Seiten

31. August 2010

Danke, Derain!

Ich kann mich gerade überhaupt nicht konzentrieren, weil der Text für die Übersetzung im Original passagenweise "mou" ist - "schwammig"  ... Dazu muss ich noch zu viel nachschlagen, weil nicht ganz klar ist, über welches Museum Monsieur Derain gerade frohlockt. In solchen Momenten langweile ich mich. Surfe in Sachen Museum herum, dann fällt mir ein Bild ein und dann passiert es: Das Nijinsky-Cover ist so gut wie gerettet. Ich bin doch tatsächlich über ein wirklich gemeinfreies Gemälde gestolpert (noch kann ich das nicht ganz glauben) und über eine zeitgenössische Portraitzeichnung eines Petersburger Künstlers obendrein. Was mir außerdem die glorreiche Idee eingab, später einmal direkt in russischen Museen zu stöbern und Preise zu vergleichen - wozu gibt es schließlich Internet.

Noch bin ich von dem Bild nicht ganz so begeistert, aber es hat etwas ganz Besonderes. Obwohl in der Anfangsphase der Ballets Russes entstanden, wirkt es wie eine Vision der Zukunft Nijinskys. Und vor allem hat es noch keiner in diesem Zusammenhang verwendet. Meine grafische Seite probt vor dem geistigen Auge bereits Farben, Titel, Gestaltung. Die brave Arbeiterin in mir kehrt zur Übersetzung zurück.

Meine LeserInnen mögen sich inzwischen mit Kurt Tucholskys Blick auf die Ballets Russes vergnügen - da er seit mehr als 70 Jahren tot ist, darf man ihn in voller Länge mit Quellenangabe zitieren. Er schrieb den Beitrag in der Schaubühne 1914, in dem Schicksalsjahr, in dem Nijinsky die Ballets Russes verlassen musste:
Kurt Tucholsky / Peter Panter: Russisches Ballett
Die Schaubühne
, 19.03.1914, Nr. 12, S. 347, gefunden bei Zeno.

Russisches Ballett

Ach, Nijinsky, wo bist du? Jedenfalls nicht bei dieser gottverlassenen Truppe. Die schöne Dekoration im ›Geist der Rose‹ erinnert noch an dich, und die Kostüme des ›Karneval‹, den die Slawen damals so deutsch herausbrachten, daß man das Land, das Schumann mit Seele und Musik ersehnte, noch mehr liebte denn je. Damals sprangst du noch herum; du tanztest nicht, obgleich du das konntest. Du tatest irgend etwas andres – man begriff auf einmal, was dieses Springen und Hüpfen zu bedeuten hatte. Und letzten Endes gibt es ja nur ein Kriterium in allen Künsten: die Gänsehaut.

Das ist lange her. Heute vermißt man dich umso schmerzlicher, als Fokin dich ersetzen möchte. Fokin, der immer aussieht wie der Märchenprinz der kleinen Matzke aus dem ›Schlaraffenland‹! Nein, damit ist es nichts. Das Theater (am Nollendorfplatz) allein war nicht schuld. Obgleich in der einen Loge die Harfe saß (nicht etwa die Pauke); obgleich der Kapellmeisterbart die Szenerie verdeckte, obgleich alles so kümmerlich aussah. Was ist aus euch geworden? Das war doch früher nicht. Nicht diese süßlichen Posen, diese Attitüden des Zirkusballetts: »Kommt, Mädchen, laßt uns eine Gruppe bilden!«; nicht diese gezwungenen Stellungen mit neckisch geneigten Köpfchen; nicht diese Finales, die aufgehen wie eine Regeldetri. Was ist euch die Musik? Ihr tanzt doch zuckrig und kümmert euch nicht darum, obs Chopin oder Weber oder Arensky ist. Wo habt ihr das früher getan: malerische Trachten, wie sie das schlechte Varieté liebt, zur Schau zu tragen? Wo hättet ihr früher so unbedenklich gekitscht? Gewiß, ihr könnt noch alle tanzen. Einmal sogar, in einem Narrentanz, sehr gut: wie da alle bei einem dumpfen Celloton in der Luft schwebten! Und doch . . .

Wo bist du, Nijinsky! Komm, lege noch einmal deinen Schleier nieder, und siehe: er wurde zum Weib, weil du es wolltest. Fahre noch einmal wie ein buntes Rad unter die Tanzenden! Ach, Nijinsky, wo bist du?

Noch mehr Bücher...

Leute, die keine Bücherlisten mögen: wegschauen!
Leute, die gern einmal andere Verlage kennenlernen würden, die nicht unbedingt in Buchhandelsketten in Stapeln liegen: hinschauen!
Die Hotlist 2010 der Independent Buchverlage ist soeben fertig, sie unterteilt sich in eine Liste der Jury und eine Publikumsliste, die durch Abstimmung im Internet zustande kam. Aus beiden Listen gemeinsam wird der Gewinner des mit 5000 Euro dotierten Buchpreises der Hotlist 2010 ermittelt werden.

Es lohnt sich, auf der Website durch alle Bewerber zu stöbern - viele Verlagsperlen sind da zu entdecken!

30. August 2010

Es tropft der Zahn...

Seit bestimmt zehn Jahren suche ich vergeblich nach einer Einkaufsquelle für Barszcz-Konzentrat oder Zurek-Sauer. Eingeweihte der polnischen Küche werden wissen, wie unverzichtbar diese Zutaten dafür sind. Sogar im Internet habe ich schon öfter vergeblich gefragt. Und der Appetit wächst und wächst und wächst.

Jetzt bin ich kürzlich auch noch von Arbeitskollegen zu einem polnisch-russischen Fest verdonnert worden (das kommt davon, wenn man ständig von seinen Buchprojekten erzählt). Nun gibt es zwar in elsässischen Supermärkten nachgemachte "Malossol"-Gurken, aber das ist auch schon alles. Sollte ich jetzt  noch im Wald Pilze suche gehen und die selbst marinieren? Was hab ich gesucht ... die lieben geladenen Gäste wollen es nämlich "echt" haben.

Tja, von wegen Social Media. Da muss man einfach nur Onkelchen fragen, woher er die verdammt guten Würste hat. Und dann findet man den russischen Laden in der Geburtsstadt, wo man als Kind immer herumgestromert ist, mit Barszkonzentrat und eingelegten Pilzen und zig Gurkensorten, georgischem Käse und Kasza und teuflisch gutem Halva, polnisch eingelegtem Sauerkraut, polnischen Würsten, Fischigem und allem, was dazugehört. Und ich fress einen Besen, wenn ich dort nicht auch endlich den richtigen Mohn für den richtigen Mohnkuchen bekomme. Tja, das Fest kann kommen!

Nur einen Rotwein der Marke "Da" werde ich den Franzosen ganz bestimmt nicht vorsetzen. Das erinnert mich dann zu sehr an das Nobelfest in Warschau, als ein edles Plattenlabel eine neue CD vorstellte und in einem der besten Restaurants der Stadt "russischen Sekt" kredenzte. Das Zeug war eindeutig aus Äpfeln und Brot vergoren worden, aber vielleicht hat auch nur das Brot nach Äpfeln geschmeckt...

Der Mensch mit seinen Fressgelüsten ist komisch. In Warschau habe ich mir unter Mühen italienische Salami beschafft und kohlfreie Tage bejubelt. Und mein Brot im Baguetteland importiere ich mühsam aus der Pfalz.

29. August 2010

Die Sache mit der Haptik

Kürzlich habe ich einen halben Tag blau gemacht. Das sah so aus, dass ich durch die Bibliothek geturnt bin und jede Menge Bücher in die Hand nahm. Nicht etwa, weil ich sie lesen wollte, sondern weil ich mich von ihrer Haptik inspirieren lassen wollte. Welches Format, welche Form sollte mein Nijinsky-Projekt bekommen? Und was würde das ungefähr kosten? Die Überlegung muss ich zuerst anstellen, denn bevor der Text erfasst wird, brauche ich Seitenmaße.

Schnell stand für mich fest: Es muss ein Hardcover werden - und wenn schon, dann mit rundem Rücken, mattem Schutzumschlag und Lesebändchen. Kein Problem, denn in diesem Bereich geben die Sammler gern mal mehr aus als fünf Euro für ein Buch, wenn die Qualität stimmt.
Schnell hatte ich ein ideales Vorbild fürs Format gefunden, ein edles und außergewöhnliches Quadratformat, in dem es sich herrlich mehrspaltig arbeiten ließe. Und genau hier beginnt die Trennung von Wunschwelt und knallharten Marktbedingungen. Die Kalkulation, die eben noch angenehm wirkte, stieg erschreckend. Ein paar Probekalkulationen ergaben, dass die eleganten vier Zentimeter mehr fast genau zehn Euro mehr im Verkaufspreis ausgemacht hätten. Welcher Leser kauft leeren, luftigen Buchrand für zehn Euro? Also ... Kommando zurück.

Merke: Farbseiten einzusetzen ist billiger als eine Formatüberschreitung. Kosten-Nutzen-Rechnung. Nach einigem Hin- und Her habe ich nun ein in meinen Augen verträgliches, aber leider nicht mehr ganz so edles Format gefunden. Die Grafik kann da ja auch noch einiges herausreißen. Und ich will im Textbild luftig bleiben. Jetzt kann ich den Text probesetzen, um die voraussichtliche Seitenzahl zu berechnen - und danach einen genaueren Preis. Denn da gibt es durchaus Hemmschwellen beim Kunden, auch wenn er Sammler oder Ballettomane ist.
Buchherstellung fängt in der Tat mit dem Taschenrechner an.

Reptilientrance in Wissembourg

Ich behandle und empfinde Sprache sehr stark wie Musik und komponiere meine Texte. Trotzdem bin ich unendlich auf Komponisten neidisch. Was sie schaffen, ist international verständlich, braucht keine umständlichen Übersetzungen. Dafür brauchen sie eine Art "Vorleser", nämlich die Musiker, welche die kleinen Notenköpfe vom Papier ins Ohr bringen. Aber auch da könnte man als Autor schier neidisch werden: Können wir je so eine Ekstase in unseren Lesern erschaffen, wie man sie manchem Musiker ansieht? Aber wenn man sich dann so eine Partitur anschaut, scheinen Aufwand, Talent und Können doch in ähnlich komplizierter Weise ineinandergreifen zu müssen.

Wissenschaftler wollen ja immer alles genau wissen - und so haben sie sich nun auch an die Wirkung von Musik gemacht: "Woher kommt der Gäsenhaut-Effekt" lautet ein interessanter Artikel in der ZEIT. Da weiß man zwar inzwischen jede Menge über den hausgemachten Dopaminrausch und die Kommunikation mit dem Reptilien-Ich aus grauer Vorzeit, aber zum Glück bleibt uns noch ein Geheimnis im Gefühlsleben. Was allerdings passiert, wenn Musik mit Erwartungen spielt, Empathie zeigt oder zumindest vortäuscht und obendrein "suspense" verwendet - das könnte auch für die schreibenden Zünfte aufschlussreich sein.

Zum Glück war ich gestern kein Versuchskaninchen für Musikforscher. Viel zu spät aus dem deutschen Ausland zurückgekehrt, gehetzt und genervt, testete ich die Straßenlage meines Autos in den Haarnadelkurven durch den Vogesenwald aus. Normalerweise bin ich kein solcher Schweinefahrer, schon gar nicht in dieser emotionalen Verfassung - aber was will man machen, wenn in Wissembourg das Konzert ohne einen anzufangen droht? Aber ich habe es geschafft! Internationales Musikfestival in Wissembourg, direkt an der Grenze zwischen Elsass und Pfalz, in einem lauschigen, geschichtsträchtigen Städtchen mit Fachwerkhäusern und mittelalterlichen Gassen (Foto), nicht in der großen Klosterstiftskirche, die alle für die Kirche halten, sondern in St. Jean, die unweit daneben in einem kleinen Sträßchen versteckt ist.

Was kann das schon Großes sein, murmeln die Hochnäsigen aus den berühmten Zentren der Kultur; wer will sowas hören, brummelt die Landbevölkerung. Aber diejenigen, die den Geheimtipp kennen, kamen gestern angereist aus Stuttgart und Mannheim, Baden-Baden, Strasbourg und dem Haut-Rhin, ja sogar Regensburg und Belgien. Einheimische von beiden Seiten der Grenze nicht mitgezählt. Das Publikum ist international, die Musiker sind es noch mehr - und vor allem treten hier Künstler auf, die man sonst nur in eben jenen Zentren der Kultur vermutet. In Wissembourg ist man ihnen näher, die wunderschöne alte Kirche aus rosa Vogesensandstein mit ihrem samtenen Theatervorhang schafft nicht nur eine fast familiäre Atmosphäre, sondern hat auch eine außergewöhnlich gute Akustik (außer auf den hintersten Plätzen). Hier erlebt man das, was in großen Häusern verloren geht: Man hört das Atmen jedes einzelnen Musikers, sieht jede Veränderung in der Mimik, jedes gerissene Haar am Bogen. So überträgt sich der Zauber, dem die Musikforscher vergeblich nachspüren, direkt.

Genossen habe ich gestern das Atrium Streichquartett und Peter Laul am Klavier, mit Musik von Haydn, Schostakowitsch und Weinberg. Denn wenn ich schon nicht in nächster Zeit nach Sankt Petersburg komme, warte ich einfach, dass Petersburg zu mir ins Elsass kommt...

Gestern hatte ich noch wunderbare Sätze über dieses Konzert in mir, heute klingen sie mir zu schnulzig und schmalzig. Denn da ist genau das passiert, was die Musikforscher so kirre macht, dieser Effekt, wenn sich die Gefühle aus der Musik und die Regungen der Musiker auf die Zuhörer übertragen. Wenn man beginnt, mit den Musikern zu atmen oder vor Spannung den Atem anhält, wenn die Gänsehaut kommt, das eigenartige Schweben, vom synästhesistischen Empfinden ganz zu schweigen. Weinberg hat Tonfolgen komponiert, die gleichzeitig blau und gelb sind, nicht gemischt, nicht übereinander, sondern gleichzeitig.

