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28. November 2010

Teepause

Ein duftender Tee, Schnee auf den Höhen und Sonnenschein - es gibt nichts Gemütlicheres zum kreativen Arbeiten als die ruhigeren Wintertage, wenn die Gartenarbeit ruht und man alle guten Ausreden hat, das Auto einmal stehenzulassen. Mag es draußen noch so rummeln und wimmeln, ich wimmle lieber mit dem Hund durch die Wälder und bunkere die meisten Lebensmittel als Vorräte gegen das aggressive Eingekaufe meiner immer genervter erscheinenden Mitmenschen. Zum Einkaufen käme ich derzeit ohnehin nicht oft - ich habe nämlich viel Besseres zu tun.

Es ist ein Punkt bei meiner Arbeit am Nijinsky-Projekt gekommen, bei dem ich mich genüsslich zurücklehne und lächelnd zurückschaue. Früher habe ich mir immer gewünscht, spätestens mit 50 müsste ich "es" geschafft haben. Ich habe nur nie auch nur im Kleinsten ahnen können, was dieses "es" sein würde. In der Rückschau würde ich sagen: "Es" ist in diesem Jahr passiert. Ich habe mich - nicht unbedingt im Schreiben selbst -, aber in meiner Auffassung vom Schreiben und meinem künstlerischen Denken derart verändert, dass es kein Zurück mehr gibt. Dinge, die ich für normal oder sogar erstrebenswert hielt, habe ich weit hinter mir gelassen. Dinge, die vor Jahren undenkbar schienen, probiere ich frech aus.

In der Rückschau ist bei mir der Knopf an einem Abend im September geplatzt. Komisch, noch gar nicht lang her, aber ich hüpfte mir selbst um Meilen davon. Ich bekam eine verwegene Idee, nahm all meinen Mut zusammen und sprach Menschen dazu an - was ich mich in dieser speziellen Form zwei Jahre zuvor nie getraut hätte (warum eigentlich?). Vielleicht ist es das Alter, das die Einsicht bringt: Mehr als scheitern kann ich nicht.

Es hat sich nun so weit entwickelt, dass die erhofften Zusagen da sind, der Austausch ebenfalls. Ich staune immer noch ein wenig, wen ich da angesprochen habe in meinem Mutanfall. Drei völlig unterschiedliche Menschen, alle drei ganz charismatisch in ihrer Arbeit und wirkliche Könner ihrer Materie. Für diesen zweiten Teil von Nijinsky habe ich das Heft aus der Hand gegeben, bin nur Stichwortgeberin und Lauscherin. Natürlich recherchiert man auch für Sachbücher genauer, befragt vielleicht zu Einzelproblemen den ein oder anderen Fachmenschen. Aber diese andere Art, ein Buch zu schreiben, ist auch für mich völlig neu. Da ist zunächst der erzählende Text über Nijinsky - und dann wird das alles aufgebrochen, weitergeführt, weitergedacht - von drei völlig unterschiedlichen Richtungen her, mit drei faszinierenden Stimmen.

So etwas will sehr viel ausführlicher vorbereitet sein, als man es dem Endtext ansehen wird. Ich muss mich zunächst in meine Gesprächspartner hineinversetzen können, muss vieles über ihre Arbeit lernen. Und bekomme faszinierende Einblicke in neue Welten, verschiebe meine eigenen Horizonte wieder ein ganz großes Stück. Manchmal sitze ich da und staune einfach. Wie bin ich nur darauf gekommen? Wie hat ausgerechnet das funktioniert? Manchmal ist es fast ein wenig magisch, dieses Arbeiten mit Visionen.

Das Schlimme ist: Es macht auch noch höllisch Spaß. Die Journalistin und die Autorin können sich endlich einmal in Personalunion austoben. Es macht solch höllischen Spaß, dass ich gern öfter Bücher so anpacken würde. Auch wenn es ziemlich aufwändig ist, auch wenn diese Mischung eigentlich nicht üblich ist, weil der Leser, die Leserin ja angeblich immer nur das eine oder das andere wollen. Aber ich bin ja in diesem Falle völlig frei.

Trotzdem muss ich mich noch ein wenig freier machen - ich brauche nämlich jetzt Freiräume, um in die ganz anderen Welten einzutauchen, in intensive Dialoge zu treten und mit diesen anderen Menschen die richtigen Fragen zu finden. Denn nachher, oder am besten schon währenddessen, muss ich innerlich von meinem eigenen Erzähltext zurücktreten und erzählen, was das alles zusammenhält, das Eigene und das Fremde, das Damals und das Jetzt. Nie zuvor konnte ich mit einem Buch derart wild experimentieren. Und nie zuvor hat mir Schreiben solchen Spaß gemacht. Ich fürchte, dieses Projekt wird Junge bekommen. Denn auch das ist ein Vorteil, wenn man sich mit anderen Welten konfrontiert: Man findet neue Themen, die dort nur so auf der Straße liegen...

Langer Rede kurzer Sinn: Ich mache eine kleine Blogpause. Wer sich inzwischen langweilt, der kann in der Kolumne des Merkur lesen, warum ausgerechnet Kathrin Passig das Interesse am Buch verloren hat und trotzdem wie wild textet. Oder was Luchterhand-Lektor Klaus Siblewski über totgeschriebene Manuskripte denkt. Der ist übrigens Co-Autor von Hanns-Joseph Ortheil in dem absolut empfehlenswerten Band "Wie Romane entstehen". Außerdem macht sich in der NZZ Ruth Klüger kluge Gedanken über die Zukunft des Lesens - und auch von ihr gibt es ein höchst interessantes Buch: "Was Frauen schreiben" (Zsolnay)

27. November 2010

Geheimnis gelüftet

Es gibt für einen kommunikativen Menschen nichts Schlimmeres, als den Mund halten zu müssen. Aber endlich ist das Schweigegelübde aufgehoben und ich darf verraten, woran ich das vergangene Jahr als Übersetzerin geackert habe:

Dan Franck: Montparnasse und Montmartre. Künstler und Literaten in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ca. 700 Seiten (mit Fotos) - wird im Frühjahr 2011 beim Parthas Verlag in Berlin erscheinen.
Das Original "Bohèmes" war in Frankreich ein Bestseller und ist in mehrere Sprachen übersetzt worden. Dan Franck wurde durch seinen Roman "La séparation" bekannt, den Claude Berri 1994 mit Isabelle Huppert und Daniel Auteuil verfilmte.

Der Vorschautext des Verlags:
Paris als künstlerisches Epizentrum ersteht in diesem großartigen literarischen Panorama wieder auf. Drei Jahrzehnte lang (1900–1930) lebten die wichtigsten Künstler der Avantgarde auf dem Montmartre und dem Montparnasse. Maler wie Kandinsky, Modigliani, Picasso, Utrillo, Dalí, Ernst, de Chirico oder der Fotograf Man Ray lebten mit so bedeutenden Schriftstellern wie Cocteau, Éluard, Breton und Hemingway Tür an Tür. Dan Francks literarisches Buch führt durch das gesamte »Who is Who« der europäischen und russischen Avantgarde. Außerdem lässt er den Leser die Amerikaner in Paris entdecken und lädt zu einem Besuch bei der Epoche machenden Kunsthändlerin Berthe Weill und den Herren Ambroise Vollard und Daniel-Henry Kahnweiler ein. Dabei kann man sein Buch wie einen Touristenführer durch das heutige Paris verwenden. Akribisch hat er Schauplätze und Straßennamen recherchiert und viele nach wie vor existierende Cafés oder Restaurants beschrieben, sodass man die Handlungsorte selbst dann noch finden kann, wenn ein Haus längst abgerissen ist.
Dan Franck öffnet die Türen von Ateliers und Privatgemächern der Künstler und Literaten. Er schildert unerwartet intime Details aus dem Leben der ganz Großen und erzählt manch skurrile Anekdote, in deren Mittelpunkt nicht 
selten Picasso und seine Schriftstellerfreunde 
Guillaume Apollinaire und Max Jacob stehen.

Vielleicht wird jetzt einigen Leserinnen und Lesern klar, warum ich auch neben dem Nijinsky-Projekt nicht von den Russen lassen konnte, von der Avantgarde schon gar nicht. Insofern war das Projekt nicht nur praktisch für eine "Fachidiotin" wie mich, es spielt ausgerechnet auch noch in der Zeit, in der Paris dieser faszinierende Schmelztiegel zwischen westlicher und östlicher Kunst und Kultur war.

Natürlich hat die Arbeit an diesem nicht gerade dünnen Buch tiefe Spuren hinterlassen. Da schwelt ein eigenes Buchthema im Kopf, in dem schon wieder russische Künstler vorkommen. Und zu allem Überfluss muss ich mich jetzt endlich daran gewöhnen, dass ich mich literarische Übersetzerin nennen darf - ausgerechnet ich, die ich immer noch fest daran glaube, Französisch noch lange nicht wirklich zu beherrschen...

26. November 2010

Nicolai Lilin: Sibirische Erziehung

"Sibirische Erziehung" von Nicolai Lilin ist ein Buch, dessen Rezension ich vor mir her schob, weil es unbequem ist - dessen Rezension ich aber jetzt schreiben muss, weil es wie kaum ein anderes Buch in die Zeit passt: Stichwort "Angst vor Gewalt". Die Klappentexterin hatte mich mit ihrer Rezension auf das Buch aufmerksam gemacht. Und obwohl ich heftige Widerstände beim Lesen empfand, verschlang ich es in anderthalb Tagen.

Exotisch genug ist die Konstellation: Nicolai Lilin stammt aus dem im Westen ziemlich unbekannten Transnistrien, einem Teil Moldawiens, der sich 1992 ohne internationale Anerkennung unabhängig erklärt hat und nach einem Bürgerkrieg unter einer Schutztruppe aus Transnistrien, Moldawien und Russland steht. In diesem problematischen Durcheinander lebte Lilin als Abkömmling der Urki, die in sich ein Phänomen sind, das kaum einer kennt. In den stalinistischen Gefangenenlagern in Sibirien hatten sich bereits früh eigene Überlebensmechanismen und Clans gebildet, die beim Zusammenbruch der Sowjetunion nahtlos in Verbrecherkreise übergingen. Die einstigen Herrscher der Gefängnisse führten fortan Diebesgruppen an (davon handelt auch Eduard Kotschergins "Die Engelspuppe") und infiltrierten mafiöse Kreise. 1938 wurden Teile dieser Clans von Stalin aus Sibirien nach Transnistrien zwangsumgesiedelt, die Urki waren einer davon.

Lilin erzählt in seinem Buch die Geschichte seiner Kindheit und Jugend im kriminellen Clan der Sibirer bis zu dem Zeitpunkt, als der junge Soldat aus dem Tschetschenienkrieg nach Italien flüchten kann. Sein Buch, das als Roman gehandelt wird, hat jedoch absolut nichts Literarisches an sich, sondern ist lediglich ein Stück Selbsterfahrungsbiografie, die an Authentizität jedoch nichts zu wünschen übrig lässt. Wenn man sich das klar macht, liest sich das Kaleidoskop aus Erinnerungen erstaunlich unterhaltsam und erschreckend bunt. Dass Sprache und Komposition öfter zu wünschen übrig lassen, vergisst man schnell angesichts der plastischen und genau beschriebenen Figuren und Anekdoten um den kleinen Nikolai, der auch Kolima oder Barfuß genannt wird.

Und genau das ist es auch, was einen beim Lesen diesen Widerstand empfinden lässt. Dadurch, dass man in den Kopf der Ich-Figur eintaucht, wird man gezwungen, den strengen - und ziemlich oft tödlichen - Ehrenkodex der Sibirer so vertraut wie ein eigenes Familienumfeld zu erleben. Wenn das kleine Kind sein erstes Schnappmesser zur Ikone legt, wenn die Alten geachtet und die Behinderten beschützt werden, die Freunde zusammenhalten und der Clan ein Überleben im Jugendgefängnis garantiert, dann wirkt das fast idyllisch, sicher und gerecht. Denn Lilin lebt im Grunde in einer Gesellschaft, wie sie sich manche Menschen im Westen herbeisehnen: Da herrscht klare Ordnung, jeder kennt seinen Platz, die Einhaltung von Regeln und Ehrenkodex sorgen für Sicherheit. Lilin erzählt unprätentiös knapp und klar, wenn es um Gewalthandlungen geht - und hart an der Begeisterung, wenn er sich an dieses vermeintlich warme Nest des Clans erinnert.

Das Schlimme ist: Er macht dies so überzeugend, dass selbst der kritischste Leser sich immer wieder dabei ertappt, die eigenen ethischen Regeln in Frage zu stellen. War das nun wirklich so schlimm, dass die Jungs ihren jüdischen Freund rächten, dem eine Gang aus der Nachbarstadt das Briefmarkenalbum gestohlen hatte? Kann man nicht stellenweise den Jugendlichen nachfühlen, als sie ausziehen, um den Vergewaltiger aufzuspüren, der sich an einem behinderten Mädchen vergangen hat? Schon sitzen wir in der von Lilin immer wieder ausgelegten Falle. Und lesen im gleichen Atemzug von eiskalter, selbstgerechter Gewalt, die wir uns in unseren Breiten gar nicht vorstellen wollen.

