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31. August 2009

Mein Satz des Tages

Den besten Satz, den ich heute gelesen habe, hat der Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher in einem Interview mit der textmanufaktur gesagt. Und zwar auf die Frage, was ein Autor für eine Veröffentlichung tun könne:
"Ich glaube, man sollte versuchen nur das zu tun, was man am besten kann und sich nicht zu überlegen, was erwartet wird oder wo Bedarf ist."
Kann ich nur unterstreichen. Das ganze Interview kann man hier nachlesen.

Mäuschen gespielt: Hörbuchproduktion

Natürlich weiß ich, wie ein Tonstudio aussieht. Aber neugierig war ich doch, wenn ich schon ein Hörbuch schreibe, wie die Produktion eines solchen aussehen mag. Schließlich muss da ein fremder Mensch meinen Text lesen und sich mit meinem Satzbau herumärgern. Ich durfte dann bei den Aufnahmen zu einem fremden Hörbuch dabei sein. Von der gedruckten Vorlage hatte ich schon viel gehört und hätte sie wahrscheinlich von selbst nie gelesen.

Einmal, weil ich mir den Namen der chinesischen Autorin immer noch nicht merken kann. Selbst jetzt muss ich ihn Buchstabe für Buchstabe abschreiben: Xiaolu Guo. Erst o, dann u, dann u und o. Irgendwann schaffe ich das. "Kleines Wörterbuch für Liebende" heißt der Roman, erschienen im Knaus Verlag. Der Titel, die Aufmachung - ich hielt es zuerst für ein Geschenkbüchlein mit netten Sprüchen. So verdammt kann man sich täuschen! Voller Vorbehalte hörte ich also zu. Und war baff. Wenn ich auch nur geahnt hätte, um was es geht, in welch fulminanter Sprache hier erzählt wird, ich hätte das Buch längst gekauft gehabt.

Es ist die Geschichte eines Kulturschocks. Eine junge Chinesin soll zum Englischlernen nach London, und was sie dort mit Alltäglichkeiten, mit Wortbedeutungen und schließlich auch noch mit Liebe und Sex erlebt, klingt ähnlich erheiternd-abstrus nach fernem Planeten, wie wenn wir nach China fahren würden. Das ist die eine Stärke des Buchs: Wir bekommen auf eine charmant-witzige Art den Spiegel vorgehalten und sehen unsere westliche Zivilisation mit neuen Augen, werden selbst zum Alien. Dem Sog des Buchs kann man sich nur schwer entziehen, tritt man danach in eine normale Fußgängerzone, wird man sofort zu ethnologischen Studien verführt.

Die andere Stärke ist jener sprachliche Sog. Die Übersetzung von Anne Rademacher ist brillant. Kapitel für Kapitel erleben wir die sprachliche Entwicklung der Protagonistin mit, stolpern über Wörter und Konstruktionen, um herauszufinden, dass das scheinbare Unverständnis der Ausländerin unsere Sprache von neuen Blickwinkeln her beleuchtet. In dem Maße, in dem sie Englisch (in der Übersetzung Deutsch) lernt, werden uns Bedeutungen der Muttersprache bewusster, finden wir Gefallen an jenen nur scheinbar sinnlosen Wortverdrehern. Anfangs muss man sich einlesen. Aber bei einem Buch hat man ja das Glück, zurückblättern zu können. Beim Lesen darf man sich verhaspeln. Wie aber sollte man so ein Buch laut vorlesen?

Zuerst habe ich die Hauptakteurin nicht erkannt. Irgendwie kam mir das Gesicht bekannt vor, die Stimme vor allem. Aber so ganz "zivil" im Tonstudio, erkennt man die Leute aus dem Fernsehen nicht gleich. Dabei hatte ich Constanze Weinig erst kurz zuvor in einem Tatort mit Lena Odenthal gesehen. Und dann fiel mir endlich auch ein, woher ich sie kannte: Im Baden-Badener Theater steht sie nämlich als Minna von Barnhelm auf der Bühne (und das ist nicht ihre einzige Rolle derzeit). Ihre Stimme passt perfekt zu dem Roman - man nimmt ihr die humorvolle junge Frau sofort ab, sie klingt wohltuend klar, angenehm und unaufgeregt. Constanze Weinig lässt den Text aus sich heraus sprechen. Da wirkt nichts überinszeniert, dezent und völlig natürlich perlen einem die Sprachspiele in den Ohren, ohne dass man auch nur ahnt, wie schwer solches Sprechen ist.

Der Text war nicht nur eine Herausforderung an die Übersetzerin, sondern auch an die Sprecherin. Diese winzigen Verdreher baut das Gehirn nämlich beim Lesen automatisch um, so viele absichtliche Fehler ergänzen wir im Kopf richtig. Aber hier kam es darauf an, eben jene Sprachunschärfen auszusprechen, weil sie so viel bedeuten im Kontakt mit der neuen Kultur. Mir hat dann das Hörbuch fast besser gefallen als der gedruckte Text. Zwar kann ich hier nicht zurückblättern, aber da lebt die Ausländerin vor mir, da nehme ich nicht mehr die mangelhafte Orthographie war, sondern den Charme eines fremden Akzents, die drolligen Bedeutungen von Sprachverdrehern. Fast macht es ein wenig traurig, dass die Chinesin schließlich die Sprache besser und besser beherrscht.

Und wie war das mit der Hörbuchproduktion selbst? Gibt es da nichts zu erzählen? Nun, es ist bestimmt spannend, einmal in einem fremden Metier Mäuschen zu spielen. Aber die Hörbuchproduktion unterscheidet sich kaum vom Radiomachen oder anderer Malocherei. Alle sind hochkonzentriert, überall hängen Kabel herum und es gibt jede Menge Knöpfe und Tasten. Einen Monitor mit Geschwurbel, das auf mich fremd wie Chinesisch wirkt und den Fachleuten alles sagt. Wasser steht irgendwo, Kaffee wird getrunken, es ist heiß, es ist stickig und das macht noch mehr Durst.

Die Verlegerin ist ganz Konzentration, liest aufmerksamst jedes Wort mit, das sie wahrscheinlich irgendwann schon auswendig kennt. Manchmal wird ein Satz wiederholt, manchmal gefragt, wie man ihn intonieren solle. Die Arbeitstage sind lang, jeder Studiotag kostet Geld. Eine kurze Mittagspause, schon geht es weiter. Die Schauspielerin muss reisen, hat um die Aufnahmetage Engagements. Und für die Verlegerin beginnt danach erst die ganz große Arbeit, wenn das Material gehört und geschnitten werden muss. Zeitlich gesehen ist das alles kein Vergleich zur Herstellung eines Printbuchs. Aber wenn die CDs aus dem Presswerk kommen, seufzen sicher alle Beteiligten erleichtert auf - eine harte Arbeit ist geschafft.

Inzwischen hat die Autorin Xiaolu Guo übrigens in Locarno den Goldenen Leoparden für ihren Spielfilm "She, a Chinese" verliehen bekommen - die höchste Auszeichnung des Festivals.
Und ja, natürlich sind die CDs aus dem Presswerk heraus und zu haben:

Constanze Weinig liest Xiaolu Guo: Kleines Wörterbuch für Liebende, Hörbuchverlag Der Diwan, ISBN & EAN: 978-3-941009-09-7

28. August 2009

Zu jung für die Rente

Früher existierte das Wort vom Spätberufenen. Berufung können alle Menschen fühlen, die nicht einfach einen "Job" machen, sondern eine "Lebensaufgabe" haben. Neben Priestern und Predigern trifft es immer wieder Künstler und damit natürlich auch Schriftsteller. Dass so eine Berufung von irgendwo da oben vorwiegend auf Menschen herunterknallt, die körperlich nicht allzu schwere Verrenkungen machen müssen, ist von der Natur praktisch eingerichtet. Berufene arbeiten nämlich bis zur Selbstaufgabe. Bisher lag die natürliche Invaliditätsgrenze bei Schriftstellern in der Demenz. Ihr Gewerbe konnten sie bei frei fließendem Geist ausüben, bis der Griffel aus den gichtigen oder rheumatischen Fingern fiel. Der Maler Renoir soll das vorgemacht haben: den Pinsel an die Hände geklebt, als das Greifen nicht mehr funktionierte.

