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30. Juni 2010

Das Flüstern der Kunst

Eben noch habe ich das Schweigen beim Schreiben begreifen wollen, das - wie man an den zahlreichen wunderbaren Kommentaren sieht - auch anderen bekannt zu sein scheint. Heute ist es dann unverhofft passiert, trotz Tropenhitze, trotz der Abwicklung von ablenkenden Telefonaten und Formalitäten. Ich kann wieder schreiben. Es geht noch.

Kalt erwischt hat mich ausgerechnet eine Geschichte, die ich absolut geheim halte, über die ich nicht spreche, weil ich dabei eben diese Angst habe, sie könnte mir dann davonfliegen. Denn es ist eine völlig ungeplante Geschichte, keine nach Plotschema, nach Ratgeberbausteinen schon gar nicht. Wie schon so oft, entstand sie durch eine Figur, die plötzlich dastand und nicht mehr gehen wollte. "Volatile" würde ich zu ihrer Essenz sagen, was auch im Deutschen verständlich ist, in dem ich kein wirklich angemessenes, passend klingendes Wort finde. Zumal sich diese Geschichte, die einmal Romananfang werden will, nur schreibt, wenn ich sie eigentlich gar nicht schreiben möchte.

Es begann mit meiner Siesta-Lektüre: Gennadij Gor und seiner Erzählung "Der Wasserkessel", in welcher ein Mann für seine Umwelt spurlos verschwindet oder womöglich stirbt, während er feststellt, dass er sich in den Wasserkessel seiner Frau verwandelt hat. Er kann alles hören, sehen, sogar einmal agieren, aber er kann sich nicht bemerkbar machen aus seiner Welt heraus.

Wie ich so lese, bemerke ich, dass etwas geschieht. Ein Wasserkessel kann nicht sprechen und dieser lebt doch. Können Geschichten sprechen? Gors Geschichte jedenfalls schien sich selbstständig zu machen. Während ich noch ihre Worte mit den Augen aufnahm, setzte sie sich zum Tee mit ein paar Gästen. An den Samowar gebeten wurden drei Erlebnisse aus meinem Leben, eines davon das eben beschriebene Abenteuer um die Lehrersatire. Und die drei Erlebnisse hatten ebenso Phantastisches zu erzählen.

Das bewusste Erlebnis hob den Zeigefinger und sprach: "Was wäre geschehen, wenn die Siebzehnjährige jenes jetzt im Blog hinterlassene Plädoyer damals hätte sehen können?" Darauf meldete sich ein anderes Erlebnis, das winzig und unscheinbar am Tisch saß: "Ich bin ja nur eine Eintrittskarte, man bräuchte kein Aufhebens von mir machen. Aber die Person hat mich gekauft zur Belohnung nach einem katastrophalen Jahr. Was wäre geschehen, wenn sie damals die wahren Katastrophen hätte sehen können, die erst mit meiner Einlösung vorbei sein würden?"

Ich las in Gors "Wasserkessel" und saß gleichzeitig mit der Geschichte beim Tee. Aber wie der Mann, der zum Wasserkessel wurde, war auch ich in dem Moment eine Verschwundene; eine, die alles hört und sieht und nicht sprechen kann - nicht sprechen durfte. Hätte ich in diesem Moment gesprochen, wären die Teebesucher schnurstracks geflohen. So aber begann der Samowar blau zu glühen, in diesem Kandinsky'schen "Die Welt ist tief"-Blau. Und das hatte ich irgendwo schon einmal gesehen. Irgendwo anders, wo es ums Schweigen ging.

Ich neigte das Buch ein wenig zur Seite und dachte nach. Ich lief zum Computer und fand auf Anhieb die Datei. Jene Figur in jener unaussprechbaren Geschichte trug ein Kleid in eben jenem Blau. Und plötzlich wirbelten der Samowar und das Blau und das Kleid und die Geschichte und der Wasserkessel und die Frau mit der Frau und die Eintrittskarte fiel vom Stuhl. "Ich bin nur eine Eintrittskarte", schrie sie mich an, "man bräuchte kein Aufhebens von mir machen", röchelte sie. Aber in dem Moment hatte sie schon die Jahreszahl auf ihrem Bauch gewechselt und auch sie konnte alles sehen und hören und nicht mehr sprechen.

Schweigend legte ich Gors Buch weg, schlich mich weg von den Gästen des Wasserkessels und näherte mich vorsichtig der Frau in Blau in der beschwiegenen Datei. Endlich wusste ich, warum sie ständig von einem Ort spricht, sich an einen Ort träumt, auf einen Ort wartet, andere an diesen Ort bringen will - und doch nicht hinreisen kann.

Die Eintrittskarte aber, die körperlich in einer fremden Stadt auf mich wartet, hat sich wieder erholt und lacht mich aus. "Ich bin nur eine Eintrittskarte, man bräuchte kein Aufhebens von mir machen", flüstert sie und fügt dann glucksend hinzu: "Aber den Text hättest du dir genauer anschauen können, den Text! Steht nicht auf meinem Herzen genau dieser Ort geschrieben?" Tatsächlich. Ich hatte die Karte gekauft, weil der Ort damit zu mir kam, in jene fremde Stadt. Es war einer dieser seltsamen Orte, die im Blau des Schweigens wandern können.

kauf mich oder ich kill dich

Falls sich jemand bei der Hitze langweilt, gibt es wieder ein wenig Lesestoff. Der Künstler Daniel Richter verlässt Hamburg wegen der Kulturpolitik der Stadt und macht im Hamburger Abendblatt deutlich, was passiert, wenn Kunst und Kultur nur noch merkantilisiert werden. Über Künstler sagt er:
"Das sind doch keine Danone-Berater! Kreativität ist etwas für Werber, Grafiker und Fotografen, die hat mit Kunst erst mal nichts zu tun. Der Akt des Schaffen als Künstler ist ein anderer als der eines Auftragnehmers für einen Konzern oder Sportverein."
Dabei geht's auch innerhalb der Kunst zunehmend um Konsum und der wird beispielsweise in der Literatur neuerdings am liebsten mit satten Skandalen angefacht. Je mehr ein Buch polarisiert, je besser man es zerreissen kann, je skandalumwitterter die Autorin, der Autor, umso verlockender fürs Feuilleton. Wird Norbert Gstrein, einst Autor bei Suhrkamp, jetzt bei Hanser, Hegemann als Buhmann überholen? Die Schlammschlacht um die Verlegerin in seinem neuen Roman ist eröffnet, denn seine ehemalige Chefin soll hinter der Fiktion mehr als erkennbar sein. Natürlich ist der Roman noch gar nicht erschienen.
Ich schlage, um den Erfolg solcher Literatur ressourcenschonender zu etablieren, eine Krimiserie vor: "Autoren morden ihre Verleger, Lektoren, Agenten, Buchhändler, Kollegen..." Doch wer will das lesen?

Apropos mordende Autoren - es traut sich in dieser winzigen Branche ja bekanntlich kaum einer außer Gstrein u.a. das Nest öffentlich zu beschmutzen. Man trifft sich im Dorf der Bücherwelt bekanntlich immer mindestens zweimal. Dabei zuckt kaum noch einer die Schultern, wenn klar wird, wie man Claqueure und angeblich freie Rezensenten bezahlen kann; wie die Verlagswelt scheinbar private Blogs laufen lässt, die auch nur aus der Presseabteilung stammen. Nichts gegen die Musikbranche, aber nahe dran. Welche Intrigen, welch menschlicher Hinterhalt jedoch unter AutorInnen in Netzwerken blühen, können nur diejenigen ermessen, die sich denselben ausliefern oder wenigstens ausreichend kriminelle Fantasie besitzen. Die Autorin Heike Koschyk beweist Mut und spricht offen über Mobbingkampagnen und Anti-PR unter Autoren:
"...ganz systematisch werden Bücher in der Luft zerrissen, Autoren bloß gestellt, abgerechnet."
Was sie beschreibt, ist noch zahm gegen das, was hinter den Kulissen manchmal wirklich läuft. Unter dem Aspekt der PR gesehen, können solche Mobbingaktionen jedoch wirken wie Gstreiners Romanankündigung: So ein Schuss kann schnell nach hinten losgehen. Ob es allerdings hilft, sich als Betroffener zu rechtfertigen? Da gösse man allzu oft Öl auf unterbelichtete Lämpchen.

29. Juni 2010

Das Machwerk

Zur allgemeinen Belustigung meiner Kritiker, Leser, Lektoren und Verleger ein paar Ausschnitte aus dem "Machwerk", das eben erst entdeckt wurde.
Der berühmte "Klammersatz" am Anfang und Ende:
Mit zielstrebigem Schritt, drei dicke Bücher unterm Arm, in der Hand einen abgekauten Kugelschreiber, einen undefinierbaren Duft von Angstschweiß verbreitend, betritt Herr X das Klassenzimmer.
...
Mit schleppendem Schritt, drei dicke Bücher unterm Arm, in der Hand einen abgekauten Kugelschreiber, einen undefinierbaren, noch penetranter gewordenen Duft von Angstschweiß verbreitend, verlässt Herr X das Klassenzimmer.
Die niedlichen Gags:
(Lehrer richtet sich am Pult ein:) Das knallende Rot des Notenbuchs wird zum krönenden Abschluss. Genau parallel zu dessen Kante darf der Kugelschreiber liegen (...), verzögert wird die Zeremonie nur, wenn er wegrollt.

(Absolut unvorbereiteter Schüler wird geprüft, soll übersetzen:) Doch schon rückt der rettende Schlauch (Übersetzung in Buchform) durchs Weitergabesystem an. Extra stotternd, damit es nicht so auffällt, bringt A es zur druckreifen Übersetzung. Doch da A schon immer nicht besonders gut war, findet Lehrer X auch hier Fehler.
Es kommt zur Vokabelabfrage. Hier endlich scheitert A, weil er sich an so wichtige Vokabeln wie für "Fresser", "Spinnennetz" und "Hinkefuß" nicht erinnern kann. Als er dann noch nicht einmal weiß, dass "sacculus" der "Geldbeutel" heißt, ist das Maß voll...
(später in der Story kommt es dazu:) Um sie (die Schüler) vor dem Gong wenigstens noch einmal wachzurütteln (wohl aus Rücksicht gegen den nachfolgenden Lehrer), schreitet Herr X zu Schüler A, entschuldigt sich (wie allgemein erwartet) und streicht die schlechte Note.
Und schließlich das Streitobjekt: Satire oder nicht, Ironie oder nicht?
Als er den Arm hebt, bietet sich den Schülern der Anblick der höchsten Kunst der Handarbeit. Sein rostroter, verfilzter Rollkragenpulli, den er sage und schreibe schon vierzehn Tage trägt, zeigt eine herrlich schweinchenrosa Flickarbeit, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit verdorbenem Griesbrei zeigt. Da muss eine neue Boutique aufgemacht haben, schließen die Schüler. Denn schon gestern hatte er so einen exzentrischen Flicken-Pulli an...
Haben diejenigen, die noch nicht gelangweilt eingeschlafen sind, gut aufgepasst? Haben auch sie die Autorin überführt?
Nein, nicht des Pamphlets oder irgendeines Straftatbestands, sondern eines viel schwerwiegenderen Vergehens. Die Autorin hat einen Anachronismus (14 Tage, gestern) eingebaut! Es fehlt ihr grundlegend an Logik, und das innerhalb eines Gags!

Viele Lehrer, einige Rechtsanwälte, ein Schuldirektor, Hunderte von Lesern haben sich intensivst mit diesem Text beschäftigt. Und da müssen über dreißig Jahre vergehen, bis die Schriftstellerin die Schülerin überführt, absolut nicht gagsicher zu sein!

Aus dem Nachlass: Sünde ohne Ablass

Wenn man einen Nachlass ordnet, kann man Überraschungen finden. Soeben ist der bisher umstrittenste Text der Autorin bei deren Lebzeiten wieder aufgetaucht! Im Original. Ein übles Machwerk von Satire, oder wie ein damals geschätztes Rechtanwaltsbüro schriftlich bescheinigte: "Gesamtwürdigend muss ich feststellen, dass der Artikel als ein gehässiges Pamphlet eingeordnet werden muss" und "der Straftatbestand einer rechtswidrigen Beleidigung im Sinne der §§ 185 ff. StGB erfüllt ist." Das klingt nicht nur unglaublich, das ist Realität: Die süße siebzehn Jahre zählende Damals-noch-nicht-Autorin und die Redaktion wurden hochoffiziell verknackt und konnten sich nur durch einen Vergleich dank einer noch geschätzteren Anwaltskanzlei vor Schlimmerem bewahren. Der angedrohte Wurf von der Schule kurz vor dem Abitur verlor dann seine Wirkkraft, als das Konkurrenzgymnasium tönte: "Wir nehmen euch mit Kusshand!"

Wie wir alle wissen, wurde die Schülerin nach einigen Irrfahrten ausgerechnet Journalistin und schrieb fürs Feuilleton einer Tageszeitung noch viel härtere Pamphlete, für die sie auch noch bezahlt wurde. Es gab damals einige Lehrer, welche die Schülerin heimlich zum Kaffee einluden, um ihr zu erzählen, dass sie ein gewisses Talent habe und sich durch eine Strafzahlung ja nicht vom Schreiben abhalten lassen solle. Damit haben sie historisch Bedeutsames verursacht, denn jener Straftatbestand ist der erste veröffentlichte belletristische Text der Autorin. Damals noch handschriftlich niedergelegt auf sechs nummerierten DIN-A-5-Seiten, in der Redaktion abgetippt und per Copyshop im Eigenverlag der Schülerzeitung publiziert. Die Exemplare gingen weg wie nix und wurden nach dem Einschalten der Kanzlei von Fans in Massen raubkopiert.