Nein, diese bunten sorglosen und menschennahen Geschichten sind nicht Ausdruck einer Welt, die in sich geordnet scheint - das ist pure Selbstjustiz, brutalste Gewalt, ethische Verlotterung. Lilin steht auf der anderen Seite: in einer Welt, in der die Polizisten nur Köter genannt werden und ein Rechtssystem als Unrechtssystem gilt. Aber hat er nicht ein kleines bißchen recht, wenn doch dieses Rechtssystem in Russland noch gar nicht richtig funktioniert und selbst korrupt ist? Lilin redet von selbstgemachten Werten des Clans, der mit seinen Machtstrukturen alles unterwandert und die Welt außerhalb verachtet. Aber ist es nicht auch ein wenig tröstlich, dass im Clan Schwache beschützt werden und mit Geld und Besitz nicht geprotzt werden darf? Egal, was Lilin erzählt, er packt uns bei unserem eigenen inneren Schweinehund, der sich zeitweise vorstellen könnte, dass es auch andere Auffassungen von Gesellschaft gibt. Verbrecher, Mafia, Terroristen - sie alle sind irgendwo auch Menschen - und meist gibt es einen vernünftigen Grund, warum sie so geworden sind.

Wenn da nicht diese eiskalte Gewalt wäre. Diese absurde Spannung brachte mich dazu, ständig das Buch an die nächste Wand werfen zu wollen und doch weiterlesen zu müssen. Die Erkenntnis, dass in unseren Augen absolut gewissenlose und gefühllose Gewalt von Menschen ausgehen kann, die durchaus warmherzig sein können und sich ein eigenes System von Ethik und Moral gegeben haben, ist erschütternd. Die historischen Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion auf diese Weise zu erfahren, macht so manches Unverständliche verständlich. Aber es wird dadurch nicht besser. Und genau an dieser Stelle versagt Lilin völlig. In seinem Erzählrausch des Insiders kommt ihm die Reflektion abhanden. er durchschaut sich selbst nicht.

Lilin lässt uns mit unseren Fragen im Regen stehen. Die spannendste Passage, nämlich den Tschetschenienkrieg und die Gründe für seine Flucht, verschweigt der Meister des Details derart gekonnt, dass man sich zwingend fragt, ob die Reise nach Italien, ins Traditionsland einer anderen Sorte Mafia, nicht auch nur das Ergebnis gesponnener Beziehungsfäden war. Spätestens hier erwarte ich von einem Autor Relativierung, Vergleich und Reflektion. Einer, der in der Freiheit des Westens so nah dem Kampf gegen die Mafia zuschauen kann, einer, den sogar der unter Polizeischutz lebende Autor Roberto Savino ("Gomorrha") erst bekannt gemacht hat, indem er ihn empfahl - der sollte die mafiösen Strukturen der Sibirer auch anders betrachten können als mit Verbrämung und Verbrecherromantik.

Nachdem ich das Buch mit dieser Mischung aus Faszination und Unmut gelesen habe, suchte ich nach Material über Lilin. Vielleicht tat ich ihm ja Unrecht? Leider ist das einzige deutschsprachige Interview, das hier Aufschluss gibt, nur noch im Google Cache zu finden. Aber es spricht Bände. Nicolai Lilin ist keineswegs ein Geläuterter. Er blickt - nicht nur in diesem Interview - zurück in Begeisterung und in Trauer, dass es die Clanwelt so intakt nicht mehr gibt. Er inszeniert sich als finsterer Schönling und spricht von einer "ehrlichen humanen Botschaft" seines Verbrecherclans, redet der Diktatur das Wort, die für ihn die einzig gangbare Staatsform für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sei. So spricht keiner, der begriffen hat. So spricht keiner, der einsieht, wie menschen- und lebensverachtend mafiöse Strukturen sind - egal, wo auf der Welt und aus welch ach so hehren Gründen sie einst entstanden sein mögen. Ein Gegenkonzept kann uns Lilin nicht bieten.

Aber genau deshalb sollte man sein Buch gelesen haben. Es lässt uns das Unbegreifliche begreifen und verstehen, wie leicht sich Recht und Gerechtigkeit beugen lassen. Ethik im Sinne des Lebens sieht anders aus - und woraus sie sich nähren könnte, das lernen wir eindrücklich an den Fehlstellen dieses Erfahrungsberichts.
Ich fand mich ganz am Anfang, als ich Lilins Buch noch nicht gelesen hatte, vom Thema her an Eduard Kotschergins "Die Engelspuppe" (meine Rezension / über den Autor) erinnert. Doch Kotschergin ist das volle Gegenprogramm zu Lilin. Kotschergins romanhafte Erzählungssammlung ist Literatur und erzählerisches Können. Vor allem aber ist Kotschergin einer, der seine Kindheit in Diebeskreisen hinterfragt, durchdenkt und relativiert. Der Petersburger hat es geschafft, ohne Hass, mit viel menschlichem Mitgefühl, seine Vergangenheit zu verstehen und hinter sich zu lassen. Und deshalb schafft es sein Buch auch ganz im Gegensatz zu dem von Lilin, Perspektiven für eine Zukunft aufzuzeigen. Die mag schwierig sein und allzu oft an den eiskalten Gewaltstrukturen und gewissenlosen Gegnern zu scheitern drohen, aber sie ist im Kern menschenwarm und voller Liebe.

Ich empfehle unbedingt die Lektüre beider Bücher. Denn in der Gesamtschau geben sie eine Facette wieder, warum unsere Welt so zerrissen ist, warum es kein eindeutiges Böses und eindeutiges Gutes gibt - und da trotzdem so viel Zukunft ist.

Nikolai Lilin: Sibirische Erziehung. Suhrkamp Verlag
Eduard Kotschergin: Die Engelspuppe. Persona Verlag (meine Rezension)

24. November 2010

German Angst mit Biss

Es gibt Wörter, die scheinen so eindrücklich und unlösbar mit einem bestimmten Land verbunden, dass sie in anderen Sprachen zu Fremdwörtern werden. So unübersetzbar wie "le waldsterben" benennen sie nicht einfach nur ein konkretes Ding, das im Ausland oft gar nicht existiert, sondern schleppen einen ganzen Rattenschwanz an Befindlichkeiten und Emotionen hinter sich her. German Angst ist auch so ein Konstrukt. Neuerdings sagt man dazu in Deutschland Terrorangst. Und als wäre es möglich, dieses Wortgebilde zu konkretisieren, überbieten sich die katastrophengeilen deutschen Medien darin, es gehörig mit Bedeutung aufzuladen. Oder mit dem, was man dafür hält. Für uns im Ausland mit dem Blick aus der Ferne ist diese gewollt gefühlige Nebelsuppe nicht ganz zu unterscheiden: Ist Terrorangst nicht auch nur eine German Angst?

Machen wir Unversteher uns das also einmal bildlich bewusst: Mama, Papa und Kind sitzen vor der Glotze. Deutsche Kleinfamilie, Hans im Glück. Sie ziehen sich in Anbetracht der Terrorangst mit dem Terrorexperten und dem Terrorbeurteiler und dem Antiterrorspezialsicherheitspolitiker irgendetwas Fleischiges rein, ein Bierchen dazu, ein gesundes Kinderteechen. Muttis Glückspillen, garantiert fettfrei und aus kontrolliert biologischem Anbau, dürfen natürlich nicht fehlen. Neben Mutti liegt ihr ausgelesener Roman, sie steht wie viele Frauen in Deutschland derzeit auf harte Krimis. Durchgeknallter Serienkiller verfolgt magersüchtige Mamas, schneidet ihnen die Gedärme aus dem zuvor kunstvoll malträtierten Leib und macht Karnevalsluftschlangen daraus, mit denen er kleine Kinder ins Verderben lockt und in Spinatsuppe ertränkt. Papa liest BILD, das geht weniger auf die Augen. Und Kindchen mit dem Kinderteechen ist bald in dem Alter, wo Kids davon träumen, von einem bisschen Vampir mal so richtig hergenommen zu werden, während der Klassenkamerad das Ganze mit dem Handy filmt und social ins Web stellt.

In diese ungetrübte, garantiert fettfreie und biologisch abbaubare Idylle platzt nun dieses ekle Wort: Terrorangst. Es steht im Raum wie ein Koffer, der nicht abgeholt wurde. Was, wenn der neue Wagen vor dem neuen Eigenheim ein Kratzerchen abbekommen würde? Was, wenn es Tante Erna das Hirn wegblasen würde, nachdem man sie schon dreimal vergeblich ins Grab gewünscht hat? Was, wenn sich hinter Nachbar Nikolausis weißem Wallebart ein muslimischer Knecht Ruprecht verstecken würde? Was, wenn die durchgeknallten Serienmörder gar nicht so kunstvoll morden könnten wie in Muttis Seelenstreichelkillerbüchern? Hoffentlich würde noch genügend Zeit bleiben, um auf den anderen Kanal zu zappen! CO2-frei, versteht sich.

Es ist schon kurios, wie gezielt man sich selbst Angst machen kann, ohne Angst vor dem wieder einmal propagierten Demokratieabbau zu bekommen. Es ist erstaunlich, wie sich künstliche Ängste hochzüchten lassen, um freien Willen und freies Denken zu betäuben. Wer heute noch Bomben wirft, ist dumm. German Angst allein genügt, um alle gesellschaftlichen Errungenschaften einer freien Demokratie langsam zunichte zu machen. Selbst das älteste Synonym für Reiselust und Geschichten aus aller Welt wurde innerhalb kürzester Zeit zum Angstträger. Zum Glück haben wir keine Angstangstträger mehr, pardon, Kofferträger.

Ich muss in diesen Tagen oft an die Zeit denken, als ich zum ersten Mal wirklich mit dem Begriff "Terror" lebte. Es war 1993, als ich ins erst ganz frisch freie Polen gegangen war, als im ehemaligen Ostblock noch die ganz wilden Zeiten herrschten. Mafiabanden aller Länder - einschließlich der westlichen - teilten sich die Ostwelt auf. Diktaturen gingen über den Umweg krimineller Systeme in Demokratien über und Wetten wurden abgeschlossen, welche Mafia gewissenloser tötete. Granateneinschläge waren an der Tagesordnung, im heftig umkämpften Warschau mied man eben die Kampfgebiete. Schnell lernte ich vom Taxifahrer, dass die dick gepolsterten, lustig ausschauenden schwarzen Männchen auf der Straße Bombenräumkommandos waren und ich mal wieder einer Evakuierung entgangen war. Als das Lieblingsrestaurant zur Apéritifzeit mit Granaten verwüstet worden war, hatten wir nichts besseres zu tun, als aus Solidarität bei der Neueröffnung unter dem Blick von Kellnern zu essen, die besser mit der Kalaschnikoff umgehen konnten als mit dem Abtragen von Geschirr. Eine Granate schlägt nie zweimal in die gleiche Stelle, das hatten wir gelernt.

Die Freunde in Moskau berichteten, wie ihnen in einer Wohnung in der Nähe beim Angriff des Militärs aufs Weiße Haus die Kugeln um die Ohren gepfiffen waren. Zuerst war es nur ein Querschläger in der Zimmerdecke gewesen, aber mit der Zeit ähnelte die Erzählung immer mehr einem alten Film mit John Wayne. Wir hätten alle Angst haben sollen, aber wir stießen mit Wodka aufs Leben an. Wir stumpften ab. War dem Kollegen mit Waffengewalt der Geschäftswagen abgenommen worden, prostete man dem Kollegen ebenfalls zu. War ja noch am Leben, hätte ja nicht den neuesten BMW anzuschaffen brauchen. Es gab Sicherheitsregeln, man lernte sie, man übernahm sie, ohne nachzudenken. Wohnen mit Standleitung zwischen Alarmanlage und Polizei, mit eigenem Sicherheitsdienst, überall die fleißigen schwarzen Männer - ein neuer Berufszweig entstand. Im Fernsehen zeigten sie Einsatzübungen der Antiterroreinheit wie Soap-Operas. Manche Frauen flogen auf die Kleiderschränke in Schwarz, die jede Diskothek zierten, jedes größere Restaurant, jede Menschenmenge.

Wir hatten keine Angst. Wir machten uns lustig. Wahrscheinlich gaben wir sogar zuhause mit diesem abenteuerlichen Leben an. Aber keiner nahm uns ernst. Das gab es doch nicht. Mafiaterror mitten in Europa, ihr übertreibt! Als in Warschau ein Hochhaus explodierte, kamen die Anrufe von daheim: Das ZDF habe berichtet, wie marode diese uralten polnischen Gasleitungen in Polen seien, alles so marode und verkommen. Das passte besser ins Bild als der meistgesuchte Terrorist des Landes, der hier einen kollektiven Selbstmord unternommen hatte - zum Glück zur falschen Uhrzeit. Die Bewohner waren größtenteils woanders gewesen. Also prostete man aufs Leben und mied gewisse Stadtteile noch mehr. Das Leben war schließlich lebensgefährlich.

Wenn ich nach Hause fuhr, erlebte ich sie wieder, die German Angst. Wie man freiwillig in solch gefährliche Länder reisen konnte? Eingebrochen hatte man einen Tag nach unserer Abreise in Frankreich - nie in Polen. Wie man freiwillig zwischen den Fronten von Mafiorganisationen hausen konnte? Einer der ganz großen Clans kam aus Hamburg. Ob man keine Angst vor den Waffen habe? Der Verkehrsunfall im heimischen Elsass erschien mir gefährlicher. Angst ist relativ. Sicherheit ist trügerisch. Drei Jahre lang habe ich mir nach meiner Rückkehr eine Sicherheitsmaßnahme regelrecht abtrainieren müssen: Ich durfte endlich wieder ein Fenster auch dann öffnen, wenn ich selbst nicht im Raum war! Treudoof und sicherheitsgläubig hatte ich streng nach Verhaltensregel beim Verlassen eines Zimmers insgesamt sieben Jahre lang sofort jedes Fenster im Raum fest verschlossen! Nie war mir auch nur in den Sinn gekommen, wie idiotisch es war, lieber in Anwesenheit einem Eindringling freie Bahn zu geben.