Heute geht die Welt noch grausamer ans Alter. Mit dem Ausruhen in Weisheit ist es vorbei. In Deutschland wird die Rente mit 67 diskutiert. Schriftsteller können davon nur träumen. Seit es Sprachverarbeitungsprogramme und behindertengerechte Computer gibt, ist ihrem Schaffensdrang in den Augen von Berufsunfähigkeitsversicherungen kaum noch eine Grenze gesetzt. Auch ein Pflegefall kann noch Geschichten auf die Festplatte diktieren, barrierefrei, versteht sich.

Man müsste also meinen, wenigstens bei den Autorinnen und Autoren würde das Alter geehrt, würde anerkannt, dass Erzählen keine der Jugend vorbehaltene Technik ist und verschüttete oder nie geförderte Talente auch spät entdeckt werden können. Immerhin werden die höchsten Literaturpreise in Europa sehr alten Menschen verliehen - manche haben nicht einmal mehr die Lebenszeit übrig, das feine Preisgeld zu verjubeln.

Daneben hat sich jedoch eine Förderkultur etabliert, die sich des Ausschlussverfahres bedient: Hier entscheiden nicht mehr vorrangig Talent und Können oder gar soziale Bedürftigkeit, hier muss man den richtigen Wohnort haben, die richtige Staatsangehörigkeit, manchmal sogar die richtige Religion - und vor allem immer das richtige Alter. Neben aller Jugendförderung, die sinnvoll und richtig ist, grenzen solche Stipendien und Literaturwettbewerbe, Preise und Förderungen das Alter gemein auf die Zeit vor den ersten Runzeln ein. Es ist, als würde man ein frisch geborenes Manuskript zuerst einem Knochendichtetest unterziehen.

Frau Zappadong, ihres Zeichens bekannte Jugendbuchautorin in der Schweiz, hat sich den Spaß gemacht, bei einem der alters- und beschränkten Wettbewerbe trotzdem mitzumachen. In ihrem Blog veröffentlicht sie, wie mit den gar so alten "Alten" umgegangen wurde. Fast wie im Pflegeheim, ein wenig liest es sich wie ein Brief von der Krankenkasse. Warum Omma Zappadong ernst nehmen, wenn es genug frisches Blut gibt?

Dabei steht Frau Zappadong fürs Literaturgeschäft noch in frischestem Saft. Da gibt es andere, die viel später durchstarteten: Ingrid Noll schrieb ihren ersten Roman mit 55, der Literaturpreisträger José Saramago - erstes Buch mit 44 - schaffte den Durchbruch erst mit 60, Doris Gercke erfand die Krimifigur Bella Block mit 51, Astrid Lindgren schrieb Pippi, ihr erstes Buch, mit 37. Annie Proulx verfasste das erste Buch mit 50. Inge Merkel hat der Jugendwahn vielleicht schon erwischt: Trotz zahlreicher Auszeichnungen gelangte die Literatin, die mit 60 begann, nie so richtig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Da hat es ein Hermann Hesse viel schlauer angestellt. Gleich mal geschrieben und die späte Berufung lieber auf den Buddhismus konzentriert, denn Religionen sind bekanntlich toleranter als der Literaturbetrieb.

Auch in der bildenden Kunst nimmt man es ernst, dass ein Werk, ein Talent, eine Förderwürdigkeit, eine Preiswürdigkeit nicht am Alter festgemacht werden kann. Spontan fiele mir die Kunststiftung Baden-Württemberg ein, die explizit Spätberufene oder noch unbekannte Künstler auffordert. Als altersunabhängig fiele mir in der Literatur nur der Deutsche Literaturfonds ein. Obwohl noch in den Vierzigern, finde auch ich nie einen Wettbewerb, der mich noch zulassen würde. Wenn ich nicht gerade falsch wohne, bin ich grundsätzlich viel zu alt.

Dabei haben sich die Zeiten geändert. Die schlimmsten sozialen Brüche, davon kann jedes Sozialamt berichten, geschehen um die 40. Armut ist längst nicht mehr altersabhängig. Nicht jeder Schriftsteller ist sozial abgesichert oder kann einen Brotberuf, einen reichen Partner oder ein fettes Erbe sein eigen nennen. Arbeitslosigkeit, Scheidungsschulden, der Druck bei alleinerziehenden Eltern, Insolvenz - solche Schicksale könnten doch ebenso förderfähig sein wie Studentendasein und Berufseinstiegsalter? Wären für "ältere" Schriftsteller, die nur schwer in andere Jobs vermittelbar sind, Preisgelder nicht eine willkommene Nebenerwerbsquelle, um endlich ihrem Talent zum öffentlichen Durchbruch zu verhelfen?

Aber Vorsicht. Darum geht es gar nicht. Es gibt einen kleinen feinen Unterschied zwischen sozialer Förderung, die ein Ausüben einer Begabung ermöglicht - und einem Preisgeld! Ein Schreibwettbewerb füllt nicht den Kühlschrank, sondern prämiert Leistung und Können. Prämiert einen Text, nicht einen Autor. Der beste Text soll gewinnen. Und damit das auch wirklich objektiv beurteilt werden kann, bleiben die Texte anonym, erfährt die Jury keine Namen. Von der Person des Autors sollen sie nicht beeinflusst werden. Die Juroren wissen nur eines: Alle Autoren haben feierlich versichert, eine gewisse Altersgrenze nicht zu überschreiten. Ein Jahr zu viel - das war es dann mit dem Text. Obwohl die Person des Autors scheinbar nicht beeinflussen soll...

Machen wir uns nichts vor: Wer Texte so beurteilt, ist an objektiven Chancen gar nicht interessiert. Solche Auszeichnungen werden wie in einem Preisausschreiben einer Schokoladenfirma vergeben. Da geht es um Schokolade, um die Schokoladenfirma und um einen Gewinn. Ob der Gewinner schon fünfmal gewonnen hat oder Millionär ist, spielt keine Rolle. Ob er wirklich mehr kann als sein ein Jahr zu alter Mitbewerber, ist völlig egal. Das Alter ist wichtig. Das überprüft der Notar. Mitspielen unter 18 ohne Zustimmung des Erziehungsberechtigten ist nicht erlaubt. Mitspielen über 30 ohne Begleitung des Pflegepersonals auch nicht.

Mein Rat an alle Greisinnen und Greise über 30: Spielt meinetwegen Lotto, werdet Buddhistinnen, macht bei Preisausschreiben von Schokoladenfirmen mit - aber sucht euch um Himmels Willen einen Job, in dem man euch ernst nimmt, so wie ihr seid. Hmmm... spontan fiele mir der Bereich der Pflegekräfte ein. Schriftsteller werden immer älter.

Brüller des Tages

Vorsicht anschnallen, es darf hemmungslos gelacht werden!
Manche Autorenanwärter wissen es vielleicht immer noch nicht: Ein Verlag bezahlt seine Autoren - nicht umgekehrt. Leider ist die Spreu vom Weizen in der Firmenwelt nicht immer leicht zu unterscheiden, deshalb gibt es z.B. Aktionen wie Fairlag.

Die bei weitem beste Aktion ist Enttarnung durch Humor. Drei gestandene Autoren haben die Kunstfigur Rico Beutlich geschaffen und dazu ein unmöglich zu verlegendes Machwerk. Und das haben sie einigen Firmen vorgelegt, die vorgeben, zu verlegen. Würden sie es tun, zu welchen Bedingungen?

Die Story bei SpOn ist dringend zu lesen, Lachmuskelmassage garantiert. Und hier ist das berüchtigte Video, das der Spiegel leider nicht verlinkt: Rico Beutlich in Aktion. Wer möchte, kann sich Anschreiben und Exposé im Original anschauen.
Mögen all diese Links die Runde machen!

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24. August 2009

Abschied vom Billigheimer?

Das Thema vom Billigheimer, der heutzutage alles geschenkt haben möchte, habe ich hier schon oft angerissen - einfach weil diese Konsumhaltung vor allem Autoren hart treffen kann, die naturgemäß selten auf Rosen gebettet sind. Das Blog "Bewegliche Lettern" stellt jetzt eine Übersetzung des Aufsatzes "Better than free" - "Besser als kostenlos" von Kevin Kelly zur Verfügung, einen der neuen Diskussionsansätze für Geschäfte in der digitalen Welt. Hochspannend und unbedingt lesenswert für Betroffene wie Macher!