Ob es die Umschaltung aufs Reptilienhirn war? Oder das Glas Crémant, das man in der Pause vor der Kirche trinken konnte? Vielleicht auch der synästhetische Farb- und Formenrausch? Jedenfalls habe ich bei Schostakowitsch völlig vergessen, wo ich war, wo dieser Raum stand. Ich hätte nachher aus dieser Kirche treten können und wäre nicht überrascht gewesen, wenn ich die Oberfläche des Mondes vorgefunden hätte oder einen lilfarbenen Birkenwald. Stattdessen standen da Häuser, die mir seltsam vertraut erschienen, wie aus einem Ort, den ich für einen Roman hätte erfinden können oder den ich vielleicht schon einmal geträumt hatte. Es war wie manchmal, wenn man morgens an einem fremden Ort aufwacht: Man muss sich erst einmal in Zeit und Raum sortieren.

Natürlich setzt man sich in solch einem Zustand musikalischer Entrückung nicht sofort ans Steuer und nimmt dann auch die Haarnadelkurven etwas besinnlicher. Zum Glück ist mir niemand gefolgt. Irgendwann stand nämlich eine wahrscheinlich dämlich grinsende Frau am Hang und musste einfach gebannt in den Himmel starren. Schwarzgraue Wolken drifteten von der Bergseite aufs sonnenbeschienene Wissembourg in der Ebene zu. Über dem lilaschwarzen Schwarzwald flammte der Himmel rotviolett wie Feuer, die Bergkette hatte eine weitere, zartblaue aus dunklen Wolken aufgestülpt - und mittendrin stand ein leuchtender Finger. Das senkrechte Endstück eines doppelten, ansonsten unsichtbaren Regenbogens, erst in allen Farben changierend, dann in immer schöneren Feuertönen glühend. Und irgendwann verschwamm alles miteinander in einem seltsamen Kirschrot.

Mir ist an diesem Abend wieder einmal aufgegangen, wie sehr man diese unerforschten Momente nicht nur in der Musik braucht - sie sind mir zumindest eine Art Heizmaterial für die eigenen Schöpfungen. Die Ideen kommen dann in Form von Bildern und schemenhaften Formen und es gibt nichts Unverzeihlicheres und Schrecklicheres, als wenn man dann nichts zum Schreiben dabei hat. Natürlich gehören bei mir zur Grundausstattung eines Autos ein Notizheft und ein Stift. Aufschlussreich auch, woran man dann arbeitet - denn man stellt keine Zensorenfragen mehr, ist ganz bei sich.

Eien Wiederholung ähnlicher Naturschauspiele kann ich natürlich nicht versprechen, aber eine Wiederholung musikalischer Genüsse ist gewiss - noch läuft das Internationale Musikfestival in Wissembourg täglich! Mir kann man dort noch an drei Abenden über den Weg laufen und Karten (inklusive Abos) sind bei rechtzeitigem Erscheinen meist auch noch spontan an der Abendkasse erhältlich. Es gab aber schon öfter völlig ausverkaufte Konzerte!

Warum vor allem die Konzerte am Wochenende so früh anfangen, habe ich jetzt auch gelernt: So bleibt genug Zeit, anschließend die kulinarischen feinen Eckchen und guten Weine der Gegend zu erkunden, ob auf französischer Seite in Wissembourg oder im direkt daran angrenzenden pfälzischen Schweigen-Rechtenbach am Deutschen Weintor. Ein Kuriosum jedenfalls gibt es hier inzwischen passkontrollfrei: So manche Traube vom Pfälzer Wein wächst auf französischem Boden und so manche Traube für Elsässer Wein auf deutschem. Auch da kann man also Zeit und Raum öfter mal verwechseln.

27. August 2010

Ohne oder mit?

Immer, wenn mir nichts mehr einfällt, schicke ich meine LeserInnen woanders hin zum Lesen:
 Zuerst einmal etwas für Branchenleute: Die Aktion "Ich mach was mit Büchern" hat eine neue Jobbörse rund ums Buch lanciert. Man darf gespannt sein, wie fleißig die Datenbank gefüllt werden wird.

Ansonsten kommt langsam die Diskussion in Fahrt: Brauchen Autoren Verlage?

Angeheizt wurde sie vom schlauen Agenten Wylie in den USA, der es nicht mehr einsah, dass seine Autoren ihre Ebookrechte an Verlage abgeben sollten und außerdem ein eigenes Ebooklabel für die Autoren gründete, deren Verträge vor der Zeit der technischen Neuerung abgeschlossen worden waren. Zwar hat er jetzt mit Random House einen Kompromiss geschlossen, aber sein Label macht weiter. Auch hierzulande sollte sich jeder Autor dreifach fragen, ob er dieses Nebenrecht nicht viel flexibler und schneller selbst verwerten kann - und dabei außerdem mehr verdient. Automatisch sollte man es im Vertrag schon lange nicht mehr abgeben!

Seth Godin, der im Internet schon so eine Art Guru-Status hat und deshalb von vielen gar nicht mehr hinterfragt wird, hat nun angekündigt, seinem Verlag endgültig den Rücken zu kehren und seine Bücher mit freien Lektoren selbst herauszugeben (englisches Original). Begründung: Er kenne seine Leser selbst am besten.

Wer sich das Original genauer anschaut, wird die Denkfehler bemerken, denen seine Fans aufsitzen könnten. Denn Seth Godin hat nicht nur ein gutes Dutzend bestens verkaufter Bücher veröffentlicht (im herkömmlichen Verlag, der ihn aufgebaut hat) - er verfügt auch in den Social Media über feste, große Fankreise. Mit einem solch international bekannten Namen lässt es sich gut auf Verlage pfeifen. Jeder Noname oder mittelprächtige Schriftsteller, der das Gleiche wagt, wird unweigerlich baden gehen - Belletristiker sowieso.

Kommt dazu, was viele Selbstverleger gern unter den Tisch fallen lassen: So sehr manche von ihnen über herkömmliche Verlage herziehen mögen, sie werden in diesem Fall selbst zum Verleger - mit allen Konsequenzen. Dazu gehört das absolut professionelle Know-How bei allen Etappen der Buchherstellung bis hin zur PR - und weil das meist kaum in einem einzigen eierlegenden Wollmilchschwein vorhanden ist, entsprechende Investitionen in Fachkräfte. Da fließt erst einmal Geld hinaus. Im herkömmlichen Verlag dagegen fließt zuerst Geld zum Autor: in Form eines garantierten Vorschusses, der einem auch sicher ist, wenn das Buch floppt!

Richard K. Breuer hat in diesem Blog in einem Interview einen sehr ehrlichen Einblick ins Selbstverlegen und den großen Aufwand gegeben.
Und Philip Goldberg bezieht in der Huffington Post Gegenposition und sagt, warum Autoren herkömmliche Verlage brauchen.
In Sachen Finanzierungen dürfte sich in den nächsten Jahren einiges an Neuem entwickeln, sofern gewisse technische und emotionale Hürden überwunden werden können: Stichwort Crowdfunding.

Meine ganz persönliche Meinung: Die Frage ist mal wieder völlig falsch gestellt, weil die Antwort sowieso in der Mitte liegt. In Zukunft werden manche Projekte besser in Verlagen aufgehoben sein und andere besser selbst herausgebracht werden.
Die eigentliche Frage lautet: Was müssen Verlage ihren Autoren bieten, um weiterhin attraktiv für sie zu sein?

Vielleicht macht die Frage in der Branche deshalb so viel Angst, weil sie das emotionale Arbeitsverhältnis auf den Kopf stellt. In so vielen großen Verlagen werden AutorInnen nur noch wie Nummern behandelt, als "Altpapiertapete" für Programmschwerpunkte eingekauft, um es überspitzt zu sagen. Wer im Publikumsverlag heute noch Werbemaßnahmen fürs eigene Buch bekommt, zählt zu einer glücklichen Minderheit, viele KollegInnen fühlen sich als Bittsteller. Das ist nicht überall so, aber es reißt in den letzten Jahren sichtbar ein.

Mit den neuen technischen Möglichkeiten, also der noch größeren Möglichkeit des Neinsagens, wird der Autor das, was er eigentlich schon immer hätte sein müssen: der Schöpfer des Grundstoffes, mit dem Geld verdient wird, ein Partner auf Augenhöhe. Solch ein Autor wird kaum mehr für seinen Verlag PR-Aktionen unternehmen, weil der nur Spitzentitel bedient, oder schlampiges Lektorat ertragen, weil die Fachkräfte "outgesourct" wurden. Das kann er dann besser gleich selbst organisieren, für sich selbst. Der Hang zum Selbstverlegen könnte also Verlage wieder auf ihre Kernkompetenzen aufmerksam machen und auf Qualität statt Quantität. Und er könnte vor allem die Verlage stärken, die noch wirklich richtige Verlegerarbeit leisten, die ihre Autoren und deren Bücher pflegen (die gibt es!). Vielleicht wird eines Tages ein Verlagsnamen wieder verstärkt für Qualität und Autoren stehen und nicht einfach nur für ein modisches Programm?

Autoren müssen in Zukunft noch genauer abwägen, was man ihnen bietet und was sie sich selbst zutrauen können. Ob mit oder ohne Verlag, die romantischen Zeiten vom ruhigen Schreiben im stillen Kämmerlein sind endgültig passé - der eigene Name als Marke spielt eine immer größere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. So bequem und billig Social Media sind, der professionelle Gebrauch will gelernt sein und der Zeitfaktor spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Weil aber gerade AutorInnen aufgrund der schlechten Einkommensverhältnisse oft unter Doppelbelastung arbeiten, sollten sie genau überlegen, ob sie auch noch ihre eigene Herstellung, der eigene Vertriebler und das eigene Logistikzentrum werden wollen. Denn das geht mir in allen Diskussionen doch zu sehr unter: Autoren schreiben Bücher. Und diese Arbeit braucht kreative Freiräume.

Ich selbst gehe übrigens inzwischen ebenfalls den Doppelweg. Ich will die Arbeit mit guten Verlagen auf keinen Fall missen und kann mir bestimmte Bücher nur in solchen vorstellen. Ich vertraue aber seit einigen Jahren meine Manuskripte nicht mehr jedem Verlag an. Klingt vielleicht unglaublich, aber das Wort Nein, die Absage des Autors, habe ich schon öfter mal geprobt, auch unter der Gefahr, dass das MS in der Schublade landet. Für einen Verlag, bei dem "es stimmt", gehe ich dann aber auch gern über meine Grenzen hinaus und habe Spaß an der Teamarbeit.

Nun habe ich ja bereits angekündigt, dass ich ein Projekt als BoD herausgeben werde. Überrascht hat mich bei der Sache, dass mir Leute aus der Verlagsbranche (auch aus Agenturen) hinter vorgehaltener Hand rieten, gerade für solche Spezialthemen (Sachbuch) und mutig "Anderes" sei das Selbstverlegen in Zukunft die flexiblere und schnellere Lösung, zumal sich das Publikum dann tatsächlich leichter im Internet finden lässt. Ich werde meinen eigenen Weg allerdings kritisch betrachten.

Gleichzeitig bin ich im Brotberuf dabei, mit einem Team von Profis die Herstellung und Finanzierung von Büchern zu prüfen, wie sie derzeit von Verlagen garantiert nicht gemacht werden. Dabei geht es auch um die Frage, wie sich Spezialprojekte außerhalb des Buchhandels verkaufen lassen. Es handelt sich zwar um einen absolut nicht zu verallgemeinernden Sonderfall, aber ich bin höchst gespannt, was ich da lernen kann, was machbar ist und was man sich als Autor abschauen kann. Spannende Zeiten liegen vor uns ...

26. August 2010

la galère

Sabine und einige andere haben hier in den Kommentaren bereits eine wunderbare Lautuntermalung für einen gewissen Zustand geliefert, bei dem ich mir immer Asterix und Obelix auf einer römischen Galeere vorstelle - der Sklaventreiber schlägt dabei den Takt auf einer riesigen Trommel.

"C'est la galère" ist ein Ausdruck, den ich zur Zeit überdurchschnittlich oft auf den Lippen habe und er kann alles mögliche heißen von einem deftigen "Sch ... Sklavenarbeit" bis zu einem eleganteren "Was für eine Malocherei!". Engländer würden sagen "It's a nightmare!" oder "It's such a pain!" In diesem Ausdruck schwingt alles mit: Es ist schwierig, kompliziert, aufreibend, grausam und nicht selten sogar langweilig. Und natürlich könnte man einen gewissen gallischen Krafttrunk gut gebrauchen.

Den ersten Krafttrunk bekam ich aus Kollegenkreisen gereicht, wo mir ein Übersetzer ein kräftiges Höhöhö einschenkte, weil der Feinschliff einer Übersetzung in meinen Augen ein Spaziergang sei. Ich kann ob meiner Anfängernaivität natürlich auch nur kräftig mitlachen, denn nach 668 Seiten war mir gar nicht mehr bewusst, wie mies und ungelenk ich die ersten 100 Seiten übersetzt habe! Das liest sich, als sei ich weder des Französischen noch des Deutschen mächtig, die reine Holperei und dann plötzlich gibt es einen Schnitt, wo man erkennt: Aha, da ist sie endlich im Ton des Autors drin. Keine schlechte Übung übrigens, denn wenn man einmal gelernt hat, den Erzählton eines Fremden in einer fremden Sprache zu erspüren und in der eigenen Sprache nachzubilden, fällt es einem plötzlich wie Schuppen von den Augen. Man bekommt auch einen scharfen Blick für den eigenen Ton! Aber bis man mal so weit ist ...