Sicherheitsdenken ist trügerisch. Polnische Freunde nahmen mich mit ins schlimmste Viertel über der Wisla - und siehe da, dort lebten ganz normale Leute in ganz normalen Häusern und liefen ganz normal die Straßen entlang. Viel echtes, authentisches Leben erfuhr ich dort, weitab von den Schwarzmännchen-bewehrten Zentren. Wenn es dort einen Mafiakrieg gab, so fand er offensichtlich immer nur dann statt, wenn ich woanders war. Das Bedrohlichste an diesem Viertel war für mich, dass meine Zahnärztin dort wohnte.

Und dann bekam ich wirklich einmal Angst, echte Angst. Solche Angst, dass ich sofort fliehen wollte, wenn ich gekonnt hätte. Es war ein Schickimicki-Empfang, zu dem irgendjemand geladen hatte, ausgerechnet in einem alten, zur Diskothek umfunktionierten Bunker. Geld, Macht und Miezen, Security so zahlreich wie die Drinks, Sicherheitschecks, Bodyguards ... dazu die Schwärze des Bunkers und überlaute Technomusik. Es war verdammt schwer, durch die Eingangskontrollen zu kommen. Selbst der Gang zum Klo war waffengesäumt. Wir bewegten uns in einem irren glitzernden Raumschiff, das vor Sicherheit und Risikofreiheit nur so strotzte. Wer hier eindringen wollte, war tot, bevor er auch nur einen Takt Musik gehört haben würde.

Da war sie dann, die Panik. Ich wollte nur noch raus. Raus aus dieser gesichtsgelifteten Happy Smiling Welt, in der es "gute" Kalaschnikoffs gegen "böse" gab, bei der Polizeieinheiten den Champagner bewachten, während draußen die Leute im Straßengraben verreckten. Ich wollte raus aus dieser sicheren Leere, hinaus ins echte Leben, ins lebensgefährliche. Lieber vor der Tür mit dem Risiko existieren müssen, von einem Auto überfahren zu werden, an einer gefährlichen Krankheit zu leiden, sich vielleicht nur den Fuß zu verstauchen oder auch von einer Kugel getroffen zu werden - als in der vorgelogenen Sicherheit zu verblöden und die Lebendigkeit zu verlieren. All diese schwarzen Männchen, dieser neue Berufszweig, diese hochgejubelten neuen Helden der Verteidigung: Ich konnte sie schon längst nicht mehr unterscheiden. Wer stand auf wessen Seite, ließ sich von wem bestechen? Wer war objektiv gesehen böse, wer gut? Wie viel persönliche und innere Freiheit hatten wir verloren, als es so übersicher wurde!

So geht es mir heute noch. Cui bono - wem nützt die Terrorangst wirklich? Wo sitzen die Guten, wo die Bösen? Was kostet uns die Sicherheit an Freiheit, an Leben, an Freuden, an demokratischen Errungenschaften? Wie lächerlich, dieser Glaube an Sicherheit. Totale Sicherheit. Dazu müsste man den Menschen abschaffen, dieses evolutionäre Risiko. Aber Tante Erna glaubt nun auch, es würde ihr Leben behüten, wenn sie nur Fenster in Zimmern öffnet, in denen sie sich gerade aufhält. Tante Erna fühlt sich wieder von den Männchen in Schwarz behütet, ohne daran zu denken: Eine Waffe ist eine Waffe ist eine Waffe.

Noch schlimmer. Tante Erna hat echten Terror zum Glück nie erlebt. Sie geilt sich an Serienmörder-Krimis und Gewalt im Fernsehen auf und das ist alles so schön weit weg. Sie zelebriert ihre German Angst und merkt nicht, dass sie längst der totalen Gefühlsbereinigung zum Opfer gefallen ist. Immer glücklich, immer happy, ob unter Ritalin oder Prozac, ausgeglichen und geliftet. Eine umweltkompatible Verbraucherin, die ihre geliehenen Emotionen wohlfeil aus der Werbung, aus Doku-Soaps und von festangestellten Terrorexperten im Fernsehen bezieht, bis sie sich den Finger in den Hals steckt und alles ins Social Web hinauskotzt. Ihr kann man alles erzählen, solange es ihr nur das Gefühl vermittelt, da draußen gäbe es tatsächlich ein Leben. Dieses verdammt gefährliche, irre wilde, wunderbar faszinierende Leben außerhalb des Sicherheitsbunkers, dem sich besser nur die anderen nähern.

Eine Meldung aus diesem Leben ging vor Monaten schon einmal im Terror-Hype unter. In Frankreich stirbt jede zehnte Frau unter 30 an häuslicher Gewalt, umgebracht vom eigenen Mann. Zahlen aus Deutschland sind mir nicht bekannt. Zahlen aus einem einzigen Lebensbereich allein sind auch so unbedeutend. Warum aber haben wir so wenig Angst vor dem Terror, den wir uns selbst antun?

Cross-Cuisine

Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen beim Sammeln von Rezepten (und Kochbüchern) aus aller Welt ist die "Küchenethnologie". Völlig selbstverständliche Gerichte können so viel von Migrationen und Kriegen, von Erfindungsreichtum und Traditionen erzählen. Ein besonders plakatives Beispiel ist der "typisch elsässische" Kougelhopf, dessen Zuwiderschreibung von besonders hartgesottenen Küchennationalisten auch schon einmal mit Dessertentzug geahndet werden soll. Schließlich hat es ziemlich viel Arbeit gekostet, die herzergreifende Mär von Monsieur Kougel, dem elsässischen Töpfer, zu erfinden und über die Zeitenwenden zu überliefern. Der soll nämlich einst den heiligen drei Königen auf ihrer Reise durchs Elsass bei sich Quartier gegeben haben. Zum Dank haben sie ihm dann für seine getöpferten Formen das passende Kuchenrezept geschenkt. Märchen aus 1001 Nacht im Elsass.

Wahrscheinlich war der Monsieur Kougel aber eher eine Madame oder sogar viele. Und es muss in der Zeit gewesen sein, als die Österreicher im Elsass einmarschierten und nicht nur Krieggeschrei verteilten, sondern offenbar tüchtig viel Anklänge an ihre Küche hinterließen. Natürlich konnte man dieses Backwerk, so duftend und lecker es auch sein mochte, nicht mit dem Feindeswort "Guglhupf" bezeichnen! Da machten sich auch die drei Könige besser als ein paar hergelaufene Soldaten.

Nicht alle Gerichte waren so heiß umkämpft, nicht bei allen lässt sich der Ursprung restlos klären. Man kann sich aber durchschmecken und so manche absolut typische Landesspeise in völlig anderen Ländern wiederentdecken. Gestern stolperte ich über eine russische Kartoffelwurst, die natürlich als genauso typisch russisch angepriesen wird wie die typisch elsässische (und gibt es nicht auch so etwas in der Pfalz?). Kartoffelwurst ist so eine Art Saumagen des Kleinen Mannes, also ein Saudarm, gefüllt mit Kartoffelstücken und Wurstmasse - serviert wird sie zu Rohkostsalat oder Sauerkraut. Falls es eine pfälzische gibt, blieb sie mir kulinarisch nicht im Gedächtnis. Die elsässische Version ist schwer und mächtig, mit groben Wurststücken wie Schinkenfleisch und eher weniger Kartoffeln. Die russische hat mehr Kartoffelwürfel, ist also sehr viel leichter - und sie ist vor allem sehr viel kräftiger gewürzt mit Knoblauch, Pfeffer, und wenn ich mich nicht täusche, Majoran.

Ein ähnlicher Grenzgänger ist das Sauerkraut. In meinem Elsassbuch (wird 2011 wieder aufgelegt) gibt es meine persönliche Variante des Choucroute, zu dem der Bayer "Schlachtplatte" sagen würde. Denn zum Kraut in der Mitte und den Kartoffeln wird alles Mögliche an Fleisch und Würsten herumdrapiert. Natürlich ist für die Elsässer undenkbar, dass man das auch noch woanders anders kochen könnte. Genauso wie die Polen staunen, wenn man ihnen erzählt, dass es ihr Bigos in anderer Reihenfolge im Elsass gibt. Einziger Unterschied neben einigen Zutaten: In Polen schnippelt man alles Fleischerne klein und mischt es unter.

Unterschiedlich sind allerdings auch die Methoden, Kraut verdauungsfreundlich zu kochen. Es liegt in den meisten Fällen nicht an Milchsäureunverträglichkeit, wenn ein Sauerkraut im Bauch herumkollert wie Kanonenkugeln. Es wurde dann schlicht entweder nicht lang genug gesäuert oder gefälscht (mit Essig) und nicht schonend genug zubereitet. Vitamingurus werden stöhnen, aber ein zu saures oder frisches Sauerkraut wässert man erst ein paar Mal im Sieb gut durch, bis es milder geworden ist. Man lässt es gut abtropfen und dünstet es auf kleiner Flamme so lang wie möglich. Dünsten in Weißwein nimmt zusätzlich Unverdaulichkeit. In Osteuropa verwendet man gegen den sauren Eindruck Zucker, was ich persönlich als Unding empfinde - reine Symptombekämpfung.

Die Polen sind Meister in der Länge der Zubereitung, denn Sauerkraut schmeckt aufgewärmt immer besser. Meine Freunde schwärmten, so ein Bigos sei am besten, wenn es eine Woche lang immer wieder erwärmt worden sei und die einzelnen Bestandteile sich völlig miteinander verbunden hätten. Leider kann ich das nicht beschwören, nach spätestens drei Tagen war auch der größte Topf leergegessen. Und weil ich gestern wieder das Vergnügen hatte, vor allem mit echten wacholdergeräucherten polnischen Würsten, hier mein Rezept. Das Verhältnis zwischen Fleisch und Kraut schwankt, mache nehmen 1:1, manche 1:2. Man kann auch in den Mengen zwischen Fleisch und Wurst variieren und Wurst durch geräuchtertes Geflügel ersetzen.

BIGOS

Zutaten in etwa-Angaben (man kann nach Geschmack variieren):
ca. 800 g Sauerkraut
400 g Fleisch (traditionell Kalb + Schwein gemischt, aber auch Lamm, Rind, Wild und geräucherte Gans / Ente)
100 g Räucherspeck
knapp 200 g würzige polnische Kochwürste (Ersatz: Cabanossi oder Krakauer o.ä.)
150 g Zwiebeln
Schmalz (ich verwende dafür am liebsten Enten- oder Gänseschmalz, auf keinen  Fall Öl nehmen)
etwas Mehl
50 ml trockener Rotwein
40 g Tomatenmark
ca. 60 g getrocknete Waldpilze (oder entsprechend viel frische)
10 große getrocknete Pflaumen
wer mag: zwei säuerliche Äpfel in Stücken, z.B. Boskop
Salz, Pfeffer, Lorbeerblätter, Majoran, Knoblauch, Wacholderbeeren, Piment
Schwerer, gut verschließbarer Topf, kein Aluminium

Mein Geheimtipp: In den russischen Mix-Märkten gibt es echtes schlesisches Sauerkraut made in Poland, bei dem auch etwas geraffelte Karotten mitvergoren werden. Man muss es nur einmal kurz wässern, es ist schön mild und vor allem wunderbar würzig!

Zubereitung
Die gewässerten Pilze und Pflaumen (letztere wässere ich in Rotwein oder verwende die feuchten in Frankreich) in feine Streifen schneiden. Fleisch, Speck und Zwiebeln würfeln, die Würste in Halbmonde schneiden. Das leicht mit Mehl bestäubte Fleisch in etwas Schmalz anbraten und bräunen, dann den Speck dazu auslassen und zuletzt die Zwiebeln damit glasig braten. Mit Rotwein ablöschen, Pilze, Würste und Pflaumen zugeben, Tomatenmark einrühren und würzen. Beim Würzen dran denken: Es muss auch für das Kraut reichen! Unter diese Mischung das abgetropfte Kraut heben, alles gut vermengen und auf kleiner Flamme mindestens zwei Stunden schmoren, besser drei bis vier. Immer wieder umwenden. Und wie gesagt: Im Idealfall verlängert man das Rezept so, dass man es immer wieder aufwärmen kann! Sollte es so trocken werden, dass es anhängt, einfach mit einem neuen Schluck Rotwein nachhelfen.

Deutschen Gesundheitsfanatikern sei gesagt, dass es nach einem Lauf in der Winterkälte oder einer Runde Holzhacken nichts Schöneres gibt als ein dampfend heißes Bigos. Und wer - auch beim elsässischen Kraut - den Löffel echtes Apfel-Zwiebel-Enten/Gänse-Schmalz weglässt, der wird sich ewig vergeblich fragen, woher dieser eigentümlich leckere Geschmack wie bei Großmuttern bei anderen wohl kommen mag...
Smacznego!

22. November 2010

Welten öffnen sich

Heute hätte ich gern einen Tag mit mindestens 72 Stunden, muss aber leider wegen "Hirnüberflutung" und Fingerkrampf zwangsweise zum Feierabend greifen. Es ist einer dieser Tage, die ich zu Ungunsten von "Brotjobs" gern öfter erleben würde, weil sie mich fühlen lassen, dass Schreiben die schönste Berufung der Welt sein kann.

Ich sitze fleißig am "Projekt Nijinsky", nicht an äußerlichen Herstellungs- und Technikfragen, sondern am Text. Und weil die ursprüngliche Geschichte ja als Hörbuch mit Musik recht kurz ausgefallen war (etwa 100 Normseiten), hatte ich beschlossen, dem Buch noch einen zweiten Teil zukommen zu lassen. An diesem zweiten Teil arbeite ich nicht ganz alleine. Eine spontane Schnapsidee hatte mir eingegeben, mich an ein paar Fachleute zu wenden, die in spannenden Bereichen nicht nur sehr viel mehr wissen als ich, sondern auch durch völlig andere Ansätze neue Horizonte öffnen können.

