehmen wir einmal die Spitze - würde der Verkauf nicht nach wenigen Monaten einbrechen, wäre das eine ordentliche 1800er Auflage im Jahr. Jeder Verlagsautor kann mit den eigenen Verkaufszahlen vergleichen, ob das wirklich lukrativ ist. Mit einem PoD-Roman wird man selbst nie an die Zahlen eines Taschenbuchs heranreichen können. Für E-Book-Erfolge à la Amerika ist der Markt noch zu klein (noch). Und das erlebe ich gerade selbst: Eigenmarketing und Verkauf des fertigen Buchs ist eine immense, aufreibende und schwierige Arbeit, die unwahrscheinlich viel Energie bei unsicherem Ausgang abfordert. Energie, die vom Schreiben abgeht. Arbeit, die man im Verlag geliefert bekommt.

Verlage sind immer noch Gatekeeper. Nicht etwa, weil sie tatsächlich durchweg nur beste Qualität liefern würden - das stimmt schon lange nicht mehr. Sondern weil Buchhandel und Leserschaft glauben, dass sie Qualität liefern. Ein Newcomer, der mit Self Publishing startet, muss sich ganz allein aus eigenen Kräften vom himmelschreienden Müll auf diesem Sektor abgrenzen, muss immer wieder Rede und Antwort stehen, warum er / sie "es nicht geschafft hat". Das ist leider in Deutschland so. In anderen Ländern wird das lockerer gesehen, aber das nützt deutschsprachigen AutorInnen herzlich wenig. Jemand, der schon in Verlagen veröffentlicht hat, muss dagegen im Self Publishing nicht mehr beweisen, ob er / sie "es drauf hat". Nicht vergessen sollte man außerdem, dass manche Verlagsnamen Türöffner auch in ganz anderen Bereichen des Arbeitens und Lebens sind. Und last but not least. Das deutsche Feuilleton bespricht grundsätzlich nur Verlagsbücher.


Fortsetzung folgt...

3. September 2011

Hochgenuss

Eigentlich bin ich in einem Zustand, wo ich unwahrscheinlich gern mal wieder ganz lang schlafen würde. Tagarbeit und häufiges abendliches Abtauchen in die Musikwelt verschieben ohnehin schon die Wahrnehmungen. Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, wie sich Städte und Menschen verwandeln, wenn man sie nur im Dunkeln sieht - oder wie unwirklich eine bäuerliche Region tagsüber wirkt, wenn man nachts dort mit mehrsprachigen, internationalen Musikern plaudert. Aber gestern habe ich mich mit Wonne überreden lassen, auch morgen wieder ins Konzert zu gehen - dann spielt das Szymanowski-Quartett nämlich noch einmal.

Gestern kam das Publikum beim Internationalen Musikfestival von Wissembourg sogar von Stuttgart und vom Bodensee - die Kenner wussten, was sie erwartet; ich wurde völlig überrascht. Ich bin keine Klassikrezensentin und spare mir hier die Innereien von Musikstücken. Gekommen war ich, weil das Szymanowski Quartett Karol Szymanowski spielen würde - einen Komponisten, den ich durch das Teatr Wielki in Warschau kennen und lieben gelernt habe (Menschen, die Mahler mögen, verfallen oft auch ihm). Den Beethoven vorher wollte ich "so mitnehmen".

Unmöglich. Nie zuvor habe ich so einen Beethoven gehört. Das Streichquartett Nr. 8 in Es-Dur fuhr offensichtlich nicht nur mir ins Gebein. Die vier Polen und Ukrainer aus Hannover tanzten diese Musik, machten sie körperlich fühlbar - und die Ekstase auf der Bühne übertrug sich mühelos aufs Publikum. Hatte Beethoven ganz versteckt eine slavische Seele, dann ganz gewiss in diesem Stück.
Für den Szymanowski mit seiner orientalisch anmutenden Nocturne und Tarentelle Op. 28 fehlen mir dann alle Worte. Das war ein Synästhesierausch, der lange nachklang. Und genau deshalb kann ich Musik nicht brav und ordentlich rezensieren, weil ich ja eigentlich jubeln müsste über die weinroten eiförmigen Einschlüsse in Antimongelb in der und der Passage, die dann von winzigen eisblauen Spitzen gestochen und gestreichelt wurden. Andere brauchen vielleicht dazu LSD, mir bescherte das Szymanowski Quartett dreidimensionale, bewegliche, körperliche Kandinsky-Welten.

An diesem Abend stimmte die Formulierung "brach das Publikum in tosenden Applaus aus" - das war wirklich eine Eruption von Emotionen, die sich freimachen wollten, freimachen mussten, in Standing Ovations und Bravorufe. Kein Wunder, man hing den vier Männern, die nicht einfach Musik spielten oder inszenierten, sondern Musik lebten, wie gebannt an den Saiten. Dass ich jetzt endlich auch einmal eine echte Stradivari gehört habe, ist wahrscheinlich nur für mich eine Premiere.

Kurzum, dieses Quartett muss ich noch einmal hören, morgen soll laut Kennern ab 18 Uhr in der Kirche St. Jean in Wissembourg (place Martin Bucer) von ihnen die Welt noch einmal geschöpft werden. Die Abfolge von Bach, Buxtehude, Szamotuly, Szymanowski und Beethoven sei sehr genau abgestimmt gewählt worden. Ich werde heute ein wenig vorschlafen.

Spätestens jetzt sollte allen klar sein: Die Stadt Wissembourg muss man sich merken. Man braucht nicht unbedingt die Carnegie Hall, das Berliner Konzerthaus oder den Pariser Louvre, um Musiker wie diese zu hören. Und für das zweiwöchige Festival kommen ja noch andere Perlen...

Für diejenigen, denen der Weg zu weit ist oder die keine Chance hatten zu kommen, ein kleiner Trost ins heimische Wohnzimmer. Der SWR hat in der Reihe Hänssler Classic eine CD mit dem Pianisten Matthias Kirschnereit und dem Szymanowski Quartett eingespielt. In CD-Schreibung: "Dmitry Shostakovich / Mieczyslaw Weinberg: Piano Quintets". Ich habe sie gestern beim Konzert gekauft und nachts noch kurz hineingehört - die wird mir heute den Wartetag versüßen.
Klanglich in grausiger Internetqualität, aber wenigstens zum Ansehen (und das ist live einfach ein Erlebnis) gibt es das Quartett bei youtube. Ich habe eine etwas ältere Aufnahme von Szymanowskis Nocturne und Tarantelle gewählt:



Gelernt habe ich auch über mich wieder etwas. Über Musik schreibe ich besser brav theoretisch vorher oder lange nachher. Das war schon bei meinem Nijinsky-Buch so - erst nach unzähligen Malen Strawinsky waren die Emotionen so heruntergekocht, dass der Verstand wieder Worte bildete.

2. September 2011

Wie reist diese Frau?

Petra Gust-Kazakos, die auf der anderen Seite des Rheins sitzt, hat Petra van Cronenburg, die auf der hiesigen Seite des Rheins sitzt, zum Thema Reisen und Schreiben interviewt. War gar nicht so einfach, ihr Rede und Antwort zu stehen - wo ich doch schon ewig keinen richtigen Urlaub mehr gemacht habe!