Kellys Ansatz ist verblüffend einfach: Wenn von allem mit Minimalstaufwand eine kostenlose digitale Kopie gemacht und verbreitet werden kann, ist die Kopie an sich nichts mehr wert - im Gegensatz zu den althergebrachten Kopien von früher, die noch köperlich erarbeitet werden mussten (von der mönchischen Schreibstube bis zum Copyshop). Wir müssen also neben der kostenlosen Kopie andere Werte verkaufen. Welche das sein können - darüber macht er sich Gedanken.

Noch sehe ich nicht in allen Punkten gangbare Wege für das sehr spezielle Medium Buch, da wird ziemlich viel neu zu erfinden sein. Setzt man jedoch seine "Generative" als gangbare Zukunft voraus, scheinen in der Buchbranche entweder Chancen noch nicht genutzt oder aus lauter Kopflosigkeit im digitalen Zeitalter Fehler begangen zu werden. Ich versuche einmal Brainstorming in Sachen Buch zu Kellys Generativen...

Unmittelbarkeit
Könnte das Paradox entstehen, dass bei besonders häufig verschenkten Kopien die Erstausgabe eines gedruckten Buchs plötzlich wieder wertvoll würde? Dann dürften Verlage Auflagen nicht mehr allein an Verkaufszahlen festmachen, sondern müssten eine sich unterscheidende Erstauflage in kleinerer Menge zu einem höheren Preis an ein Premierenpublikum verkaufen. Früher gab es das, limitierte Luxusausgaben, womöglich signiert! Buchpremieren vor Ort dürften dann auch nicht mehr verschenkt werden, sondern würden für die Autoren einen besonderen Honoraranteil generieren müssen - mehr als nur bei einer Lesung. Vor allem aber muss dann jeder Autor in den Genuss einer solchen kommen, nicht nur der mit dem Spitzenplatz.

Personalisierung
Es gibt bereits Firmen, die mit softwaregenerierten Büchern Geld verdienen, in denen sich Tante Erna zur Heldin in einem Liebesroman oder Thriller machen lassen kann. Autoren haben bereits versucht, Platzhalter für Nebenfiguren zu versteigern - mit eher mäßigem Erfolg. Solche Konzepte laufen auch nur in sehr begrenzten Bereichen, wenn sie überhaupt laufen. Hier wäre also Erfindungsbedarf. Spontan fällt mir das Publikum ein, das mich bei meinem freien Auftrittsprogramm darauf hinweist, DAS würden sie gern einmal von mir lesen. Ich muss die Leute dann enttäuschen und sagen, dass DAS Verlage nicht kaufen. Nun könnte man aber aus diesen Leuten eine Community bilden, sie vergrößern, und genau für diese Menschen DAS schreiben - ohne Verlag, wenn die nicht wollen. Finanziert durch Kellys letzten Punkt - die Patronage. Sicher nur ein mögliches Konzept von vielen.

Weitergedacht hieße Personalisierung auch ein Erstarken der Nische gegenüber dem Einheitsmassenbrei. Verlage müssten sich dann aber mehr um die gesamte Bandbreite ihres Publikums kümmern und Ideen nicht nur dort abgrasen, wo scheinbar leicht und schnell Trendware verkauft wird. Denn genau diese Schnelldreher - das lernen wir bei Kelly - werden künftig immer weniger wert sein. Kunden werden in Zukunft für das Besondere bezahlen, nicht für das Austauschbare. Erlebe ich übrigens in anderer Form bei meinem Elsass-Hörbuch, wo Kunden sagen: Das muss ich körperlich kaufen, weil ich diese tolle Verpackung mit dem Fenster und das schöne Leaflet unbedingt haben will. Original-CD statt Download.

Interpretation
Hier habe ich Schwierigkeiten, in Sachen Buch weiter zu denken. Sollte man das "Buch zum Buch" schaffen? Oder das "Making of" teuer verkaufen? Und warum dürfte dann so ein Buch mehr kosten als der Roman oder das Sachbuch selbst? Allerdings gibt es bereits bei prominenten Autoren ähnliche Ware: Fans von Rosamunde Pilcher kaufen z.B. auch das Garten- oder Kochbuch zu den Geschichten, Nicht-Fans kaufen das aber auch - und werden so vielleicht zum Fan. Diesen Punkt angewandt, hieße aber auch, dass Autoren ziemlich dumm sind, die heute noch ihr "Making of" in Blogs u.ä. verschenken. Sie könnten, wenn schon eines Tages die Bücher nichts mehr einbringen, Clubs für ihre Fans anbieten, in denen diese per Mitgliedschaft mehr Interna zum Buch erfahren. Konsequent gesehen wird hier auf Community-Ebene auch von Verlagen genau die falsche Arbeit verschenkt. Aber ab wann sieht der Leser einen Wert in solchen geschlossenen Veranstaltungen, wenn doch heute sowieso alles im Internet verteilt wird?

Authentizität / Verkörperung
Signaturen, Zeichen von Autoren erhöhen den Wert. Jeder Autor, der heute noch kostenlos signiert, jeder Buchhändler, der ein handsigniertes Exemplar zum gleichen Preis verkauft, macht in Kellys Universum also etwas falsch. Sammler wissen das - man muss sich nur im Antiquariat und auf Auktionen umschauen, wie Preise in die Höhe schnellen, wenn Bücher signiert wurden. Ausschlaggebend für die Höhe des Wertes sind die Bekanntheit des Namens, die Rarität und die Persönlichkeit der Widmung - übrigens durchaus bei noch lebenden Autoren, auch Unbekannten. Rarität - siehe Unmittelbarkeit! Gegen das kostenlos kopierte Ebook aus dem Netz gewinnt also das körperliche, handsignierte Buch - womöglich in Erstauflage - wieder an Wert. Das ist übrigens keine Utopie: Ein signiertes Exemplar meines ersten, längst vergriffenen Sachbuchs, Originalpreis rund 25 DM (!), ging im Internet vor zwei Jahren für 120 Euro weg, leider nicht durch mich.

Authentizität ist aber auch durch die Person selbst zu erreichen. Musiker machen Geld nicht mehr mit Platten, sondern mit Auftritten. Spätestens jetzt sollte jedem Autor, der sich für Lesungen und Auftritte verschenkt, klar sein, wie sehr er nicht nur Kollegen durch Dumping schadet, sondern auf lange Sicht sich selbst zerstört. Verlierer werden aber auch die Autoren sein, die Öffentlichkeit meiden. Der "Autor zum Anfassen" kann sich vermarkten- und da wird sicher mehr zu erfinden sein als herkömmliche Lesungen. Es wäre auch nicht übel, sich weiterzubilden - schon jetzt hängen Auftrittsorte und Honorar nicht unerheblich von der Professionalität des Vortrags ab.

Allerdings hängen an diesem Punkt auch die größten Schwierigkeiten: Autoren sind keine Popstars, jedenfalls die wenigsten. Werden also Autoren, die keinen Promi- oder Bestsellerstatus erreichen, in Zukunft die Gelackmeierten sein? Steuern wir vielleicht auf eine Bücherwelt zu, die noch extremer als Stapelware nur noch auf Trendseller setzt und jedes andere Buch lediglich als Altpapier und Programmfüllware aufkauft? Jedes andere Buch vielleicht irgendwann gar nicht mehr herstellt?