Etwa dreißig Jahre später liest sich der Text, wie sich eben Schülertexte so lesen. Ein großer Wurf war es noch nicht, die satirischen Überspitzungen gerieten in der Tat häufig zu plump, nicht scharf genug, nicht zielgenau treffend. Viele Witze sind solche "Insider", dass ein Raubkopierer aus fernerem Umfeld wohl kaum seine Freude erleben konnte. Außerdem hätte sich die kleine Autorin kürzer fassen können, der Artikel hat Längen.

Aber der Text erschreckt die Autorin in positivem Sinne, weil er deutlich macht, wie wenig man sich selbst beim Schreiben verändert - trotz aller Entwicklung. Er zeigt, wie leicht es eigentlich wäre, mit dem scharfen Blick aus zeitlichem Abstand die Eigenheiten, Schwächen und Stärken zu erkennen. So ein alter Textversuch könnte hilfreich sein, wenn man sich selbst zu verlieren scheint, wenn man das Schreiben zu sehr anpasst und die eigene Stimme zu verlieren droht. So ein alter Textversuch kann die Augen öffnen.

Meine Art, Menschen zu bebachten, Figuren zu charakterisieren oder ironisch überspitzt zu formulieren, hat sich kaum verändert. Ganz schlimm ist die Feststellung, dass ich die im Blog geübte Marotte, im letzten Satz noch einmal einen Gedankenschlenker oder einen Gag einzubauen, womöglich sogar durch Wiederholung mit kleiner Variation, schon mit siebzehn Jahren praktizierte. Mein berühmter letzter Satz...

Ich weiß nicht, ob der Lehrer, dem wir damals Schmerzensgeld zahlen mussten, glücklich geworden ist mit seiner Reaktion. Immerhin hat er Aufregendes geschafft: Ich habe von ihm im Unterricht zwar nicht viel gelernt, wusste aber seither, wie man die Freiheit der Literatur auch per Anwalt verteidigt. Und wenn er nicht gewesen wäre, hätten die anderen Lehrer nie einer zukünftigen Schriftstellerin gesagt, dass sie nie mit dem Schreiben aufhören soll, weil sie ein gewisses Talent hätte.
Zum "Machwerk"...

Updates und Nebenpfade

Ich mache die geneigte Leserschaft darauf aufmerksam, dass auf meinem Nachttisch, pardon, rechts im Menu schon wieder neue Bücher liegen - und ich beneide diejenigen Leser, die immer nur ein einziges Buch auf einmal lesen: Rubrik Madame liest. Also öfter nachschauen...

Auch in der Blogroll tut sich immer mal wieder etwas. So ist ein französisches Blog dazugekommen, von dem ich zwar ständig höre, dessen URL aber ich erst bei der klappentexterin fand, weil "Der Freitag" über unseren berühmtesten Bücherblogger Pierre Assouline geschrieben hat. Nun ist es tatsächlich so, wie die Zeitung schreibt: Das Verhältnis zur Literatur ist in Frankreich ganz anders und findet obendrein seit langem auch breit in Massenmedien statt.

Und genau das ist der Grund, warum Pierre Assouline mit einem Roman immer noch ungelesen in meiner Bibliothek schmort, warum ich bisher nicht in seinen Blog geschaut habe. Der Mann ist derart präsent in den Medien einschließlich Fernsehen, dass er längst zu diesen "Muss man gelesen haben"-Autoren zählt. Und die machen mich misstrauisch. Ich war bisher von 95% aller hochgejubelten "Muss man gelesen haben"-Autoren nachträglich enttäuscht.

Warum ich sein Blog trotzdem lese? Weil er sein Handwerk brillant beherrscht (manchmal fast zu brillant), weil ich mich dort in Kürze über die französische Literaturszene informieren kann - und weil ich bei der Hitze zu faul bin, eine der vielen Literaturzeitschriften des Landes in der nächsten Stadt zu kaufen. Natürlich bloggt der Mann nicht privat aus Spaß fünf Stunden am Tag, er ist bei Le Monde angestellt und die haben sein / ihr Blog bekannt gemacht. Zum Sprachenlernen ist das Blog außerdem ideal: Assouline hat ein sehr klares, lebendiges Französisch, bei dem man den Staub schulischer Sprachkurse ablegen kann.

Wem es zu heiß für alles ist, der kann sich vielleicht bei der glaserei amüsieren: kurz, knapp und reiner Katzencontent. Oder vielleicht doch mehr?

27. Juni 2010

Schweigen über das Schreiben

Kürzlich musste ich an einem öffentlichen Ort länger warten. Früher galt man noch als neugierig, wenn man Gespräche unter Wartenden belauschte. Heute spricht keiner mehr miteinander, dafür brüllen die Leute derart in ihre Handys, dass man selbst gewollt nicht weghören kann. Sitzt also neben mir so ein Angebertyp wie aus dem Bilderbuch, macht einen auf Marketingmacho, Financial Times unterm Arm, das neueste i-phone in der siegelberingten, frisch manikürten Hand. Die ersten Geschäftstelefonate gehen im Rauschen der Langeweile unter.

Dann ist offensichtlich ein persönlicher Kumpel am Apparat, offensichtlich auch Marketingmacho. Mann kommt schnell zur Sache, aber so genau wollte ich doch gar nicht wissen, was im Bett alles nicht mehr stimmt! Die neue Blonde sei schuld, sonst ginge das mit den Weibern immer... Ich ertappe mich bei einem mitleidsvollen Blick auf die Hose neben mir. Vom Schlafzimmer schaltet er unversehens mit Klick ins nächste Gespräch - und was er am anderen Ende so herunterputzt, anbrüllt und zur Schnecke macht, dass es allen Anwesenden peinlich wird, ist ganz offensichtlich seine Sekretärin. Einige Anwesende grinsen: Die Umschaltung vom Bettproblem zur Entgleisung gegenüber der Angestellten war allzu vielsagend. Vor uns sitzt plötzlich ein trauriges Häufchen Möchtegernmacho, völlig nackt und entblößt, mit all seinen Ängsten und Aggressionen, seinen charakterlichen und körperlichen Unzulänglichkeiten. Ein Mann ohne Geheimnis. Ein sehr kleiner, sehr uninteressanter Mann also.

Was das mit dem Schreiben zu tun hat?
Ich will jetzt nicht die doch ganz stimmigen Klischees von der Liebesbeziehung zwischen Autor und Text aufwärmen - oder den Vorgang des Schreibens als einen erotischen bezeichnen. Aber nicht umsonst kann man sich ja Muse oder Muserich in knackiger menschlicher Gestalt vorstellen. Jahrhunderte haben Künstlerinnen und Künstler nach solch einem Kuss gedarbt! Ich will jetzt auch nicht groß und breit von den heimlichen Freuden und Lüsten erzählen, die man erleben kann, wenn man sich mit einem blutjungen Text ins Schreibkämmerchen einschließt, sich mit einem rotzfrechen und widerspenstigen Text kappelt oder sich einen auf der Zunge zergehen lässt. Früher jedenfalls war diese Er otik des Schreibens intakt, weil es Heimlichkeit gab, Verhüllungen, Schweigen. Nur mit auserlesenen besten Freunden und in langjährigen Künstlerfreundschaften tauschte man sich darüber aus, was die Schreibfeder so alles herauskitzelte.

Und heute? Was Goethe und Eckermann einst still dem Pferdeboten anvertrauten, brüllen wir unter Publikum in Autorenforen oder Blogs herum. Wir sabbern uns öffentlich einen ab, bei Facebook oder Twitter besser konserviert und archiviert als in jedem Literaturarchiv. Wir tun es nicht mehr heimlich. Wir reden darüber. Wir reden über jeden kleinsten Rülpser beim Akt, tauschen uns aus, ob wir die Zähne vorher oder nachher putzen und was man unternehmen könnte, wenn man mal den Griffel nicht mehr hochkriegt. Die "Schreibblockade" und was man dagegen tun kann, ist in Autorenforen mindestens genauso oft Thema wie woanders die Einkaufstipps für ein gewisses Männermittel, das mit V. anfängt. Wie der Handyman, dem ich kürzlich zuhören musste, reden wir über einzelne Stellungen und lassen uns von Erfahreneren Rezepte geben, die so theoretisch einleuchtend und praktisch undurchführbar klingen wie das Kamasutra. Als sei alles Handwerk, als gäbe es die Erfolgsformel für einen Höhepunkt im dritten Akt wirklich.

Wir gehen nicht besonders einfühlsam um mit unseren Ideen und ersten Textversuchen. Anstatt sie zu behüten, anstatt sich selbst erst einmal mit ihnen zusammenzuraufen und das Prickeln der ersten Liebe zu erleben, brüllen wir sie in die Öffentlichkeit. Kein Wunder, wenn dann so ein schüchterner, zierlicher Text die Zahnbürste nimmt und uns verlässt. Kein Wunder, wenn uns die Idee, die wir eben noch packen und festhalten wollten, eine Nase dreht und sagt: "Du hast mich verraten!"

Aber wollen das nicht alle? Verlangen nicht alle den gläsernen Autor, die gläserne Schriftstellerin? Müssen wir uns nicht ständig brüllend am Handy vor allen anderen beweisen, dass wir jemand sind; dass wir noch da sind? Es tut so gut, sich öffentlich Luft zu machen, wenn der Akt daneben ging, wenn sich der Konflikt selbstständig gemacht hat! Es tut so gut, wenn die Leidensgenossen einem dann unterm Schreitisch die Glückspillen reichen und man endlich erfährt, dass ein hoher Prozentsatz von Schriftstellern Texte bearbeitet, ohne sich die Zähne zu putzen!

Und manchmal, da merken wir gar nicht mehr, wie sie uns mitleidig auf die Hose schauen, wie wir uns nackt und bloß öffentlich lächerlich machen. Eines Tages wundern wir uns vielleicht, warum keine Idee und kaum noch ein Text bei uns bleiben mögen; warum wir immer schneller und wilder hierhin und dahin fremdgehen, anstatt endlich einmal an einer Beziehung richtig zu arbeiten. Viele werden dann machtvoll die Financial Times ausbreiten, vielleicht eine Menge klug klingenden Geschwätzes über Märkte absondern. Und irgendwo, ganz leise, fast unhörbar, schleicht etwas an uns vorbei. Vielleicht etwas ungelenk, vielleicht nicht hübsch, vielleicht zu schüchtern. Ein Wesen, das Stille sucht und Abgeschiedenheit, das die Entblößung zunächst scheut. Werden wir dann noch Sinne dafür haben? Es könnte der Text unseres Lebens sein...

25. Juni 2010

Axel Springer liebt Tote

Wenn man einen Todesfall in der Familie hat, erlebt man nicht nur Mitgefühl und Ignoranz, sondern auch brüllenden Wahnsinn. So geschehen mit einer Abo-Kündigung bei Axel Springer.

Die Kündigung erfolgte durch den Bestatter, schon vom Briefkopf her nebst Kopie des Totenscheins eindeutig als Kündigung wegen Todesfalls erkenntlich - und mit der Adresse der Nachkommen versehen. Nun hat der Verlag Axel Springer die Sache natürlich ordentlich bearbeitet und abgewickelt, aber wie!

Das Bestätigungsschreiben ging weder an den Bestatter noch an die Nachkommen. Es ging selbstverständlich an den Toten selbst, bei dem man sich noch einmal posthum für das Interesse an der Zeitschrift bedankte!

Und weil auch ein toter Kunde ein Kunde ist, hofft die Abo-Abteilung: "Wenn Sie sich weiterhin für die eine oder andere Ausgabe im Einzelhandel entscheiden..." Aber natürlich, den neuen Service frei Grab nehmen wir doch sofort in Anspruch und hoffen, dass der Zustelldienst auf Urnengräbern etwas billiger ist! Auch die Anregungen und Wünsche, die der Axel Springer Verlag gern vom Verstorbenen entgegennähme, wurden per Tischerücken ins Jenseits gesendet. Die Antwort war leider nicht zitierfähig, aber wir Nachkommen hätten den Vorschlag für eine neue Hochglanzzeitschrift: "Geständnisse aus der Gruft". Dazu die Zeitung "Die WELT von unten" und ein Aufpeppen von BILD durch Aufnahmen vollbusiger Maden und Skandalberichte um Zombies und andere Wiedergänger.

Und natürlich haben Sie den Namen des Toten richtig geschrieben. Danke. Dass Sie ihm obendrein einen Gutschein für eine Partnervermittlung geschickt haben, war leider im Timing nicht ganz so geschickt. Aber ich hatte schon immer den Verdacht, dass in Singlebörsen jede Menge Karteileichen vor sich hin schimmeln.

Feine Verlage entdecken

Und wieder gibt's einen neuen Bücherservice rechts im Menu - in der linken Spalte unter den Verlagen, bei denen ich selbst veröffentlicht bin:

Die Abteilung "feine Verlage entdecken".

Eine subjektive, nie fertige Liste. Sie zeigt Verlage, denen ich noch viel viel mehr interessierte Buchhändler - und damit natürlich Leser - wünsche. Darunter sind Verlage, die von Kettenbuchhandlungen nicht präsentiert werden, aber auch Verlage, die sich nicht nur in Insiderkreisen einen Namen gemacht haben.
Unabhängige und engagierte Buchhändlerinnen und Buchhändler werden jederzeit jedes ihrer Bücher bestellen, wenn es nicht schon in der Qualitätsbuchhandlung ausliegt. Man kann aber auch direkt bei den Verlagen bestellen und tut damit noch etwas Gutes: Es bleibt mehr Geld für die Bücher im Verlag. Wem das zu kompliziert ist, der findet einige vereint bei Tubuk, dem Onliner für Independents.