Zunächst habe ich geglaubt, mit ein paar Gesprächen wäre das geschafft und der Text könnte sozusagen "in die Tastatur geklopft" werden. Im Moment bereite ich gerade eins der Gespräche vor und staune, was ich noch alles lesen muss, um die richtigen Fragen stellen zu können. Das habe ich dann auch ausgiebig gemacht und noch mehr gestaunt. Obwohl ich glaubte, über Nijinsky ziemlich alles gelesen zu haben, was es an Material in den mir erreichbaren Sprachen gibt, entdeckte ich den Tänzer heute wieder von einer völlig neuen Perspektive aus. Schuld daran war meine eigene Aufgabenstellung, sein Leben durch recht ungewöhnliche "Speziallupen" zu betrachten. Das relativiert eine Menge Wissen, wie es gern unendlich und ohne Nachfragen von einer Schrift zur nächsten hinüberzitiert wird - und es wirft neue Fragen auf.

Ich musste aber noch ganz anderes recherchieren. Wenn man sich nämlich mit intelligenten und interessanten Fachleuten auseinandersetzt, sollte man sich zuerst mit deren Arbeit und Zugang zum Thema beschäftigen. Man muss versuchen, Sie darin ein wenig kennenzulernen und sich ihnen zu nähern. Ach, waren das noch Zeiten, als die Journalistin im Redaktionsbüro gerade mal zwei Stunden Zeit hatte, um sich auf ein Interview vorzubereiten, das anschließend in einer halben Stunde "heruntergerissen" wurde! Aber was kommt bei einer solchen Arbeitsweise heraus? Fürs Lokalblatt mag das reichen.

Obwohl die ersten Fragen bereits entworfen sind, muss ich noch Einiges vorarbeiten. Ganze Welten öffnen sich da; Einblicke, die allein Stoff für weitere Bücher abgäben. Jedes Gespräch verändert auch mich, schenkt mir Erlebniswelten dazu. Trotzdem muss ich diszipliniert am Thema bleiben, mich genau konzentrieren. Ich sollte kein Pulver verschießen, solche Leute fragt man für ein Buch nur einmal. Aber frage ich nicht Dinge, die sie schon hunderte Male gefragt worden sind? In welchen Fragen läge wirklich Neues, was brächte Erkenntnisgewinn? Welche Fragen würden Nijinsky von ungewöhnlichen Seiten beleuchten und neue Facetten zutage fördern? Was fasziniert mein Gegenüber besonders, was fasziniert mich? (Möge daraus Faszination bei den Lesern reifen).

Jedes dieser Gespräche fühlt sich an wie ein völlig neuer Kosmos, wie eine Parallelwelt zum bisherigen "Buch". Natürlich wird aus den Gesprächen anschließend erst ein Text wachsen müssen. Auch das öffnet Welten: andere formale Textarten, unterschiedlichste Themenbereiche und Persönlichkeiten - und ich eher als Werkzeug denn als Erfinderin. Irgendwie werde ich diese Facetten zusammenführen, wie die Marionettenspielerin den Überblick behalten, den roten Faden beständig in alle Richtungen ziehen müssen. Aus dem Gewebe entsteht langsam nebenher ein einleitendes Essay.

Und so wird dieses Buch ähnlich wie die Ballets Russes nicht nur eine einzige "Kunstform" darbieten. Aber genau deshalb braucht es wie im Theater seine Vorhänge an den richtigen Stellen, sein verknüpfendes Bühnenbild. Im Buch nennt man das Layout, Fotos sollen das Gesamtbild rhythmisieren und verbinden. Und das ist ein zusätzliches Vergnügen, das ich so in meiner Laufbahn noch nicht hatte: Ich selbst entscheide, welche Mittel ich wie einsetze, um ein Ganzes zu gestalten. Mich hindern weder irgendwelche Reihenkonzepte noch festgeschriebene Usancen - allenfalls die Preise der Fotorechte. Ich schreibe nicht nur Inhalte in der ihnen adäquaten Form, ich schaffe auch die äußere Form für diese Form.

Es ist ein wunderschönes Gefühl, so zu arbeiten - fast, als würde man bildhauern. Da muss eine Menge an Anatomie studiert werden, stundenlang und tagelang gefeilt werden - aber wenn man langsam eine Ahnung davon bekommt, was man aus dem Stein wachsen lässt, ist das ein unvergesslicher Moment. Immer wird es anders als die Vision, der Plan, den man vor Augen hatte. Denn so ein Stein ist etwas Lebendiges. Man muss mit seinen gegebenen Strukturen und Farben umgehen. Mit ihm in einen Dialog treten.

Ein wenig macht mich mein Stein atemlos, weil er sich so wild und unvorhergesehen bewegt. Ich habe längst nicht mehr den Eindruck, zielgerichtet und planvoll meinen Meißel anzusetzen. Es scheint mir eher dieser sich bäumende Stein selbst zu sein, der dafür sorgt, dass mir der Meißel an die richtigen Stellen rutscht. Ich recherchiere und denke und unterhalte mich und denke und schreibe. Aber im Grunde schreibt mich das Buch...

21. November 2010

Fotos aus Denkheften

Im Moment wird noch hart am Text für das Nijinsky-Projekt gearbeitet - denn zum eigentlichen Kerntext kommen ja noch einige Bonbons hinzu. Für all diejenigen, die mir dabei einmal über die Schulter schauen wollen, habe ich ein paar Fotos von meinen Textarbeiten hier online gestellt. Die Sauklaue war natürlich ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Und ich hoffe, die Musiker unter meinen Lesern verschlucken sich beim letzten Foto nicht allzusehr vor Lachen...
Links repariert!

20. November 2010

Laut gewünscht

Da will ich unbedingt auch mal hin. Ich geh mal dran arbeiten, wünschen allein nützt ja nichts...

Des Kaisers neue Kleider

Kürzlich scherzte ich wieder einmal mit einem Theologenfreund über das Zitat "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist...". Er meinte, man könne diesen Satz unmöglich auf den Buchmarkt beziehen, ich würde das völlig falsch verstehen. Ich konterte, in der PR würde man das so lesen: "Wenn jemand partout angelogen werden will, tu ihm den Gefallen (und schieb ihm damit die Wahrheit unter)." In konkreten Fall also etwa so: Verrate nie bereits im Exposé, dass in deinem Buch ein starker Mann vorkommt, wenn sie alle starke Frauen wollen. Stell um Himmels willen eine starke Nebenfrau in den Vordergrund, die das Vorkommen der noch ungenannten männlichen Figur erzwingt. Der Kaiser will das so, gib es ihm.

Es gibt in jedem Beruf Insidertipps, wie Entscheider betrogen werden wollen, weil sie die Wahrheit sofort ablehnen würden. Journalisten und leider auch immer häufiger Feuilletonisten fliegen z.B. noch vor allen Inhalten mit Vorliebe auf fette Jubiläen, Promis, Hochaktuelles und Skandalöses. Und wenn man das alles nicht bieten kann, biegt man die Pressemitteilung eben so lange zurecht, bis sie mindestens einen saftigen Punkt davon enthält. Deutschsprachige Verlage investieren immer noch lieber in teurere Lizenzen plus Übersetzung, wenn das ausländische Buch über gute Blurbs verfügt. Der deutschsprachige Autor, der in diesem Bereich nicht zitierfähig, also vermarktbar ist, kann noch so gut, noch so billig sein - keine Chance. Also - auch das ist kein Geheimnis mehr - werden Blurbs mit abenteuerlichsten Methoden "hergestellt". So manches auf Buchrücken gedruckte irische oder südfranzösische oder slowakische Provinzblatt entpuppt sich bei der Suchmaschinenanfrage als Fiktion. Der Fantasie im Aufputschen eines Buchprojekts sind keine Grenzen gesetzt - auch wenn ich hier natürlich maßlos übertreibe und die Wirklichkeit ganz hehr und seriös ist...

Wahr ist dagegen die Geschichte, die Andrea Costatine mit einem selbstverlegten Buch erlebt hat. Die Frau hat nämlich ein Problem: Sie ist in der PR tätig. Wie ich am eigenen Leib erfahren kann, hat dieser Beruf den Nachteil, dass man all die Kaiser so sieht wie die Könige in ihren neuen Kleidern. Je unlogischer und wahnwitziger die Absagen oder Kaufentscheidungen von Verlagen werden, desto irrsinniger werden die Ideen, die man als PR-Maxe und Autor bekommt. Bei Andrea Costatine kam die Idee mit einem Zeitungsauftrag, für den sie Agenten interviewen sollte. Was, wenn einer von denen ihr selbstverlegtes Buch an einen echten Verlag verkaufen könnte?

Die Voraussetzungen waren miserabel, das sieht man schon am Cover (Link oben). Trotzdem fragte sie frech alle Interviewpartner - und eine Agentin blieb schließlich übrig. Dumm nur, dass das Werk unverkäuflich war. Also schrieb sie das Buch noch einmal um, gewann ein paar regionale Preise - und hatte keine Lust mehr. Das würde nie etwas mit einem Verlag. Aber dann hat die PR-Frau etwas gemacht, was von der Frechheit im Ansatz her wahrscheinlich ziemlich amerikanisch ist - doch ich wette, die Dollarzeichen in den Augen hätten auch unsere Verleger. Kein Verlagsmensch kauft freiweillig ein selbstverlegtes Buch ein - die wenigen Märchengeschichten kommen etwa so häufig vor wie der Erfolg von Harry Potter & Co. Und sie haben eines gemeinsam: Diese Selbstverleger haben große Umsätze und Auflagen vorzuweisen. Natürlich verdienen Verleger gern mit am großen Kuchen, dachte sich unsere Amerikanerin.

Die Idee ist so frech wie einfach: Sie lancierte eine Buchpremiere fürs Selbstverlegte - im Internet. Und zwar richtig professionell aufgezogen bis hin zu den Werbegeschenken - so wie man das normalerweise für ein neues Haarspray oder den Designerföhn machen würde. Die PR-Aktion kostete sie fünf Monate Arbeit und ging für unsere Begriffe auch über Schmerzgrenzen, in den USA ist man da unempfindlicher. An einem festgesetzten Tag war es so weit: Das Buch hatte Premiere, die Käufer wurden belohnt.

Dann hat sie etwas gemacht, was man gar nicht machen darf. Sie hat etwas gemacht, von dem man glauben könnte, es würde ihr als Autorin für alle Zeiten den Hals brechen. Weil Agenten und Verlage nämlich gierig nach Profitmöglichkeiten und Auflagenhöhen schielen, hat sie eine Mailingliste mit einschlägigen Adressen den ganzen Tag mit Screenshots von Amazon genervt. Dort ging das Buch natürlich durch die lang vorbereitete Aktion ab wie eine Rakete. Natürlich waren einige Mailinglistenempfänger wütend. Aber genügend fragten das Buch an und sie bekam dadurch sowohl Agent als auch einen Verleger.

Costatines Fazit ist brutal: Von der Idee bis zum Verlag brauchte sie ganze zehn Jahre. In der Zeit hätte sie das Buch natürlich dreimal verlagsreif überarbeiten können und sich direkt bewerben. Der Aufwand wird sich kaum gelohnt haben, weder von der Energie her, noch finanziell. Vor allem aber waren ihre rasenden Abverkäufe ein Trick, eine gut geplante Manipulation des ohnehin nicht aussagekräftigen Amazonrangs. Sie hatte einfach darauf gesetzt, dass auch Verlage auf Amazon und Profitversprechen schielen, obwohl sie es besser wissen müssten. Im Grunde hat sie die Leute bei der Gier gepackt.

Nein, es ist nicht schön, sich ein wenig mit PR auszukennen und gleichzeitig Bücher zu schreiben. Man kommt dadurch auf immer abstrusere Ideen. Wenn Bücher einfach wie Zahnpasta auf den Markt gepfeffert werden, weil die Firma glaubt, Zahnpasta würde schon jeder automatisch kaufen, dann ist es manchmal Zeit, das eigene Projekt zum Zahnweißer zu tunen und mindestens ein gekauftes Hollywoodgebiss vorzuweisen. Wer so geil nach Dingen schielt, die mit Literatur nichts mehr zu tun haben, der verdient es nicht besser, wenn Autoren immer frecher tricksen... Gebt's dem Kaiser, wenn er es nicht anders will, sage ich mit frechem Grinsen in Richtung meines Theologen ;-) Aber schlecht wird mir bei solchen Stories trotzdem.

19. November 2010

Das prägendste Buch

Aus dem dumpfen Hören heraus erwuchs das Wort. Die Form wurde einleuchtend durch das unvergessliche Wort. Caspar schmeckt das Wort auf der Zunge, er spürt es bitter oder süß, es sättigt ihn oder lässt ihn unzufrieden. Auch hatten viele Worte Gesichter; oder sie tönten wie Glockenschläge aus der Dunkelheit; oder sie standen wie Flammen in einem Nebel.
Diese Worte stammen aus meiner derzeitigen Bettlektüre, einem der bedeutsamsten Bücher in meinem Leben. Der Buchdeckel hat eine Art Salamimuster, weiß geprägt stehen Titel und Autor in einer Jugendstil-Vignette, das Vorsatzpapier zeigt stilisierte weiße Blumen auf schilfgrünem Grund, die ich als Kind "wollige bollige Maiglöckchen" nannte. Denn als Kind hielt ich dieses Buch zum ersten Mal in Händen. Erschienen ist meine Ausgabe 1908 in der Deutschen Verlags Anstalt: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens von Jakob Wassermann.