Und dann wurde ich mit einem Anruf bei der Arbeit unterbrochen, der sich wie Champagner süffelte, weil ich schon kaum noch daran glaubte, diesen Tag je zu erleben. Aus einem gewissen französischen Amt wurde mir hochoffiziell bestätigt, dass ich die Existenzgründungsphase als "artiste-auteur" bestanden und damit verlassen habe. Ich hatte an diesem Programm, das ähnlich wie bei einer Firmengründung funktioniert, über doch recht lange Zeit teilgenommen. Eingebracht hat es mir jede Menge Hilfe und Existenzgründungsberatung, aber auch jede Menge grauer Haare, Berge von Formularen und Erklärungen und die genaue Überwachung meiner Tätigkeiten. Doch ohne all die juristische, steuerliche und sonstige Beratung hätte ich den Dschungel an Vorgängen und Ämtern nie durchschaut.

Als ich mit dem Programm anfing, musste ich mir von der Beraterin noch die Texte schreiben lassen, inzwischen hacke ich mein Französisch ohne Rücksicht auf Verluste in die Tasten. Ich habe zeitweise mit völlig unfähigen, knalldummen und unwilligen Amtsangestellten zu tun gehabt, gegen die ich mich auch einmal bei einer Schiedstelle wehren musste, weil sie mich durch einen Computerfehler fast existenziell ruiniert hätten. Es war nicht schön, das über Monate auskämpfen zu müssen, während die eigene Arbeit unter den Nägeln brannte und auch da genug zu kämpfen war. Ich habe aber mindestens genauso oft mit sympathischen, hilfsbereiten und offenen Amtsangestellten zu tun gehabt, mit denen man jenseits von Formularen reden konnte und die alles dazu taten, die Fehler ihrer Kollegen wieder auszubügeln.

Ich würde es wieder machen, weil ich unschätzbar Wertvolles für meinen Beruf gelernt habe, das in Deutschland nicht in dieser Art ins Blickfeld gerät. Ich habe von Anfang an meine Tätigkeit als "artiste-auteur" definieren und planen müssen wie eine Firma, wie ein Wirtschaftsunternehmen. Da bohrt man als Künstler nicht in der Nase und wartet auf Inspirationen, sondern muss genauso einen Businessplan erstellen, damit sich die "Unternehmung Künstler" trägt. Die Franzosen sind viel flexibler und professioneller, was den "Gemischtwarenladen" betrifft, der einem durch unterschiedliche Tätigkeiten Geld einbringt, die nicht gegen die Kunst stehen, sondern für die Kunst. Viel habe ich in den Seminaren lernen dürfen, in denen Bildhauer und Musiker, Grafiker und Schriftsteller, literarische Übersetzer und Maler sich austauschten. Und da hat es mir manchmal fast schon ein wenig weh getan, dass ich sprachlich noch hauptsächlich in einem Land arbeite, in dem es sehr viel weniger Offenheit und Möglichkeiten für diese Arbeit gibt.

So hart es war - ich profitierte vor allem von ganz besonderen menschlichen Begegnungen. In diesem Fall war es ein Netzwerk von sehr engagierten, sehr vielseitigen und hochinteressanten Frauen, die mein Berufsleben gründlich durcheinandergerüttelt haben und mich auf einen Weg schubsten, den ich mir alleine vielleicht nicht zugetraut hätte, obwohl es für mich keinen passenderen gibt. Und ich freue mich, dass solche Netzwerke in Frankreich nicht gleich wieder zerfallen, sondern weiter weben. Es ist ein schönes Gefühl, nun auf beiden Seiten des Rheins zu arbeiten, in beiden Sprachen - und jede Tätigkeit befruchtet die andere.

Als dritten Schluck vom gallischen Krafttrunk gönne ich mir nun das Internationale Musikfestival von Wissembourg - und fange natürlich gleich mit den Musikern aus Sankt Petersburg an. Denn auch das habe ich in den vergangenen zwei Jahren gelernt: Man sollte nicht auf sein Glück warten, sondern Gelegenheiten beim Schopf packen - und seien sie vordergründig auch noch so abseitig.

Feierabend. 162 Seiten der Galeere sind auf hoher See in Richtung Lektorat.

PS: Eben erreicht mich die Nachricht, dass unsere zweisprachigen Broschüren für den grenzüberschreitenden Wanderweg noch ganz warm aus der Druckerei gekommen sind. Da kann ich dann demnächst verraten, wo man die holen kann.

Seltsame Zeichen an der Wand

 Es kam hier im Blog schon öfter vor: Seltsame Zeichen mehren sich, vielsagende Inschriften tauchen aus dem Nichts auf und sollte beides einmal ausbleiben, greifen Autoren zu seltsamen Mitteln wie bewusstseinsverändernden Drogen oder Beschwörungen.

C. G. Jung hat die "Synchronizitäten" salonfähig gemacht. Ethnologen haben herausgefunden, dass die Schamanen dieser Welt Techniken erlernt haben, ein solches Denken in besonders konzentrierter Form zu provozieren. Und die Esoteriker machen dann alle Erkenntnisse wieder zunichte, indem sie allerlei faulen Zauber ins Hirn implementieren wollen, das auch ganz gut ohne diesen zurechtkommt.
Ich will ein paar Bücher empfehlen für diejenigen, die sich für die sachliche Seite interessieren. Denn diese Art zu denken ist zwar einerseits eine Begabung, kann aber andererseits auch früh gefördert werden und selbst in späteren Jahren trainiert.

Arthur I. Miller, Professor für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie in London, hat darüber sehr gute Bücher geschrieben, die leider nie übersetzt wurden und wahrscheinlich nur antiquarisch zu haben sind:

Insights of Genius. Imagery and Creativity in Science and Art (The MIT Press)

Darin untersucht er, inwiefern Wissenschaftler mit bahnbrechenden Entdeckungen und Künstler mit besonderer Schöpferkraft "anders ticken" und warum visuelle Vorstellungskraft bei beiden eine solche Rolle spielt. Als wichtigste Eigenschaften dieses Denkens nennt er "insight, revelation, a distinctive point of view".

Einstein, Picasso. Space, Time and the Beauty That Causes Havoc (Basic Books)

Hier macht er das Gleiche, aber am konkreten Beispiel - nämlich der Entwicklung des Kubismus bei Picasso und der Relativitätstheorie bei Einstein. Absolut spannend zu sehen, dass Kunst und innovative Wissenschaft gar nicht so weit voneinander entfernt liegen - und vor allem ein sehr ungewöhnlicher Einblick in die Denkweise zweier Berühmtheiten.

Werner Siefer / Christian Weber: Ich. Wie wir uns selbst erfinden (campus)

ist ein richtiger Wissenschaftskrimi, vor allem interessant für Menschen, die sich mit Fiktion, Virtualität oder Simulationen beschäftigen. Spannend zu lesen, wird da nicht nur die Realität relativiert, sondern auch alles, was wir bisher von uns und unserem Gehirn glaubten. Eine Rezension von mir gibt es hier.

25. August 2010

Raben, Zeichen und Kafka

Kürzlich warnte ein wissenschaftlicher Fachartikel vor der Überflutung des Hirns mit Informationen via Internet, dies führe unweigerlich zu einer Art Verblödung. Ich kann nur bestätigen, dass die Überflutung des Hirns durch Übersetzen ebenfalls unweigerlich verblödet. Wer behauptet, aus einer Rohübersetzung einen druckreifen Text zu machen, sei ein gemütlicher Spaziergang, muss verrückt sein. Ach, das war ich selbst?

Wenn nichts mehr geht wie im Moment, lässt man sich gern ablenken, durch Überflutung natürlich. Und so durfte ich mit Nikola eine Bilderreise durch Prag antreten - wie erholsam! Ich sollte da wohl endlich auch mal hin, nachdem es schon die gesamte amerikanische Verwandtschaft geschafft hat, aber diese Touristenmassen, diese Amerikaner ...

Breit gegrinst habe ich natürlich bei den grüßenden "Raben" während der Landung, das ist mindestens so gut, wie wenn der Papst die Erde küsst. Und dann krächzte auch noch Kafka ... na wenn das kein Zeichen ist! (toitoitoi!) Jedenfalls bin ich nun wieder beruhigt, dass ich nicht die Einzige bin, die infolge besonders geliebter Manuskripte irgendwo Schemen sieht und die fest damit rechnet, dass die Visabestimmungen für ein gewisses Ziel sich spätestens bis zu einem bestimmten Zeitpunkt lockern mögen. Denn man spinnt ja nur einmal richtig und wenn es 2000 km bis dahin sind.

Apropos Kafka, da hätte ich ein ganz besonderes Bonbon zu empfehlen, das ich bereits erwartungsvoll vorbestellt habe und das Ende Oktober erscheinen wird:
Der Parthas Verlag in Berlin gibt in Zusammenarbeit mit dem Stroemfeld Verlag in Frankfurt eine einmalige, limitierte Auflage von Josef Cermáks Kafka-Biografie heraus: "Ich habe seit jeher einen gewissen Verdacht gegen mich gehabt".

Hier habe ich das Buch wegen seiner Faksimile-Mappe schon einmal empfohlen.

24. August 2010

Kinder, Küche, Cora

Aus den Lektoraten großer Publikumsverlage hört man immer wieder die nie ganz belegte Statistik, mindestens 95% aller Leser seien Leserinnen, nämlich ausschließlich Frauen. Und ab und zu klagt auch mal das Börsenblatt, Jungs und Männer griffen weniger zum Buch. Wo sollen sie schließlich auch hingreifen zwischen süßen Mädchen mit süßen Pferden, rosa Prinzessinnen und diätgeplagten Promifrauen, zwischen Romanen mit taffen Mittelalterdirnen, die auch nach Massenvergewaltung noch den Märchenprinzen heiraten, und Sachbüchern mit "emotionalem Mehrwert"?

Allerdings: auch ein Erotikladen verkauft seine neckischen Spielereien auf Dauer nicht ohne Marktforschung. Was nützt es, wenn der Zimtgeschmack zum Ladenhüter wird, weil Frauen ganz andere Geschmäcker haben? Der CORA-Verlag, Marktführer in einem Genre, das man auch Fluchtliteratur nennt, hat nun repräsentativ genau 1028 Frauen gefragt, wie Frauen ticken. Alte und junge, dicke und dünne, schlaue und doofe. Und eigentlich hätten sie sich die Umfrage sparen können, denn wir wissen jetzt, was wir schon immer wussten. Für solche Männer haben Frauen schon im 19. Jahrhundert geschwärmt, als man das Lesen leichter Serienromane noch für eine gefährliche weibliche Geisteskrankheit hielt.

Frauen träumen also laut dieser Befragung von richtigen Kerls, die nicht von jedem kleinen Lebenssturm geknickt werden. Schränke von Männern, die sich im Dschungelcamp genauso sicher bewegen wie bei Schwiegermamas Geburtstag. Dabei spielt Geld wohl weniger eine Rolle als ein genereller Ekel gegen die Haarfarbe Blond. Ein Held muss er natürlich sein, der umbrandete Fels, und obendrein stinklangweilig: Treue, Verlässlichkeit und Humor sollte der Traumprinz nämlich mitbringen. Das sind diese altmodischen Eigenschaften, die Frauen selbst schon lang nicht mehr auf die Reihe kriegen. Träumen darf mann ja mal, pardon frau.

Und jetzt? Es wird in deutschsprachigen Liebesromanen wohl weiter keine Helden geben, die mit Todesverachtung den Müll zur Tonne wuchten oder die Hanteln gegen das Bügeleisen tauschen. Dagegen hat vielleicht endlich der türkische Gemüseladenbesitzer von nebenan Chancen auf eine Hauptrolle, aber die richtigen Witze über seine Gurken sollte er schon draufhaben. Ein Hundeblick stünde ihnen allen gut, den neuen Pattextypen, treu bis in den Tod haben sie schließlich Zentnerlasten auszuhalten. Die Blonden, die Kleinen, die Schwachen und die Männer, die bei jeder Comedysendung aufs Klo müssen - die braucht die Frau von heute nicht mehr. Aha.

Nun lebe ich ja in einem Land, in dem der Mann für den Müll zuständig ist und die wahre Politik in der Küche gemacht wird, auch wenn Bruni selbst wahrscheinlich nicht kocht. Die Helden hierzulande stehen unter gehörigem Druck, denn die Sache mit der Prinzessin und dem Pattex funktioniert schon längst nicht mehr. 50% aller Ehen werden geschieden, Flirten ist geschlechtsübergreifend nur ein harmloser Sport und eine körperliche Vereinigung führt eher zum Kind als zur Ehe. Vielleicht haben wir deshalb eine andere Art von Literatur? Eine, die Träume nicht an Treue koppelt, aber dafür Pornographie an Politik?

Die Französinnen träumen natürlich auch. Ebenso heimlich, ebenso heftig. Zeitungen und Zeitschriften beklagen seit einigen Jahren, diese "neuen" Frauenträume seien so unrealistisch. Männer gründen Selbsterfahrungsgruppen und landen reihenweise beim Psychiater. Konservative Stimmen befürchten den Untergang des Abendlandes. Denn in immer mehr Frauenträumen kommen nur noch Frauen vor. Männer ab vierzig müssen sich verzweifelt nach blutjungen Frauen umschauen, weil ihre Altersgenossinnen nichts mehr an ihnen finden! Und Literatinnen werfen in ihren Büchern die Kerls weg wie geschnitten Brot, verkaufen Millionen Exemplare mit sinnlosem Gerammel, das keine zwei Seiten hält...

Träumt weiter, liebe Coraleserinnen, träumt weiter.

Wie bunt ist die Welt?