Wie gelangt ein Verlag in diese Liste?
  • Er ist kein Konzern oder Großverlag, der eh schon überall präsent ist.
  • Er überzeugt mich mit beeindruckenden Büchern.
  • Er überzeugt mich mit beeindruckenden Autoren.
  • Er fällt mir aufgrund seiner engagierten Arbeit auf.
  • Ich vermisse seine Bücher schmerzlich in vielen Buchhandlungen.
  • Viele der Bücher werden im Feuilleton zu wenig beachtet.
  • Die Bücher werden nicht in Nullkommanichts verramscht.
Wie gelangt man garantiert nicht in diese Liste?
Warum finden sich trotzdem größere Verlage in der Liste?
Die haben mich dann mit mindestens einem Buch derart überzeugt, dass ich dasselbe unbedingt rezensieren musste. Natürlich habe ich auch schon Bücher rezensiert, die hundert andere Kritiker besprochen haben. Für die muss ich dann keine Werbung mehr machen.
Kurzum: Die Liste ist absolut subjektiv und geschmäcklerisch und kann sich mit den neuen Programmen jederzeit wieder ändern. Ich wähle aus, was mich beeindruckt. Und bin mir sicher, noch vieles Schöne übersehen zu haben. Und damit keiner bevorzugt wird, sind sie alle alphabetisch geordnet.

24. Juni 2010

LITERATUR (Gennadij Gor)

Ich habe gestern keinen Fußball geschaut. Aber kurz beim Zappen den Bruchteil eines Interviews aufgeschnappt, in dem ein älterer Herr sinngemäß sagte: "Man fragt die Menschen doch auch nicht, warum sie atmeten. Schreiben ist wie Atmen!" In dem Moment schaltete ich den Fernseher aus und griff zu einem Buch, das mir den Atem dann gehörig verschlug.

Da schreibt einer so atemberaubend klar, treffsicher und meisterhaft differenziert; in einer Sprache, die man Wort für Wort auf der Zunge zergehen lässt und am liebsten jeden Satz noch einmal goutieren möchte und nach dem Buch das gleiche Buch noch einmal. Da schafft einer hochunterhaltsame, mitreißende und doch philosophische Literatur, die mit einzelnen Worten an der Existenz kratzt, an der Realität - und in atemberaubender Einheit von Form und Inhalt die Gewohnheit an diese Realität umkippt. Winzige Kleinode von Erzählungen, die den Blick fürs Sein schärfen, indem sie alles bisher Gesehene umkippen, brechen oder über seltsame Denkpfade zum Ursprung zurückführen.

Es ist eins von den Büchern, die sich tief einbrennen, die man über Jahre hinweg immer wieder anders lesen wird, die trotz ihrer Zeitbezogenheit zeitlos sind. Da sind Bilder und Figuren, die sich nachts bis in die Träume einschleichen, weil sie so lebendig sind, die dort ihr Eigenleben führen, unvergesslich auch am Tage, als habe man sie seit Jahren gekannt. Dabei sind die Erzählungen oft winzig, sie leiden nie an überflüssigen Wörtern, stattdessen lädt der Autor seine Wörter mit vielen neuen Inhalten auf.

Fast banal klingen die Inhalte vom Maler, der einem Menschen mit einem abstrakten Gesicht begegnet und einen Provokateur sucht; vom Künstler, der immer nur ein einziges Sujet behandelt, bis es ein seltsames Eigenleben führt - oder von einem Mietshaus, das zu einem Katalysator für unangepasstes Verhalten werden soll. Als Phantastik gilt, was der Autor in seinen Geschichten anstellt, aber es ist weit mehr: Mit seinen Kunstgriffen überwindet er schriftstellerisch Zeit und Raum. Manchmal wird einem fast schwindlig davon, dass einem durch ein paar Worte der Boden unter den Füßen schwindet.

Atemlos, wie mich das Buch macht, atme ich doch zwischendurch sehr tief durch, weil ein ganz bestimmtes Wort hier wieder Bedeutung erlangt. Weil es wieder seine ganze Mächtigkeit und Brillanz zeigt. Das Wörtchen Literatur.

Lesetipp:
Gennadij Gor: Das Ohr. Phantastische Erzählungen aus dem alten Leningrad, Friedenauer Presse
in einer meisterhaften Übersetzung aus dem Russischen von Peter Urban und einer bibliophilen, künstlerischen Aufmachung von Horst Hussel, die Sammlerherzen höher schlagen lässt.

23. Juni 2010

Edle Bücher und Preziosen in Rastatt

Nach den vielen Beiträgen in diesem Blog unter dem Label "Baden-Baden" werden die meisten längst ahnen, dass ich, bevor ich nach Frankreich und Polen geriet, aus dem Badischen komme (ich konnte sogar einmal die Hymne singen). Und wer meine Auftritte auf der Landkarte verfolgt, wird wissen, dass es mir geht wie dem berühmten Mörder: Man kehrt immer wieder zu den Orten einstiger Untaten zurück. Trotzdem existiert von mir keine typische Autorenvita, wie sie sich heutzutage besonders gut verkaufen würde:
Ist in Kanada und Zimbabwe geboren, lebt und arbeitet heute in einem hinterbayrischen Dorf, wo er neben diversen Literaturpreisen als Tellerwäscher, Leichenwäscher und Gelegenheitsposaunist arbeitet.
Ich rede aus zwei Gründen nie über meine Geburtsstadt: Erstens kann ich solchem Heimatgedöns nicht viel abgewinnen. Zweitens hatten wir schon in der Schulzeit keinen sehnlicheren Wunsch, als so schnell wie möglich unsere Provinz zu verlassen, um endlich Nachtleben, aber vor allem Kunst und Kultur zu erleben. Das Gymnasium nebst der dort vermittelten - damals noch altsprachlich-humanistischen - Bildung war edel und bot Abiturienten mit besonderem Geschmack immerhin das lebenslängliche Privileg, neben einem ausgestellten Mumienpaar in der Schlosskirche heiraten zu dürfen. Wir waren verwöhnt und hörten uns in der inzwischen bekannten historischen Bibliothek der Schule, umgeben von Originalen eines Dürer, Holbein oder Grien, Schriftsteller wie Günther Grass oder Walter Kempowski an. Aber sonst gab es eigentlich kulturell nicht viel.

Kenner werden wissen, dass ich vom Dunstkreis um Sibylla Augusta rede, die ich schon in der nach ihrem Gatten benannten Schule nicht richtig buchstabieren konnte, weil sich ein anderes Mädchen dreist verdreht Sybilla nannte. Die Rede ist vom mittelbadischen Rastatt, wo ich als Kleinkind auf den Kanonen des prächtigen Möchtegern-Versailles der Markgrafen ritt und mir vorstellte, ich hieße Münchhausen. In der Jugend flüchteten wir dagegen kanonenschnell nach Karlsruhe und Baden-Baden, ins Elsass und schließlich mit dem Führerschein noch weiter weg. Rastatt war eine Stadt, in der man damals als Schüler für sehr lauen Lohn Schundhefte wie den Landser und sogenannte "Erotik" beim Hersteller aufs Altpapierband sortieren konnte, bis man sich genügend qualifiziert hatte, um für besseres Geld in einer benachbarten Firma Verpackungstexte im Siebdruck auf Kosmetikflaschen zu drucken. Immerhin, es gab eine Institution von Buchhandlung, mit Lesungen und Kunstausstellungen - aber irgendwann gab es auch die nicht mehr. Rastatt war lange Zeit literarisch ein weißer Fleck auf der Landkarte, mit einem Angebot von Schmonzetten, Heftchen und Schlank-dich-frei-oder-friss-dich-fromm-Büchern. Dafür konnte man dann in einer großen Autofabrik jobben.

Ich hatte zuerst im Börsenblatt von der Neueröffnung der Sibylla Augusta Buchhandlung in Rastatt gelesen. Mit allen Vorbehalten der Emigrantin, die froh ist, aus der Provinz entflohen zu sein, umkreiste ich die Adresse zunächst sehr weiträumig. Mit der typischen Ignoranz und Überheblichkeit einer Emigrantin fragte ich mich: Was konnte das schon für ein Buchangebot sein, in einer Stadt, in der das Ladenangebot sich seit Jahren einer "Geiz-ist-geil"-Atmosphäre hingibt (bis sogar das alte Kaufhaus am Platze einging), in der es außer Konsum und der Jagd nach Mercedes-Jahreswagen nichts zu geben schien? Aber dass der ehemalige Vorsitzende des Börsenvereins BaWü, Wolfgang Peitz, und sein Neffe Henrik Friedrich das Projekt in Angriff genommen hatten, sprach doch eher dafür, dass ich eine Ignorantin bleiben würde, wenn ich nicht zumindest mal vorbeischaute.

Der erste Eindruck einer Annäherung von außen ist eine Kulturreise an sich. Man bewegt sich von den Ramschläden und austauschbaren Geschäften der Fußgängerzone (aus Richtung Kaiserstraße) zu einem Fastfood-Ketten-Bäcker (auch längst tot: der traditionsreiche Konditor) - und die gefährliche Assoziation zu ebensolchen Buchhandlungen mag sich zunächst aufdrängen. Dann stürzt man noch mindestens ein Niveau tiefer mit einem monströsen, grellbunten Laden voller Billigstware. Was mag nach so viel Dekadenz kommen, in welcher der vielgepriesene Untergang des Abendlandes auf Cent-Niveau gefeiert wird?

Zum Glück das genaue Gegenteil. Ruhig und geschmackvoll gestaltete Schaufenster, nicht wenige an der Zahl. Selbst Biss-Bücher wirken darin wie Edeldekorationen, es gibt aber vor allem prachtvolles antikes Porzellan und Bücherpreziosen ohne schreiende Farben, dafür mit umso ausdrucksvolleren Titeln und Namen. Kunst. Und noch mehr Kunst im großzügigen Eingangsbereich, der einen mit genussreichen Bildbänden und preiswerteren Büchern einfängt.

Das nimmt die Schwellenangst, denn dahinter öffnet sich ein großzügig gestalteter Buch- und Kunsttempel, den ich so in der Tat in jeder anderen Stadt erwartet hätte. Und dann fiel mir auf, dass hier nur wiederbelebt ist, was in Rastatt über Jahrzehnte verdrängt und vergessen wurde - oder wofür sich nur historisch und kulturell interessierte Menschen begeisterten. Markgräfin Sibylla Augusta hat im nahen Schloss Favorite, dem sogenannten "Porzellanschloss" nämlich eine legendäre Sammlung hinterlassen. In der Buchhandlung ihres Namens gibt es nicht nur Porzellan, sondern vor allem keine Stapelware. Die Antiquitäten, auf denen sich die Bücher - fast möchte ich sagen "räkeln" - kann man genauso kaufen wie Sammlerstücke aus Porzellan mit Goldrändern und Kobaltbemalungen, mit Rosen und historischen Mustern. Dass dann auch noch die Wände für Kunstausstellungen genutzt werden und der Laden trotzdem nicht vollgestopft, sondern luftig und großzügig wirkt, macht die Buchhandlung zu einem Wohlfühlort, einer Oase. Es gibt eine Kinderspielecke und Sitzgelegenheiten. Nichts für eilige Passanten, denn man will schauen, sich orientieren, entdecken. Großstädter werden mein Schwärmen vielleicht belächeln, mögen aber bitte beachten: Es handelt sich um eine Buchhandlung in einem Städtchen mit rund 50.000 Einwohnern, alle Dörfer mitgezählt.

Auf einem dieser alten Tische entdeckte ich dann auch gleich ein Buch, das mir wegen seiner künstlerischen und außergewöhnlichen Aufmachung ins Auge fiel. Beinahe hätte ich es ebenfalls für eine Antiquität gehalten. Denn wann sieht man schon einmal Bücher der Berliner Friedenauer Presse in corpore, die schönen Wolffs Broschuren noch dazu? Wo kann man heutzutage noch in einen Laden gehen und sich einfach die Gesamtausgabe von Ossip Mandelstam (Amman Verlag / Biographie) mitnehmen?

Natürlich kann man hier auch seinen Biss kaufen, während sich die Historie eher in Sachbüchern und Bildbänden breit macht. Aber man wird eben auch von Gustav Mahlers Briefen, von Spezialliteratur über altes Porzellan und Regionalia, von anspruchsvollen Geschenkbüchern und Verlagsnamen verführt, die man in Fastfoodläden vergeblich sucht: Wagenbach (siehe Interviewhinweis im Blog), Friedenauer Presse, Suhrkamp, Marix, Agora - um nur einige wenige zu nennen. Und für eine wie mich, die als Leserin die noch viel zu unbekannte, viel zu selten vorgestellte Literatur Osteuropas und Russlands entdecken will, ist der Laden ein echtes Gourmetrestaurant. In diesem Umfeld kann ich mir Bücher wie Eduard Kotschergins "Engelspuppe" vorstellen oder die bibliophile Kafka-Biografie aus dem Parthas-Verlag, Kerstin Deckers Else-Lasker-Schüler Biographie "Mein Herz - Niemandem", vielleicht auch Literatur von Olga Tokarczuk.

Die Inhaber und ihre Buchhändlerin betonen, dass sie gern ausgefallene literarische Wünsche und die Suche nach Perlen in Buch- und Schreibkunst unterstützen. Der Service ist unaufdringlich, freundlich und höchst kompetent. Wem das alles noch nicht reicht: In der ziemlich frisch eröffneten Buchhandlung soll es bald regelmäßig Kunstaustellungen und Lesungen geben.