Als Schriftsteller kommt man nicht zwingend aus belesenen Familien. Meine Eltern besaßen so gut wie keine Bücher. Zu den Bändchen mit Lederrücken, die der Buchclub seinen Mitgliedern anbot, kamen ein paar uralte Schmöker, die mein Vater vor dem Müll rettete, aber sichtlich nie las. Es gab ein verbotenes Regal, in dem ich besonders gern heimlich schmökerte (Diderot: Die Nonne) und ein Regal namens "dafür bist du noch nicht alt genug." Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als mir Wassermanns Roman in die Hände fiel, auf alle Fälle erntete ich ein "das kannst du unmöglich schon verstehen und lesen auch nicht." Bei Letzerem irrten sie sich - Frakturschrift mussten wir zu meiner Zeit noch an der Bibel lernen und ich hatte sie an den "Müllbüchern" geübt.

Wie viel ich von dem Roman verstand, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich genau an das Gefühl einer völlig unerwarteten Erfahrung: Dieser Roman weitete das kleine Regal meiner Eltern hinaus in eine fremde Welt voller Geheimnisse und unendlich vieler begehbarer Räume. Ich fühlte mich wie der Caspar Hauser, der aus seinem dunklen, sinnesarmen Verlies plötzlich hinauskommt in eine Welt, die durch ihre Buntheit und Lebendigkeit zunächst verschreckt und einen doch wie ein Sog immer weiter hinauszieht in dieses Land des Wissenwollens. Dieser Roman hat mich die Wunder einer Bibliothek spüren lassen, hat mir verraten, dass in Büchern ganze Kosmen versteckt sind, dass darin das Leben tobt, dass ich darin Menschen begleiten kann, von deren Existenz ich nichts ahnte. Dieses Buch mit den "wolligen bolligen Maiglöckchen" ließ mich den Büchern mit Haut und Haaren verfallen. Auch dieses Buch las ich heimlich, oft mühsam im Stehen, damit ich es bei sich nähernden Schritten schnell ins Regal zurückschieben konnte.

Sicher war dieses heimliche Lesen auch ein Faktor, warum ich büchersüchtig wurde. Es war schon ein wohliges, manchmal triumphales Gefühl, wenn man sich durch Welten kämpfte, die angeblich noch nichts für kleine Kinder waren. Wenn man Jahre später in diesen noch unverstandenen Welten neue Welten entdeckte, diesmal vielleicht mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, weil man nachts gefälligst zu schlafen und nicht zu lesen hatte. Einige dieser "für Kinder verbotenen Schriftsteller" brachten mich zum wahren Lesen. Jakob Wassermann ist einer der wenigen, den ich nie vergaß, den ich mehrmals gelesen habe und nun mit völlig anderen Augen wiederentdecke.

Es ist kaum zu glauben, welchen Bestseller ich da in Händen halte. Jakob Wassermann (1873-1934), der mit Kollegen wie Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler befreundet war, zählte zu den erfolgreichsten und meistgelesenen Schriftstellern seiner Zeit. Zeitweise soll er sich besser verkauft haben als Thomas Mann. Er galt als ein großer Erzähler mit seinen historischen Romanen und Biografien, aber auch als wichtiger Essayist mit seinen Themen wie Judentum, Antrirassismus und Kampf gegen den Antisemitismus. Deshalb teilte er das furchtbare Schicksal vieler jüdischer Schriftsteller. Seine Werke wurden 1933 verboten. Wassermann starb bereits im Jahr darauf, seelisch gebrochen und völlig verarmt. Ihm blieb das Schlimmste erspart, aber sein Werk fiel nach dem Krieg umso mehr in völlige Vergessenheit.

Als man es schließlich wiederbeleben wollte, scheiterten die Neuauflagen an einem Zeitphänomen. Ohne die Kenntnisse der Epoche und entsprechende Vorbildung empfanden die modernen Leser seine Bücher als zu exaltiert oder moralisierend. Nur noch wenige Menschen sind heute bereit, sich in den Stil einer anderen Zeit einzulesen und die Größe der Geschichten dahinter zu entdecken. Wer sich auf Wassermanns faszinierende historische Romane einlässt und diese mit den Büchern vergleicht, die sich heute so nennen, wird verstehen, welch kosmisch tiefe Abgründe da in den Leserköpfen klaffen.

Da ich in meiner Jugend viele Romane aus dem 19. Jahrhundert und dem beginnenden zwanzigsten gelesen habe, ist "Caspar Hauser" trotz Frakturschrift und trotz vielleicht aus der Mode geratenen Stilismen immer noch das gleiche Faszinosum wie in Kinderzeiten. Das ist nicht nur ein historischer Roman, das ist ein psychologischer obendrein, eine feinsinnige Charakterzeichnung ohnehin - vor allem aber auch ein ungeheuer philosophisches Buch. Wassermann schafft es, in einer Geschichte, die zuweilen krimihafte Züge hat und mit Sensationslust spielt, über das Wesen des Menschen nachzudenken. Caspar ist nicht nur der geheimnisvolle Fremde, der die Bürgerlichen zwingt, mit Fremdheit und Anderssein umzugehen - er ist auch die menschliche Unschuld, nach der sich die anderen Protagonisten sehnen, die ihnen Angst macht, die sie bekämpfen oder zu erhalten suchen. Das ist ein großer Roman über die Conditio humana.

Wenn ich den Roman heute mit Schriftstelleraugen lese, lerne ich wieder von Neuem davon. Ich erkenne, wie wir uns zweifach von unseren eigenen erzählerischen Wurzeln abgeschnitten haben und abschneiden. Das größte Verbrechen war zweifelsohne das Bücherverbot durch die Nazis, das so unselig viele Jahrzehnte nach 1945 nachwirkte. Die deutschsprachige jüdische Literatur war einer der größten Kulturschätze und eines der wichtigsten Fundamente unserer Sprache. Wenn wir heute darüber jammern, dass die Amerikaner so vieles so viel erfolgreicher schreiben, sollten wir innehalten und daran denken, dass dort nahtlos an die Emigrantenliteratur angeschlossen werden konnte. Dort haben die Migranten die Literatur in den schlimmsten Zeiten befruchtet. Dieser Bruch lässt sich nicht mehr kitten und nur noch mühsam aufarbeiten.

Aber da ist noch ein zweiter Bruch, der aus dem ersten folgt. In den Elternhäusern, den Schulen im deutschsprachigen Raum lernen wir keine Kontinuität der literarischen Traditionen. Immer weniger Leserinnen und Leser sind bereit oder überhaupt genügend gebildet, um sich auf ältere Literatur und Sprache einzulassen, auf ungewöhnliche und sehr individuelle Bücher. In einem Massenmarkt, in dem man sogar Stilistik und Formen zu handlichen Baukastensteinchen plattklopft, ist wenig Raum für Versuche. Und so entgeht einem manche spannende Geschichte, die auch heutige Autoren wieder befruchten könnte. Und sei es nur dadurch, dass sie sich daran reiben. Dabei gab es den historischen Roman schon einmal - und er war so ganz anders. Wer in diesem Zusammenhang Namen wie Thomas Mann, Lion Feuchtwanger oder Leo Perutz nennt, sollte Jakob Wassermann nicht vergessen.

Lesetipps:
Anm.: Der einstige Caspar schreibt sich in neueren Texten mit K. und hat sich heute als Kaspar eingebürgert.

    18. November 2010

    Was einem so fehlt

    Schriftsteller und Übersetzer liegen im Frühling auf der Blumenwiese, im Sommer am Pool, im Herbst unterm Tisch in der Winzerstube und im Winter auf dem Eisbärenfell vor dem Kamin. So ähnlich stellen sich viele Menschen das faule Künstlerleben der Buchschaffenden vor. Vor allem solche, die mich ernsthaft immer wieder fragen: "Was machst du eigentlich den ganzen Tag, du schreibst doch nur?" Irgend etwas mache ich offensichtlich gründlich falsch (und eine Menge Kolleginnen und Kollegen ebenfalls).

    Das Katastrophenjahr 2010 setzt in meiner aktiven Erinnerung mit Schneeregen aus. An meinem letzten Tag, an dem ich vorsätzlich beschließen konnte, zu Hause zu bleiben und nichts zu tun, gab es heftigen Schneeregen. Und dann rauschten Frühling und Sommer nur so an mir vorbei und jetzt wäre ich eigentlich bereit für einen schönen Herbst. Also habe ich mich heute förmlich herausgequält in diesig-grauer Düsternis und bin auf den Bergkamm zugefahren, den man vor lauter Schleiern auch am Mittag noch nicht sehen konnte. Im Elsass hatten wir bei sechs Grad diese Art Wetter, die selbst mein winterharter Hund nicht schätzt. Aber es hat sich gelohnt: Im zweiten Gebirge scheinte die Sonne!

    Etwa 33 Kilometer bin ich für ein duftendes, frisches Brot gefahren. Natürlich verbinde ich ein solches Luxusbrot mit einer gesamten Route voller Genüsse; dem Bauern mit Kürbissen und neuem Wein, dem Grossisten für Hundefutter, dem Bauern mit frischem Gemüse und eben all dem, was man in Frankreich nicht mehr so bekommt. Es ist schon komisch - immer noch fallen am Wochenende und an Feiertagen deutsche Touristen in unsere Supermärkte ein, aber sie kommen von immer weiter her und seltener. Die an der Grenze wohnen, kennen die Misere. Frankreich im Alltag ist ein Land von Mikrowelle und Convenience Food geworden. In den Schulen gibt es für die Kinder Schmeckkurse, weil sie keine Natur mehr wahrnehmen können. Und von all dem panierten Mist mit künstlichen Füllungen in den Kühltruhen kann einem der Appetit langsam vergehen.

    Das ist auch besser so. Denn mir ist es ein Rätsel, wie sich Franzosen mit Durchschnittsgehältern überhaupt noch etwas zu Essen leisten können. Wer kann, fährt nach Deutschland und ernährt sich für etwa ein Drittel des Preises (Supermarkt, Bauer ist noch billiger) frischer, vielfältiger und gesünder. Dumm ist nur, dass man die Zeit zum Herumfahren nicht immer hat - jedenfalls nicht, wenn man schreibt oder übersetzt und an Terminarbeiten sitzt. Mein Spruch vom leeren Kühlschrank hat in diesem Jahr leider schon traurige Berühmtheit erlangt - bis ich gelernt hatte, dass man auch die schrägsten Sachen zur Not einfrieren kann und damit Vorräte schafft. Aber nach jedem Terminstress muss ich einfach hinaus!

    Meine "Fressroute" führt mich wie viele Elsässer über Wissembourg am deutschen Weintor vorbei in die Südpfalz. Dort gibt es nicht nur die großen Supermärkte auf der grünen Wiese und Roccos Lieblingshändler für getrocknete Tierohren und Pansen (Richtung Landau), dort kann man auch beim Türken (Schweigen-Rechtenbach) leckere Sächelchen erstehen, die es in Frankreich nicht gibt: Mohn etwa oder feinen, weißen Balsamico-Essig. Auf dem Rückweg fahre ich dann nicht in den deutschen Grenzsupermarkt, der wie eine Währung klingt und in dem nicht nur Elsässer einkaufen, sondern auch arbeiten. Denn da kauft man schlicht nur all die Ware billiger, die Franzosen essen: Baguette, Wurst, Fertigcroissants für die Mikrowelle. Ich biege lieber vorher links ab, in Richtung Schweighofen.

    Und das ist auch gleich mein erster Genussort. An jeder Ecke gibt es einen Hofverkauf, Wein sowieso, Schnaps und Liköre aus den urigsten Zutaten - und jede Menge frisches Gemüse und Obst, Kürbisse in unzähligen Sorten, Obstsäfte und neuen Wein in der Saison. Das so großzügig angebotene Probieren sollte man sich wegen der Flics auf dem Rückweg verkneifen (in Frankreich ist schon bei 0,3 Promille Schluss) und lieber fragen, welcher neue Wein wie süß oder britzelig ist - und ob heuer der rote oder der weiße eher zu empfehlen sei. Zum Glück gibt es für die Vergesslichen auch die Kanister gleich an Ort und Stelle zu kaufen. Je nach Saison schwelgt man in diesem Dorf in Erdbeeren und Spargel, Pflaumen oder Äpfeln, Kräutern und hier und da einer Spezialität wie Bärlauch oder Brunnenkresse. Überhaupt ist es ein ganz anderer Hochgenuss, sich den Jahreszeiten entsprechend zu ernähren und Lebensmittel zu essen, die so gut wie keinen Transport hinter sich haben und nur ganz kurz gelagert werden.

    Zu diesem Zeitpunkt ist mein Auto schon vollgeladen, aber es geht weiter, an Kapsweier vorbei. Ich habe nie begriffen, ob das Dorf noch Kapsweier heißt oder schon Steinfeld, jedenfalls werde ich die Abzweigung Richtung Kirche (und Karlsruhe) nie mehr vergessen! Ich kam hier einmal zufällig durch, weil ich mich verfahren hatte. Der Magen hing mir damals in den Knien. Und wie ich den Dorfplatz sah und die Kirche, hatte ich das unbedingte Gefühl: Hier muss doch noch irgendwo ein richtiger Dorfbäcker sein!

    War er auch. Seither fahre ich meilenweit für mein Brot und damit sich das Benzin lohnt, packe ich damit die Kühltruhe gleich voll. Baguette zum Käse oder zur Suppe ist ja ganz lecker. Aber wer wie ich mit Sauerteigbrot aufgewachsen ist, hat Baguette schnell über. In jenem pfälzischen Dorf also gibt es noch richtig mit Natursauerteig nach traditionellen Rezepten gebackene Brote ohne irgendwelchen Zusatzstoffedreck. Herrliche Blechkuchen mit Riesenstücken, wie sie auch die Oma nicht besser bäckt - immer frisch, immer etwas anderes. Heute waren Aprikosenstreussel, Käsekuchen und handgemachte Lebkuchen dran. Am Wochenende gibt es die Genüsse, die schon die Kaffeetafeln unserer Großmütter zierten. Es ist ein winziger Bäckerladen mit manchmal riesigen Schlangen von Kunden.