Vor hundert Jahren traf es die Pariser noch wie ein Schlag. Damen in pudrigen und pastelligen Belle-Epoque-Kleidern, in Rosa, Zartgelb und Schilfgrün - und die Herren in den gleichen Farben, im Sommer in Weiß, trauten ihren Augen kaum. Die Ballets Russes brachten Buntstiftfarben auf die Bühne und wagten das bisher Unmögliche: Sie kombinierten ein leuchtendes Blau mit Grün. Für westliche Augen war das bisher unerhört, aber vielleicht genau deshalb wurde es zum Modetrend. Nicht nur Cartier wurde mit seinen blau-grünen Juwelen berühmt. "Orientalismus" hieß die neue Mode aus Glitzer- und Brokatstoffen in üppiger Farbgebung und russisch anmutenden Stickereien und Besätzen. Die Modeschöpfer brachten vor dem Ersten Weltkrieg Theaterkostüme tragbar unter die Schickeria.

Wie diese opulente Farbenwelt tatsächlich ausgesehen haben mag, kann man heute nur noch von Zeichnungen, Entwürfen und Gemälden abschauen, ein paar Kleider der damaligen Modeschöpfer haben in Museen überdauert. Doch die Fotos der Ballets Russes waren schwarz-weiß.

Heute, hundert Jahre danach, können wir die Welt einfacher umreisen und einen Blick auf einen Schatz von damals werfen. Der Boston Globe veröffentlicht hundert Jahre alte Farbfotos aus Russland aus der Prokudin Gorskii Collection der Library of Congress.
Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii (1863-1944) hat sie auf einer Reise gemacht und einen verblüffenden Trick gefunden, um Schwarz-Weiß-Aufnahmen in Farbfotos zu verwandeln. Mit einer Eigenbaukamera, versehen mit Farbfiltern, knipste er in schneller Abfolge je drei Aufnahmen vom gleichen Sujet. Nachher konnten die entwickelten Glasplatten, mit Farblicht bestrahlt, fast in Echtfarben betrachtet werden. Es ist nicht nur beeindruckend, wie nahe uns plötzlich diese Menschen von vor hundert Jahren sind. Wer die Bilder im Zusammenhang mit der damaligen Farbenmode in Paris betrachtet, wird erkennen, wie die europäische Avantgarde von den russischen Farben profitiert hat. Das legendäre Blau, das auch Kandinsky in Abwandlungen so gern benutzt hat, kann man übrigens auf Foto Nr. Sieben sehen.


Hundert Jahre später experimentiert wieder einer mit Fotos. Diesmal ganz im Zeichen der Zeit mit GPS, Google Maps und GPS-Tracking. Während Gorskii vor hundert Jahren das gesamte russische Reich bereist hat, musste Nick Newcomen einige Schleifen auf der Fläche der USA drehen. Dafür hat er es aber auch geschafft, die für jeden Surfer, aber auch für jeden Alien sichtbare größte Buchwerbung der Welt auf den Kontinent zu zeichnen. Vorausgesetzt natürlich, dass auch Aliens Google benutzen.

22. August 2010

Das Buch der Bücher

Kennt jeder von uns: Die drei Bücher für die Insel, das Buch der Bücher, Toplisten, Bestsellerlisten ... Die Schiller Buchhandlung in Stuttgart-Vaihingen (siehe auch hier im Blog) macht derzeit eine schöne Internet-Aktion zum Buch der Bücher! Aber hat jemand schon einmal versucht, die eigene Bibliothek so einzuordnen? "CZmen" bei Twitter ist Schüler und will ein Praktikum in einer Buchhandlung machen. Zur Vorbereitung fragt er: "Welche Bücher sind für dich ein Muss?" Mir ist spontan dazu nur eingefallen, dass mir dafür 140 Zeichen nicht reichen. Helfen wir ihm alle zusammen? Ich finde das nämlich toll, wenn sich Leute für Bücher interessieren. Und fang mal an:

Ein einziges Buch der Bücher habe ich nicht. Auch die Bibel, die diesen Titel trägt, wäre für mich nur eines, wenn darin alle heiligen Texte aller Religionen versammelt wären, die früher zensierten und die noch viel früher entstandenen dazu. Deshalb ist Umberto Ecos "Der Name der Rose" für mich ein Buch voller Bücher über den Umgang mit Wissen und Macht und ein spannender Kriminalroman obendrein. Aber fangen wir mal von vorn an ... Kinderzeiten.

Meine ersten "Kultbücher" mit kleinen Textpassagen und vielen Bildern waren "Das Tierhäuschen" von Samuil Marschak und "Lustige Geschichten" von Wladimir Sutejew. Vor allem letzteres, in dem der Zeichner zeigt, wie er sich eine Welt aus lustigen Tiergestalten zeichnet und sie zum Leben bringt, hat mich nachhaltigst geprägt. Ich explodierte selbst in Bildern und Geschichten und noch heute heißt bei mir jeder Hund mit Kosenamen Bobik. Die beiden Bücher prägten mein Farberleben und gewisse Archetypen im Kopf.
Ähnlich bunt sind Bücher, die ich bis weit ins Erwachsenenalter abonniert hatte und mit denen ich Fremdsprachen lernte: "Die lustigen Taschenbücher" aus Entenhausen. Ich bin heute noch eingefleischter Fan von Donald und kann verraten, dass man aus Walt Disney's Stories mehr lernen kann als aus jedem Schreibratgeber, vor allem in der wunderbaren Sprache der leider verstorbenen Dr. Erika Fuchs. Nicht zu vergessen Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren. Das ist ein echtes Must, wirkliche Literatur und macht das, was andere Bücher vergeblich versuchen: starke Mädchen.

Dann gab es im leider recht bücherlosen Haushalt meiner Eltern eine Art Giftregal mit Flohmarktexemplaren, nur für Erwachsene, dass mich natürlich genau deshalb besonders reizte. Mit vielleicht zehn griff ich mir heimlich "Die Nonne" von Diderot, was ich äußerst kurios fand, weil ich eigentlich nichts kapierte - es hat mir auch nicht geschadet. Vollkommen umwerfend fand ich Jakob Wassermanns "Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens" und der historische Roman schlechthin war für mich "Sinuhe, der Ägypter" von Mika Waltari.

Merkt man, dass ich mich vor "Must"-Titeln drücke? Die verändern sich oft im Laufe des Lebens. Meines ist ja nun schon so lang, dass die meisten Bücher nur noch antiquarisch zu haben sind. Wie begeistert habe ich den "Shannara"-Fantasy-Zyklus von Terry Brooks gelesen oder Ursula K. Le Guin - heute lese ich gar keine Fantasy mehr. Ich bin absolute Krimileserin und habe lange Reihen von Dorothy L. Sayers, Raymond Chandler, Ross McDonald oder Fred Vargas, aber schon deren letzte Bücher fand ich zu sehr dem Massengeschmack angepasst, so wie auch Polina Daschkowa mit wachsendem Erfolg verloren hat. Mit der allseits schwappenden Blutsoße von in Serienmörder verliebten Lektoraten mag ich nichts mehr anfangen und skandinavische Depression kann man schneller und lustiger mit einem Besäufnis im Winter erreichen als mit einem Buch. Was bleibt im zurechtgebügelten, bald auch verhackstückten Mode-Genre?

Welche Bücher haben bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen - und das über Jahre und mehrmaliges Lesen hinweg? (Fett die Bücher für die Insel)

Johann Wolfgang von Goethe: Das Märchen
Thomas Mann: Tod in Venedig (nebst der kongenialen Verfilmung von Visconti)
Saint-Exupéry: Der kleine Prinz
Wassilij Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst
Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte
Nikolaj Gogol: Petersburger Erzählungen
Nijinsky: Die Tagebücher
Olga Tokarczuk: Unrast
Ray Bradbury: Fahrenheit 451
 Joe Jackson: Ein Mittel gegen die Schwerkraft
Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet
Colum McCann: Der Himmel unter der Stadt / Der Tänzer
Gennadij Gor: Das Ohr (Erzählungen)
Leo Perutz: Das Mangobaumwunder u.a.
Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
China Miéville: Perdido Street Station
und wahrscheinlich ein Kandidat, den ich aber gerade erst lese:
Andrej Belyj: Petersburg

So viele habe ich ungerechterweise vergessen...
Aber mir fiel auf, dass ich doch "Schreibratgeber" in meiner Bibliothek habe, obwohl ich gegen die üblichen Schreibratgeber wettere. Da wären (nicht alle durchweg gelesen):

Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (Ein Must nicht nur für Fans!)
Milan Kundera: Die Kunst des Romans
Wolf Schneider: Deutsch für Profis (Lehrbuch aus dem Volontariat)
Martinez / Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (trocken, aber wichtig)

Jonathan Franzen: Anleitung zum Einsamsein (einst bahnbrechend, von der Realität überholt)

Ortheil / Siblewski: Wie Romane entstehen (Ortheil brachte mir mehr)


Natürlich habe ich auch den komischen Frey gelesen, um mitreden zu können, aber nachdem ich dem Autor im Geist ungefähr fünf Mal das Vogelzeichen gezeigt hatte, flog das Buch in die Spendenkiste.
Unübertroffen meine ganz persönlichen "Schreibratgeber" sind zwei Bücher (weiter oben schon genannt), die aus anderen Künsten kommen, der Musik und der Malerei:
Wassilij Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst
Joe Jackson: Ein Mittel gegen die Schwerkraft
Ersteres ist ideal zum Nachdenken über sich selbst, die Welt und die eigenen Beweggründe, letzteres ist ein ideales Überlebensbuch fürs Haifischbecken zwischen Kunst und Kommerz.

Irgendjemand da, der sich kürzer fassen kann als ich? Welche Bücher sollte man unbedingt gelesen haben? Wer schreibt umwerfend, was darf in keinem Regal fehlen? Vielleicht entdecke ja auch ich noch Neues?

update!

Inzwischen hat sich das Stöbern in den eigenen Bücherregalen wie ein Virus verbreitet und Czmen schreibt über das große Echo, dass er auf seine Frage bekommen hat - und empfiehlt seine eigenen Lieblingsbücher (mein "Kleiner Hobbit" ist auch dabei!) Wenn man liest, wie viele Bücher ihm durch die Aktion empfohlen wurden, muss man am Nutzen von Social Media kaum noch zweifeln.

21. August 2010

- - -

Es gibt Momente, da bleiben einem die Schlagzeilen einfach weg. Christoph Schlingensief ist gestorben. In einem Interview mit der NZZ sprach er im Juli über "Die Nanosekunde des Glücks" und die innere Freiheit. Ein Zitat daraus:
"Aber die Menschen in unseren Industrieländern leiden natürlich höllisch darunter, dass sie eigentlich schon gar nicht mehr da sind und das Leben vor lauter Versicherung kaum noch spüren..."

Trüffelchen

Weil Hunderttausende glauben, übers Internet irgendwie als Genie entdeckt zu werden, wird es immer schwerer, überhaupt etwas von Belang zu entdecken. Heute Morgen stolperte ich beispielsweise über ein paar selbsternannte Superstars, denen ich gern einen Kommastreuer und die neueste Ausgabe des Dudens geschenkt hätte.

Kurz bevor ich beinahe in Schriftmüll erstickt wäre, kam dann beim Surfen der Lichtblick. Der ist so berührend und besonders, dass ich ihn als Wochenendlektüre teilen möchte:

DER PIANIST

Der Autor weiß hoffentlich noch, dass ich gern irgendwann einmal ein illustriertes Buch von ihm in Händen halten würde...

20. August 2010

Followerpower

#followerpower - dieses Kürzel für Eingeweihte schreibt man bei Twitter, wenn man Hilfe braucht und möchte, dass eine Nachricht deshalb auch von anderen weitergegeben werden soll. Ich habe das eben ausprobiert und war baff!

Ich stand vor einem Übersetzungsproblem. Mein französischer Autor lässt einen polnischen Franzosen etwas machen, dann brüllen und anschließend ein Bier bestellen. Dieses "Etwas" bestand aus einer Zusammensetzung mit dem Wort "poskotznika". Im Polnischen gibt es das Wort aber nicht. Für einen französischen Text schien es irgendwie falsch geschrieben, denn das können auch Franzosen so nicht sprechen. Google spuckte dazu genau NULL Ergebnisse aus. Wie aber findet man die Bedeutung eines womöglich falsch geschriebenen Wortes aus einer unbekannten Sprache?

Also habe ich frech bei Twitter gefragt, unter 724 Followers könnte vielleicht einer etwas wissen. Fünf Sekunden später hatte ich die Antwort mit Beleglink: Es handelte sich um einen serbischen Tanz und ein serbisches Wort. Das bestätigten sofort einige andere. Und eine Autorin gab mir sogar die korrekte Schreibweise durch: poskočica. Der Autor hatte sich in der Tat verschrieben und das Lektorat nicht aufgepasst.

Ohne Social Media wäre ich jetzt noch ratlos. Dank Twitter habe ich die Antwort in ein paar Sekunden gehabt, mehrfach bestätigt. Und jetzt kann ich den betreffenden Menschen im Text einfach einen "wilden Tanz" aufführen lassen, denn nichts anderes macht er an der Bar, da hätte es auch ein anderes Wort im Original getan.

Vor nicht allzu vielen Jahren hat man für solche Probleme noch teuer herumtelefonieren müssen, große Bibliotheken besuchen oder eine Menge Spezialbücher anschaffen müssen. Andererseits hat man für Übersetzungen auch immer weniger Zeit.

Aber da wäre noch etwas, vielleicht weiß es hier jemand: Ich suche krampfhaft nach der deutschen Bezeichnung für diese seltsamen Würste auf Uniformen (Foto). Sagt man dazu "Litzen"? Lust zum Rätselraten?


Danke an @hedoniker (der schnellste), @_Phoenicia, @EcoLibro, @schau_ma_mal_

Buchlinks repariert

Offensichtlich hat sich noch nie jemand für meine Bücher interessiert, sonst hätte ich das nicht nach langer Zeit selbst bemerken müssen: Einige Links zu meinen Büchern rechts im Menu führten zu veralteten Seiten oder Fehlermeldungen.

Das habe ich inzwischen repariert, man kann die Bücher nun also anschauen, ja sogar kaufen...