Mir hat der Besuch dort wieder eines bewiesen: Bücher werden am ehesten gekauft, wenn man sie in die Hand nehmen kann, wenn sie im Buchhandel präsent sind. Hätte ich mir sonst je "Das Ohr" von Gennadij Gor (Friedenauer Presse) spontan bestellt, es überhaupt entdeckt? Hier schmiegte es sich fast von selbst in meine Hand - und war gekauft. Zum Glück gibt es diese Art Buchhandel - und zum Glück gibt es gerade heute mutige Menschen, die solche Buchhandlungen aufmachen.

Sibylla Augusta Buchhandlung Rastatt
Rappenstraße 10-12, gegenüber vom Hotel Schwert (Verbindung zwischen Herren- und Kaiserstraße)

Disclaimer:
Weil man das heutzutage immer dazu sagen muss: Dieser Artikel ist kein Auftragswerk, sondern unabhängig, ohne Wissen der Buch-Kaufrausch-Verursacher und aus eigener Beurteilung entstanden.

22. Juni 2010

Perlenfund im Buchhandel

Was macht eine Autorin, die mitten in der Nacht morgens um fünf Uhr aufstehen muss, um anschließend neben drei schwer schuftenden Männern, die zwei LKWs beladen, beim Müllen und Schleppen schwerer Säcke zu helfen? Eine Autorin, die neben brüllenden Kreuzschmerzen (man wird alt) brüllen könnte, dass sie derzeit nicht zum Schreiben kommt?

Ganz genau. Sie stiehlt sich zwischendurch davon. Und sucht irgendetwas Balsamisches für die Seele, irgendetwas zum Durchhalten. Also fuhr ich in die Innenstadt und wollte eigentlich frühstücken gehen. Aber dann fiel mir eine Börsenblattnotiz über die Neueröffnung einer Buchhandlung ein. Ich ließ das Frühstück - zum Glück - ausfallen.

Was ich fand, war ein Traum für alle, die Kettenläden und ihre Ware über haben. Morgen werde ich diese Perle von Buchhandlung vorstellen, in der ich mich glatt über Nacht einschließen lassen könnte. Ich bin ja wirklich krittlig in Sachen Qualität und kenne ein paar ausgezeichnete Verlage, die kaum ein Laie kennt. Aber das war die erste Buchhandlung, in der ich diese seltenen Perlen auch noch anfassen konnte. Einziger Nachteil: Ich muss dort meinen Geldbeutel wirklich an die Kette legen.

Tja, so elend hart der Tag war (und noch so einer wird folgen müssen), das Stündchen in dieser Oase hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben: An wundervolle Verlage, an überaus engagierte Buchhändler - und an all die brillanten Autoren, die man in eben solchen Buchhandlungen entdecken kann. Nach dem Ausschlafen mehr... Kleiner Orientierungtipp: Ich werde ins Badische führen. Mittelbaden, genauer gesagt.

21. Juni 2010

hegemanndadabluna

Während ich endlich Texte daraus übersetzen sollte, beschäftigt sich die Klappentexterin mit bereits übersetztem Dada und empfiehlt nicht nur das Buch von Adrienne Monnier: Aufzeichnungen aus der Rue de l'Odéon (suhrkamp). Diesmal bietet sie Spaß zum Mitmachen: Wie werde ich mit Schere, Zeitung und Pinzette "eine originelle Schriftstellerin von bezaubernder Empfindsamkeit"?

Es ist wirklich verblüffend einfach, wir wissen ja längst, dass jeder jederzeit Schriftsteller werden kann, man muss nur einfach etwas aufschreiben. Dank Adrienne Monnier, die einst die berühmtesten Künstler der Epoche in ihrer Pariser Buchhandlung versammelt hatte, können wir nun auch innerhalb von Sekunden Lyriker werden!
Das von mir gebastelte Gedicht "Mixa Mixa Mederake" findet sich bei der Klappentexterin in den Kommentaren. Leider sagt die selbstkritische Autorin, dass es dem Poem noch weitgehend an "bezaubernder Empfindsamkeit" mangelt. Und deshalb wird sie für die Butter aufs Brot wohl besser Dada übersetzen...

Vorher gibt's hier wahrscheinlich eine kleine Pause, denn die fremde Haushaltsauflösung läuft auf ihre völlige Auflösung zu (man drücke mir die Daumen, dass die Emmaus-Brüder wirklich ALLES mitnehmen) - und die Auflöserin auf diesselbe. Aber wie ich meine LeserInnen kenne, werden jetzt alle fleißig Lyriker-Unterricht nehmen und ganz berühmt werden!

Für die Prosaischen unter uns empfehle ich eine Filmpause mit dem preisgekrönten Dokumentarfilm "Paris was a Woman" von Greta Schiller über die Kultur der Zwanziger Jahre in der Stadt der Künste. Während leider die meisten Bücher nur von Männern wie Picasso, Hemingway oder Joyce reden, erlebt man hier, wie lebendig und einflussreich die Frauenwelt war, um Menschen wie Gertrude Stein, Marie Laurencin, Colette, Sylvia Beach und eben Adrienne Monnier. Ich habe mir sagen lassen, der Film sei besser als das Buch von Andrea Weiss: Paris war eine Frau. Leider kann ich das nicht beurteilen, weil ich dem Film immer noch hinterherjage.

20. Juni 2010

Viele viele Bücher

Jemand wie ich liest bekanntlich alles weg, was aus Text besteht - und immer gleichzeitig mehrere Bücher. Weil mir dabei so manches unterkommt, was auch für andere lesenswert ist, während ich fürs Rezensieren zu faul bin, gibt es ab sofort rechts im Menu eine neue Rubrik.
"Madame liest" zeigt scheinwerferartig, was auf meinem Nachttisch oder sonstwo herumliegt. Ohne jede Gewähr für regelmäßige Updates. Und natürlich werde ich nur die Bücher nennen, von denen ich glaube, sie könnten auch andere interessieren. Wenn ich heimlich unter der Bettdecke die Geschichten von Entenhausen konsumiere, bleibt das selbstverständlich streng geheim, Gugl muss ja nicht alles wissen.

Links zu einschlägigen Online-Buchhändlern wird es nicht geben - ich wünsche mir die Beglückung des unabhängigen Buchhandels. Außerdem erlaube ich mir, Bücher zu lesen, die nicht mehr im Handel sind - hier beglücke man bitte die Antiquare.

Wer sich mit meiner Lektüre nicht anfreunden kann, findet ganz sicher Feines bei der klappentexterin, die man auch in der Blogroll findet.

Wie geht gleich noch Thea Dorns wunderbarer Spruch: "Nehmen Sie ein Buch mit ins Bett, Bücher schnarchen nicht!"

18. Juni 2010

Migration und Memorabilien

Die Haushaltsauflösung im deutschen "Ausland" neigt sich ihrem Höhepunkt zu, d.h., die Rümplerin ist nervlich und körperlich fast am Ende und hofft, dass Emmaus nächste Woche wirklich mitnimmt, was nur geht. Spannend ist es, zu erleben, wie fremd mir die Stadt geworden ist, in der ich geboren wurde; wie komisch manches dort auf mich wirkt. Es ist wirklich erstaunlich, wie geordnet und paragraphiert das Leben jenseits des Rheins verläuft und manchmal ertappe ich mich sogar dabei, dass ich mich bei Passanten entschuldigen möchte, wenn ich beim Beladen die Heckklappe meines Autos geöffnet lasse, ohne sie schlüsselklappernd selbst zu bewachen.

Und ich fühle mich wie an der Hand eines riesigen Übervaters, wenn ich Friedhofsordnungen und Parkordnungen (ich lern das nie, dass man nur in Fahrtrichtung parken darf) und Ordnungsordnungen lese . Wie viel menschliches Hirn, wie viel Arbeitskraft ist beim Entwurf solcher dicken Werke auf der Strecke geblieben! Und ist dann etwas einmal nicht geregelt, ruft man nach Papa Staat. Kein Wunder, dass ich dumme Emigrantin natürlich erst einmal hilflos vor einer neuen Wissenschaft stand, die ich so noch nie erlebt habe: der deutschen Mülltrennung. Noch nie in meinem Leben habe ich mir das Hirn zermartern müssen, wie ich all diesen Müll wegwerfen kann, ohne ihn in Einzelteile zerlegen zu müssen und höhere Plastologie zu studieren. Nicht, dass andere Länder ihren Müll nicht trennten, aber da kapiert es auch ein Depperl wie ich.

Aber ich stoße auf eine Menge wildfremder, hilfsbereiter Leute. Heute haben mich welche fast an der Hand genommen, um mir alles zu erklären und zu zeigen, riesig nett und zuvorkommend, aber zunächst ein wenig umständlich. Nach einem wissenden Lächeln und der Frage "czy pan(i) mówy po-polsku" war die Sache geritzt, das Gespräch lief flüssig und links und rechts und eins und drei waren klar. Die Möchtegernpolin wurde freudig in deutsche Lebensverhältnisse und höhere Ordnungsprinzipien eingeweiht und weiß jetzt endlich, wo man wann welchen Schein beantragen muss, um eine einstmals völlig selbstverständliche Handlung unternehmen zu dürfen. Und ein paar Handlungen unternahmen wir dann in guter alter Improvisations- und Tauschtradition, muss ja nicht jeder Paragraph wissen, wie sehr er einen zum Lachen bringt.

Dann musste ich dringend vor Abpfiff des Fußballspiels aus dem Land flüchten. Es gibt für mich nämlich nichts Schlimmeres als trötende Menschenmassen, überhaupt unberechenbare Menschenmassen. Doch kaum hatte ich mein Auto bis auf die letzte Lücke beladen, ging das Juchhei los, Böller knallten, Tröten tröteten, Faschingsstimmung. Soso, nun haben sie also gewonnen, dachte ich. Feiernde, ausgelassene Menschen kamen mir entgegen und strömten in die Innenstadt. Totale Partystimmung, aber die badischen Fahnen sahen so komisch aus. So habe ich dann erfahren, dass hinter dem polnisch-russischen Viertel die Serben feierten. Kein Stau also und freie Fahrt nach Frankreich, wo schon lang kein Grenzer mehr in Kisten schaut.

Es sind die letzten - und die erzählen nun wirklich Geschichten, bergen Dinge, die über Zeiten und Räume gereist sind. Jakob Wassermanns "Kaspar Hauser" in einer Ausgabe von 1908, eines der ersten Bücher im fast buchlosen Haushalt, das ich als kleines Kind verschlungen habe. Ob ich "Die Nonne" von Diderot immer noch so komisch finde wie damals, als ich mit neun Jahren heimlich an das streng verbotene Buch ging? Ein elfenbeinerner, bemalter Brieföffner mit Perlenkordel und gelochten Münzen aus Japan - den hatte mir eine alte Gouvernante geschenkt, die mit ihrem Arbeitgeber, einem amerikanischen Millionär, auf Weltreise gegangen war und ausgerechnet für die Titanic kein Ticket mehr bekommen hatte. In einem Kleiderschrank fand sich meine plattgequetschte Schultüte, die mich einst überragte und mir heute zeigt, wie winzig ich einmal war. Jemand hat darin Negative versteckt, welche die Familie nicht sehen sollte.

Und langsam sind sie fast alle wieder da, die über viele Jahre als verschollen galten, auf uralten Schwarzweißfotos; all die Auswanderer und Kofferträger, die schwarzen Schafe und die brav Angepassten, die Flüchtlinge und die ewig Zurückgebliebenen. Eine Ururoma, mächtig wie ein Schrank; dürre Hungerleider und der angestaubte Schick vieler Jahrzehnte. Osteuropa meets USA. Ob sie sich jemals hätten träumen lassen, dass eines Tages jemand die letzten Erinnerungen wieder in Kisten verpackt, wieder über eine Landesgrenze bringt? Jedenfall musste ich ein Stück Nippes unbedingt retten, einem vor Lachen johlenden Freund zum Trotz, der sagte: "Willst du dir dieses Teil wirklich antun?" Kichernd packte ich es in Papier, ja klar, denn das sei die einzige noch greifbare Rechtfertigung für meine Staatsbürgerschaft - und vielleicht wurde deshalb das "Etwas" schon einmal in der Vergangenheit über die Grenze geschafft. Es handelt sich um absolut schauderhaften Nippes aus Porzellan, fein bemalt: einen deutschen Schäferhund.

17. Juni 2010

der letzte Historische...

Nach so viel Lobgehudel, wie ich es mit meinen letzten Beiträgen z.B. hier und hier erntete, muss ich mich einfach mal wieder tief in die Nesseln setzen und es mir bei einigen verscherzen. In diesem Fall mögen eingefleischte Fans von historischen Romanen bitte gleich das sinkende Schiff verlassen! Trotzdem wasche ich meine Hände in Unschuld. Schuld hat meine Freundin. Die nämlich seilte sich in den wohlverdienten Urlaub ab und hinterließ mir ein Buch mit den Worten: "Lies du das mal. Und erkläre mir, warum ich ständig wieder aus der Geschichte falle. Alle finden das Buch gigantisch, heißt es, aber ich kann nichts damit anfangen. Stimmt etwas mit mir nicht?"

Normalerweise hätte ich dankend abgelehnt, mit der Erklärung, sie habe wohl einfach nur nicht den gleichen Geschmack wie diese anderen Leser. Ich lese nämlich schon lange keine historischen Romane mehr. Nicht, dass ich als Geschichtsbesessene keine mögen würde. Mit Lust habe ich sie früher verschlungen, von Thomas Manns "Joseph und seine Brüder" über sämtliche Romane Lion Feuchtwangers, die Bücher von Leon Perutz (der auch feine Phantastik schrieb) bis hin zu den russischen Klassikern, bei denen mir allenfalls Gogols Schlachtengetümmel-Szenen in "Taras Bulba" langsam auf die Nerven fielen, weil es mir zu lang tümmelte. Umberto Ecos "Der Name der Rose" fand ich wunderbar.