Patronage
Fans, Clubmitglieder, Aboleser sponsern ein Werk. Bisher verdient ein Autor seinen Lebensunterhalt zuerst einmal durch den Vorschuss vom Verlag. Den bekommt er nur, wenn das Werk im Voraus besticht, wenn ein Verlag bereit ist, Vertrauen in ein noch ungeschriebenes Manuskript zu setzen. Vor allem Anfänger müssen aber erst einmal beweisen, was sie können - das Manuskript also zu Ende schreiben. Sie finanzieren insofern ein Hobby vor. Hier könnten nun potentielle Leser einspringen. Denkt man weiter, entstehen zwei Szenarien:
  • Es kommt kaum Geld zusammen. Der Autor hat gegenüber der herkömmlichen Art nichts gewonnen, aber das zahlende Publikum hat verloren.
  • Der Autor erreicht Vorschusshöhe. Dann wäre er frei, auch andere Konditionen zu diktieren. Dann brächte er eine Menge leseneugieriges Publikum bereits mit. Dann bräuchte er zumindest aus Honorar- und Vertriebsgründen keinen Verlag mehr.
Noch ist das absolute Utopie. Patronage-Portale gibt es bisher meines Wissens nur in den USA - und sie funktionieren noch nicht nachweislich, vor allem nicht für Literatur. In Musik und bildender Kunst ist das etwas anderes. Patronage-Konzepte gibt es in Deutschland allerdings längst. Pfälzer Winzer verkauften z.B. Wein-Patenschaften. Weinliebhaber übernahmen bezahlte Patenschaften für soundsoviele Reben (konnten sogar das Namensschildchen besichtigen) und bekamen zu Weihnachten ein paar Flaschen "ihres" Weins. Der Winzer konnte wieder investieren. Ein Maler druckte Aktien für seine noch zu schaffenden Bilder. Mit den Aktien erwarb man Zeit, in der man das Werk in seiner Wohnung, seinen Geschäftsräumen aufhängen durfte, bis der nächste Aktionär an der Reihe war.

Doch wie lassen sich solche Konzepte auf das Medium Buch übertragen? Wie auf die scheinbar unsichtbare Arbeit eines Autors? Wird vielleicht doch das finanzielle Aus für viele Autoren kommen, weil Chancen verpasst werden, weil Fehler gemacht werden, weil das alles beim Buch doch anders funktioniert? Wie viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten jetzt schon hart am Anschlag und können sich utopische Experimente gar nicht leisten? Wie viele unabhängige Verlage haben genügend Rücklagen für Experimente? Womöglich entwickelt sich ein Buchmarkt nach einem großen Autorensterben in Richtungen, die selbst Kelly noch nicht erträumen kann? Oder entsteht gesellschaftlich rechtzeitig eine neue Wertediskussion?

Wir werden noch eine Menge neu erfinden müssen, experimentieren und sicher auch oft scheitern. Die Wertlosigkeit der Kopie von der Kopie sollte uns aber vor allem zu bedenken geben, wie wichtig es ist, gerade jetzt einzigartig zu bleiben und das Erfinden nicht anderen zu überlassen. Ein Schriftsteller, der sich zum Markt-Klon machen lässt, wird in Kellys Szenario mit einem Mausklick austauschbar sein. Wenn aber jeder zur Originalität und Einzigartigkeit verdammt ist - wie viel muss er dann preisgeben, um nicht mit anderen Originalen verwechselbar zu sein? Ab wann wird Authentizität zur Werbeblase?

Kommentare zu diesem ungeordneten Brainstorming ausdrücklich erwünscht! Wo liegen in Kellys System Chancen fürs Buch, wo Sackgassen? Hat vielleicht schon jemand neue Wege ausgetestet? Macht jemand andere Beobachtungen?

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23. August 2009

Grenzland


Tja, da bin ich schon wieder. Zurück aus der grünen Hölle, die man hier ansehen und durch Klicken vergrößern kann. Ich wollte mir nämlich mal gemütlich einen meiner nächsten Arbeitsplätze ansehen. Und das ist mir noch nie passiert: Auf diesem Hochplateau gab ich es auf, die Bergstraße, an der zwei Autos nicht aneinander vorbei passen, weiter fahren zu wollen. Ich wendete, flüchtete. Für Fahrten in solche entlegenen Orte hatte ich mir einmal ein Handy angeschafft, weil es so schön beruhigt, aus einem Bergloch im Notfall wenigstens noch Signale abgeben zu können. Normalerweise ist da nämlich keiner. Normalerweise läuft man dort Stunden, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Heute konnte man dort nicht einmal mehr umfallen, so dicht war der Verkehr. Der Wald stank erbärmlich nach Abgasen, Blech, Blech, Blech und Motorräder ohne Ende (ich auch noch, ja), und an der Buntheit der Nummernschilder konnte man erkennen, dass man sich mitten in Europa befand - oder zumindest an einem Punkt, an dem alle Europäer auf einmal einfallen. Pech, denn in der Nähe liegt eine bekannte Sehenswürdigkeit, die wahrscheinlich heute unter dem Gewicht von Touristen wieder ein wenig mehr bröselte. Pech, dass die Pfälzer ausgerechnet zur Reisezeit die wenigen Straßen sperren und umbauen müssen, die sie dort überhaupt haben.

Wenigstens kenne ich jetzt die Umleitungen. Und weiß, dass ich dorthin besser unter der Woche fahre, so oft wie möglich, bevor der Winter kommt. Dann geht das nur noch mit Schneeketten. Wenn mich die Orientierung nicht trügt, geht der Blick auf dem Foto nach Deutschland, rechts davon läuft man nach Frankreich hinüber. Überall an diesen Hängen verlief früher die "Grüne Grenze", wo jeder so seine Schleichwege kannte, wo über die Berge geschmuggelt wurde, weil man früher in Europa eben noch schmuggeln musste. Ich erinnere mich noch gut an eine winzige Zollstation an einem Waldweg, gekennzeichnet durch einen Schlagbaum. Der Zöllner kam dann nachts immer mit einer riesigen Taschenlampe und einem Rausch im Gesicht. Einfach weiterfahren war nicht möglich, wenn zur Kontrolle nicht auch ein Schwätzchen heraussprang für ihn - denn dort oben war es verdammt einsam und langweilig. Tja, heute verkehrte dort die Welt.

Ein Eckchen weiter verläuft übrigens eben jenes Gebirge mit seinen vielen Burgen, von dem ich in meinem Elsassbuch erzähle: "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" / Elsass-Hörbuch, es ist das Kapitel mit meinem Spezial-Kugelhopf-Rezept. Zu Fuß ein Katzensprung, mit dem Auto nur über Riesenumwege erreichbar.

Einen Schritt zurück

Wer sich viel im Internet bewegt, verfällt schon einmal dem Glauben, ein Offliner sei nicht nur Minderheit, sondern Relikt einer überkommenen Zeit. Alles müsse hektisch multimedial kommuniziert, irgendwie in elektronische Form gebracht werden. Manche Internet-Freaks schauen schon mitleidig bis gehässig auf die "Generation der Ausdrucker" herunter (als ob es da Altersgrenzen gäbe). Man beschwört den Tod des Buches, der Briefe und manchmal trennen sich zwei per Twitter oder sms.

Keine Frage, unsere Welt ist im Umbruch. Die neue Zweiklassengesellschaft teilt sich in die Menschen mit Internetzugang und die ohne. Bildung, Wissen und Information bedeuten Macht, das war schon immer so und wird so bleiben. Und spätestens wenn in den Nachrichten eines von allen Gebührenzahlern unterhaltenen öffentlich-rechtlichen Senders darauf verwiesen wird, dass es ernsthafte Hintergründe nur auf der Webseite gebe, wird klar, wer in Zukunft der Dumme sein wird. Und wollen wir nicht alle die Weisheit mit Löffeln fressen?

Interessant ist die Gegenbewegung. Einige Intellektuelle, die sich ausgiebig in und mit dem Internet und seinen Möglichkeiten beschäftigen, sehen zunehmend kritisch hinter die Kulissen. Denn genau dort, wo Wissen und Information wohlfeil lagern, lauert die gleiche Verblödungsmaschinerie wie im echten Leben, eine Zeitfressermaschine obendrein. Die ist in den meisten Fällen noch nicht einmal bösartig gewollt, der Mensch ist eben einfach nur ein Mensch, manchmal mit weiterem Horizont, manchmal mit sehr engem. Die Masse macht's, die mangelnde "Medienkompetenz" - wir sind auf ein Medium losgelassen worden, aber wir haben nicht gelernt, es zu durchschauen.