19. August 2010

Edel geht die Welt zugrunde

... oder sollte man sagen: spinnert?
Ob folgende Anekdote auch ins Nijinsky-Werkbuch aufgenommen werden sollte?

Die Autorin hat, um sich authentisch nach Sankt Petersburg versetzen zu können, ihre Finger nicht im Zaum halten können und einen Drogenkauf getätigt. Dank Internet kommt die Droge* frei Haus und man kann sogar das Päckchen online verfolgen, ganz ohne Schnüffelhund. Der Import ist zwar etwas verquer, in Frankreich jedoch wegen der guten beiderseitigen Beziehungen einfachst zu bewerkstelligen. Die Droge kommt nämlich aus Sankt Petersburg daselbst und wird über eine Pariser Firma, die wiederum irgendwo in Frankreich ein Logistikzentrum hat, ins Elsass geliefert. Schließlich feiern wir das französisch-russische Jahr (siehe Link rechts im Menu).

Eine der gefährlichen Drogen (die Autorin bestellte eine Kollektion in radarsicheren Metalldosen) wurde 1880 in Sankt Petersburg kreiert und von Zar Nikolaus II. himself so lange gesoffen, bis er aus natürlichen Gründen nicht mehr schlucken konnte. Die Rezeptur blieb unverändert. Kurzum, die Wahrscheinlichkeit, dass auch Nijinsky von den einfacheren Sorten fürs Volk genossen haben könnte, ist immens.

Als die Autorin dann beim Dealer ihrer Wahl auch noch eine Rarität entdeckte, die sie nur ein einziges Mal in Polen genießen durfte, weil in dieser Form extrem selten, war sie hin und weg. "Zoubrovka" ist in diesem Fall nicht etwa ein Wodka gleichen Namens, sondern wird wie dieser mit eben jenem unvergesslich duftenden Gras der Bisonwiesen aromatisiert.

Falls es morgen oder übermorgen still werden sollte, ist die Autorin ihrem Petersburger Rausch erlegen. Was für eine eingefleischte Kaffeetrinkerin viel heißen will. Denn einen Übersetzungsfehler hat sie gemacht, false friend geheißen: *"La drogue" ist im Deutschen natürlich "der Tee".

Bücher "basteln"

Habe ich eigentlich schon einmal erzählt, dass ich als Schulkind ein Buch nach dem anderen gebastelt habe? Das war ein richtiger Wettbewerb zwischen einer Freundin und mir: Die Bücher durften höchstens in die Handfläche passen, mussten handgearbeitet sein und sehr luxuriös. Meine liebsten waren zwei erwachsene Daumennagel groß und mit tintengeschriebenen Gedichten gefüllt. Die betreffende Freundin wurde später Bastellehrerin, ich selbst habe auch in späteren Jahren nie Gedichte drucken lassen...

Und weil ich ja nun meinen Nijinsky ebenfalls selbst "bastle", gibt es in sehr loser Folge im Blog unter dem Label "Ich bastle ein Buch" noch mehr Einblicke in die Werkstatt. Ich werde keine Inhalte preisgeben, aber von meinen Erfahrungen bei der Buchherstellung erzählen. Denn gemeinhin glauben ja viele, so eine BoD-Ausgabe sei wie Schulbasteln, einfach und mit ein paar Klicks zu machen. Nur - so einfach ist das gar nicht, wenn man vergleichbare Qualität mit herkömmlichen Verlagen will.

Die technische Lösung
Im Moment bin ich in der schönsten, weil kreativen Phase. Erledigt sind Recherchen nach der Firma, ich habe mich für BoD entschieden, weil die Vertragsmodalitäten in meinen Augen die annehmbarsten sind (da gibt es Firmen mit haarsträubenden Klauseln!), weil sie am Markt die Etabliertesten sind und weil nach Aussagen von KollegInnen die rein technische Qualität der Bücher nicht nur gewachsen ist, sondern nicht schlechter als die in vielen Verlagen. Natürlich kein Vergleich zu einer freien Auswahl von Papieren oder Formaten - da sind solche Dienste beschränkt. Außerdem sind die Bücher online leicht bestellbar, sogar im Buchhandel zu bestellen. Vertrieb ist das A und O.

Die ersten Fragen:
Welches Zielpublikum spreche ich wie an?
Die Antwort hat Auswirkungen auf die Machart und die Aufmachung, aber auch auf die gesamte PR-Konzeption. Deshalb will sie sehr gründlich überlegt werden.
Welche Inhalte?
Was will ich überhaupt vermitteln, erzählen, zeigen? Ein klares Konzept muss her, mit Briefing an die Autorin.
Wie lassen sich die Inhalte vermitteln?
Bei diesem Buch, das man nicht seitenweise herunterliest wie üblich, spielen Layout, Grafik und Typografie eine ganz besondere Rolle. Und mit diesem "Äußeren" steht und fällt die Qualität und damit der Erfolg. Weil ich selbst im Brotberuf Layouten gelernt habe und auch schon Prospekte und Zeitschriftenlayout "verbrochen" habe, traue ich mir zunächst eigene Entwürfe zu. Das macht mir auch riesigen Spaß. Es wird aber auch gehörig Zeit kosten, für mich verschiedene "Dummies" anzufertigen, um dann in der Produktionskonferenz mit mir selbst eine Entscheidung zu fällen.

Die Controllerin ist in dieser Phase bereits dabei, denn die Aufmachung entscheidet auch über die Kosten und damit den späteren Endpreis. Nicht jeder Layout-Spaß rechnet sich. Beschränkt bin ich durch das Angebot, wo ich natürlich auch überlegen muss: Welches Format / Papier, Paperback oder Hardcover, Schutzumschlag oder nicht, Schwarzweiß oder Farbe. Für die Herstellungskosten brauche ich aber die genaue Seitenzahl.

Die Autorin
wird in diesem Moment arbeiten müssen. Nämlich die Zusatztexte schreiben, erfassen. Obwohl der Haupttext bereits professionell lektoriert ist (also nicht nur von mir selbst korrigiert), muss er nach dem Erfassen in ein andere System nochmal korrigiert werden. Für die Zusatztexte ist ebenfalls ein Lektorat nötig.

Würde ich bei einem dieser Schritte nicht 100%ig zufrieden sein, würde ich die Leistungen von außen bei Profis holen. Nichts verdirbt ein Buch schneller als ein vermurkster Satzspiegel oder schlechtes Lektorat.

Aber das ist alles noch Zukunftsmusik. Im Moment überlege ich einfach locker lose neben der Arbeit, was ich wem erzählen will und wie so ein Buch äußerlich daherkommen könnte. Dazu gehört auch die essentielle Frage nach dem Cover später, die ich bereits im Hinterkopf wälze. Wie bereits erwähnt, sind die Abdruckrechte für historische Fotos u.ä. Material für Privat einigermaßen unerschwinglich geworden. Kommt dazu, dass ich mit einigen Museen schon zu tun hatte und weiß, dass allein der Schriftverkehr das Buch um sechs Monate verzögern könnte. Ein einziges farbiges Bild, allerdings ein Gemälde, wäre über die VG Bild und Kunst unter 200 Euro zu haben - das steht auf dem Merkzettel. Ob es aber zum Cover taugt, muss sich erst noch erweisen. Vorteil: Es wurde noch nie benutzt. Alternative: Extrem schlichtes, rein graphisches Cover.

Also - noch ist alles eine wirkliche Spaßphase in Sachen Basteln ... der Ernst des Buchmachens kommt früh genug...

Töpfchen und Kröpfchen

Heute mal ein echter Aschenputtelbeitrag für alle, denen die Unterscheidung in E und U noch nicht reicht. Sammeln wir doch mal die Guten und die Schlechten...

Die taz jedenfalls sammelt "Die Fülle der Gegenwartsliteratur" anhand der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Leider geht der Artikel über Namedropping nicht sehr hinaus, eine Analyse oder Bestandsaufnahme inhaltlicher Art, wohin denn die deutsche Gegenwartsliteratur tendiert, vermisse ich. Betrachtet man jedoch den Deutschen Buchpreis als Kaffeesatz, so könnte man daraus lesen, was ich hier im Blog schon länger behaupte: Perlen finden sich immer häufiger in kleinen, engagierten literarischen Verlagen. Und es lohnt sich durchaus, öfter mal statt der amerikanischen Bestseller Literatur aus östlicheren Gefilden zu lesen.

Ob allerdings mit ein paar Frauennamen auf der Longlist die deutsche Literaturszene endlich zu einer emanzipierten wird, wage ich zu bezweifeln. Der Graben zwischen Frauen = U und Literatur = Männer sitzt nicht nur bei den AutorInnen zu tief, sondern auch in den entsprechenden Gremien und Verteilern. Die Jury besteht aus vier Männern und zwei Frauen, naja, die Pressesprecherin ist auch eine Frau, das können Frauen gut. Warum hat eigentlich noch keiner richtig darüber nachgedacht, dass die Trennung zwischen E und U in Deutschland auch eine geschlechtsspezifische ist?

Betrifft uns alles nicht, sind wir eh zu schlecht, mögen die meisten denken - und darum gibt es für die auch einen Preis, den man ja herzlich jedem DKZV*-Autor vorschlagen sollte. Gesucht wird "die schlechteste Geschichte der Welt", aber dalli, die Frist zum Miesen ist fast abgelaufen. Vollmundig, richtig fetzig klingt das, vor allem das hoffnungsfrohe Wünschen eines richtig großen Verlags (wer wünscht den nicht) für die Anthologie. Meriten und Millionen gibt's nicht für den Spaß, nur einen kostenlosen Seminarplatz, so dass sich dann bei weiterem Surfen die Ausschreibung als raffinierte PR für Schreibseminare entpuppt.

Also doch nichts für DKZVler, denn die haben ihr Geld ja schon andersweitig verbraten. Wenn man sich die Liste der Dozenten ansieht, so entpuppt sich auch das Autorendock: als eine Art "Meisterkurs" bei Leuten wie Juli Zeh, Tilmann Rammstedt, Alexa Hennig von Lange, Clemens Meyer, Olivr Uschmann, Kristoff Magnusson und Terézia Mora.
Mit der miesesten Geschichte aller Geschichten sollt man sich also wirklich richtig Mühe geben!

*Infos über DKZV gibt es beim Aktionsbündnis faire Verlage.

17. August 2010

Ballettwerkstatt

Jaja, ich bin schon wieder hungrig auf Arbeit. Arbeit am eigenen Buch!
Und weil ich außerdem manchmal, aber nur manchmal, die Arbeit für Telefonate und Echtleben-Schwätzlein liegenlasse, habe ich mich natürlich gründlich über den Doppeltod der Ballets Russes ausgeheult. Mein Bekanntenkreis ist teilweise derart einseitig "vom Fach", dass man nicht nur die nötigen Steicheleinheiten bekommt, sondern höchst informative Einblicke in die Wahrheiten des Haifischbeckens, die Insider sonst nie aussprechen würden. Bei solchen Schwätzlein lässt sich vortrefflich der Zynismus wetzen, sie befruchten aber auch kolossal. Jedenfalls komme ich dabei auf immer verwegenere Ideen.

Auch für mich neu war u.a. die Einsicht, dass sich zumindest im Sachbuchbereich über PoD-Verfahren veritabel verkaufen lässt. Mir sind jetzt schon ein paar Beispiele untergekommen, wo mehr Bücher verkauft werden, als das ein Nischenverlag erreichen könnte (bei Belletristik sieht das ganz anders aus). Allerdings gibt es dafür knallharte Kriterien: Man muss sich vom Möchtegernquark absetzen und unbedingt in Social Media rege sein. Und man muss eine ganze Reihe von Arbeiten entweder selbst professionell beherrschen oder außer Haus geben: Das reicht vom Layouten über das Lekorat bis zur Werbung. Der Erfolg ist direkt von der Qualität abhängig - vom Thema natürlich auch.

Einen Pluspunkt haben bereits veröffentlichte Autoren - da muss man offensichtlich nicht mehr so deftig beweisen, was man kann. Falsch machen kann man dann nur noch die Werbung und die PR (feiner Unterschied!) in den Social Media. Mindeststandard sind eine gut gemachte Website zum Buch, eine gut besuchte (!) eigene Website oder noch besser ein Blog plus Facebook plus Twitter. Das gleicht - jedenfalls beim Sachbuch mit gutem oder wichtigen Thema das fehlende Feuilleton und die fehlende Präsenz im Buchhandel aus. Letzteres gibt's ja ohnehin nicht einmal in allen etablierten Verlagen.

Überraschend finde ich, dass einem sogar eingefleischte Verlagsleute unter bestimmten Umständen zum Selbstverlegen raten. Da fallen dann Bemerkungen wie "der Buchmarkt ist viel zu träge und risikoscheu für Neues geworden - es siegt doch immer wieder das Glattgebügelte." Darüber weinen selbst engagierte Verlagsmitarbeiter. Da sind selbst Verleger manchmal Knechte des eigenen Vertriebs. Und der schaut sich nicht an, was Leser abseits des Mainstreams interessieren könnte, der interessiert sich, was sich leicht innerhalb von dreißig Sekunden beim Buchhändler "reindrücken" lässt. Mehr haben die pro Buch nämlich selten, wenn überhaupt...
Und drum schadet eine Veröffentlichung bei BoD bereits etablierten Autoren überhaupt nicht, es sei denn, sie lassen es an Sorgfalt und Qualität mangeln. Wer es kann, der bringt Bücher zustande, die sich von herkömmlicher Ware kaum unterscheiden.

Es scheint so, als würde der Hunger der LeserInnen nach neuen Themen und Formen mit ein paar aufsässigen AutorInnen eine Allianz eingehen, die Verlagen einerseits wie gerufen kommt, weil es "Nischenthemen" vorab wegsortiert - obwohl es auf lange Sicht gerade den Glattbüglern schaden könnte. Beweis: der tiefe Fall des Genres Historischer Roman, der sehenden Auges kaputtgeschunden wurde in fröhlicher Anpasserei. Längst ist ein Nebenmarkt entstanden und wenn Autoren noch mehr hinter die Fassaden blickten, wird er wachsen. Schön, wenn einem dann jemand, der intensiv mit Verlagen zu tun hat, zurät: "Ich würde mit solchen Themen überhaupt nicht mehr auf Verlage warten, verschwendete Lebenszeit."