Irgendwann kam dann auch der historische Roman in der Unterhaltungsindustrie an. Ich las bis in die Nacht an Noah Gordons "Der Medicus" und war beeindruckt von Irving Stones "Michelangelo". Aber schon den ersten "-in"-Roman (Definition) pfefferte ich enttäuscht an die Wand - es war der gefeierte Bestseller "Die Päpstin" von Donna Cross - und das Romanende schien mir eines der lieblosesten seit Jahren. Lieblos dahingeschrieben, als habe das Lektorat zum verfrühten Abgabetermin gepfiffen.

Ich möchte jetzt keine Klischees wiederholen, warum ich selbst seit Jahren keine historischen Roman mehr gelesen habe. Ich hörte ungefähr zu dem Zeitpunkt auf, als die Titel nur noch ein "-in" oder eine "Tochter des" und Grafiken aus der Präraffaelitenkiste trugen, weil ich als Frau das Frauenbild nicht mehr ertrug, das von der fröhlichen Massenvergewaltigung im Kostüm direkt in die willige Eherolle neben dem Märchenprinzen führte. Ausnahmen und Perlen gibt es sicherlich, aber sie sind im Einheitsbrei schon von der Aufmachung her nicht mehr zu finden. Meine Freundin weiß das alles und wagte es trotzdem. Und sie gab mir einen dieser historischen Romane, der natürlich ganz anders sein soll, der immerhin kein Wallegewand zeigt und keine geköpfte Frau - und nicht einmal über einen weiblichen Titel verfügt. Der Autor / die Autorin (Namen will ich aus gutem Grund nicht nennen und bleibe der Bequemlichkeit geschuldet bei der ersten Form) verkauft nett und ist in Insiderkreisen wahrscheinlich bekannt (ich habe den Namen zum ersten Mal gehört, aber ich gehöre ja auch nicht dazu).

Ich stellte mir also vor, ich hätte einen völlig "normalen" Roman vor mir zur Prüfung und machte einen auf Romandoktor. Was wurde mir da angeboten?

Cover:
Auch mit Lesebrille erkenne ich darauf nichts außer dem weithin leuchtenden Aufkleber "Bestseller". (Habe ich schon einmal gesagt, wie sehr ich mit Aufklebern verschandelte Bücher hasse?). Also ein Buch, mit dem sich eine breite Masse von LeserInnen identifizieren kann, egal, was sie lesen möchte.

Titel
Verführerisch, aber leider ist es ein Aufsetzertitel, der mit dem Buch zunächst nicht viel zu tun hat, sondern lediglich als Kaufanreiz an andere Bestseller erinnern soll. Ein echter Marketingtitel.

Blurbs (was ist ein Blurb / wie erfindet man Blurbs)
Man beschwatzt mich, dass ich das Brikett mit furchtbar vielen hundert Seiten in einer Nacht schaffen würde (seichte Sache?), dafür noch jede Menge Mysteriöses (ich ahne Geheimbünde, Weltverschwörung, Pseudokatholisches) und Emotionen frei Haus geliefert bekäme (Lektorensprech für austauschbare Fluchtliteratur: "pralles Leben"). Die Auswahl der zitierten Zeitungen zeigt mir, dass ich als Leser eine Frau sein sollte.

Klappentext
Zeitangabe, überhaupt viel Zeitenkram, viel Geheimnis und noch mehr Geheimnis bis in Seelenabgründe, pralles Leben also, mit einer ebenso prallen, pardon, geheimnisvollen Frau. Kurzum, es geht um ein geheimnivolles Geheimnis aus dem prallen Leben der prallen alten Zeiten. Darin vorkommend: Ein Mann und eine Frau (frau rate, ob sie sich kriegen!). Ach ja, Tod. Damit hätten wir das Untergenre bestimmt: womöglich ein historischer Krimi?
Kurzum: Diesen Klappentext habe ich schon mindestes 25 Mal gelesen. Warum also sollte ich dann dieses Buch auch noch lesen?

Das Buch
In einer Art Gewaltritt galoppiere ich (historisch, also per Pferd!) an zig Personen vorbei, die ich mir nicht einmal an der Farbe ihrer Wämser oder Wämse merken kann, geschweige denn an den austauschbaren Namen. Ich kann sie nämlich weder vor mir sehen noch eine Hauptfigur ausmachen. Sehen kann ich dagegen künstlich beatmete historische Kleiderständer, die sich in einer überladenen Kulisse bewegen, um allerhand Sätzlein auszutauschen, die klingen, als habe Mel Brooks das Mittelalter inszenieren wollen.

Was wird da in Sammet und Seide geschwelgt, mit Atlas geraschelt und in Beinkleidern nur so dahergeschritten! Sie "können von dem Schauspiel kaum genug bekommen", egal, was sie tun - und was sie tun, ist für die Handlung fast ebenso egal. Da ist alles sehr mächtig und vielsagend und geheimnisvoll, das sagt uns der Autor jedes Mal explizit zu jeder Szene dazu, damit wir es auch glauben wollen. Selbst Männer klappern angesichts des Rätselhaften mit den Augendeckeln, krallen sich in Polster, ängstigen sich vor dem Wahnsinn und ja, natürlich, klar, wie sollte es anders sein: vor schrecklichen, bösen Geheimbünden und Weltverschwörern. So saftig geheimnisvoll und verschwörerisch sind diese Verschwörer, wie es sonst eigentlich nur noch ein paar rechtsgerichtete Tröpfe heutzutage in viertklassigem Propagandamaterial heraufzubeschwören versuchen.

Und weil überhaupt nichts passiert außer einer diffusen Bedrohung durch das Bedrohliche, treibt der Autor die Handlung voran mit diversen Dialogen: In kurzen verständlichen Sätzen für einfache Gemüter über "hübsche" Gegenden, mit tonnenweise Emotionen (Angst und Ver- bis Bewunderung quellen nach jedem Satz), wenn sich Held und Heldin anzwitschern. In hochgelahrten Reden mit unfreiwillig witzigem Latein (leider zuhauf in der Fremdwortbedeutung des 21. Jahrhunderts) im trockenen Dozentenstil, wenn das Mannsbild sich unter Männern beweist. Wir ahnen an diesen Stellen völlig erschlagen, wie genau der Autor recherchiert haben muss. Es wäre wirklich zu schade, wenn uns all diese Fußnoten der Geschichte entgingen!

Ich bin jetzt auf Seite 113 und kann mir inzwischen endlich merken, wer von diesem Personalkarussel die Hauptfigur ist. Bemerkt habe ich außerdem, dass der Klappentext völlig falsche Hoffnungen weckt, denn der Tote führt mich nicht in einen historischen Krimi, sondern liegt nur herum, damit die Figuren überhaupt ein gemeinsames Thema zu besprechen haben und sich treffen. Und mir geht es ganz genau wie meiner Freundin: Ich empfinde nichts, ich sehe keine lebendigen Menschen vor mir, bin vom prallen Kostüm- und Ausstattungsschinken in Stoffen und Aufbauten erschlagen - und weiß immer noch nicht, worum es eigentlich geht. Warum also sollte ich dieses Buch lesen?

Wann Handwerk tötet
Trotzdem bin ich fasziniert. Mich fasziniert nämlich, mit welcher Brillanz der Autor sein Handwerk versteht und wie genau berechnet er es einsetzt. Er jongliert meisterhaft mit den Versatzstücken, die ein historischer Roman verlangt; vergisst wirklich kein einziges Stichwort, das Lektoren des prallen Lebens lustvoll aufstöhnen lässt. Das ist nicht nur ein Bestsellerautor, sondern ein Wunschautor: So jemand macht auch nach fünf historischen Romanen noch nicht schlapp! So jemanden könnte man wie eine Maschine mit Wunschstichworten aus der Programmkonferenz füttern und er würde wieder einen Bestseller daraus stricken. In diesem Buch ist zur Reife gebracht, was Autorenratgeber der Instant-Sorte fordern und wovon handwerkliche Anfänger träumen.

Und ganz genau deshalb funktioniert das Buch nicht. Genau deshalb berührt es nicht, sondern läuft ab wie ein Film, bei dem man gefahrlos nebenher auf die Toilette gehen kann, ohne etwas zu verpassen. Es mutet an wie die austauschbaren Familienserien im Vorabendprogramm, die man in historisch Gewänder gesteckt hat - im Gegensatz zu einem Depardieu, der auch noch einen reinen Kostümfilm zum Genuss hochreissen würde.

Der Roman ist zu perfekt, zu logisch, zu genau nach Handwerksregeln geschaffen - und darum zu clean. Da zieht einer perfekt im Hintergrund an Strippen, jede einzelne Person ist bis ins Styling hinein wie nach einer Hollywood-Software gestaltet: Ist dein Held blond, reich und klug, mach den Antagonisten klein, dreckig und schwarzgelockt. Solche Abziehbilder haben keine Persönlichkeit und so verpufft auch die ganze ach so geheimnisvolle Geschichte ohne jedes Leben.

Leben bricht Logik. Leben ist nicht perfekt. Leben erfüllt keine Erwartungen und spielt nicht nach Klischees. Leben ist keine Beruhigungstablette, Leben fordert. Leben ist unverschämt, krumm, faszinierend, böse, berauschend und noch vieles mehr - aber es kann garantiert nicht nach Stichworteplan aus der Marketingabteilung abgehakt werden. Da nützt es auch nichts, wenn Figuren, hinter denen sich der Autor nur unzureichend verbirgt, mir alle halbe Seiten zurufen: "Achtung, das macht jetzt richtig doll Angst, das ist jetzt ganz arg romantisch, das ist unheimlich gruslig, Vorsicht, Geheimnis, Verrat, Vorsicht, Verschwörung!" - Ich nehme ihnen das nicht ab, wenn sie es nicht leben. Und es erstickt mich als Leserin, wenn mir sämtliche Emotionen im Knopfdruckverfahren vorgeschrieben werden. Für wie dumm halten die mich eigentlich?

Wünsche für die Zukunft
All den Menschen, die wie ich gerne Romane aus fernen Zeiten lesen (würden), all den Kolleginnen und Kollegen, die gerne lebendige, lebende Romane aus anderen Zeiten schreiben (würden), wünsche ich von ganzem Herzen, dass diese unsägliche Marketingmasche sich bald selbst erstickt, damit endlich wieder ROMANE auf diesem Sektor möglich werden. Meine Freundin werde ich trösten können: Es liegt tatsächlich nicht an ihr. Sie lässt sich schlichtweg nicht für dumm verkaufen. Und damit gehört sie zu einem von vielen Großverlagen immer schmählicher vernachlässigten, ja manchmal fast verachteten LeserInnenpotential.

PS: Aus alter Erfahrung wünsche ich mir hierzu Kommentare auf sachlichem Niveau. Namentliche Verrisse und Verunglimpfungen von KollegInnen und deren Büchern bitte nicht hier abladen!

15. Juni 2010

Die Harke im Kopf

In einem Kommentar zum letzten Beitrag schreibt Simona einen denkwürdigen Satz:
"Im Alltag verwischen die Fußspuren von Intuition und Inspiration ganz schnell, wenn Angepasstheit und Marktorientierung drüber trampeln."
Und weil sie nach einer Harke dagegen sucht, will ich einfach mal die Geschichte von einer Harke erzählen, meiner Harke im Kopf. Ich bin ja eine, die aus Versehen ins Buchgeschäft geriet. Eigentlich Journalistin, saß ich eines Tages mit zu viel Material für einen Artikel da und ließ mich fragen: Warum machst du nicht einfach ein Buch daraus? Der schnelle Erfolg verführte mich, ich gebe zu, ich wurde schließlich käuflich. Für brave Marktorientierung winkten ein dicker Zwei-Buch-Vertrag in einem großen Publikumsverlag - und die anschließende, unerklärliche Schreibblockade. Ich verkaufte gut, hatte mehrere Bücher am Laufen und merkte trotzdem nicht, wie unglücklich ich war. Weil sich immer noch nicht das aus mir herausschrieb, was in mir drängte. Stattdessen ließ ich mir von allen möglichen Leuten sagen, dass ein wenig Anpassung an den Markt nicht schade, dass man eben Trends bedienen müsse, wenn etwas aus einem werden soll. Irgendwann brodelte das derart in mir, dass ich das Bücherschreiben beinahe aufgegeben hätte.

Ich hatte jedoch sehr viel Glück mit harten Kritikern. Mit KollegInnen, die mir gründlich den Kopf wuschen und mir Stellen im Buch zeigten, die verrieten, dass ich auf ganz anderen Gebieten Stärken hatte. Mein Glück waren ehrliche Menschen, die erkannten, was schief lief. Eine Yellowpress-Agentin vergesse ich nie, bei der ich mich - des Zasters wegen - mit Schicksals- und Liebesgeschichten beworben hatte. Die Absage kam prompt und deftig: Meine eingereichten Schmonzettenversuche seien hart am Kabarett und ich sei komplett unbegabt für Herzschmerz. Jahre später lernte ich sie zufällig persönlich kennen und sie beglückwünschte mich zum Rosenbuch mit den Worten: "Zum Glück sind Sie noch rechtzeitig vernünftig geworden!" Wir begossen dann gemeinsam die beste und wertvollste Absage meines Lebens.