    Ich bin wohl schon bekannt dort als die Frau mit den Kugelaugen, die auf Vorrat Unmengen Brote einkauft und ganz besonders glücklich guckt, wenn es noch Kosakenbrot gibt. Das wird nämlich nicht jeden Tag gebacken. Und ich bekomme deshalb ein strahlendes Kindergesicht, weil ich dieses Brot in dieser Qualität zum letzten Mal als Kind gegessen habe. Im Badischen, wo ich herkomme, hat man diese einst traditionelle Brotsorte längst vergessen, sind die richtigen Bäcker den Bäcker-Fastfood-Stores gewichen.

    Ich bin längst nicht mehr die Einzige, die beim Pfälzer ihr Brot einkauft - Elsässer Kennzeichen sieht man immer öfter, aber auch aus der Pfalz kommen sie weiter angefahren. Heute allerdings erlebte ich den Rekord: Eine Frau kaufte für knapp 200 Euro Brot und Kuchen. Mit Kisten belud sie ihr Auto - Kennzeichen Rastatt. Ich musste grinsen - das ist die Stadt mit den Fastfoodbäckern, wo man ein gutes Kosakenbrot nur noch in einem Laden bekommt - nämlich beim Russen.

    Es lohnt sich, so eine Fahrt - wenn man sich die Zeit nimmt und vor allem nehmen kann. Anstatt sich teuren Dreck voller Konservierungs- und Aromastoffe "einzuwerfen", endlich wieder die Düfte und Geschmäcker schon beim Einkaufen erleben... Die Elsässer haben hier eindeutig den Anschluss verpasst. Wo Maismonokultur das Land kaputt macht und mittlerweile Einfalt auf den Tellern herrscht, ist es mit Hofverkäufen nicht weit her. Sicher, da gibt es die feinen Ziegenkäse in Mattstall bei Lembach oder Obersteinbach. Aber auch das sind Entfernungen. Und wer fährt dann schon für ein, zwei Käse dreißig Kilometer, wenn dazwischen die kulinarische Leere gähnt?

    Natürlich habe ich vor, mein Elsassbuch wieder neu aufzulegen. Aber nach sechs Jahren hat sich doch einiges sehr verändert, ist so manche Idylle nicht mehr vorhanden. Anderes ist entstanden. Zum Glück habe ich zeitlose Themen behandelt und keine Restaurants empfohlen, die längst pleite sind. Aber ich merke, es wird Zeit, solche Bücher sehr viel grenzüberschreitender anzupacken...


    Was ist ein Kosakenbrot?
    In den Sechzigern und Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts (wie das klingt) war es eine der alltäglichsten Brotsorten in Baden und in der Pfalz; ein Natursauerteig-Brot mit sehr hohem, fein vermahlenem Roggenanteil (in der Regel 90% mit 10% Weizenmehl, oft aber 100%), das mit Roggenmalz dunkler getönt werden konnte. Gebacken wird es kastenförmig, darüber wölbt sich eine absolut knusprige Kruste. Das Brot selbst ist innen wunderbar feucht-weich und durch den Natursauerteig schön locker mit gleichmäßigen Poren.
    Der höchste der Genüsse ist für mich eine Scheibe dieses frischen Roggenbrots mit Butter und ganz dick echtem Bühler Zwetschgenmus!
    Was es mit Kosaken zu tun hat, habe ich nie herausfinden können, aber wahrscheinlich eignet es sich für lange Pferderitte in ferne Länder - es hält nämlich unwahrscheinlich lange frisch.
    Bon appetit...

    17. November 2010

    Brüller bei neobooks

    Da wir's gerade vom Selbermachen haben und von den Großverlagen, die inzwischen massiv in dieses Geschäft investieren ... es gibt da diese Plattform neobooks, die auch mich schon vergeblich zu gewinnen suchte. Obschon in der offenen Betaphase, geistert es seit Wochen durch Blogs (hier und hier und hier): Eine im Grunde gute Geschäftsidee reibt sich an den Realitäten und liest sich inzwischen wie so manche Foren im Web, ohne dass jemand die Sicherheitsleine zieht.
    Dass aber Autoren und Rezensenten jetzt zeigen, wie man ein System ad absurdum führt, das hat es wahrscheinlich in der Geschichte aller Beta-Versionen noch nicht gegeben: Sabrina Kirnapci präsentiert in ihrem Blog ein absolut bestsellerverdächtiges Machwerk. Ich finde, Droemer-Knaur sollte sich diesen Autor sichern, zumindest mit einem Beraterhonorar. Denn Humor haben sie offensichtlich.

    Checklisten für Hersteller-Suche

    Weiter geht's in der Serie "Ich bastle ein Buch" - trotz Titel natürlich auf professionellem Niveau; d.h., man muss auf Dinge achten, die einem bei einer Hobbybastelei auch einmal egal sein dürfen.

    Thema Auswahl des Herstellers - gar nicht so einfach! Ich lese mich seit etwa drei Wochen durchs Internet und wäge ab, wäge weiter... Deshalb möchte ich einfach eine Checkliste von Fragen vorstellen, die man sich dabei selbst stellen sollte.

    Sehr wichtig: Lest genauestens alles Kleingedruckte, auch wenn das Tage dauert und manchmal allzu gut versteckt wird. Aber schon dadurch trennt sich so manche Spreu vom Weizen. Außerdem lohnt es sich, in den Foren, die manche Hersteller anbieten, zu schnüffeln. Hier entdeckt man so manchen Haken, sollte aber auch beim Lesen der Beiträge gegen den Strich bürsten: Nicht immer liegt der Fehler bei demjenigen, dem er zugeschoben wird. Und schließlich sollte man fleißig gugeln - auf diese Art findet man ebenfalls den ein oder anderen Erfahrungsbericht, sogar in Bewertungsplattformen. Ein Paradebeispiel, das ich bei BoD im Forum gefunden habe, illustriert außerdem anschaulich, dass fremde Augen mehr sehen als eigene und der Alleingang nicht immer der einfachste ist.

    Das Kleingedruckte
    • Wird transparent kommuniziert, was genau in welchem Paketpreis enthalten ist? Kann ich die Pakete übersichtlich vergleichen?
    • Gibt es versteckte Folgekosten, die nicht im Paketpreis enthalten sind? (z.B. für Datenhaltung)
    • Werden Zusatzkosten offen und deutlich kommuniziert oder auf der Website versteckt? (z.B. für Lektorat, Buchsatz, Datenhaltung etc.)
    • Enthält das gewählte Paket wirklich alles, was ich brauche? (z.B. ISBN, Barsortiment etc.)
    • Wie lange laufen die Verträge? Wie schnell kann ich vorzeitig kündigen und kostet das Geld?
    • Welche Nebenrechte gebe ich im Vertrag ab? (Manche Hersteller nehmen sich automatisch (!) z.B. Ebook-Rechte)
    • Wie frei bin ich, andere Buchformate bei anderen Herstellern herauszugeben? (z.B. PoD-Print plus Kindle-Version)
    • Wie komme ich aus dem Vertrag, falls ein herkömmlicher Verlag mein Buch übernehmen will?
    • Sind die Autorenverträge auf der Website einlesbar oder müssen sie mühsam beschafft werden?
    • Was tut der Hersteller selbst, um die Bücher sichtbar zu machen und zu vertreiben?
    Checkliste gegen Pleiten, Pech und Pannen

    Hand aufs Herz: Was kann ich wirklich - wo brauche ich professionelle Hilfe? Forenlektüre zeigt, dass hier die Fehlerquelle Nr. 1 liegt. Die eigenen Fähigkeiten sollte man nie überschätzen - selbst Profis, die täglich Texte lektorieren, wissen, dass man sich selbst am schlechtesten korrigiert. (Die meisten Verlagsautoren arbeiten z.B. im Tausch mit Kollegen, bevor sie ein Manuskript abschicken.) Flexible Hersteller bieten eher Bausteine als Großpakete an, bei denen ich Leistungen auch einzeln dazubuchen kann, selbstverständlich gegen Aufpreis.

    Sind die Handbücher / Anleitungen des Herstellers verständlich geschrieben und leicht zu beschaffen? Habe ich wirklich alles verstanden und korrekt gemacht? Habe ich die passende Software und kann ich mit ihr auch im Problemfall umgehen? Lieber zweimal zu viel in Foren oder bei Kollegen fragen als eine fehlerhafte Datei hochladen!

    Wie gut erhältlich sind die Bücher? Wie lange sind die Lieferfristen? Die Frage der Distribution ist die wichtigste überhaupt. Da in der Regel PoD-Bücher nicht im Buchhandel ausliegen, müssen zumindest der Direktvertrieb über den Hersteller und der Bestellvorgang im Handel reibungslos laufen! Hier empfehle ich trotz oder gerade wegen vollmundiger Werbung der Hersteller den Praxischeck. Man nehme drei oder vier völlig unterschiedliche Titel eines Herstellers (Belletristik, Sachbuch, Outsiderthema, Bestseller) und schaue erst einmal in der Suchmaschine, ob sie schnell auffindbar und prominent gelistet sind. Dann kommt der Test in den bekanntesten Online-Läden, natürlich bei Amazon (bei PoD-Verfahren wichtig), aber auch im stationären Buchhandel bei einem kleineren unabhängigen Buchhändler und in einem Ketten-Laden. Neben der Titelsuche sollte man online auch die Stichwortsuche überprüfen: Wenn ich "Nähmaschine+surfen+ Buch" suche, kommt dann überhaupt ein Eintrag zum Buch "Mit der Nähmaschine durchs Internet"?

    Man sollte sich informieren, ob der Hersteller nur bei libri und amazon gelistet ist oder auch die Barsortimente einschließt. Ebenfalls wichtig ist das Renommé des Herstellers, wenn man einen Buchhändler überzeugen möchte, ein Buch in den Laden zu stellen. Außerdem checken: Die Höhe und Wirtschaftlichkeit der Preise im Autoreneinkauf für Exemplare, die man selbst weiterverkaufen möchte, etwa bei Lesungen. Natürlich spielt die Preisgestaltung eine eminent wichtige Rolle auch dann, wenn man sie selbst machen kann. Ein Großteil der PoD-Titel, vor allem in der Belletristik, überschreitet schlicht die Schmerzgrenzen, die im Buchhandel üblich sind.

    Wie zugänglich ist der Hersteller im Problemfall? Es gibt Hersteller, die wie große Maschinerien arbeiten; es gibt Paketpreise, bei denen Beratung oder eine Hotline grundsätzlich nicht eingeschlossen sind. Es gibt aber auch Hersteller, die Fragen gegenüber offen reagieren. Wie viel Betreuung brauche ich und was ist sie mir wert?

    Finger weg von DKZV! Ich dachte immer, die Warnung sei im Zusammenhang mit PoD-Verfahren überflüssig, aber leider sieht die Realität anders aus. Viele Druckkostenzuschussverlage machen sich nämlich die Naivität von Hobbyautoren zunutze, indem sie behaupten, PoD-Hersteller würden ja schließlich auch Geld für alle möglichen Leistungen nehmen und eine Druckerei biete ebenfalls Dienstleistung. Hier hilft ein Blick aufs Preisniveau! Seriöse PoD-Anbieter berechnen höchstens die marktgängigen Preise für Premiumleistungen wie Lektorat oder Grafik, aber nur eine kleine, ebenfalls marktübliche Summe für die Herstellung (die PoD-Produktion für Bücher ohne Extras wird von vielen sogar kostenlos angeboten und über den Verkaufspreis abgerechnet). Kein Vergleich also zu den Tausenden von Euro, die DKZV ihren Kunden abschwatzen, und die noch weit über den Kosten liegen, die ich privat der Druckerei ums Eck zahlen müsste. Also Augen auf und Preise vergleichen! Vor allem sollte man sich vorher bei Fairlag kundig machen, um nicht den falschen Anbietern aufzusitzen.

    Seriöse PoD-Hersteller sind keine DKZV! Ich glaubte, auch das müsse man nicht sagen. Solange aber selbst "gestandene" Autorenkollegen (und vor allem die) in Autorenforen auch im Jahr 2010 noch naiv herumtönen, PoD-Verfahren (Print on Demand) und Selbstverlegen seien per se anrüchig und so etwas wie Druckkostenzuschuss, muss man auch das richtig stellen: Blödsinn! PoD ist lediglich eine Druck- und Herstellungstechnik, so wie man auch Bücher im Offset herstellen kann. Man bekommt das in vielen Druckereien, aber eben auch bei spezialisierten Anbietern. Und weil so viele Menschen zusätzlich Profis für die Gestaltung und Herstellung brauchen (übrigens auch "gestandene" Autoren) sind hier manchmal typische Verlagsaufgaben angegliedert. Selbst Verlagskonzerne wie Holtzbrinck (epubli) sind sich nicht zu schade, als PoD-Hersteller und -Plattform zu fungieren.

    PoD-Technik wird heutzutage auch von renommierten Verlagen genutzt, um Nischenbücher oder Backlists im Handel zu halten. Die Technik ist eine preiswerte Alternative für wissenschaftliche Arbeiten und Fachbücher. Autoren renommierter Verlage nutzen sie, um eigene Backlists zu schaffen oder Nischenthemen herauszugeben. Und ganz im Gegenteil zum Usus vergangener Jahre sind selbstverlegte Bücher - sofern professionell und erfolgreich - kein "Schmuddelkind" mehr bei herkömmlichen Verlagen und Literaturagenturen! Absoluter Karrierekiller und das Aus in der seriösen Buchbranche ist dagegen das Buch im DKZV.