Nun bin ich außerdem das, was man einst Diaghilew als "typisch russisch" vorgeworfen hat: Ich bin, was künstlerisches Denken betrifft, abergläubisch. Ich habe nicht umsonst den soeben empfohlenen Film aus Versehen angeschaut. Gestern, zur Feier einer Entscheidung und meines Übersetzungsendes entdeckte ich dann, dass ARTE den späten Abend einem ganz besonderen Ereignis gewidmet hatte. Ausgerechnet gestern! Drei Ballette von Strawinsky für die Ballets Russes. Nicht von irgendeinem Ensemble, sondern aus dem Marijnsky-Theater in Petersburg unter Leitung von Valery Gergiev. Nicht irgendwelche Fassungen, sondern die rekonstruierten, mit rekonstruiertem Bühnenaufbau und Kostümen. In der Fassung der Choreografie von Nijinsky und später seiner Schwester! "Sacre" in dieser Fassung kenne ich zwar inzwischen fast auswendig, aber ich habe wieder kaum gewagt, zu atmen. Ich war hin und weg...

Wer hier länger mitliest, weiß, dass ich mir das Marijnsky mit Gergiev im Festspielhaus zum ersten Tod meines Projekts geschenkt hatte. Irgendwie muss man sich ja trösten, ursprünglich war die Karte als Belohnung für die erfolgreiche Arbeit gedacht gewesen. Beinahe vergessen hätte ich, dass ich vor dem Bus, in den die Musiker einstiegen, eine Art Gelübde vor mir selbst geleistet habe, eine absolut verrückte Idee. Die schien mit dem zweiten Tod des Projekts hinfällig. Wie gut, dass ich gestern noch einmal daran erinnert wurde. Gestern, noch während der Aufführung von "Le Sacre du printemps", sind Notizen aus mir herausgequollen.

Kurzum: Es ist jetzt amtlich. Ich werde den Nijinsky selbst herausbringen - und ab nächster Woche intensiv daran arbeiten. John Neumeier, der große Nijinskyfan, ist mir dann im Programmheft des Festspielhauses auch noch mal untergekommen mit seiner berühmten Ballettwerkstatt. Ballettwerkstatt - Buchwerkstatt - Werkstattbuch...

Ach, was heißt "nächste Woche"! Ich überlege längst am Layout und der Darstellungsform herum!
Jedenfalls bin ich trotz der Verzögerung (das Hörbuch sollte ursprünglich im September 2009 erscheinen) schneller als jede Lizenz übersetzt auf den Markt kommen könnte. Ich versuche, das noch dieses Jahr vor dem Weihnachtsgeschäft zu schaffen (hoffentlich bekomme ich das technisch auf die Reihe). In einem herkömmlichen Verlag hätte das Buch frühestens im Herbst 2011 erscheinen können.

Ach, da liegt ja noch der fette Gutschein vom Festspielhaus... Der reicht für Neumeier und Gergiev, damit ich meine schlimme Schnapsidee vor jenem Bus nicht wieder vergesse...

Es ist vollbracht

Meine erste wirklich ganz große Übersetzung. Das erste von mir übersetzte Buch. Blauäugig als Sachbuch angenommen und bemerkt, dass es ein erzählendes ist und für die Anfängerin noch ganz andere Schwierigkeiten barg.

Die oft sehr langen Ausschnitte aus der französischen Literatur waren nämlich zum großen Teil noch nie ins Deutsche übertragen worden. Und wenn einer der berühmten Literaten in deutschen Ausgaben vorlag, hatte "mein Autor" garantiert die nicht dazugehörenden Teile gewählt. Das ist besonders schwierig: das Wechseln zwischen unterschiedlichen Schriftstellern, ohne dass man genug Zeit und Material hätte, sich auf ihren Ton einzulassen; das Wechseln zwischen unterschiedlichen literarischen Formen vom Brief über ein Manifest bis hin zum Sauflied. Literarisches Übersetzen ist kein normales Übersetzen.

Dazu kam überraschend viel Recherche, weil es der Autor nicht immer so genau nahm. Und weil extrem knappe Beschreibungen im Französischen vieldeutig sein können. Historische Fotos mussten aufgespürt und mit Personenbeschreibungen verglichen werden. Fakten geprüft und Fachbegriffe gesucht werden. Ich musste abwägen, wo der deutsche Leser Unterstützung braucht und möglichst kurze, eigene Erläuterungen in Fußnoten formulieren. Deshalb sollte ein Übersetzer das Fachgebiet kennen. Vor allem aber musste ich durchhalten.

545 Seiten hatte das Buch, den Apparat nicht mitgerechnet, den der fleißige Praktikant bearbeitet, weil dazu gefühlte tausend Buchtitel zu recherchieren sind.
Jetzt zieren meine Festplatte 668 Seiten Text.

Nach einem frühzeitigen Feierabend (jetzt!) und ausgiebigem Schlaf ist jedoch keine Ruhe in Sicht. Morgen muss ich einen Klappentext entwerfen und am Ende der Woche bereits die ersten 150 Seiten in geschliffenem Deutsch abgeben. Aber aus meiner Rohübersetzung mit einigen Überprüfungen einen lesbaren Text zu machen, das wird sich wahrscheinlich wie ein Frühlingspaziergang anfühlen.
Ich erinnere mich an meine Angst auf den ersten Seiten, ich würde nie einen adäquaten Ton für den Autor finden, würde nie seine fremden Metaphern in geläufige deutsche übertragen können. Und danach war ich so "drin", dass ich Angst bekam, meinen eigenen Ton nie wieder zu finden...

Der "Klops" erscheint Anfang 2011 und wird natürlich bei mir beworben werden, sobald die Verlagsvorschau erschienen ist. 668 Normseiten. Ich würde nicht einmal ein eigenes Buch schaffen, das so dick ist!
Glauben kann ich es noch nicht, ich bin müde, erleichtert, unendlich müde, aufgedreht, irre stolz, abgeschlafft, nervös, erschöpft, viel zu wach, ungläubig.

16. August 2010

Im Skaphander

Eigentlich war ich nach einem Übersetzungsmarathon hundemüde und wollte nur noch ins Bett. Aber dann blieb ich gestern zu später Stunde an einem poetischen Filmtitel und am Fernseher kleben: "Schmetterling und Taucherglocke (Le scaphandre et le papillon)" lief da in der ARD. Der Film von Julian Schnabel basiert auf einer in Frankreich sehr bekannten wahren Geschichte: Jean Dominique Bauby, Chefredakteur der Zeitschrift Elle, erlitt plötzlich in den besten Jahren einen Schlaganfall, der seinen Hirnstamm schädigte und ein sogenanntes Locked-In-Syndrom mit sich brachte. Der Mann war also vollständig gelähmt und konnte nur noch ein Augenlid bewegen, er konnte aber hören und in einem extrem eingeschränkten Gesichtsfeld sehen. Das Einzige, was noch wirklich funktionierte, waren seine Fantasie und sein Erinnerungsvermögen.

Bauby machte in den Neunzigern deshalb Schlagzeilen, weil er in diesem Zustand ein Ding der Unmöglichkeit vollbrachte: Er schrieb ein Buch. Eine Therapeutin, die sein flatterndes Augenlid bemerkte, machte sich in aufopferungsvoller Kleinarbeit daran, ihm einen Zeichencode für Ja und Nein damit beizubringen, und ihm mit einem speziell entwickelten, immer wieder vorgelesenen Alphabet die Möglichkeit einer extrem langwierigen Kommunikation zu bieten. Auf diese Weise "diktierte" Bauby seinen Therapeutinnen mit eben jenem Augenlid Buchstabe für Buchstabe ein ergreifendes, poetisches Buch über sein Leben, über das Sterben und das Gefangensein in der Taucherglocke, die Isolation und das Leben ohne Kommunikation. Er starb ein paar Wochen nach der Veröffentlichung.

Der New Yorker Maler und Regisseur Julian Schnabel hat einen Film gedreht, der von der ersten Minute an unter die Haut geht, denn wir erleben zunächst allein aus dem Körper Baubys heraus, mit seinen Gesichtsfeldbeschränkungen, den Hörproblemen, seinen Träumen und Leiden. Diesen Film vergisst man nicht, weil er so viele Fragen aufwirft. Wie ist das, wenn man plötzlich in seinem Körper wie lebendig begraben eingesperrt ist und sich nicht mehr mitteilen kann? Wie geht ein Mensch, der einmal extrem kommunikativ und kreativ war, damit um, dass nur noch das "Kopfkino" funktioniert? Ein ähnliches Thema wie in Schnabels Schriftstellerporrtrait "Before Night Falls" - eine Hommage an die Überlebenskräfte der Fantasie, die anscheinend den Menschen mehr als alles andere zum Menschen macht. Daher auch das Bild des Schmetterlings, der sich aus der Taucherglocke wie aus einem Kokon befreien kann - es war Baubys eigenes Bild.

In diesem Film kommt eine Szene vor, in der Bauby erstmals im Spezialrollstuhl in seiner Klinik auf den Flur gerollt wird und der Pfleger weg muss. Bauby sitzt allein und völlig hilflos da, kann die Dinge nur in einem winzigen Kreisausschnitt sehen, aber er sieht Napoleons Frau, die die Klinik zur Gründungszeit oft besucht hatte. Er stellt sie sich vor.
Und dann erzählt der in sich eingeschlossene Mann, dass auch Sergej Diaghilew dem Krankenhaus einmal einen Besuch abgestattet habe. In dem Moment taucht im Flur Nijinsky im Kostüm des Fauns auf, tanzt vor dem Mann im Rollstuhl und springt in die Weite davon. Bauby erzählt dazu, Nijinsky habe (das ist eine Legende) in diesem Flur zum ersten Mal seinen weltberühmten Sprung ausgeführt.

In diesem Moment wird dem Gelähmten klar, dass auch er noch springen kann, dass er sich in diesem Flur bewegen kann, obwohl er ihn nicht einmal ganz sieht.
Er kann es, weil er Fantasie hat und weil er Geschichten erfinden kann. In gewisser Weise ist es der Anfang seines Schreibens.

Ich muss wahrscheinlich nicht sagen, wie erschütternd diese Szene für mich war. Ich kann gar nicht beschreiben, was mit Nijinskys legendärem, auch zu Lebzeiten schon metaphernhaftem Sprung in dieser Geschichte in mir ablief. Es war dieses Gefühl, plötzlich etwas begriffen zu haben. Auf eine zerknitterte Serviette notierte ich wie in Trance das Wort "Berührmacht". Ich musste mir nach dem Film erst noch einmal klar machen, dass ich keine fiktive Geschichte gesehen hatte. Bauby hat es wirklich gegeben und er hat mit Nijinsky einen Sprung gewagt, mit ihm den Raum zurück erobert. Mehr als vierzig Jahre nach Nijinskys Tod.

Ich begriff auf einmal etwas von dieser mächtigen Kraft des Tänzers, Menschen nicht nur zu berühren, sondern auch zu verwandeln - über den Tod hinaus, über Zeit und Raum hinaus. Nicht umsonst nannte Henry Miller (in New Directions, 1952) Nijinskys Tagebuchsammlung als eines der Bücher, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Und er berührt immer noch - mit einem unwahrscheinlichen Charisma, das auch etwas mit seinem Leiden zu tun hat, das ein "Nur-Star" nie entwickeln kann. Nijinsky hat die Abgründe des Menschseins ebenfalls gelebt, ist in Bereiche vorgestoßen, die wir uns kaum vorstellen mögen und die uns trotzdem vielleicht gerade deshalb so faszinieren. Auch er hat irgendwann nicht mehr kommunizieren können, aber er hatte uns etwas zu sagen, viel zu sagen...

In dem Moment, in dem ich die Szene sah, habe ich zum Taschentuch gegriffen.
In dem Moment, in dem mir klar wurde, was ich verstanden hatte, musste ich lachen.

Nein, das ist keine Geschichte nur für ein Jubiläumsjahr, die ein Jahr später out ist, weil das Feuilleton so kurzsichtig funktioniert. Das ist auch keine Geschichte, die man künstlich "aufblasen" muss, weil sie womöglich für den Markt zu klein wäre. Es ist keine Geschichte, die man beiseite legt, weil sich ein paar Sachbücher an die Fakten heranmachen. Diese Geschichte in einer Taucherglocke zu begraben, wäre fast so etwas wie Verrat an dem, der sie gelebt hat und dessen größter Wunsch war, mit seiner Kunst die Menschen "tiefinnerlich zu berühren".

Es gibt einen Kollegen, der mein Manuskript kennt und jetzt wahrscheinlich breit schmunzeln wird. Was er mir schon vor vielen Monaten riet, spricht gegen alle Vernunft, in diesem Stadium sowieso. Es spricht außerdem dagegen, dass ich nicht gut genug bin, dass es absolut verrückt ist, dass ich es nie vorhatte und überhaupt und sowieso. Aber ich habe heute Nacht von Nijinsky geträumt und dann gegen vier Uhr fieberhaft nach Papier gesucht, angefangen zu notieren...
Ich weiß nicht, was das werden soll, was da geschieht. Ich habe nur das Gefühl, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende ist...

Lesetipp:
Jean-Dominique Bauby: Le scaphandre et le papillon, Editions Robert Laffont
Jean-Dominique Bauby: Schmetterling und Taucherglocke, dtv
Gucktipp:
Schmetterling und Taucherglocke, Film von Julian Schnabel

15. August 2010

Unglaublich

...dass ich das noch erleben darf: Nur noch knapp dreizehn Seiten von "Fettklops" zu übersetzen (der Klops mit den Ballets Russes hat mich doch anderthalb Tage Hirnpower gekostet).
Dann werde ich morgen während eines Amtsbesuchs einen Klappentextvorentwurf ins Unreine kritzeln und die Seiten für die Herstellung überschlagen. Den Sekt öffne ich schon mal heute, weil ich bei diesem Programm morgen nicht zum Feiern komme.