Eine andere unvergessliche Begegnung war der freie Lektor einer Agentur, der mich unerbittlich und über Wochen hinweg einen Sachtext hat überarbeiten lassen und mit dem Finger in sämliche meiner Weichteile und Schwächen stach, bis ich heulend aufgeben wollte. Ich habe ihn in Gedanken alles geheißen. Ich war Journalistin, was wollte der Mann denn noch! Jedes einzelne Wort auf der Goldwaage! Es kam nie zum Vertrag, aber ich habe die letzte Version für mich ganz allein noch einmal überarbeitet. Heute weiß ich, dass man auf diese Art Autoren zerbrechen kann.

Aber ohne diesen brutalen Kritiker hätte ich nie gelernt, wie einem Flügel wachsen, wenn man sich über die eigenen Grenzen treibt - bis zur Erschöpfung. Ein Schauspieler hat mir später einmal erklärt, der Mann habe eine Technik draufgehabt wie bei der Stanislawski-Methode im Theater: den Akteur so vollkommen zu demontieren, bis er nackt und bloß sich selbst gegenüber steht, sich selbst ausgeliefert ist. Als ich dem Lektor die perfekte Fassung mailte - zusammen mit einer Absage, dass dies nicht die Art des Schreibens sei, die ich suche und die mir entspricht, beglückwünschte er mich. Endlich hätte ich einen Blick für mich selbst. Hätte er mir das Gleiche geraten, hätte ich es nicht von innen heraus entwickelt, meinte er.

Behutsamer war dann mein späterer Agent, der irgendeine geheimnisvolle Art hatte, mich endlich das machen zu lassen, was ich schon immer machen wollte, ohne dass ich so recht davon wusste. Von ihm habe ich gelernt, dass es diesen "anderen" Markt gibt, der in Autorenforen fast nie vorkommt, weil er Eigen-Sinn lehrt und kauft. Und Eigen-Sinn kann man bekanntlich nicht im Dutzend verworkshoppen. Dafür gibt es keine Instant-Ratgeber.

Wie aber wird man eigen-sinnig, wie findet man sich und sein ureigenes Schreiben, wie bleibt man sich treu?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob man dazu nicht auch besondere Fähigkeiten braucht. Oder irgendeinen Ausschaltknopf.

Mir haben Menschen geholfen, die Kenner und Könner der Materie waren und mir gehörig den Marsch bliesen, wenn ich von meinem eigenen Weg abkam. Kritiker, die an meiner Substanz kratzten und mich an Grenzen trieben - die aber genau wussten, warum sie das taten. Mir kommt dabei immer das Ballett in den Sinn. Es ist wichtig, fürs Publikum alles zu geben. Aber wenn es auf die fachliche Kritik ankommt, wenn es darauf ankommt, mit blutenden Füßen doch noch einmal auf Spitze zu gehen, dann helfen weder Zuschauer noch Presse, dann ist allein der Choreograph interessant und der Dienst an der Kunst.

Nachher, wenn man einmal über den wunden Punkt hinaus ist, wird es relativ einfach. Plötzlich gerät man an andere Eigensinnige, macht Projekte mit Eigensinnigen, wird von Eigensinnigen gelesen - und stellt beim Kauf von Verbandsmaterial fest: da laufen noch andere mit blutenden Füßen herum... Natürlich hätte man es im Varieté mit Foxtrott viel einfacher. Aber kann man gut werden, wenn man ständig gegen den eigenen Rhythmus tanzt?

Ob das als Harke hilft, wenn man laut sagt, dass ernsthaftes Schriftstellern einer der verrücktesten, schmerzhaftesten, beglückendsten, brutalsten, schönsten und fordernsten Berufe ist? Und dass Menschen, die mit Märkten arbeiten, bekannt werden und Profit machen wollen, vielleicht besser Manager werden sollten?

14. Juni 2010

"Man muss eigensinnig sein"

Absolut lesenswert, weil nicht nur vergnüglich, sondern auch nachdenkenswert: Das Interview des Börsenblatts zwischen den beiden Verlegern Klaus Wagenbach (Wagenbach Verlag) und Andreas Rötzer (Matthes & Seitz): "Wir sind ein Gewerbe voller Verrückter".

Ich lege es vor allem AutorInnen ans Herz, die sich fragen, wann denn endlich statt Durchfall der Durchbruch kommt, wie man mit dem Zeigefinger von Coach und Seminarleiter die Bestsellerformel berechnet und was man so alles beachten muss, wenn man schon alles beachtet hat. Vergesst alle Instanttipps aus Ratgebern und Foren! Was da über Verleger gesagt wird, wirkt nämlich auch bei Autoren, etwa:
"Ich glaube auch, dass man Glück braucht, aber man kann dem Glück den Boden bereiten mit einem Programm, das möglichst unerschrocken einer eigenen Idee folgt, man muss sich treu sein - oder sich finden [...]. Es geht darum, den Geist der Zeit in sich zu tragen, ohne dem Zeitgeist auf den Knien zu liegen." (Zitat Rötzer)
 oder Zitat Wagenbach:
"Man muss eigen-sinnig sein im Wortsinn."
Außerdem ist die Rede vom Einfangen der wilden Leser und von charakterlosen Buchhandlungen, vom Ernstnehmen von Autorenwünschen - und warum Frauen mehr können als Männer, sich aber manchmal zu wenig zutrauen.

Gegen "ordentliches" Verlegen entschieden

Seit heute ist es amtlich, was mit meinem restlos vergriffenen und im Antiquariat immer teurer werdenden Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" passieren wird. Bei Hanser wird gerade der Brief für den Rechterückfall an mich getippt - und ich bin immer noch und schon wieder begeistert, wie angenehm und einfach man mit diesem Verlag reden kann, auf Augenhöhe, was heutzutage nicht selbstverständlich ist. Einer meiner Lieblingsverlage.

Dass ich einmal so entscheiden könnte, wie ich mich entschieden habe, hätte ich vor Jahren nicht von mir gedacht. Der Verlag hatte mir nämlich angeboten, das Buch bei Taschenbuchverlagen anzubieten und tatsächlich liegt es auch schon bei einem zur Prüfung. Ich weiß, dass mich einige KollegInnen wahrscheinlich für wahnsinnig halten, so eine Chance auszuschlagen. Ich werde das Buch trotzdem selbst veröffentlichen, dem Sonderfall geschuldet, den es darstellt. Warum aber lohnt sich in meinen Augen für so eine Drittauflage ein Verlag nicht?

"Ein Verlag prüft" heißt gar nichts. Wenn man Glück hat, beißt von zehn Prüfenden einer an. Vielleicht auch von zweien einer. Aber die Prüfzeiten dauern immer länger, Programmverantwortliche schieben Entscheidungen qualvoll lang hinaus. Wenn es gut läuft, vergeht ein Jahr. Bis das Buch dann gedruckt wird und ins Programm kommt noch einmal ein knappes Jahr, dann ist es wirklich veraltet (2004 erschienen) und vor allem: vergessen!

Taschenbuchverlage kalkulieren mit Masse und schnellem Erfolg, Nische interessiert nicht. Mein Buch war die ganzen Jahre sehr erfolgreich, aber für Auflagendimensionen mit vier Nullen ist es ebenfalls zu alt, zu bekannt, zu oft verkauft. Dort, wo ich es vermarkten kann, kauft man keine Taschenbücher. Ich könnte die schnelle Verramschung schon riechen - und was dann? Dann wäre es nicht vergriffen aus Erfolgsgründen, sondern verramscht, Müll. Die Leser können nicht erkennen, warum. Damit wäre das Buch gemeuchelt.

Und das wichtigste Argument: Ich brauche die dritte Auflag am besten vorgestern, denn ich musste schon wieder zwei Lesungen absagen, weil ich keine Bücher mehr anbieten kann. Publikumsverlage sind jedoch riesige Maschinen und darum auch träge. Man ist ein Nümmerchen unter Tausenden. Und weil sie so goße Maschinen sind, können sie auch unmöglich meine Sonderwünsche erfüllen, nämlich das Buch über meine Europaarbeit links und rechts vom Rhein auch außerhalb von Buchhandlungen zu vermarkten. Dazu braucht es kleinere, flexiblere Strukturen. Die Wahl wäre allenfalls ein kleinerer Regioverlag - aber da überzeugt mich keiner und die mich einst überzeugten, sind eingegangen an der Marktkonzentration.

Kurzum, ich werde das Buch nun selbst produzieren und auf den Markt bringen. Wegen meiner derzeitigen Überlastung wird das zwar länger dauern als gedacht (zuerst geht die "richtige" Arbeit vor), aber ich denke, ich verspreche nicht zuviel, wenn ich sage, dass "Elsass" rechtzeitig vor dem Weihnachtsgeschäft zu haben sein wird - nicht nur in Buchhandlungen!

13. Juni 2010

Autorenwerkstatt: Fotoarbeit

Ich werde bei Lesungen immer wieder gefragt, wie eigentlich im Autorenhirn Geschichten entstehen und wie autobiografisch denn nun ein Text sei. Das geht so weit, dass manche Leser eine fiktive, erzählerische Ich-Perspektive nicht vom realen Autoren-Ich unterscheiden können oder wollen. Im anderen Extrem behaupten Autoren manchmal, sie würden sich garantiert und 100%ig ausschließlich an der eigenen Fantasie bedienen.

In den meisten Fällen wird es wohl so ähnlich sein wie bei mir: Ich gehe wie ein Schwamm durchs Leben und sammle Gesichter, Gesten, Töne, Augenfarben, Dinge, Szenen. Besonders eindrucksvolle Fundstücke notiere ich - denn wer weiß, wann man mal wieder vergeblich nach einer bestimmten Armbewegung sucht, die man zufällig vor fünf Jahren auf einem Bahnhof beobachtet hat. In gewissem Sinne betätige ich mich wie eine Art Vampir, der sich an der Realität besäuft, um irgendwann daraus und aus der wilden Fantasie Fiktionen zu verdauen. Die Geschichten, die ich erzähle, haben insofern mit mir zu tun, als sie durch meinen eigenen Textverdauungsapparat geflossen sind und keinen anderen.

Da ich im Moment leider nur Stückwerk schreiben kann - in der Hoffnung auf bessere, zeitvollere Zeiten - fiel mir beim Experimentieren ein schönes Beispiel in die Hände, wie man aus ein und demselben realen Anlass völlig unterschiedliche Fiktion entwerfen kann. Für alle, die schon immer einmal wissen wollten, wie so etwas aussehen kann, stelle ich die Texte ausnahmsweise online. Das Laden der Seite dauert bei mir leider etwas länger, liegt offensichtlich an Windoofs Stöhnen... Über Feedback, wie's gewirkt hat o.ä. würde ich mich natürlich freuen!

Die Texte sind aus meinem Projekt "Transit Bleu", das schon seit vielen Jahren geschrieben werden will, sich aber ständig verwandelt hat. Jeder Text wird aus der Sicht einer anderen Frau erzählt - wobei sich die beiden Frauen später treffen sollen. Keine davon ist autobiografisch. Real ist jedoch ein historisches Foto, das ich vor über einem Jahr entdeckte. Es ist in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aufgenommen und zeigt unbekannte Personen in einem Hauseingang. Es ist derart austauschbar und nichtssagend (oberflächlich gesehen), dass man es als ideales Unterrichtsthema für eine Schreibwerkstatt nehmen könnte. Sicher gäbe es dazu noch sehr viel mehr Geschichten als die meinen. Die kann man HIER lesen.

Und damit wissen nun auch meine werten Leserinnen und Leser, was an Schrecklichem auf sie zukommen könnte, sollte ich mich entschließen, wieder einmal Belletristik zu schreiben.

Querdenken und Rollenwechsel

Heinrich macht sich in seinem Blog Gedanken, woran Männer merken, dass sie altern. In einem Kommentar dazu taucht das Wort vom "altersunangemessenen Verhalten" auf. Und im ganz realen Leben treffe ich derzeit auf ein faszinierendes wie erschreckendes Phänomen menschlichen Zusammenlebens: Eine Verdrängung um der Angepasstheit Willen. Sie kann solche Ausmaße annehmen, dass Erinnerung wider besseres Wissen Menschen oder Teile der Geschichte ausradiert. Hauptsache, man fällt nicht auf. Hauptsache, man lebt so wie alle anderen.

Wir wissen heute hinlänglich, dass diese Angepasstheit in politisch prekären Situationen das Umkippen eines Systems befördern kann und in der nachfolgenden Diktatur in einer Art Teufelskreis zum Überlebensmechanismus wird. Dementsprechend eisern und rigide gestalten sich in solchen Zeiten Verhaltenscodices und moralische Muster. Wie gut, dass wir in solch einer Lage nicht mehr leben, dass wir heute in unseren Breiten frei sind!

Aber wie frei sind wir wirklich? Wie viele Schranken häufen wir selbst in unseren Köpfen an, von "sowas tut man nicht" bis "was sagen da die Leute"? Mir kommt eine Kollegin in den Sinn, mit der ich einmal darüber diskutierte, dass man als Schriftsteller nicht zwingend und automatisch Künstler sei, aber als schreibender Künstler ganz sicher Schriftsteller. Was macht dieses Künstlersein aus?, wollte ich wissen. Die Kollegin definierte es durch eine mit dem eigenen Leben verschmolzene Haltung der Distanz. Der Künstler muss fähig sein, zu sich selbst, zu Teilen der Gesellschaft und zum Gesellschaftssystem als solches innerlich in Distanz zu treten, wenigstens zeitweise und wiederholbar. Nur so könne man das alles reflektieren und querdenken. Nur so könne freie Kunst entstehen. Und deshalb könne man Kunst nicht mit dem Handwerksköfferchen "machen", wenn man sie nicht lebe. Das aber sei verdammt unbequem, gefährlich und anstrengend.