    Bin ich fähig und bereit, Werbung für mein Buch zu machen? Wer sein Buch selbst verlegt, muss damit leben, dass es zumindest in diesen Zeiten nicht auf irgendwelchen Stapeln in Buchläden liegen wird und seltenst in einem Schaufenster. Zwar kann man solche Bücher (sofern der Autor an die ISBN etc. gedacht hat) meist recht einfach bestellen, aber sie bleiben unsichtbar. Unsichtbare Bücher kauft niemand. Ich muss mir also lange vor der Herstellung Gedanken machen, wie ich das Buch an die Leser bekommen könnte. Bereits "sichtbare" Autoren (mit Büchern in guten Verlagen) haben es leichter. Das Einstellen allein beim Hersteller und Amazon bringt jedenfalls nur ein paar jämmerliche Zufallsverkäufe. Kommt dazu, dass sich das herkömmliche Feuilleton meist gegen Bücher sperrt, die bei PoD-Herstellern erschienen sind. Das heißt aber nicht, dass man gar keine Presse bekommt - man muss sich nur andere Zeitungen und vor allem andere Themen und Herangehensweisen suchen.

    Das Thema Buch-PR und die Suche nach möglichen Kanälen und Strategien ist so komplex, dass ich es hier nicht ausgiebig bearbeiten kann. Logisch ist, dass Sachbücher sehr viel mehr Anknüpfungspunkte für Aktionen bieten als Belletristik oder gar Genre. Im Gegensatz zum Massenmarkt hilft es sogar, wenn die Nische besonders speziell ist - man findet sein Zielpublikum manchmal leichter. Ein schönes Beispiel, wie so etwas beim Sachbuch funktionieren kann, ist FRA-MUC-FRA. Das Problem der Buch-PR betrifft übrigens auch Autoren, die in herkömmlichen Verlagen die Presseabteilung unterstützen müssen oder gar für diese einspringen, weil sie keinen Spitzentitel bekommen. Und so mancher Autor im "echten" Verlag zahlt privat eine eigene PR-Agentur...


    Ich verrate wahrscheinlich nicht zuviel, wenn ich sage, dass ich bereits von verschiedenen Seiten darauf angesprochen wurde, ob ich mein Wissen in Sachen PR und Journalismus nicht mal teilen könnte. Darauf gibt es eine einfache Antwort: Ein Blog reicht dazu nicht, ich müsste schon ein ganzes Buch schreiben. Warum eigentlich nicht? Vorher will ich aber den gesamten Test am eigenen Leib erfahren! Noch klingt ja alles so schön, noch haben sich die schlimmsten Fallstricke nicht manifestiert ... es geht also weiter in dieser Serie!

    16. November 2010

    Geschenke zum Fürchten

    Nachdem endlich wieder alle Mitmenschen aus dem alltäglichen Stress in den noch aggressiver machenden Weihnachtseinkaufsstress abkippen und allüberall die Lichtlein dank Atomkraft blitzen, sollte ich passend zu meinen Blogthemen auch ein paar Geschenke vorschlagen. Nun feiere ich selbst ja kein Weihnachten. Außerdem leide ich im "offiziellen" Christmas-Country Alsace zunehmend fast körperlich an den disneyhaften Schrecknissen, die das Fest hier mit sich bringt. Heuer gab es die ersten weihnachtlich geschmückten Häuser immerhin schon Mitte Oktober und das Zeug löst die Karnevalsluftschlangen nahtlos ab. Manchmal auch erst die Ostereier. Was tut man nicht alles für die Touristen! (Irgendwann schreibe ich einmal ein Elsass-Weihnachtshasser-Buch inklusive Fotos, sonst glaubt mir das keiner).

    Was gibt es also Schöneres, als Dinge zu empfehlen, die genauso geschmacklos sind? Zumindest Tante Erna mit ihrer Nippesvitrine kann man damit glänzende Äuglein beibringen! Ganz im Zeichen der Ballets Russes und des französisch-russischen Kulturjahres bin ich Richtung Osten einkaufen gegangen. Den egoistischen Grund gestehe ich zuerst: Ich war (erfolgreich) auf der Suche nach den herrlichen Rosenschals, die in Mulhouse kaum bezahlbar sind. Und habe mich beim Surfen so köstlich amüsiert, dass ich dieses Amusement teilen möchte.

    Da wäre beispielsweise bei ausbleibender Gehaltserhöhung eine besonders kunstreiche Art, mit einem kleinen Mibringsel dem Chef  zu sagen, was man wirklich von ihm hält. Natürlich mit Stempel und Sigille - versteht sich. Was aber schenkt man einer Frau, die man womöglich so gut nicht kennt? Schön soll es sein, vor allem praktisch und nicht zu verfänglich. Ganz genau - man schenkt dasselbe, was auch Apotheken, Banken und die Post in aller Herren Länder als Dreingabe bereit halten, aber die russische Version für die Frau ziert wenigstens eine nackte Frau!

    Wer um die Weihnachtszeit ausgerechnet eine heiratet, langweilt sich womöglich schnell. Darum bekommt der Bräutigam ein ganz besonderes Auto geschenkt. So kann er schon einmal üben, wie man auf dem Boden herumrutscht, stilecht natürlich. Die besseren Exemplare der Gattung beschenkt man mit dem, womit alle echten Mannsbilder gurgeln: einem waschechten Wodka. Nur sollte es zu Weihnachten nicht irgendeiner sein. Wenn schon Leberschaden, dann bitte mit den richtigen Rückständen: 24 Karat Gold.

    Manche Geschenke sind so witzig, dass sie schon wieder gefallen. Wie wäre es mit dem Nachdruck eines sowjetischen Agitationsplakats von 1925? Die bekopftuchte Dame sagt in etwa: "Wenn du keine Bücher liest, wirst du zum Analphabeten!" Recht hat sie. Eine niedliche Figurine dagegen erklärt mir sofort die engen historischen Verbindungen zwischen Russland und Frankreich, respektive dem ebenfalls Sauerkraut verschlingenden Elsass mit seinen Malossol-Gurken. Wenn man genau hinschaut, ist das doch eine Elsässerin mit einem Kougelhopf in den Händen, oder brauche ich eine neue Lesebrille?

    Nein, diese Figürchen sind einfach zu niedlich. Dann ärgern wir doch lieber Tante Erna mit den schlimmsten Matrioschkas dieser tierischen Welt!

    Trotzdem habe ich natürlich meine Rosenschals gefunden. Und eine wundervolle Entdeckung in einem Handelskonsortium zwischen Frankreich und den CEI-Ländern obendrein gemacht: Einen Buchladen, in dem man aus all diesen Ländern weltweit Bücher bestellen kann. Aus DREISSIG Ländern. Slavika ist nicht nur ein Eldorado für Slavisten, sondern führt auch jede Menge zweisprachige Bücher. Theoretisch sollte es dort die Originalausgabe von Nijinskys Tagebüchern geben und nicht nur die französische Fassung...

    Wer weder Nijinsky im Original lesen will, noch Tante Erna in Rosenschals einhüllen, der bleibe im eigenen Land und ernähre sich redlich. Pardon, der verspeise besser edle Papierrosen. Die machen etwas her und halten ewig. Bis zum nächsten Weihnachtsbaum-Wohnungs-Brand.

    Disclaimer: Ich wurde von keinem dieser Läden in irgendeiner Weise für die Werbung bestochen, nicht einmal von dem, durch den ich selbst gnadenlos Reibach mache (wer suchet, der findet).

    Wohin mit all der Zeit?

    Es soll Autoren geben, die den ganzen Tag nichts besseres zu tun haben, als stündlich auf die Amazonränge ihrer Bücher zu schauen. Und da kleben sie dann an den geheimnisvollen Zahlen, starr wie das Reh vor dem Jäger, und geheimnissen noch mehr hinein. Schluss damit! "Writingwoman" Petra A. Bauer hat sich die Mühe gemacht "Insides the Amazon Sales Rank" auf Deutsch in ihrem Blog zusammenzufassen. All diejenigen, die dieses Ranking-Gestarre schon immer idiotisch fanden, seien getröstet: Kaffeesatzlesen bringt exaktere Überblicke. Wer den Glauben an das Amazongetue dann endgültig verlieren will, dem empfehle ich, seine Bücher bei Novelrank einzugeben. Das System braucht eine Weile, bis es Zahlen ausspuckt, idealerweise einen ersten Buchverkauf, dann setzt es die Ränge in absolute Zahlen um. Und das ist dann so ernüchternd, dass man sich lieber an den - korrekten - Verlagsabrechnungen erfreut.

    Nun soll es aber auch Autoren geben, die ständig bei Amazon vorbeisurfen und im gleichen Atemzug behaupten: Ich will nur Bücher schreiben, ich habe keine Zeit für anderes. Nun - Zeit ließe sich je nach Prioritäten schon anders einsetzen. Sinnvoller zum Beispiel. Andere Künstler machen es uns längst vor, dass Klappern zum Handwerk gehört und von "reiner Kunst" noch keiner gelebt hat - geschweige denn bekannt wurde. Diejenigen, die sich da am meisten hineinknien müssen, sind die Popmusiker. Und von denen können wir uns tatsächlich einiges abschauen, vor allem, wie man online seinen Song sein Buch bekannter machen kann.

    Die Popakademie Mannheim hat einen kostenlosen Leitfaden zum Download bereitgestellt: Online Künstler-Selbstvermarktung. Natürlich geht es über große Strecken um Musikspezifisches wie z.B. Distributionskanäle. Doch die Tipps für Social Media, für den Umgang mit Kunst und Kommerz und das Spannungsfeld dazwischen sind absolut aufs Schreiben übertragbar. Hilfreich die Checklisten und Fragen zu den einzelnen Bereichen, mit denen man seine eigene Strategie überprüfen kann. Und wer ein wenig Fantasie besitzt, übersetzt GEMA mit VG Wort, macht seine eigenen Listen von Buch-Distributionskanälen und überlegt sich, auch einmal ungewöhnliche Wege zu beschreiten. Warum, zum Teufel, sollte man auf Lesungen oder der Website eigentlich nicht das T-Shirt zum Buch anbieten?

    Und wer jetzt jammert, warum es einen solch hilfreichen Leitfaden nicht für Autoren gibt, der sollte einige Kolleginnen und Kollegen erst einmal aus ihren einsamen Kämmerchen scheuchen. Da drinnen streitet man nämlich immer noch ums genialische Weltbild vergangener Jahrhunderte, wo der böse böse Kommerz die hehre Kunst ahahachso töhötet. Und natürlich sind Leute, die solche Tipps geben würden, auch grundböse oder haben es ahahachso nötig. Lernen wir derweil also von den anderen Künsten!

    15. November 2010

    Russische Weihnacht

    Lust auf einen ganz besonderen Ausflug nach Russland ins Elsass? Im Nijinsky-Blog empfehle ich eine sehr besondere Ausstellung im elsässischen Mulhouse, in die man hier hineinschauen kann. Als ich die Ankündigung bei 3land.info (für Ausgehtipps zu empfehlen) entdeckte, bekam ich richtig Gänsehaut: Die Ballets Russes kommen sozusagen stofflich zu mir!

    Ich gestehe, als Sinnenmensch bin ich auch eine kleine Stoff-Fanatikerin - wenn ich in Strasbourg bin, führt mich mein erster Gang immer in die Stoffkaufhäuser von Toto. Ich kann zwar nur geradeaus nähen, bin aber trotzdem verrückt nach Farben, Mustern und Texturen. Klar, dass ich diesmal die Kilometer bis Mulhouse dranhängen muss, denn eine so einmalige Ausstellung "ums Eck" kommt so schnell nicht wieder.

    Wer Weihnachtsmärkte liebt, sollte sich die Adresse ganz besonders merken. Ich schrieb ja bereits 2004 in meinem Elsass-Buch, dass die einst wunderschönen elsässischen Weihnachtsmärkte in großen Teilen zu Plastikkitsch und Asienware verkommen sind - mit wenigen Ausnahmen. Das Stoffmuseum Mulhouse nun inszeniert einen Weihnachtsmarkt ganz im Zeichen der Sonderausstellung - mit viel russischen Stoffen und von den Ballets Russes inspirierten Handarbeiten.

    Aber so verführerisch die Fotos zum Hingreifen animieren, so rate ich doch jedem Besucher, eine gut gefüllte Brieftasche mitzunehmen. Es ist nämlich ein wenig wie zur Zarenzeit, als Russen und Franzosen gemeinsam die schönen Dinge des luxuriösen Lebens produzierten: Marken wie Petrusse, Beauvillé oder Caspari zählen auch heute zu den Nobelherstellern dieser Welt. Aber es soll ja auch Karten, Glas, Deko und Weihnachtskugeln geben...

    Mehr über die Ausstellung in deutscher Sprache gibt es hier.

    PS: Mit Grauen habe ich entdeckt, wie viele Online-Läden in Frankreich Russisches verkaufen (manche sogar Frauen) - man muss also nicht nur die Brieftasche, sondern auch die Kreditkarte festhalten, wenn man z.B. für Rosenstoffe schwärmt...

    14. November 2010

    Geschichten in 4D

    Ich werde immer mal wieder von Kollegen - nicht nur einem - gefragt, warum ich mich mit Zukunftsmusik beschäftige, von der noch gar nicht sicher ist, ob sie sich durchsetzen wird. Ich könnte doch in dieser Zeit lieber ein ganz normales Buch "geradeaus" schreiben. Das Lustige ist: Ich konnte noch nie geradeaus schreiben. Auch wenn ich noch nicht verraten kann wie, und es noch sehr primitiv ist angesichts der Mittel, binde ich bereits beim Nijinsky andere Menschen ein. Um von meiner Faszination für transmediales Erzählen am "lebenden Beispiel" zu sprechen, muss ich allerdings ausholen.