Anschließend arbeiten sich drei Leute in 150-Seiten-Schritten durch "Fettklops": Ich arbeite voran, indem ich meine gerupfte Übersetzung in edles Feindeutsch bringe - und zwei Leute vergnügen sich daran im Lektorat. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich hemmungslos mit dem Titel und Verlag des Buchs angeben kann, das ursprünglich bei Calmann-Lévy erschienen ist.

14. August 2010

The un-making of...

Wahrscheinlich haben es einige schon bemerkt, ich denke oft laut oder entwickle in der Kommunikation Ideen. Mein letzter Kommentar beschreibt eine Schnapsidee aus düsterer Nacht, die jetzt, wo sie Schwarz auf Weiß zu lesen ist und bei Tag besehen, irgendwie etwas hat. Denn natürlich darf ich nicht daran denken, dass ein Buch, an dem ich zwei Jahre lang hart gearbeitet habe, kein Buch wird. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um ein "unverlangt eingesandtes Manuskript", sondern sogar um ein ordentlich abgewickeltes Auftragswerk.

Ich musste heute Nacht an die Doku denken, die mir in schwärzesten Stunden Kraft gibt, nicht aufzugeben, obwohl einem die ganze Welt und das Leben zuzurufen scheinen: "Gib auf! Lass es endlich sein!" Sie handelt von einem meiner Lieblingsregisseure, Terry Gilliam, dem es nie gelang, seine Filmadaption von Don Quijote zu drehen. "Lost in La Mancha" ist der schönste und kraftvollste Film über künstlerisches Scheitern, den ich kenne. Und er zeigt eindrücklich, dass Kunst nicht unbedingt am Künstler oder dessen Inhalten scheitert, sondern an so banalen Dingen wie Budgets, ausfallenden Geldgebern, flutartigen Regenfällen, Krankheiten oder Versicherungsfirmen:
Lost In La Mancha is less a process piece about filmmakers at work and more a powerful drama about the inherent fragility of the creative process - a compelling study of how, even with an abundance of the best will and passion, the artistic endeavor can remain an impossible dream. (Ankündigungstext der Filmfirma)
Ein Making-of von Büchern ist kaum üblich, allenfalls bei Bestsellern erfährt man darüber etwas in den Medien. Ein Unmaking-of wäre mehr als unüblich. Aber warum eigentlich nicht? Die Geschichte eines Manuskripts, das einst ein Hörbuch werden sollte, dann ein gedrucktes Buch - und schließlich den Weg ging, den viele Werke gehen: es wurde kein Buch. Aus sehr banalen Dingen wie ... s.o.
Mit einem Text als Werktext, sichtbar gemacht die Unvollkommenheiten, die Verlagsarbeiten, die noch hätten folgen müssen (Rechteeinholungen, Fachlektorat, Bebilderung etc.), vielleicht sogar Bemerkungen zum Unterschied zwischen Hörtext und Lesetext - und wo die Autorin welche Musik einschalten wollte?

Meine Frage an die Blogleser: Was würde bei einem solchen Unmaking-of interessieren? Wo würdet Ihr gerne Einblicke erhalten, mehr erfahren? Ich könnte mir sogar vorstellen, Leserfragen einzubinden...

Aber: das hier eilt nicht. Bis Herbst muss ich übersetzen.

13. August 2010

Freitag, der 13.

Untertitel:
oder was dieser Beruf mit Wodka bei Chopin gemeinsam hat

Es ist passiert. Es ist genau das passiert, was ich seit Monaten insgeheim am meisten fürchtete: Das Projekt "Ballets Russes" ist gestorben.
Und zwar genau aus dem Grund, den ich befürchtete. Im Ausland waren sie alle mal wieder schneller, englischsprachige Titel erscheinen reihenweise und nun legt auch noch das Victoria & Albert Museum eine unnachahmliche Prachtausgabe inklusive Musik vor, der mein Projekt zu nahe gekommen wäre. Das lässt sich nicht einmal von Verlagen toppen (schon gar nicht mit einem Noname) und Lizenzen sind nur noch eine Frage der Zeit - Fans kaufen sich die Originale sowieso direkt. Kurzum, das "Aus" kam aus genau diesem Grund: "Der Markt für das Thema ist inzwischen ruiniert." Marktsättigung.

Künstlerpech nennt man das wohl, die allererste angedachte Veröffentlichung wäre perfekt im Timing gewesen, mit riesigen Möglichkeiten der Vermarktung, aber damals sprang im falschen Moment beim Verlag ein wichtiger Sponsor ab und das war es dann gewesen. Und dann hat alles einfach zu lang gedauert. Survival of the fittest.

Nun liegt ein druckreifes, fertig lektoriertes Manuskript über Nijinsky auf der Festplatte, für das ich mir nervenaufreibend die Rechte wieder besorgt hatte. Theoretisch könnte ich einen Schnellschuss aus der Hüfte via BoD unternehmen, aber für die drei Dutzend Fans ist der Aufwand zu hoch. Zumal der Markt da für mich nicht weniger gesättigt wäre als für einen Verlag mit Power, im Gegenteil. Außerdem kenne ich die Preise für die Bildrechte und die sind übel, also privat gar nicht zu stemmen - da jappsen auch Verlage. Nijinsky ohne Bilder, ohne Foto auf dem Cover - undenkbar. Vor allem aber käme ich mir vor wie bei einer Bankrotterklärung meiner selbst. Das wäre nach all dem das Schlimmste.

Tja. So komme auch ich endlich einmal zu einem ganzen Buch in der Schublade, das obendrein dadurch geadelt ist, dass es schon einmal ein Verlag gekauft hatte. Zum Glück ist es noch nicht umgeschrieben. Ich kann es jetzt meinem Hund vorlesen. Oder teure Seminare veranstalten über den richtigen Zeitpunkt, den Kairos.

Und dann ist mir etwas passiert, was mir noch nie passiert ist, was ich mir nicht einmal geträumt hätte. Ein Verlag hat mir von sich aus einen Vertrag angeboten, ob ich denn Lust hätte. Es klang nicht nur nach Lustthema, es kam noch besser - so etwas Ähnliches hatte ich bereits in ganz anderem Zusammenhang angedacht, es dann wieder weggeschoben ... ach, das wäre mal was so in zwei, drei Jahren, aber nichts Eiliges, dachte ich. 2012 soll das Buch erscheinen. Theoretisch könnte ich gleich loslegen. Da sitze ich also mit dem Angebot eines Verlags über eine Idee, die sich perfekt mit all meinen Interessen und Arbeiten verknüpft.

Mir kommen ein paar tüchtig in Wodka schwimmende Feste in Polen in den Sinn, wo mir mal jemand anhand von Chopin (der Wodka hieß übrigens genauso) erklärte, wie man Melancholie überwinde. Man lasse sich absolut ins tiefste Tief fallen, zelebriere das auch noch (mit Chopin & Chopin) und dann passiere etwas Seltsames: am Scheitelpunkt ganz unten ginge es nur noch nach oben. Ja, in der Tat, man kann auch zu Chopins Musik auf dem Tisch tanzen! Heute bin ich der Meinung, dass man getrost auf den Wodka verzichten kann, sofern man Buchautor ist. Der Buchmarkt bringt einen an einem einzigen Tag ganz tief unter den Tisch und dann auf den Tisch.

Übrigens: Nicht dass ich jetzt von den Russen lassen würde. Da ist der berühmte "point of no return" längst erreicht, zumal ich schon ernsthaft in Erwägung zog, endlich mein rudimentäres Russisch aufzufrischen. Und eine Liebe, mit der man so viel Zeit verlebt hat, legt man nicht einfach schnöde ad acta. Die Ballets Russes sind tot, es lebe Ich-Weiß-Noch-Nicht-Was! Ich habe gleich gefragt, ob ich mich wieder melden darf, wenn ich ein komplett anderes Thema aus dem Thema gemacht hätte. Zufällig fährt da ein Heft in Benois-Blau herum, in dem ich seltsame Dinge notiert habe, die mir bei den Recherchen begegneten und die ich leider bei den Ballets Russes hätte aussortieren müssen...

Zwei Sprüche habe ich darin ganz zu Anfang für mich selbst notiert:

"Ah Monsieur, das hat man noch nie gemacht, das ist unmöglich!"
(Der Leiter der Pariser Oper zu Diaghilew)

"Wir werden nicht müde werden, es zu sagen, und noch weniger müde, die neuen Ideen auszusprechen und die neuen Bilder zu zeigen, bis der Tag kommt, wo wir unseren Ideen auf der Landstraße begegnen."
(Franz Marc)

Vielleicht bin ich komplett verrückt geworden, aber ich habe das Gefühl, bei so viel verpassten Zeitpunkten und Pech zur Unzeit kann ich meinen przypadek schon förmlich neben mir her laufen sehen. Ich WEISS, dass sich die leicht verrutschte scheinbare Parallele irgendwann schneiden MUSS.
Und ich lege jetzt Gustav Mahler auf und mache "meinen Autor" fertig - noch 24 Seiten - denn am Montag muss ich schon einen vorläufigen Klappentext andenken und mich dann für die Vertreterkonferenz beeilen. Chopin muss warten.
Autorenalltag.

Hörtipp:
Absolut passend zur Stimmung: Goran Bregovic: "Tales and Songs From Weddings And Funerals"

12. August 2010

Schmetterlingsmenschen

Eben habe ich beim Deutschlandfunk die Rezension von Andrea Maria Dusls neuem Roman "Channel 8" (Residenz Verlag) gelesen und beschlossen: Ich muss dieses Buch unbedingt haben! Nicht, weil es in Paris und Petersburg spielt, nein, so zwanghaft bin ich nun doch noch nicht. Es ist der Plot, der mich bestrickt: Ein Fernsehkorrespondent, der Sendungen fälscht, träumt eine Frau. Er träumt die Signale so echt, dass sie sich schließlich sogar auf Filmmaterial manifestieren. Und wenn eine erfundene oder erträumte Figur derart lebendig im Kopf erscheint, müsste man sie dann nicht im Leben, in der Realität wiederfinden können? Er macht sich auf die Suche ... (Die Rezension erzählt auch, was Schmetterlingsmenschen sind).

Ich muss das Buch schon deshalb lesen, weil es mich an einen meiner ganz persönlichen Kultfilme erinnert: Krzysztof Kieslowskis "Das doppelte Leben der Veronique", in dem eine französische Véronique in Krakau auf eine polnische Doppelgängerin namens Weronika trifft. In der Schlüsselszene dreht sie einen durchsichtigen Gummiball vor ihrem Auge. Diesen Gummiball habe ich in meinem zweiten Roman "Lavendelblues" auf S.66 ins Schaufenster des Ladens eines gewissen Dimitri gelegt - und zwar nur deshalb, damit ich ihn selbst nie vergessen werde, diesen Ball - und die Geschichte dazu.

Ich hatte Kieslowskis Film zuerst in der französischen Fassung gesehen, die mehr als die deutsche diese schwebende Magie zwischen der Wirklichkeit und einem "Daneben" vermittelt. In Warschau sah ich die polnische Version, völlig verzaubert, obwohl ich damals noch fast kein Wort verstand, verzaubert, weil mir plötzlich so ähnliche Dinge begegneten. Jener "Alte" im "Lavendelblues", an den Dimitri im Roman erinnert, hatte in der Warschauer Realität einen Laden, rannte heraus, als ich ins Schaufenster blickte, erkannte mich, bat mich zu sich, sprudelte los. Dabei waren wir uns noch nie im Leben begegnet. Und warum konnte ich einem Freund genau beschreiben, wie das obere Stockwerk der Warschauer Oper aussah, obwohl ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebäude betrat?

Die Polen hatten eine einfache Erklärung für den "Weronika-Effekt", die Kieslowski in seinen Filmen immer wieder zum Thema gemacht hat: Przypadek, der Zufall, ist schon vom Wort her etwas, das wie in einer Parallelwelt auf perfekter Parallele neben dir herläuft. Und es gibt diesen einen Punkt, den man aktiv beeinflussen kann, mit einer winzigen Richtungsänderung. Nicht alle Menschen achten auf ihre ihnen eigenen Zufälle, aber ein kleiner Schritt in die richtige Richtung genügt. Die Parallelen werden sich dadurch unweigerlich schneiden.
Diese wahre erlebte Geschichte liegt nun also als Gummiball aus einem Film auf S. 66 in einem fiktiven Schaufenster in einem fiktionalisierten Baden-Baden. Denn den Laden gibt es nicht. Meine Freundin behauptet zwar, ihn in einem Friseurgeschäft identifiziert zu haben, aber ich bin mir sicher: Ich habe ihn erfunden. Was ist da noch real, was fiktiv?

Magisch ist das alles noch nicht. Magisch ist allenfalls, was ich mit meinen fiktiven Figuren erlebe. Bekanntlich suchen diese mich, nicht umgekehrt. Und manche sind ganz schön schwierig. So ging es mir mit einem, der ... sagen wir mal, Bäcker war und "Kaninchen" hieß (das Projekt liegt in der Schublade, Name und Beruf geändert). Was kämpfte ich mit dieser Figur, sie wollte sich partout nicht zeigen! Irgendwann hatte ich so die Nase voll, dass ich ihr den Figurentod androhte, wenn sie mir nicht endlich erzähle, was sie für ein Mensch sei. Herr Kaninchen, der Bäcker, blieb stumm.