Ich denke, mit ihrer Definition vom Künstlerdasein hat sie recht. Doch im letzten Punkt möchte ich ihr vehement widersprechen. Könnte es nicht umgekehrt sein? Berufsbedingt beschäftige ich mich äußerst intensiv mit Menschen; vor allem mit Diskussionen und Theorien um Alter, Geschlechter und all die anderen Kastensysteme, in die sich Menschen einpferchen. Ich schaue mir Anpassungssysteme und Systembrecher genau an - denn Schriftsteller müssen die extremsten Grenzgänger sein. Uns muss man im Roman das dreijährige Mädchen genauso abnehmen wie den achtzigjährigen Schwulen, die treu verheiratete religiöse Fanatikerin ebenso wie die pubertierende Atheistin. Viele Schriftsteller bedienen sich darum immer wieder nur an den gleichen eingeschränkten Rollenspielchen. Viele Literaten wechseln die Rollen ebenso genial wie gute Schauspieler.

In meiner Jugend habe ich die Bücher eines Mannes verschlungen, dem ich dankbar dafür war, dass er auf das übliche gefühlige "Frauengedöns" seiner Zeit zugunsten von Geschichte verzichtete - bis ich erfuhr, dass der Mann in Wirklichkeit Victoria Holt hieß und unter Echtnamen sogar Schmonzetten schrieb. Im Moment lese ich das Buch einer Frau, die eigentlich ein Mann ist, dem ich schon mindestens zweimal zurufen wollte, er sei mir einfach zu weiblich in manchen Beschreibungen. Ähnlich kurios gestalteten sich meine Recherchen um Vaslav Nijinsky, der nach einigen homosexuellen Partnerschaften, darunter der berühmten Beziehung zu Sergej Diaghilew, ganz plötzlich und unerklärlich heiratete und Kinder bekam. Ich dachte, heutzutage müsste es sich herumgesprochen haben, dass es früher Tarnehen gab, dass es Bisexuelle gab, ja sogar Beziehungsexperimente aller Art neben der Ehe, über deren Mut einige moderne "Befreite" heute staunen würden.

Aber trotzdem oder deshalb fand ich so gut wie keine objektive Untersuchung, kein Material, das nicht von Anpassung an irgendein System oder einen Verhaltenscodex geprägt war! Selbst Wissenschaftler verloren bei diesem Thema jede Objektivität. Egal, auf welcher Seite die Autoren standen und lebten, jeder requirierte Nijinsky für sich, untermauerte seine These mit fast religiösem Eifer - und offenbarte damit nur die eigenen massiven Ängste. Das Undenkbarste, das Gefährlichste und Unaussprechbarste schien dabei die These zu sein, dass dieser Nijinsky als Künstler sich um herkömmliche Grenzen überhaupt nicht scherte - sich in der ihm eigenen Kunst nicht scheren durfte. Androgyn, bisexuell, multisexuell oder was auch immer man heute als Etiketten verwenden mag - in seinen Tagebüchern zeigt sich ein Mensch, der alle Etiketten längst hinter sich gelassen hatte. Es ging ihm um Menschen. Er wollte Mensch sein. Und liebend verschmelzen. Heute würde man ihn aus jedem einschlägigen Forum werfen, weil er sich keinem anpasste, absolut keinem. Die Umwelt damals hat es ihm nur erlaubt, weil er Künstler war und schließlich auch "verrückt".

Um zur Diskussion mit der Kollegin zurückzukommen: Aus heutiger Sicht glaube ich, dass der Schritt über jene Schwelle in die innere Distanz extrem schwer ist. Sich aus einer Anpassung zu lösen oder offen nicht mehr dem Verhaltenscodex einer Mehrheit anzugehören, isoliert einen zunächst scheinbar. Man ahnt ja noch nicht, dass der Ausstieg aus einer Gruppe nur der Einstieg in eine andere ist. Angst vor dem "Anderen" bekommen jedoch nicht nur die "Genormten" - Angst, anders zu sein, hat auch derjenige, der noch nicht "drüben" ist. Aber der Künstler, der in seiner Distanz querdenkt, hätte genau die gleichen Schwierigkeiten und Anstrengungen vor sich, wenn er wieder "zurück" wollte in die scheinbar heile Welt. Und ist es nicht noch sehr viel anstrengender und aufreibender, gegen sein eigenes Ich zu leben, nur um dazu zu gehören?

An extremen Beispielen wie Nijinsky (der für die heutige Zeit so extrem nicht mehr ist) können wir leicht ablesen, wie sehr wir uns selbst in unseren Köpfen und Körpern einsperren. Aber beginnt dieses Knechten nicht schon viel subtiler und darum gefährlicher im Kleinen? Wie hat man sich denn "altersgemäß" zu verhalten? Kaufen Frauen wirklich gerne Schuhe? Können Männer tatsächlich keine Hemden bügeln oder Kinder erziehen? Warum zicken angeblich nur Mädchen und Jungs nicht? Wie weiblich oder männlich sind denn nun Autoren, die erfolgreich unter dem Pseudonym eines anderen Geschlechts schreiben? Warum nimmt man nur Künstlern und Verrückten ab, sich außerhalb normierter Räume aufhalten zu dürfen? Warum wagt man so selten Grenzüberschreitungen im Alltag?

Ich habe mich kürzlich daran erinnert, wie ich als Kind in einer Dienstwohnung im Altenheim aufwuchs und stolz darauf war, mehr als nur zwei läppische Omas zu haben. Diese "Omas" (die meisten "Opas" waren kriegsbedingt tot) haben mich gewaltig geprägt, weil sie prallvoll waren mit Geschichten und Leben. Und ich entsinne mich, wie ich den Unterschied machte zwischen den "Langweileromas" und den "Geschichtenomas". Erstere waren ganz "normale" Frauen, die brav, ordentlich und vorhersehbar lebten und das Fernsehprogramm konsumierten. Die "Geschichtenomas" dagegen waren unvergesslich. Da gab es eine Rittergutsbesitzerin mit anachronistischen Adelsritualen, die ihr Zimmer zum Schloß machte. Da war das Pärchen, das in solcher Harmonie miteinander lebte, dass man mir aufschwatzen konnte, es handle sich um "Fräuleins" und Schwestern. Da gab es die weit über Achtzigjähige, die mit Kurzhaarschnitt und riesiger Zigarre vor die Tür trat, aus der Elvis Presley donnerte, dem sie in ihrer Wohnung einen Heiligenschrein errichtet hatte. Da war die Gouvernante, die zur Zeit der Titanic Japan und Afrika gesehen hatte.

Die Normalen, die Angepassten, die Braven und Funktionierenden habe ich alle vergessen. Und wenn ich Menschen begegne, die äußerlich "ganz normal" leben, fällt mir immer zuerst auf, was sie besonders und einzigartig macht. Und plötzlich fällt mir ein, dass es auch zwei Arten von Büchern gibt. Diejenigen, in denen das Romanpersonal vorhersehbar und genormt funktionieren muss - und diejenigen, die uns als Leser über Grenzen treiben und darum den Horizont weiten. Warum aber sollten letzteres nur Künstler dürfen?

PS an Kollege X: Eigentlich wollte ich Vorüberlegungen für den Aufsatz "Erinnerungskultur und Kitsch" anstellen. Tztztz. Ich fürchte, ich bin etwas "abgeschwiffen". ;-)

12. Juni 2010

Noch mehr Stifte

Wer Spaß hatte an meiner Liebe zum Kopierstift (neue Kommentare dort) und auch ansonsten Tendenzen zum Schreibwerkzeugs-Fetischismus an sich entdeckt, für den habe ich heute einiges Surf- und Suchtmaterial. Und wenn ich mir das so anschaue, dürften im Wikipediaartikel zum Kopierstift noch einige Fehler sein, denn nach Methylviolett sieht der lila Kopierstift mit der Nummer 9110 aus, während der meine die Nummer 9609, inkred, trägt.

Anschauen kann man diese gesammelten Kopierstifte in allen Farben hier, die Seite gehört zu einem privaten Stiftmuseum "Brandnamepencils" mit Schwerpunkt USA, das aber die Stifte der Firma Faber ebenfalls enthält. Eine deutschsprachige Seite für Bleistiftsammler mit Schwerpunkt Geschichte und Herstellung bietet der Bleistiftsammler.

Wer es edler mag, der sammelt Füllhalter und signiert womöglich mit einem historischen Gerät, bei dem man die Tinte noch aufzieht. Um den meinen genau identifizieren zu können, schaute ich mich auf zwei Seiten um, die von Optik und Aufmachung zwar zu wünschen übrig lassen, aber für Sammler eine Fundgrube an Teilchen sind. Eine davon ist selbst schon fast historisch. Es ist die prall gefüllte Sammlerseite für antike Füllfederhalter. Spezifischer widmet sich ein anderer Sammler der Chronologie aller Pelikan-Füller und einer der von Montblanc-Füllhaltern. Sammeln kann man aber sogar Bleistiftspitzer!

Und wem das alles noch nicht reicht, der kann in Sachen Schreibgeräte noch eine Linkliste durchwühlen. Außerdem empfehle ich das in meiner Blogroll befindliche Notizbuchblog. Übrigens mache ich ja grundsätzlich keine Firmenwerbung im Blog - die genannten Marken hier gelten eher schon als historische Institutionen und Teile der Schreibgeschichte. Nur eine Ausnahme will ich machen, weil ich gestehe, hier selbst oft schwach zu werden. Edle Stifte lieben edles Papier - und Verrückte wie ich skizzieren Buchentwürfe in solche Bücher. Alle Verführungen gibt's hier auf einen Blick.

Sollte irgendwer aufgrund dieses Beitrags arm werden, so bin ich nicht schuld. Manuskripte lassen sich auch hervorragend mit markenlosen Bleistiftstummeln auf gebrauchten Servietten und Zeitungsrändern entwerfen!

10. Juni 2010

Reif für die Insel

Eigentlich mache ich längst unbezahlten Urlaub. Und ohne die muskelkräftige Hilfe kürzlich von einem ganz lieben Freund wäre ich wahrscheinlich in einem schnuckeligen Sanatorium gelandet. Aber nun ist so ein Punkt erreicht, an dem ich nicht nur schreiende Rückenschmerzen habe (man sagte mir immerhin, ich sei ein starkes Weib). Ich entwickle jetzt eine Allergie mit diffusen Abwehrmechanismen - und die richten sich momentan gegen: Nippes, Umzugskartons (eben wieder 12 Stck. verschafft), ungeordnete Papiere, Mecki-Igel-Postkarten, Glasnippes, deutsche Mülltrennung, Fotos von Plastiknippes, Kabelsalat, Umzugskartons, deutsche Schäferhunde aus Porzellan, deutsche Mülltrennung, Wandteppiche aus den Sechzigern, gesammelte Kalender, gesammelte Wäsche seit 1957, Umzugskartons, Nippes und vor allem: NIPPES!

Inzwischen bin ich so weit, davon wunschzuträumen, jemand würde über Nacht die aufzulösende Wohnung ausräubern - hat jemand Lust? Und ich träume von illegalem Mülltransport über die Grenze, wo ich alles in einen Sack stopfen kann und einfach bei dem freundlichen Mann von der Dechetterie abgeben, ohne vorher jedes Teilchen auseinander nehmen zu müssen (wir haben ja auch Mülltrennung, aber vernünftiger). Stattdessen erledige ich wie ein Roboter zwischendurch Formalitäten (ernte Erheiterung, wenn ich in perfektem Hochdeutsch um Hilfe bitte, weil ich nicht mehr wüsste, wie das in Deutschland funktioniere) und höre mir unterwegs grauenhafte bis irrwitzige Geschichten von Menschen an, die über den Tod reden wollen. Noch irrwitzigere Geschichten entstehen in meinem Kopf und ich platze fast, weil ich keine Zeit mehr zum Schreiben habe - das Blog bleibt als einziges "schriftstellerisches" Ventil.

Morgen wieder eine Runde packen, wieder drei Stunden auf der Straße und zwei Besichtigungen. Hoffentlich bekomme ich die Wohnung, die mich nicht interessiert und die mir nicht gehört, schnell los (RA). Ansonsten will ich nur endlich schlafen schlafen schlafen.

Was mich auf den Beinen hält? Die Einsicht, dass ich die einzige bin, die noch auf den Beinen steht und folglich da durch muss. Die Vorfreude auf einen besonderen Genuss im Juli im Festspielhaus auf den Spuren der Ballets Russes, die ich mir für eine andere Katastrophe spendiert hatte; zum Glück nicht ahnend, dass 2010 das Jahr der Katastrophen würde. Und der feste Vorsatz für das, was die meisten, mit denen ich über das Sterben rede, sich so sehr für die Dahingegangenen gewünscht hätten: Carpe diem - das Leben und Genießen des Augenblicks, des Jetzt. Nie wieder zu sagen: Das mache ich, wenn ich in Rente bin / in zehn Jahren / wenn wenn wenn... Nie wieder das Leben aufschieben. Nie wieder Ausreden für Glückverzögerung suchen, nie wieder sich selbst verhindern.
Mit einem breiten Grinsen arbeite ich daran, nächstes Jahr nach Petersburg zu reisen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Übrigens nehme ich dankbar jeden praktischen Tipp entgegen, wie man sich in solchen Zeiten Muskeln und Nerven stählt und den Packer-Herzinfarkt bei 30 Grad vermeidet! Auch starke Weiber kippen irgendwann um...

Liebesgeständnis


Das ist er. Eine meiner ersten großen Lieben.
Es war Liebe auf den ersten Blick - ich war süße sechs Jahre alt. Und lernte mit Bleistift und auf Butterbrotpapier Bögen, Wellen und Spazierstöcke malen, um endlich, endlich schreiben lernen zu dürfen. Wer es besonders schön machen wollte - es gab nämlich für schöne Hausarbeiten Sternchen und für je zehn Sternchen kleine Bilderkärtchen - der durfte etwas dazu malen oder die Anfangsbögen einer Zeile in Rot schreiben.