Mit den wachsenden technischen und virtuellen Möglichkeiten wächst jedoch der Hunger nach Haptik, nach Sinnengenuss, nach direktem, echten Erleben. Es wächst auch der Wissensdurst dort, wo die elektronischen Medien nicht hingelangen. Es wächst der Hunger nach Kommunikation mit Dingen, die uns nichts mehr sagen, weil wir die wichtigen Prägungsjahre vielleicht lieber am Computer saßen, weil wir vielleicht eher Wikipedia befragen als die eigenen Großmutter. Im großen Hypegeschrei ums Online-Leben geht unter, dass wir Grenzgängerei brauchen - die Fähigkeit, sich in beiden Welten sicher bewegen zu können. Es geht nicht darum, in die virtuelle Welt zu flüchten und die reale im Hauruckverfahren an dort geschaffene Situationen anzupassen. Unsere Zukunft wird darin liegen, unsere über Jahrhunderte geschaffenen sogenannten zivilisatorischen und ethischen Errungenschaften immer wieder zu überdenken, über die Folgen von Verlusten nachzudenken, über neue Visionen - immer mit Blick auf die ganz realen Auswirkungen.

Ich werde morgen mit einer sicher anstrengenden, aber wunderschönen Arbeit beginnen (nicht als Buchautorin), die in einem Team von Menschen geschieht, das Grenzgängerei lebt und an ihrer Verbreitung arbeitet. Nicht nur zwischen Online und Offline, sondern auch zwischen Sprachen, Kulturen, Traditionen. Solche Grenzgänger haben gelernt, dass die eine Welt nur genauso mit Wasser kocht wie die andere, dass jede von der anderen profitieren kann - wenn man sie so stehen lässt, wie sie ist. Wir müssen uns einlassen und aufeinander hören. Gerade in Zeiten der Verherrlichung des Internets wird diese Arbeit wieder wichtiger, denn das ach so globale Internet setzt künstliche Grenzen, Sprachgrenzen. Nationen, die Nachbarn sind, wissen im echten Leben zunehmend weniger voneinander, nähren Klischees, Vorurteile und Wunschbilder. Irgendwo chattet man vielleicht auf Englisch über einen Film, aber was wissen wir wirklich voneinander? Wo im Alltag berühren wir uns?

Im Rahmen eines Europaprojekts werden wir zweisprachig, französisch und deutsch, im Grenzgebiet etwas schaffen, das den Menschen völlig offline kommunizieren lässt, mit der Natur, mit der Geschichte, mit zwei Kulturen, mit Menschen. Menschen, bei denen das Alter und die Herkunft keine Rolle spielt, bei denen keiner herablassend nachschaut, wie sie sich im Internet bewegen. Wenn man so will, basteln wir an einem neuen Anschluss ans Leben.

Für mich ist diese Arbeit im Brotjob so faszinierend, weil ich den Schritt zurück zu machen gezwungen bin. Statt aufgeregter Überkommunikation und Pseudodialogen im Internet muss ich erst einmal völlig still werden. Darauf hören, was mir eine Landschaft erzählt, welche Stimmen ich aus der Vergangenheit aufnehme. Nach dem Hören kommt das Einfühlen. Was für Menschen werden das sein, für die wir all das erarbeiten? Wie sprechen wir die Kinder an, wie die Erwachsenen? Welche Erwartungen und Bedürfnisse sind da, wie können wir zum Erleben verführen? Wie können wir Sinne wecken, die im Alltag untergehen, wie die Neugier? Welche Unterschiede wird es zwischen Franzosen und Deutschen geben? Was zeigen wir den Franzosen auf deutschem Boden, was den Deutschen in Frankreich?

Es ist auch eine Erholung vom Büchermachen, weil absolute Teamarbeit, die nicht nur am Computer stattfinden kann. Für Stille-Kämmerlein-Schreiber sicher ungewohnt, denn jetzt werden Ideen im gemeinsamen Gespräch entwickelt, gemeinsam erfunden, verworfen; bikulturell, zweisprachig. Rückwärts befruchtet es die Bucharbeit. Die Grenzgängerei ist wohl eins meiner Lebensthemen. Kommt davon, wenn man schon an der Grenze geboren wurde. Ich fahre nachher hinaus in die Landschaft, nur mit einem Fotoapparat, zum Lauschen und Sehen, um ein Gespür zu bekommen, wofür ich arbeiten werde. Mir genügen Webseiten und Onlinewissen nicht - man muss das erleben, erspüren. Nur so kann ich in anderen auch ein Gefühl dafür wecken.

Und vielleicht fällt mir in der Ruhe da draußen, ohne Handy, ohne Computer ein, welches Buch ich als nächstes schreiben möchte, wenn das Lektorat am Nijinsky abgeschlossen sein wird. Egal, für welches ich mich entscheiden werde (es liegen da zwei Projekte in Konkurrenz), mit irgendeiner Grenzgängerei wird es wahrscheinlich wieder zu tun haben...

22. August 2009

Hatz auf die Wollmilchsau

Reden wir von einem seltsamen Tier, von dem man sich mindestens so viele Legenden erzählt wie vom Wolpertinger oder von der Elwetritsch: dem professionellen Autor, der professionellen Autorin. Was braucht man denn außer Schreibfähigkeiten zu diesem "Traumberuf"? Schauen wir einmal auf die letzten zehn Jahre, märchenhaft bis polemisch...

Als ich 1998 mein erstes (Sach-)Buch veröffentlichte (ja, so lange kann man diesen Beruf erfolgreich ausüben, ohne berühmt zu werden!), war ein richtiger gestandener Autor noch jemand, der sich geschickt rar machte in der Öffentlichkeit, vom Nimbus des ganztägig Kreativen umgeben. Der Programmchef meines ersten Verlags zeigte mir damals handgeschriebene Manuskripte, mit Füller auf Linienpapier, die ein Schreibbüro für den Verlag auf schwabbeligen Riesendisketten erfasste. Traurig meint er, ich solle mir so einen Packen noch einmal genau anschauen, bald seien die schönen Zeiten vorbei, vor allem die, in denen man Autoren noch zu Hause besuchte und mit ihnen über Kunst und Literatur debattierte, neue Ideen beim Glas Wein aus der Taufe hob, Bücher entwickelte.

Für mich bedeutete so ein Verlag, dass er sich erfrischend für seine Erstlings-Autorin und ein eigentlich völlig regionales Thema ins Zeug legte, wie ich das nachher in diesem Ausmaß nie mehr erlebt habe. Drei Tage präsentierte ich dem Lektor den Ort des Geschehens, brachte ihm Kultur und Küche und meine Ideen nahe. Begeistert ergänzte er mein Recherchematerial. In einem Ort daselbst organisierte der Verlag eine Premierenpräsentation samt Vertretern und füllte mir eine Mehrzweckhalle mit 450 Besuchern. Dafür bot ich mich bei der Pressefrau als Fremdenführerin für eine Pressereise an. Die haben dann wirklich einen Bus gechartert und noch echte Journalisten aus Fleisch und Blut dorthin gekarrt - die Autorin konnte aus dem Vollen schöpfen. Es lohnte sich noch. Keine regionale Zeitung, die nicht darüber schrieb, sogar FAZ und ZEIT ließen sich zu einer Meldung herab. Dann Mitarbeit bei einem kleinen Fernsehfilmchen zu meinem Thema, Auftritt in einer Live-Talkshow und einige TV-Angebote, die ich ablehnte (man muss ja nicht bei JEDEM Talk dabei sein).

Ziemlich schnell waren 4000 Bücher verkauft, das war damals viel für ein Sachbuch-Hardcover mit Nischenthema in einem mittelgroßen Verlag. Und dann war das Märchen vorbei. Es gab den Verlag nicht mehr. Die wunderbare Pressefrau arbeitete längst in leitender Stellung in der freien Wirtschaft. Auch ein paar andere Cracks haben die Buchbranche verlassen. Und vom neuen Eigentümer (der längst auch nicht mehr Eigentümer ist) kam der Formbrief, man müsse... kurzum: Das gut laufende Buch wurde verramscht und wird heute im Antiquariat zu Höllenpreisen vertickert. Ein Märchen war vorbei. Sie sind halt doch gestorben.