    Ich bin Synästhesistin mit mehrfachen Sinnesverknüpfungen. Als ich fünf Jahre alt war, wollte ich dringend all die Geschichten aufschreiben, die ich von Tulpen und Insekten hörte, aber dazu brauchte ich eigenes Werkzeug. Es gab nämlich unterschiedlich gefärbte Erzählungen und obendrein fettige, dürre, kalte Geschichten. Eine Osramschachtel (Licht!) mit bunten Wachsmalkreiden und Buntstiften war mein ständiger Begleiter. Erst in diesem Jahr fielen mir ein paar dieser "Texte" wieder in die Hände und ich war überrascht: Das angebliche Krikelkrakel wies verblüffende Ähnlichkeiten mit Fragmenten echter Buchstaben auf. Und wenn ich jetzt die Farben dazu sehe, weiß ich wieder genau: Aha, das war damals die Geschichte vom Schmetterling, die sich so fettig-gelb angefühlt hat.

    Leider hielt man in meiner Kindheit und Jugend Synästhesie für eine Geisteskrankheit, so dass ich wie viele dieser Generation schnell lernte, die Begabung zu verstecken und Wahrnehmung "gesellschaftsfreundlich" zu filtern. Mein übelstes Erlebnis war ein Biologielehrer im Gymnasium, der uns erzählte, Synästhesie sei wohl bald heilbar, man denke daran, Teile des Gehirns lahmzulegen... In jener Zeit entdeckte ich die Bilder von Wassily Kandinsky und war mir sicher, dass der Maler seine Bilder genauso gehört haben musste wie ich (Kandinsky war in der Tat auch Synästhesist). Doch ich konnte mit niemandem darüber sprechen. Erst mit den Büchern des Neurologen Richard Cytowic erfuhr ich in Erwachsenenjahren, dass es sich dabei um eine Begabung handelte, mit der man nicht nur künstlerisch ziemlich viel anfangen kann. Es fühlte sich an wie ein geschenktes zweites Leben.

    Endlich musste ich mich nicht mehr verstecken und konnte in die Vollen gehen. Da entstand nur ein anderes Problem, an dem sich viele synästhetische Künstler abarbeiten. Ich kann zwar jemandem erklären, dass ich bei einem bestimmten Bordeauxgeschmack pflaumenfarbene Theatervorhänge über meine Arme streichen fühle, aber das ist allenfalls kuriose Partybelustigung. Der andere kann das ja nicht nachfühlen. Doch Kunst kann auch das unmöglich Scheinende sichtbar und fühlbar machen. Wie wäre es also, eine künstlerische Form der "Übersetzung" zu finden? Ich las mit heißen Ohren in Kandinskys theoretischen Schriften - und lese immer noch und immer wieder darin, weil ich dieses Bestreben erkenne, die Sinnesverknüpfungen nicht nur sichtbar zu machen, sondern auch eine Art künstlerischer "Parallelwelt" zu schaffen.

    Und ich habe mich viel mit der Theorie vom Gesamtkunstwerk beschäftigt, vor allem in der Utopie Richard Wagners. Die Ballets Russes nehmen mich unter anderem deshalb so gefangen, weil sie ein wirkliches Gesamtkunstwerk auf die Bühne brachten und ins Leben - man konnte sie ja sogar in all den Parfums damals riechen. Nijinskys Choreografie des Sacre hat unwahrscheinlich starke synästhetische Wirkungen. Wie wunderbar musste das sein: endlich eine Kunstform finden, in der man sich ganz ausdrücken konnte, nicht immer nur mit einem einzigen, abgefilterten Sinn! Alles übereinanderlappen, verschmelzen, verschränken ... wie im echten Leben.

    Das eigentliche Problem beim Schreiben merkt man mir nämlich nicht an. Ich kann gar nicht "normal" schreiben. Rechtschreibung, die mir verquer läuft, sticht grellblau in den Ellenbogen. Praktisch, weil ich dadurch seltenst den Duden brauche; unpraktisch, weil manche neue Regel auch sticht. Figuren entstehen nicht nach Biografiemustern, sondern sind einfach da und müssen sich dann richtig anfühlen, ihre Dialoge müssen die richtigen Farben haben. Oszilliert einer falsch, muss der Sprachrhythmus geändert werden. Was ich schreibe, ist für mich eine Welt in 4D, absolut plastisch und wie bei einem Film mit Untertiteln ständig von einer anderen Sinnesdimension begleitet. Natürlich kann ich als Schriftstellerin Gefühle, Farben, Gerüche und andere Sinneseindrücke vorführen - aber Text ist insofern eindimensional, als ich jeden für sich nur nacheinander behandeln kann. Ich kann meine Leser nicht in "gleichzeitige" Welten führen. Ich fühle mich in dieser Kunstform behindert.

    Während ich also meine "geradeaus"-Bücher eins nach dem anderen veröffentlichte, suchte ich fieberhaft nach neuen Formen. Ich eckte schon mit meinen Romanen an. Als der Verlag beschloss, diese nicht in Schubladen einzuordnenden Bücher zu Frauenromanen zu machen, wehrte ich mich heftig. In Frauenromanen muss man völlig in die Geschichte abtauchen können, das muss in einem Fluss erzählt werden, damit das Abtauchen gelingt. Und genau das kann und will ich nicht. Ich brauche harte Schnitte, Bilder, Zwischenräume und Rhythmen, um wenigstens ein Gefühl von 2D zu haben.

    Bei meinen Experimenten war mir das Internet die erste große Offenbarung. Während größerer Online-Recherchen bemerkte ich nämlich, dass ich mir unwahrscheinlich viele Linkabzweigungen, die ich genommen hatte, fotografisch merken konnte. Aha, die Seite über A liegt fünf Links hinter Seite X, die ich vorgestern angeschaut habe. Ich erlebe das Internet räumlich. Während ich surfe, enstehen in meinem Kopf dreidimensionale "Landkarten". Man kann sich das ein wenig vorstellen wie Google Earth, bei dem Satelliten nicht die Erde, sondern das Internet von außen und innen gleichzeitig fotografieren würden. Und in einer vierten Dimension liegen darin die unterschiedlichen Medien: Fotos, Filme, Texte... Schon in den Neunzigern beschäftigte ich mich mit den abstrusesten Möglichkeiten, diese Techniken in der Kunst zu verwenden und womöglich irgendwann etwas Mehrdimensionales wie das Synästhesie-Erleben erschaffen zu können. Ich war hin und weg, als die ersten 3-D-Programme entwickelt wurden. Die "normale" Welt da draußen war um eine Dimension reicher geworden: die Virtualität. Heute würde keiner mehr über Virtualität lachen.

    Ein zweiter Aha-Effekt war für mich ein Buch, das ich für eines der besten der letzten Jahre halte. Unrast von Olga Tokarczuk. Wer die Bücher der preisgekrönten polnischen Schriftstellerin kennt, wird wissen, dass sie mit den herkömmlichen Formen der Literatur und des Erzählens in einer sehr eigenen Weise bricht. Am ehesten könnte man ihre Romane als Collagen unterschiedlicher Textformen beschreiben, die durch ihre Klebungen und Schnittränder wiederum selbst Geschichten erzählen. Vieles, was man bei Tokarczuk liest, liest man aus seinem eigenen Kopf heraus, zwischen den Zeilen und Brüchen. In ihrem Buch "Unrast", wo es ja auch um das Labyrinth unserer Zeit geht, macht sie das so meisterhaft, dass man das Gefühl hat, kein Buch zu lesen, sondern virtuell eine Welt zu durchsurfen, bei der man an jeder Stelle mit einem neuen Klick entscheiden könnte, sich in andere Zeiten und Räume zu begeben. Da war er wieder, dieser Traum vom Gesamtkunstwerk...

    Und jetzt stehe ich vor weiteren technischen Möglichkeiten, vor neuen Experimenten im Schreiben, vor der Möglichkeit, dass noch gar nicht alles erfunden ist, was Erzählen ausmachen könnte. Auch die Leser verändern sich. Sie konsumieren unterschiedliche Medien in sich ständig verändernden Wahrnehmungsweisen. Virtualität ist für mindestens eine Generation längst Selbstverständlichkeit in der Erfahrung von Welt und Wirklichkeit. Die Zukunft wird groß und weit und vielversprechend.

    Ich stehe in einer aufregenden Küche, in der es verführerisch duftet, in der sicher so manche Suppe anbrennt und so manches Gericht bei den Gästen gar nicht ankommt. Aber ich kann plötzlich mit anderen Gemüsen kochen, mit anderen Zubereitungstechniken und mir all diese Kücheninstrumente zu eigen machen, um endlich mein eigenes Süppchen kochen zu können. Es ist ja nicht so, dass mich die Technik überrollt: Ich bin der Küchenchef beim Schreiben.

    Im Moment brodelt es tüchtig, zumal ich endlich Muse habe. Da ist ein uraltes belletristisches Projekt, das ich bestimmt schon zehn Jahre mit mir herumschleife. Ursprünglich ist es aus einem jämmerlichen und vor allem lachhaften Versuch eines Mysteryromans entstanden und ich frage mich heute noch, wie ich auf diese dumme Idee kommen konnte. Über die Jahre veränderten sich dann die Personen, der Titel, der ganze Plot, die Schreibweise. Nur das Thema blieb hartnäckig. Aber der Roman, der inzwischen literarisch geworden war, wollte einfach nicht.

    Natürlich habe ich die übliche Häme dafür kassiert. Komm endlich zu Potte; schreibe weniger im Blog, dann wäre das Buch längst fertig; vielleicht kannst du's einfach nicht - bleib beim Sachbuch. Aber das war es gar nicht. Irgendwann bewarb ich mich mit den Texten - natürlich vergeblich - bei einem sehr renommierten Stipendium und wusste im gleichen Moment, als der Brief eingeworfen war: Solltest du das Stipendium bekommen, musst du absagen. Die Schreibweise dafür ist nicht die für deine Geschichte. Wieder Häme: jaja, so redet man sich das schön...

    Aber da hatte sich längst der Hauptgegenstand des Projekts auf eine Bühne verirrt - in eine völlig andere Geschichte. Ich habe das tun müssen, ohne zu wissen, warum. Plötzlich hatte sich meine Buchwelt geöffnet, ein Gegenstand voller Geschichten aus einem Roman steht real auf der Theaterbühne in einer anderen real gespielten, erfundenen Geschichte. Mit einem Kollegen dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, wenn jeweils eine feste Figur von uns in den Büchern des anderen auftauchen würde. Als die ersten "Social Media Bücher" auftauchten, kam mir die blödsinnige Idee, wie es wäre, wenn ich mir diesen Gegenstand aus meiner Geschichte von wildfremden Menschen "aufladen" lassen würde. Und eines Tages, in diesem Jahr, wühlte ich in fremden Kisten und entdeckte mit Händen einen Teil meiner erfundenen Geschichte, die so garantiert fiktiv war und doch plötzlich zu einer realen, unbekannten Geschichte wurde, die auch mich betraf. Einer, der Parallelwelten entwirft, wäre glücklich über diesen Plot gewesen.

    Es gibt wahrscheinlich Kilometer Text zu diesem alten Projekt, größtenteils in den Weiten virtueller Mülleimer verschwunden. Weil ich von Anfang an wusste, ich kann diese Geschichte nicht "geradeaus" erzählen. Jetzt weiß ich, dass gerade die Möglichkeiten entstehen, die Geschichte so zu erzählen, wie sie es verlangt. Ich kann diesen zentralen Gegenstand nicht nur auf eine Bühne stellen, ich kann ihn sogar weitergeben, etwas damit machen lassen, ihn verleihen, ihn befüllen lassen, ihn sehen und hören lassen, ihn zum Kunstobjekt machen, als Alltagsgegenstand in der Ecke vergessen, Geheimnisse darin verbergen... Und endlich sieht es so aus, als wäre dies nicht nur in der einen Dimension des Buchs möglich, sondern in vielen anderen gleichzeitig. Wir sind womöglich dabei, den Zeitfaktor von Geschichten auszuhebeln. Ich kann sogar als Küchenchef meine Gäste einladen und jeder bringt etwas mit. Meine Gerichte würden auf die Gewürze und Zutaten der Gäste reagieren, sich verändern. Geschichten würden mit Geschichten reden und in den Zwischenräumen neue Geschichten gebären...

    Ich fürchte, ich überfordere mit diesen langen Ausführungen manche Blogleser - denn ich fürchte, mein "Herumgedenke" liest sich ganz schön wirr und verstiegen. Keine Angst, es wird auch wieder ganz coole theoretische Sachbeiträge geben. Aber so ist das nun mal mit den Sabbatsemestern: Man hat Zeit, endlich einmal all das Ungedachte zu denken. Und so ein öffentliches Blog kann ein herrlicher Think Tank sein - ich freue mich immer auf Austausch! (Vielleicht gibt's da draußen ja noch mehr "Verrückte", die Küchen umbauen?)

    PS: Wer den Wikipedia-Beitrag über Synästhesie liest - Vorsicht, der folgt teilweise sehr einseitig einem Autor namens Simner. Synästhesie hat mit dem Savant-Syndrom nichts zu tun. Wissenschaftler versuchen lediglich, durch den Vergleich den unbekannten Phänomenen auf die Spur zu kommen. So wie man Sprachforschung am Hirn betreibt, indem man Sprachgestörte untersucht. Sehr viel besser ist der Artikel in der englischen Wikipedia.