Nicht in irgendeinem Rot. Sondern in einem Rosenrot, das wirkte, als sei es aus Dornröschens Hecke destilliert; das sich weich und geschmeidig aufs Papier legte. Es war das Rot des Kopierstifts von Faber, erkenntlich an der Kuppe, eingebettet in einen Stift von wirkungsvollem, einfachen Design: schmeichelrund, in den edlen Farbkontrasten von hellem Holz, Rosenrot und jenem unverwechselbaren Grün von Juniwäldern. Ebenso unverwechselbar waren Geruch und Geschmack dieses Stiftes, den man mit ein wenig Spucke sogar zum Aquarellieren antreiben konnte.

Nie mehr vergesse ich das sinnliche Erlebnis, wenn ich diesen fast ein wenig fettigen Kopierstift über besonders weiches, weißes Schönschreibpapier gleiten ließ, wenn er in den Buchstabenbögen winzige Schatten zeichnete und meine Launen in sanftem Rosé oder sattem Knallrosarot sichtbar machte. Ich war süchtig nach dieser Zweierbeziehung, konnte mich nicht von ihm trennen - und wollte nichts anderes mehr tun, als dieses Gefühl ein Leben lang zu genießen.

Einmal ging ich für diese Liebe sogar so weit, dass ich kriminell wurde. Es ist nie herausgekommen, bis heute nicht - und ich habe es seither auch nie wieder getan. Und doch habe ich heute noch für die Täterin Verständnis. Die war aus irgendeinem Grund ihres Kopierstifts beraubt. Hatten die Eltern ihn weggesperrt, weil sie nicht brav gewesen war? Jedenfalls konnte ich dem Drang und der Sehnsucht nicht widerstehen, es zerriss mich fast. Im Mäppchen meiner Freundin prangte ein fast neuer Kopierstift. Ich weiß noch heute, wie viel kriminelle Energie ich aufbieten musste, ihn im Handumdrehen zu stehlen, obwohl ich fortan damit nur heimlich schreiben konnte. Nur die Tatsache, dass meine Freundin heimlich ihren eklig kratzigen Radiergummi gegen meinen schönen, weichen, weißen austauschte, hielt mich davon ab, mich selbst bei der Polizei zu stellen.

Wie das mit großen Lieben so ist, weiß man später nicht mehr genau, wer sich von wem wann und warum getrennt hat. Irgendwann war ich auch geographisch so weit entfernt, dass die Chance, je wieder einen Kopierstift kennenlernen zu können, gegen Null tendierte. Längst hatte ich mich damit abgefunden, als glücklicher, bedürfnisloser Single von wechselnden Affären zu leben - mit Tintenschreibern, die sich allzu schnell davonmachten, oder mit Bleistiften, die mich nach nur einer Nacht schmerzlich an den Ex-Geliebten erinnerten. Ein ganzes Leben lang redete ich mir ein, dass ich Rot ja gar nicht mag. Ich bin ein Blaumensch.

Und plötzlich war er wieder da. Eben dieser: meine alte große Liebe. Ich hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt, mit der Delle, die mein Milchzahn hinterlassen hatte, mit der abgesplitterten Kuppe. Liebe kann manchmal stürmisch sein.
Er muss gealtert sein wie ich. Schon rückt seine Rente in ahnbare Nähe. Nur noch ein oder zwei Mal, allenfalls drei Mal wird der Spitzer ansetzen können. Aus dem einst schlanken, lang gewachsenen Geliebten ist ein kleiner knubbeliger Stummel geworden.

Aber wir haben es wieder getan. Auf Bütten.

7. Juni 2010

Schall und Rauch

Irgendwer hat einmal die These aufgestellt, dass es unterschiedliche Schreibtypen gäbe: Die einen werkeln wie Architekten an ihren Texten, die anderen komponieren Sätze wie Musiker, manche tanzen mit Sprache oder malen lieber riesige Gemälde. Es kann recht aufschlussreich sein, sich selbst in dieser Hinsicht zu beobachten - und dabei über den Tellerrand zu schauen.

Ich frage mich, ob dieser Umgang mit dem Aufbau von Texten nicht sogar eng an den eigenen Umgang mit Sprache und Sprachenlernen gekoppelt ist. So lerne ich z.B. Sprachen am besten durch Imitation, habe als Synästhetikerin aber zu den Klängen auch Farb- und Formverläufe als zusätzliche Wahrnehmungsebene. Es ist immer für einen Lacher gut, wenn ich erzähle, dass ich bis heute keine einzige Rechtschreibregel beherrsche (nach der Reform sowieso nicht), beim Fahnenkorrigieren jedoch jedes falsch gesetzte Komma als grellgiftblauen Blitz im linken Ellenbogen spüre. Tatsächlich schreibe ich so auch: Ein Text ist für mich ein farbiges, musikalisches Werk zum Hörsehen.

Namensklang als Charaktermerkmal?

Dementsprechend verrückt verhalte ich mich bei Kleinigkeiten, die dem Leser wahrscheinlich nie auffallen. Ich verbringe vorab viele Tage, um die Namen meines Romanpersonals musikalisch abzustimmen. Zunächst aus praktischen Gründen: Ich habe unlängst wieder ein Buch weggelegt, weil ich die ohnehin unsauber gezeichneten Personen schlicht nicht auseinanderhalten konnte. Allerweltsnamen, allesamt zweisilbig, alle auf den gleichen Vokal endend. Wir geben uns solche Mühe, bei Dialogen Alltagsfloskeln zu streichen - warum können wir uns nicht etwas mehr Mühe mit den Namen geben? Heißt eine Person Jana, darf die zweite nicht Lana heißen. Wenn schon zweisilbig, warum dann nicht Nele - "a" gegen "e"? Ich gehe da noch weiter ... Namensbedeutungen, psychologische Wirkungen von Vokalen, kurze Stakkatosilben, weich Gedehntes... Und dieses Arbeiten mit Klängen hört nicht bei den Namen auf. Der Name muss mit der Person völlig verschmelzen.

Ras alias George Clack hat sich in seinem Blog mit "Much in a name" Gedanken um die Namen von Romanfiguren gemacht. Und er kommt darauf, dass gute Autoren nicht einfach jeden dahergelaufenen Namen nehmen, weil die Wirkung des Namens und der Charakter der Romanfigur oft untrennbar zusammen gehören. Es ist lesenswert, warum und wie wir auf Namen wie James Bond, Harriet Quimpy oder Armistead Flock abfahren - und das funktioniert in jeder Sprache. Man kann Namen sogar so gestalten, dass sie international klingen.

Die Musik der Sprache

Wer dagegen einmal ins Polnische hineingelesen hat, wird mit Klängen vielleicht seine liebe Not haben. Zunächst stehen da unwahrscheinlich lange Konsonantenreihungen, die auch noch mit allerlei Akzenten diesselben verändern. "Da bricht man sich ja die Zunge ab!", stöhnt fast jeder Ausländer ohne slawische Vorbildung. Doch welche Überraschung: Meist handelt es sich um diverse, feinstens unterschiedene Zischlaute, die insgesamt weich und melodisch klingen, aber auch herrlich zischen und rasseln können. Als ich in Polen vor Neid erblasste, weil die jungen Leute Fremdsprachen fast akzentfrei sprachen oder sogar im Englischen einen echten Oxfordakzent imitieren konnten, bekam ich von einer Linguistin eine nachvollziehbare Erklärung. Das Polnische, das an Klängen sehr viel reicher ist als andere Sprachen, wirke wie Musik aufs Ohr der Kleinkinder. Sie entwickelten ein feineres Gehör für Klänge und könnten einfachere Lautkombinationen deshalb genauer imitieren.

Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Irena Grudzinska Gross von der Princeton University macht in ihrem Artikel "The Prison and Freedom of Language" aufschlussreiche Beobachtungen beim Besuch von Dichterlesungen, wo der Klang der Sprache fundamentaler Bestandteil der Dichtung ist. Um dem Verhältnis zwischen Dichter und Sprachklängen näherzukommen, lauscht sie slawischen Emigranten beim Dichten in der Muttersprache und in der Fremdsprache Englisch. Auch sie kommt auf die Parallelen zur Musik: Da spielt einer zwei Instrumente, von denen er eines im Schlaf beherrscht und das andere noch unzureichend. Warum also schreiben Emigranten dann in der neuen Sprache?

Schreiben Emigranten anders?

Grudzinska Gross ist sich in ihrem Artikel für Biweekly nicht ganz sicher, wie viel Selbstbestätigung an Integration ein Schriftsteller sich damit beweisen will und wie viel ihn an der Andersartigkeit und den neuen Zwängen einer Fremdsprache reizt. Ich glaube, es spielen wohl viele Aspekte zusammen eine Rolle. Wenn ich von mir selbst ausgehe - Emigrantin, die in einem anderssprachigen Land deutschsprachige Bücher schreibt - so gebe ich unumwunden zu, dass ich neidisch bin auf jeden afrikanischen oder arabischen Kollegen, der sich perfekt in Französisch mitteilt, auf jede russische oder türkische Kollegin, die deutsche Literatur schreibt. Warum kann ich das nicht? Warum schreibe ich keine französischen Bücher?

Ich denke, es hat etwas mit der Musiktheorie zu tun. Fast alle Ausländer, die französische Literatur schreiben, sind von klein auf mit Französisch als Zweitsprache aufgewachsen. Die meisten Schriftsteller, die in Zweitsprache schreiben, haben wenigstens als Kind Kontakt zu dieser Sprache gehabt. Für mich ist Französisch, auch wenn ich mittlerweile französische Literatur übersetze, immer eine sehr fremde Sprache gewesen. Ich habe sie extrem spät gelernt. Fürs Übersetzen ist diese Distanz hilfreich. Um mich selbst auszudrücken, ist es sicher in mancher Hinsicht verführerisch, weil es zu anderem Denken zwingt. Aber es wird nie so klingen, als würde ich das Instrument im Schlaf beherrschen. Ich werde mich nie einfach fallenlassen können, sondern bin immer abgelenkt von grammatikalischen Überlegungen, von der Suche nach dem exakten Wort.

Trotzdem habe ich vor Jahren ein Heft mit polnischen Gedichten bekritzelt. Die waren offensichtlich immerhin so niedlich, dass Polen ihnen gerne lauschten. Ihnen gefiel, dass ich Wörtern neue Bedeutungsebenen gäbe, ungewöhnliche Zusammenstellungen fände. In der Lyrik ist so etwas am Platze - aber wie viel davon war wirklichen literarischen Überlegungen geschuldet und wie viel der Tatsache, dass ich dieses Instrument erst erlernte und vielleicht nur ständig knapp daneben griff? Aber irgendwie war da mehr: Ich konnte meine Gefühle in dieser Sprache besser ausdrücken als im Deutschen. Ich habe vieles, was ich heute im Deutschen mache, aus meinem Polnisch entlehnt. Im Französischen kann ich dagegen überhaupt nicht über Gefühle reden, aber bestens philosophieren. Irgendwann begann ich, von den Stärken unterschiedlicher Sprachen zu profitieren.

Ich bemerke seit Jahren, dass auch die Muttersprache sich laufend verändert und vom Denken in anderen Sprachen beeinflusst wird. Mir fiel das zum ersten Mal auf, als eine Lektorin meinte, ich hätte einen so netten französischen Satzduktus. Damit meinte sie vor allem meine Manie, mit Doppelpunkten zu arbeiten. Und tatsächlich bemerke ich auch beim Sprechen, dass die deutsche Sprache in Deutschland oft ganz anders klingt als im Ausland, weil man eben nicht mehr wie das imitierende Kind feste Sprachmuster vorgesetzt bekommt. Experimentieren wird leichter. Der Blick aus der Distanz wird schärfer. Um jedoch solch feine Sprachnuancen überhaupt wahrnehmen zu können, muss ich mich schreibend in genau der Sprache bewegen, die ich am längsten geübt habe. Wenn ich all diese Jahrzehnte an Spracharbeit noch einmal in einer anderen nachholen wollte, wäre meine Schreibzeit zu Ende.

Orchesterarbeit am Buch

So komponiere ich in von Kindesbeinen an vertrauten Klängen,bediene mich aber an völlig anderen Instrumenten und Klangfarben. Ich schreibe vielleicht für Klavier, unternehme jedoch alles, um dieses Klavier auch einmal wie eine Oboe klingen zu lassen oder ihm Streicherimitationen zu entlocken. Ich spiele ein Instrument und wechsle es nicht gegen ein anderes. Ich versuche jedoch, das Instrument so zu spielen, dass es vielseitig wie ein Orchester wird. Seither ist mir das Musikalische der Sprache noch wichtiger geworden. Und wenn ich dann in Büchern auf lieblos Hinerzähltes treffe, auf Wörter, die einfach nur aneinander gereiht sind, um eine Handlung voranzutreiben oder lapidar etwas zu sagen, dann packt mich Mitleid mit dieser armen, oft verarmten Sprache. Die ist doch so viel mehr als Wortbedeutung oder Emotion!

Im Alltag reicht es, Hänschen-Klein auf dem Klavier klimpern zu können, egal, mit wie vielen Fingern. Aber Schriftsteller dürfen sich durchaus einiges bei Musikern und Komponisten abschauen. Um ein Instrument, das man nie beiseite legt, wirklich virtuos zu beherrschen, reicht das reine Erlernen nicht. Es ist ein lebenslanger Vorgang des Lernens, Übens und Liebens, damit von einem Text nicht nur Schall und Rauch bleibt.