Ab da wurden vom Autor immer mehr Zusatzqualifikationen verlangt, die zumindest indirekt oft Investitionen bedeuteten. Etwa fürs kostenlos beizusteuernde Autorenfoto. Natürlich hätte Tante Emma knipsen können. Aber wer je einen Verlagsprospekt durchgeblättert hat, in dem Tante Emmas Halbdunkel mit hundert Profischönheiten konkurrieren muss, der löhnt dann doch lieber den, der's kann. Auch das war nämlich plötzlich wichtig: Aussehen. Öffentlichkeit. Sie machen doch Lesungen und Tourneen! Ohne Dauerverfügbarkeit für Lesereisen kein Vertrag. Plötzlich wurde nicht mehr zuerst ins Manuskript geschaut, sondern aufs Gesicht. Ist die Autorin jung genug? Geht sie noch als deutsches Frolleinwunder durch? Wie telegen ist sie? Männer durften natürlich - altbekanntes Rollenspiel - einen auf markant machen.

"Auch ältere Leserinnen wollen junge Frauen auf dem Cover sehen - und frische Autorinnen!" Was auch immer dieses "frisch" bedeutete, die Autorin mit den vereinzelt silbernen Fäden griff ins Hennatöpfchen und ließ die langen unpassenden Haare erst mal dran. Um bei Lesungen dann von Gleichaltrigen zu hören: "Es wird ja mal Zeit, dass Romanpersonal nicht immer unter 30 ist!" Fernseheinladungen kamen trotz Henna nicht. Heute bin ich schlauer und arbeite mit einem Foto, auf dem ich um die 35 bin. Punkt. Mit der Dauerlesebereitschaft war das auch so eine Sache - würden Sie eventuell umsonst, Krise, teure Autoren... Nein, die Autorin würde nicht. Von irgendetwas musste sie ja die Hennapackungen bezahlen. Aber: Das waren noch richtig gemütliche Zeiten!

Heute haben professionelle Autoren eierlegende Wollmilchsäue zu sein, absolut crossmediakompatibel, online very social, offline ohne Privatleben, weil worcoholic. Der professionelle Autor von heute liest jeden Schauspieler an die Wand und weiß sich bei spontanen Podcasts stimmlich sympathisch zu machen, ohne Stottern, versteht sich. Interviews gibt man im Schlaf, denn zum Schlafen kommt so jemand kaum noch. Ohne Stimmausbildung geht selbst auf dem Dorf erst mal gar nichts mehr, die Konkurrenz schläft nicht, Schauspielkurse willkommen. Denn die Wollmilchsau sollte auch äußerlich etwas hermachen. Das fängt beim youtube-Trash-Video an und endet bei - hatten wir schon - Internet- und echtem Fernsehen. Natürlich hat so ein Autor zu Hause das perfekte Equipment und weiß Podcasts, Videos, Streamings und am besten noch Online-Konferenzen selbst herzustellen. Wer vom Verlag keinen Trailer bekommt, weil man eigentlich keinen Trailer braucht, kennt die richtigen Cracks unter den Filmern und Komponisten, die so etwas aus Spaß im eigenen Bad herstellen.

Der neue Autor, der seine Klappentexte und Presseaussendungen für die Werbeabteilung selbst schreibt, vertraulich natürlich, weil die Werbeabteilung längst nicht mehr alle Bücher des Verlags liest, hat natürlich eine entsprechende Schulung in Public Relations und neben journalistischen Fähigkeiten mindestens dreißig Insiderkontakte ins Feuilleton oder entsprechende Fachblätter. Er kennt wichtige Multiplikatoren seines Themas persönlich und liest nicht mehr nur in Buchhandlungen, sondern auch bei Gärtnern, Orthopäden, in Parfümerien, beim Weihnachtsfest des Lionclubs und im Altenheim. Krise, teure Autoren, eigentlich kein Geld... kennen wir schon. Nur mit dem Unterschied, dass schon manchem lohngierigen Autor das Handaufhalten als zickig ausgelegt wird. Schließlich leben wir in einer Kostenlos-Kultur, im Schnäppchenjägerland, unter Billigst-Billigst-Konsumenten. Da will auch schon mal ein Ebook verschenkt sein.

Deshalb darf auch jeder Profiautor heute sein eigener Medienmarkt sein. Man nennt das euphemistisch Social Web. Euphemismus bedeutet, dass man etwas beschönigend ausdrückt. Statt "Der Alte verreckte jämmerlich" sagt man z.B. "In seiner besten Manneskraft versuchte er, seinen Lebensunterhalt als Autor zu verdienen." Social Web bedeutet all das Onlinezeug, das einem offline die Zeit und die Fähigkeiten für ein Sozialleben erfolgreich abtrainiert. Eins von diesem Zeug reicht nämlich nicht, man begibt sich in einen Mix, entwirft sich eine Corporate Identity und Cross-Strategien... und mit irgendeinem Brand oder Branding war da auch noch etwas. Also, der moderne Autor ist stets entflammt.

Für Tante Erna erklärt: Der Profiautor von heute bloggt (täglich), twittert (zwei mal täglich), putzt sich die Zähne (drei mal täglich), arbeitet für Facebook (Stunden), vernetzt sich, befriended sich, verfolgt Menschen und lässt sich verfolgen. Weil das Ganze "social" heißt, muss er altväterliche Rituale einhalten, die ihm seine Community vorgibt, muss Klicks und People generieren, muss kommunizieren, spontan mit den Ohren wackeln können, Werbung verstecken, seine Bücher in die Kamera halten, seine Bücher ins Mikro schreien, kurz mal die Kinder anschreien. Hoppla. Stopp. Falsch.

Die können sich Vollblutautoren von heute, die auch einmal einen Spitzentitel erreichen wollen, nur mit treusorgender Mutti im Hintergrund leisten, mit ebensolchem Hausmann. Aber wer hat schon Zeit für die Partnersuche, wenn im Jahr zwei Romane heruntergeklopft werden müssen, man vielleicht sowieso für drei Verlage quer arbeitet, um sich über Sozialhilfeniveau zu halten und der Lektor sagt: "Wir müssen nachschieben, wir müssen dringend nachlegen, solange man sich Ihren Namen noch merken kann!" Wir wissen: Seit es Internet gibt und seit das Bildungsbürgertum langsam beim Ausdrucken verröchelt, beträgt die Merkfähigkeit von Autorennamen so viel wie die Halbwertszeit eines durchschnittlichen Buches im Publikumsverlag, also höchstens zwei Monate.

Wann wir bei all diesem Werbewahnsinn und Public Viewing noch kreativ sind und Bücher schreiben? Ach - der moderne Autor von heute hat doch Outsourcing gezwungenermaßen von der Pieke auf gelernt! Das machen unsere Sklaven, die wir als Ich-AG-Direktoren für einen Euro die Stunde mit unserem Computer zum eigenen Fernsehteam ins Bad gesperrt haben. Und unter uns - für das, was man heute manchmal Roman nennt, gibt's doch längst Schreibprogramme.

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21. August 2009

Musik und Theater

Ich bin nicht so ruhig, wie es scheint, habe nur "nebenan" gebloggt. Meine Geheimtipps in Sachen Musik und Theater nebst lebensfrohem Ausflug ins Elsass und in die Pfalz.

20. August 2009

Hitze bringt Hotlist-Hoch

Während ich hinter angelehnten Fensterläden in der herrlichen Kühle hitzefrei mache und mein Hund die Hundstage gemütlich auf kalten Fließen verbringt, kann ich allen anderen Lesestoff anbieten. Vergessen Sie die mit viel Werbeetat hochgepuschte Longlist des Deutschen Buchpreises - schauen Sie wettergemäß in die Hotlist der Independent Verlage. Das sind die kleinen feinen...
Lesen - denn ein Buch bringt nicht ins Schwitzen!

18. August 2009

Empfehlungen

Wie schon gesagt, nutze ich die Zeit, in der mein Manuskript lektoriert wird, zum allmählichen Nichtstun (und Aufarbeiten alles Liegengebliebenen). Gleichzeitig plane ich eine völlige Überarbeitung meiner Website, weil sich die Tätigkeitsbereiche etwas verschoben haben. Und das Blog kommt auch noch dran. Da wimmeln die Ideen noch im Hinterkopf und ich suche nach einer Form, die sich per freiwilliger Selbstausbeutung ordentlich verwirklichen lässt (wäre ich Millionär, ich wüsste, was ich im Internet aufziehe, tja). Aber erst mal ist Gedankenschweifen angesagt. Und ein Rest vom Sommer, den ich verpasst habe.