Am nächsten Tag hatte ich eine Mail im Kasten. Es schrieb mir einer, der zufällig bei der Suche nach etwas völlig anderem auf meine Website geraten war und sich festgelesen hatte. Die muss ich kennenlernen, hatte er gedacht, und wollte sich mit mir übers Brötchenbacken austauschen. Denn der Wildfremde hieß mit Namen Hase und war Bäcker. Wir lernten uns tatsächlich im Leben kennen, weil ich irgendwann beruflich mit seinen Brötchen zu tun hatte. Ich habe es bis heute nicht begriffen, wie mein Herr Kaninchen auch äußerlich dem Herrn Hase so ähneln konnte. Da stand meine Figur in der sogenannten Realität und ich hätte nur noch abschreiben brauchen. Aber so, wie der echte Kontakt im Sande verlief, schlief auch das Projekt ein.

Ich wundere mich kaum, wenn ich im richtigen Moment die richtigen Menschen kennenlerne oder mir im richtigen Moment das richtige Buch unter die Finger gerät ("Channel 8" muss so eins sein). Schließlich lebt das alles parallel neben mir her - ich habe nur einfach den richtigen Schritt vom Weg ab gemacht. So supervernünftig erkläre ich mir gern die Welt, vor allem in Momenten, in denen mich fiktive Figuren piesacken. Da ist eine namenlose Frau auf einem kleinen Flughafen in den Sümpfen aufgetaucht, die mir seitenweise von einem Ziel erzählt, das sie bewusst vermeidet. Supervernünftig ist, dass ich ja ohnehin im echten Leben eine Reise in einen trockengelegten Sumpf plane, dass ich selbst im Niemandsland zwischen Sümpfen geboren bin, Sumpfkind also. Intuition nennt man das, schriftstellerische Parallele, man bedient sich an offensichtlichen Metaphern. Kein Grund für einen przypadek also.

Richtig gruslig wurde mir erst, als ich vor knapp zwei Monaten in einem Nachlass verheimlichte Unterlagen fand, die meine Wurzeln bis nach Lemberg / Lviv verlegten. Seit einem Jahr gibt es diesen Entwurf in der Geschichte mit der namenlosen Frau am Flughafen, wo eine Weronika (!) nach Lemberg ... Nein, auch das ist supervernünftig, Schriftsteller schrammen immer nur scheinbar am Verrückten vorbei, schließlich ist seit Freud alles erklärbar und seit Einstein sowieso. Und es ist doch absolut logisch, in einem Projekt über Zwischenräume und Grenzen ausgerechnet diese Stadt auszuwählen und eben nicht Rio de Janeiro oder Berlin oder Bonn oder Stettin! Es ist unser Arbeitsalltag. Schnöde Realität. Langweilige Wirklichkeit.

Wenn da nicht J. wäre. J. hat sich vor rund drei Wochen in meinem Gehirn eingenistet und verlangt, mitspielen zu dürfen, obwohl mir das meine ganze Idee zum Einsturz, sprich Umsturz bringt. J. ist eine dieser widerspenstigen Figuren, die mir noch nicht einmal einen Nachnamen verrät, keinen Beruf, keine Vorlieben oder Macken, keine Verbindungen zu den anderen Protagonisten. Ich habe J. angebrüllt, dass ich ihn nicht brauche, dass ich nicht mal weiß, wie ich ihn beschreiben soll. Ich habe ihm eine Frist gesetzt. Entweder er packt aus, oder er fliegt als fiktive Figur aus dem Projekt, in das er sich hineindrängeln will. Er hat gelacht. Mir eine Nase gedreht. Wirst schon sehen, hat er gesagt, wirst schon sehen, was du dir damit antust. Und dann ist er unverschämt geworden, ich sei ja wie die Namenlose, die sich nicht traut, endlich abzufliegen.

Wie viel Frechheit muss man sich von fiktiven Figuren bieten lassen? Heißt es nicht, Schriftsteller müssten Plot und Figuren und all das liebe Handwerk eben dort, nämlich in der Hand haben? J. nervt. Er ist so verdammt echt, dass man ihm mit dem Radiergummi schon nicht mehr an Leib und Leben kann. Aber er ist noch nicht echt genug, um ihn überhaupt in Worten skizzieren zu können. J. gruselt mich trotzdem mehr als die Namenlose oder die Lemberger Weronika, weil ich ihn als Figur nicht mehr in der Hand habe. Vielleicht auch deshalb, weil mir in letzter Zeit seltsame Zufälle begegnen, die ...

Nein, daran will ich gar nicht erst denken. Deshalb will ich Andrea Maria Dusls "Channel 8" lesen. Weil ich mich dann vergewissern kann, dass die Schmetterlingsmenschen nicht auch noch mich nerven müssen. Sollen sie alle zu ihr ins Buch schlüpfen. Wo sollen wir schließlich hinkommen, wenn wir Autoren selbst Fiktion und Leben nicht mehr sauber trennen können! Wir müssen doch... !

Jetzt hat er zum ersten Mal gelächelt, der J. Das geht durch und durch. Ich fürchte, ich bekomme ihn aus dieser Geschichte nicht mehr heraus. Aber diesen einen Schritt im Sumpf, gegen die Parallele ... nein, nicht mit mir, ich doch nicht!

Lesetipp:
Andrea Maria Dusl: Channel 8, Roman, Residenz Verlag
Gucktipp:
Krzysztof Kieslowski: Das doppelte Leben derVéronique / Die zwei Leben der Weronika
Hörtipp:
Zbigniew Preisner: La double vie de Véronique, Filmsoundtrack
Unverschämtes Product-Placement:
Petra van Cronenburg: Lavendelblues, Roman, BLT bei Lübbe (antiquarisch)

Dieser Beitrag ist keine Prokrastination in Sachen Deadline, sondern Ausdruck schriftstellerischer Entzugserscheinungen.

11. August 2010

Buchhalter der Buchstaben

Heute schreien sie im Social Web mal wieder überlaut, die digitalen Kassandras, die sich den Untergang des gedruckten Buchs zugunsten der Ebooks herbeiträumen und weissagen, dass mit den Readern nichts mehr bleibt, wie es vorher war. Wenn dann in Umfragen das Publikum nicht an den völligen Untergang von Print glaubt, munkelt man, das sei doch nur Wunschdenken. Und natürlich kloppt dann die Gegenseite wieder drauf und freut sich hämisch, dass Ebooks mehr herbeigeredeter Hype seien als Realität im Wohnzimmer.

Irgendwann entfuhr mir kürzlich der Stoßseufzer: "Wie viele wunderbare Bücher könnte man schaffen, wenn man nicht Zeit in dieser Diskussion verplemperte!" Heute habe ich bemerkt, dass dieser Ausspruch Unsinn ist. Es reden nämlich selten die wahren Buchmenschen über das Aussterben gedruckter Bücher. Diejenigen, die am lautesten schreien, kommen aus digitalem Berufsumfeld oder sind von der Mentalität her eher die Controller der Bücher, die Buchhalter der Buchstaben. Zwar geht es theoretisch um jede Menge Geld, das sich umsetzen ließe, aber die wenigsten von den selbsternannten Ebook-Gurus sind Menschen, die das beherrschen, was Printbook wie Ebook überhaupt erst möglich macht: Das Bücherschreiben. Honi soit qui mal y pense...

Und deshalb muss ich mich jetzt doch endlich laut aufregen: Die Diskussion "Ebook oder Printbook" wird weder von Schriftstellern noch von Lesern zum Kulturkampf hochstilisiert - es sind meist diejenigen, die an den neuen Formen verdienen wollen oder die Buchhalter von Buchstaben. Und das nimmt mittlerweile lachhafte Ausmaße an.

Manchmal habe ich bei PR-Aufträgen Kunden, die glauben, ihr handgeschriebener Angebotstext könne 1:1 in jedes Medium einfach übernommen werden. Ich erkläre das dann gern mit einer Gegenfrage: Würden Sie sich ein Theaterstück lieber anschauen oder in einem gebundenen Buch lesen? Könnten Sie sich auf einer Website eher den Werbespruch vom Plakat vorstellen oder die dreißigseitige Ausführung des Abteilungschefs im Originalwortlaut? Was wäre Ihnen lieber: das Drehbuch oder der Hollywoodfilm? Auch ungeübte Kunden aus der tiefsten Provinz begreifen schnell, dass es ein multimediales Scheiben nicht gibt. Der eine Text eignet sich eher für dieses Medium, der andere für ein anderes. Und will man Texte übertragen, braucht man Fachleute unter den Autoren, die sich mit dem jeweiligen Medium und den Bedürfnissen seiner Verwender auskennen und Texte danach umschreiben. Nur wenige Texte vertragen langfristig Medienhopping, auch die Auftragsschreiberei nicht.

Ich will das jetzt nicht vertiefen, Kenner der Branche wissen, dass es vor allem Ratgebertexte sind oder Texte, die starken Aktualitätsbezug haben, die sich fürs Digitale besonders eignen. Fachbücher, damit die Managerköfferchen leichter werden und auf den Readern dann noch all das, was man ohnehin nur einmal liest und dann weggeworfen hätte. Modekram, den in zwei Jahren keiner mehr lesen will, Hypes zum preiswerten Reinschnuppern. Aber all das interessiert mich schon deshalb hier an dieser Stelle nicht, weil ich glaube, dass beide Kulturtechniken ohnehin nebeneinander her existieren werden: gedrucktes Buch und Datei.

Viel mehr interessiert mich, was die Buchhalter der Buchstaben nie zu bedenken scheinen - dass es für andere Medien nämlich andere Erzähltechniken gibt und andere Formen der Literatur. Wir Autoren sind es (sofern wir uns in Nebenrechten nicht über den Tisch ziehen lassen), die letztlich durch die Art des Schreibens bestimmen, wo es lang gehen müsste und wo der Text zum digitalen Fail werden muss. Ich möchte denjenigen sehen, der sich ernsthaft James Joyce per Reader "reinzieht". Und ich möchte denjenigen sehen, der sich in Zukunft seinen Baedeker auf Bütten ausdrucken und mit der Hand binden lässt. Kurzum: So viele Texte, die wirklich Reader-kompatibel geschrieben sind, gibt es gar nicht.

Weil schon das ein Widerspruch in sich ist. Literatur lässt sich nämlich nicht formal verordnen. Literatur gehorcht weder Normen noch Marktfuzzis. Literatur wächst mit einer Gesellschaft oder gegen eine Gesellschaft; Literatur ist wild, lebendig, nicht zu vereinnahmen. Literatur ist Kunst. Der Künstler entscheidet über die Beziehungen und Verflechtungen von Inhalt und Form; er weiß, welchen Raum und welche Verbindungen sein Erzählen mit dem Äußeren des Texts eingehen muss oder darf. Und wenn der Literat beschließt: Mein Buch wird nur auf Wände gesprüht und nicht gedruckt, dann ist auch das sein gutes Recht. Sein Text kann genauso gut verkommen: in der falschen Verpackung nämlich.

Die Diskussion um Ebook und Printbook verkommt deshalb in meinen Augen zur Lächerlichkeit, weil Form plötzlich den Inhalt komplett beherrschen soll, ohne dass sich die Formen des Schreibens verändert haben. Denn auch ein Ratgeber, den man einfach für eine digitale Ausgabe einscannt, anstatt ihn für das Medium vom Autor adäquat aufbereiten zu lassen, ist auf Dauer lächerlich. Das kommt mir vor, als hätten ein paar "Moderne" von Dumas verlangt, er solle seine Texte nicht mehr als Fortsetzungsserie für die Zeitung konzipieren, sondern künftig auf Toilettenpapier drucken. Oder als wollte man von einem Apollinaire, der im Schützengraben auf Zetteln dichtete, homerische Epen fürs Kabarett verlangen.

Es wird Zeit, dass man endlich einmal die Schriftsteller und Autoren einbindet und sich ihre Texte genauer anschaut. Nicht als potentielle Goldeselware ungeachtet des Inhalts, sondern in Achtung vor dem schöpferischen Werk. Das hieße nämlich, auch die Leser ernstzunehmen.
Würde man sich in dieser Diskussion tatsächlich einmal näher mit Texten und Literatur beschäftigen, so fiele einem vielleicht auf, dass es Experimente mit "schnelleren Medien" schon länger gibt - mit allen Konsequenzen. Die Literatur um den Ersten Weltkrieg liefert Beispiele (siehe Belyj in der Rubrik Madame liest), zur Zeit des Futurismus hat man mit alternativen Formen genauso experimentiert wie unter bewusstem Drogeneinfluss. Ergebnis: es gab solche Bücher und solche. Es gab Leser für die einen und Leser für die anderen. Es gab sogar Leser, die alles lesen. Damals durften sogar die Anhänger beider Gruppen in den Cafés mit der Pistole aufeinander losgehen.

Aber wenn man glaubt, Schriftstellern und Lesern eine wichtige Form für den Ausdruck des Erzählens einfach totreden zu können, dann hat man von Literatur nicht viel verstanden. Dann hält man Leserinnen und Leser in verächtlicher Weise für dumm.

Schade - aus Zeitmangel muss ich hier abbrechen. Vielleicht komme ich ein anderes Mal dazu, über junge Autorinnen und Autoren zu sprechen, die an diese alten belletristischen Experimente der Vorkriegszeiten wieder anknüpfen und in Verbindung mit modernen Strukturen eine meiner Meinung nach aufsehenerregende Literatur schaffen. Sie wäre tatsächlich am ehesten "kompatibel", sogar auf dem Handy gelesen zu werden, aber sie verbreitet sich auf Papier. Und sie kommt seltsamerweise nicht aus den Ländern, in denen Kassandra den Untergang des Papierbuchs beunkt.

Mein Tipp: Lassen wir die Buchhalter der Buchstaben ihre Zeit mit dem Untergang des Abendlandes vertun. Schreiben und lesen wir lieber wundervolle Bücher. Und schauen wir uns die Paragraphen mit den Nebenrechten genau an. Denn Autoren machen sich eine Menge mehr Gedanken als nur um Readerformate und Trends. Wir schreiben auch noch, wenn der Strom längst ausgefallen ist.