Deshalb heute nur ein paar Leseempfehlungen für "anderswo":
In einem Ausschnitt aus seinem Buch "Die politische Ökonomie der Menschenrechte" macht sich Noah Chomsky Gedanken über Orwell, Lesepublikum und die künstliche "Fabrikation von Konsens" in einer Zeit der Massenmedien. Unbedingt lesenswert und überhaupt nicht so trocken wie es klingt.

Leander Wattig hat eine neue Aktion ins Leben gerufen: "Ich mach was mit Büchern". Um Menschen aus der Buchbranche miteinander stärker zu vernetzen, sollen hier Kontakte gesammelt werden und abrufbar sein. Wer mitmacht, bindet die entsprechende Grafik bei sich ein. Mitmachen können alle, die am "Produkt Buch" beteiligt sind - auch Bücherwürmer. Noch ist das Wiki ziemlich leer, aber die Aktion startete ja gerade erst.

16. August 2009

Nijinsky heute im TV

Wer sich schon einmal Appetit auf das Thema meines - natürlich ganz anderen - Hörbuchs holen will und den ZDF-Theaterkanal empfangen kann - dort laufen heute abend zwei Filme über Nijinsky. Eine Doku, die sich mit der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle und John Neumeiers Nijinsky-Ballett befasst - und der Spielfilm von Paul Cox mit einer eigenen Deutung aus der Zeit, als der Künstler in den Wahn driftete. Der übrigens von vielen Autoren sehr unterschiedlich gedeutet wird, aber sehr wahrscheinlich keine Schizophrenie war.

Bekommen habe ich den Tipp auf Twitter von @Federheldin - danke!
Und wem das zu kurzfristig ist - unter den Links findet man den ein oder anderen Wiederholungstermin.

13. August 2009

Конец

Seit eben steht unter meinem Manuskript in der Tat das russische Wort Конец = Ende.
Die letzten drei Tage, die mir bleiben, werde ich heftigst überarbeiten müssen; Papierlektorat, weil ich am Bildschirm nicht den richtigen Überblick habe.
Da sitze ich nun mit einem Glas Kir Royal, auf typische Künstlerart mit dem 1-Euro-Weng-Mussöh gemixt, und fühle mich komisch. Fühle mich ein bißchen wie als Kind, wenn nach dem russischen Märchenfilm dieses Конец erschien und eine Traumwelt in der Realität versank. Fühle mich, als hätte ich Zahnschmerzen und wüsste eigentlich überhaupt nicht, wie ich mich fühle.
Ich HASSE diesen Moment. Bei jedem Buch von neuem...

Auch wenn ich jetzt wochenlang mit Lektorat und dann Produktion beschäftigt sein werde und außerdem das Beiheft texten muss, werde ich NIE mehr, NIE mehr an diesem Buch schreiben können. Ekelhaft. Und so lächerlich, wenn ich gegen die Vielschreiber und all die dicken Klöpse im Buchhandel meine lächerlichen 70 Normseiten setze, die ich wahrscheinlich noch kürzen muss. Ich habe noch nie so hart für so wenig Text gearbeitet. Aber genau das war die große Herausforderung diesmal: Die Kunst des Auswählens, des Weglassens. Bei drei CDs sind wir aber wahrscheinlich doch...

An dieser Stelle sei allen gedankt, die mich motiviert und aufgemuntert haben, die irgendwie teilnahmen oder sich für Nijinsky und die Ballets Russes interessieren. Ich möchte allen danken, die meine Russomanie ertragen haben, mein Dauerschwärmen von Nijinsky und meine Anfälle in Farben der Ballets Russes. Und die immer wieder verstehen, dass man als Autor ab und zu völlig vom normalen Leben abtauchen muss.

Das verlangt jetzt mit Zwacken im Magenbereich seinen Tribut, Madame belegt sich eine Pizza und versucht, für das morgendliche Selbstlektorat abzuschalten. Als Bettlektüre sind Nikolaj Gogols phantastische Erzählungen angesagt und nächste Woche belohne ich mich mit der Filmausleihe in der Russischen Bibliothek in Baden-Baden und damit. Abschalten, pah! Jetzt erst recht Ballets Russes! (Und im Oktober kommt John Neumeier nach Baden-Baden...)

12. August 2009

Der Körper schreibt mit...

Ich kann bei meinem Manuskript über Vaslav Nijinsky jetzt schon das Ende absehen. Es lief heute wider Erwarten gut, für den Weg hin zum Wahnsinn hatte ich wieder die nötige Distanz der Chronistin, konnte erzählen, ohne allzu viel zu bewerten. Ich war so im Fluss, dass ich bemerkte, wie sich meine Sprache veränderte. Vom melodiösen Tanzen zu unregelmäßigeren Rhythmen, zu Innehalten und Pausen. Der so viele Monate gefürchtete Moment gestaltete sich jedoch anders als vermutet.

Der Moment, in dem Nijinsky in die andere Welt kippt. Ich versuche einen Innensicht, so weit das möglich ist. Weg von den Außenwertungen, den Pathologisierungen. Suche. Schreibe Stakkato. Begleite den Mann, für den Tanz alles ist. Einen Mann der Bewegung, der mit dem Körper erfühlt, wofür er keine Worte hat. Treibe auf jenen unvermeidlichen Punkt zu. Eingesperrt ist er in seiner Alpenvilla. Beengt. Bricht in die einzige Bewegung aus, die ihm bleibt. Nijinsky malt. Nijinsky malt, zeichnet und plant ein Ballett, in dem er endlich alles heraustanzen will, was ihn "tiefinnerlich" bewegt. Er hofft auf die Empathie der Welt. Er sehnt sich danach, dass die Menschen ihn fühlen, seine Liebe fühlen, die er von jeder Bühne verströmen möchte. Und gleichzeitig hat er Angst, dass sie ihm das Fühlen nehmen. Einmal noch wird er sich völlig verströmen.

Es wird sein letztes Ballett sein, über das ich morgen unter anderem schreiben werde, obwohl der Text tippbereit schon im Kopf sitzt. Aber ich brauche tatsächlich eine Zwangspause. Ich zittere wie Espenlaub. Dachte an ein Kreislaufproblem, aber es ist dieser Moment, nur dieser eine Moment. Die ach so coole Autorin trifft die Tasten kaum noch. Nijinskys Hinüberwechseln ist so nah am Leben. Nur ein winziger kleiner Schritt - und er wird ihn noch oft von einer auf die andere Seite gehen und zurück, bis es eines Tages kein Zurück mehr gibt. Bis der Mann der Bewegung in der Stille verharrt.

Textlich gesehen lief das Schreiben so gut wie schon lange nicht mehr. Körperlich und seelisch war es so anstrengend wie selten zuvor.
Es gibt Bücher, die sind wie der Fluss bei Heraklit: Man steigt hinein und steigt als ein anderer wieder heraus. Solche Bücher möchte ich schreiben.

10. August 2009

Abschreiben macht dumm

Ja, das Blog gibt es noch. Und eine akute Hirn- und Kaffeeüberflutung. Am 17.8. muss das Manuskript im Verlag sein und dann kann ich wahrscheinlich wieder langsamer denken...
Heute hat mich ein RechercheGAU zurückgeworfen. Eine Verwechslung mit Folgen in meinen Quellen. Ich kam durch Zufall darauf, weil ich erst auf die Landkarte schauen musste. Also hat einer brav vom anderen abgeschrieben, ohne die Aussagen zu hinterfragen. Das bleibt jetzt an mir hängen. Lese grade englisches Buch quer...

Ich habe das bereits beim Rosenbuch erlebt. Es wird einfach nur noch von anderen abgeschrieben, an Wikipedia und Internetquellen geglaubt. Auch von Koryphäen mit Doktor - oder Professorentiteln! Und derjenige, der dann wirklich hinterfragt und die Wahrheit herausfindet, ist der Depp. Da kommen dann die netten Leserbriefe: Aber das stimmt doch gar nicht, bei Wikipedia steht's anders! Aber vier Koryphäen im Internet schreiben das Gegenteil!
Folgen der Bedien-Kultur...

Die Lady bleibt eisern. Ich habe zwar keinen Doktortitel und glaube nicht an Wikipedia (allein bei den Fehlern zu den Ballets Russes etc. wird mir schwummrig), aber ich glaube noch an ururalte journalistische Techniken. Eine davon nannte man früher Quellenüberprüfung.

8. August 2009

Lesetipp

Mein Lesetipp: Julie Zeh und Ilija Trojanow in der ZEIT über Sicherheit total - und bei Hanser erscheint das Buch der beiden zum Thema: "Angriff auf die Freiheit".

Verkaufsgespräch

Das vorliegende Gespräch hat so ähnlich wirklich stattgefunden. Es wurde nur dramaturgisch bearbeitet, um deutlich zu zeigen: Autoren sind verdammt schlechte Verkäufer, wenn sie das Metier nicht gelernt haben.
Es sprechen Tante Erna als potentielle Leserin (TE) und die Autorin (AU).

TE: Du hast gesagt, dein Hörbuch sei demnächst fertig. Aber wer soll das kaufen, du schreibst doch bloß über lauter Russen!
AU: Hätte ich über Bayern schreiben sollen?
TE: Aber ich kauf mir doch kein Buch, in dem nur Russen spielen!
AU: So schlimm ist es nicht. Der Nijinsky kam eigentlich aus einer polnischen Familie. Aber damals war Polen aufgeteilt. Und da wo er her kam, war russisches Gebiet. Und keine Angst, Tantchen, kommen auch Franzosen, Deutsche, Engländer, Schweizer...
RE: Aber der Russe, also der Pole, der hat doch nur getanzt! Wieso schreibst du ein Buch über Tänzer, wer soll das kaufen?
AU: Naja, erstmal gibt es Menschen, die Ballett und Tanz mögen. Und dann ist es auch ein Buch über eine ungeheuer spannende Zeit, die Kunst damals, die Menschen ... all die berühmten Avantgardisten...
TE: Ava...was? Wenn ich schon sowas über olle Russen kaufen soll, die den ganzen Tag nur getanzt haben, gibt's dann wenigstens eine schön romantische Liebesgeschichte?
AU: Ja, Tantchen, der ganze schwule Kreis von Paris kommt vor, die Tragödie zwischen Nijinsky und seinem Partner Diaghilew, die Heirat Nijinskys, die nicht funktioniert hat.
TE: Bist du waaaahnsinnig!? Ein Buch über einen MANN, der auch noch... also der auch noch... wie kann das einer veröffentlichen! Keine Frauen?
AU: Doch, Frauen kommen auch ein paar drin vor.
TE: Die waren hoffentlich ordentlich verheiratet!
AU: Nicht alle, Tantchen. Und die, die es waren, waren es oft oder waren auch bi...
TE: Du ruinierst dir deine ganze Karriere!!!!
AU: Die Ballets Russes werden weltweit und ausgiebig in diesem Jahr gefeiert, Tantchen. Hundertjähriges. Es gibt Sonderveranstaltungen, Balletttage, Ausstellungen, Symposien. Die haben unsere moderne Welt vollkommen umgekrempelt. Darüber schreibe ich!
TE: Wieso soll ich das lesen, wenn's in der Zeitung steht?
AU: Es ist ein Hörbuch. Zum Anhören, z.B. beim Bügeln.
TE: Beim Bügeln guck ich RTL.
AU: Na vielleicht vor dem Einschlafen?
TE: Russen vor dem Schlafen, pfff. Gibt's dann wenigstens Schwanensee?
AU: Nein, Tantchen, Strawinsky hauptsächlich. Die Ballets Russes haben das Ballett revolutioniert.
TE: Strawas?!? Noch'n Russe?
AU: Deswegen hieß es Ballets Russes, russische Ballette.
TE: Aber der Stra, der Stra, also der Dingens, das ist doch der, der so einen schrecklichen Lärm macht, das ist doch keine Musik mehr!
AU: Das haben um 1910 manche wahrscheinlich so gedacht.
TE: Bist du denn von allen guten Geistern verlassen??? Schreibst ein Buch über lauter Russen, die noch nicht mal alle echt waren, aber dafür andersrum, mit Frauen rumgemacht haben, die auch nicht ordentlich gelebt haben, und die alle bloß mit Künstlern gesoffen haben? Ja so kann man doch sein Geld nicht ordentlich verdienen!
AU: Denkt über den grammatikalischen Bezug des letzten Satzes nach.
TE: Womit hört denn das Buch auf?
AU: Mit Nijinsky Wahnsinn. Man sagt, er sei schizophren geworden.
TE: Hab ich dir's nicht immer gesagt?! Hab ich nicht immer gesagt, wenn einer nicht ordentlich... und du, pass bloß auf, pass auf, wenn du solche Bücher schreibst, dass du nicht auch noch! Also da muss man sich ja schämen, wenn man sowas im Laden verlangt!
AU: Du musst es ja nicht kaufen ...
TE: Aber DU musst unbedingt dein Leben ändern, so geht das nicht weiter! Landest noch ganz auf der schiefen Bahn. Schreib endlich mal was G'scheites, was fürs Herz. Was kommt denn als nächstes?
AU: Ich plane einen Roman.
TE: Über was?
AU: Kann ich noch nicht verraten, wird aber in Polen spielen, auf zwei Zeitebenen.
TE: Spinnst du jetzt komplett? Jetzt guck doch mal die eine mollige Schauspielerin, die immer so nett Bayrisch oder Österreichisch spielt, so mit Bergen und Tieren und so, warum kannste dich nicht für sowas erwärmen, das tät ich auch kaufen.
AU: Weil ich mich mit Bayern und Bergen nicht auskenne und sowas nicht schreiben kann. Das können andere viel besser als ich.
TE: Ach, aber über völlig durchgeknallte verquere Russen kannste schreiben, das geht? Was soll ich jetzt von dir denken?

Autorin geht ab und fragt sich das auch.

7. August 2009

Pawlowsche Schmöker

Zuerst dachte ich, es sei nur der fehlende Schlaf. Dann kam ich darauf: Pawlow ist schuld. Sein Reflex greift hervorragend.

Ich sehe bei Twitter einen Buchtitel: "Die Tribute von Panem". Schau mir das Cover an. Einmal keine Frau mit abgehacktem Kopf, keine schwüle viktorianische Faltenwerferin, sondern ein katzenäugiges Mädchen hinter Blättern. Lese irgendetwas von Heldin, Kämpferin und Liebe und schon war's passiert. Ich bin erfolgreich vom Buchhandel und den Lektoraten konditioniert, denn sofort öffnete sich eine große Schublade. Und in dieser Schublade haben alle Bücher einen "-in"- oder Tochtertitel, sind alle Heldinnen Frauen und kämpfen, ja, auch manchmal gegen Hunger. Ich habe im vergangenen Jahr mal eine dieser Titelstrukturen untersucht, aber nicht geahnt, wie schlimm man als LeserIN auf den Hund kommen kann. Sprich, sich konditionieren lässt.

Bei diesem Titel stutzte ich nämlich plötzlich. Nicht nur, weil ich als Lateinerin den Akkussativ des Brots nicht verstand (wie soll ich auch ahnen, dass ein Fantasieland damit gemeint sei). Ich hielt natürlich sofort auch die Tribute für eine wunderliche Wortneuschöpfung. Endlich mal kein "-in"! Endlich war ein Lektorat erfinderisch gewesen. Die schöne Tribute mit den Katzenaugen! Die schöne Tribute, wie sie leibt und kämpft. Ach, und wer weiß, vielleicht kam sie ja auch wie die Namenscousine Libute aus dem Baltikum und Panem war so etwas wie ein Herrensitz, von polnisch pan = Herr? Das Titelbild hätte ja auch zu einem Frauenroman à la Bernsteinschmachten gehören können?

Ich tu dem Buch natürlich übel unrecht. Wie ich dank Recherche herausfand, ist es ein Buch für Jugendliche, ein Science Fiction obendrein. Der an Römerzeiten erinnernden Geschichte entnehme ich, dass Tribute der Plural von Tribut ist. So kann man sich täuschen, wenn man ordentlich konditioniert ist und das Cover ordentlich täuscht. Oder man an morgendlicher Sprachverwirrung leidet. Oder nur flüchtig auf Cover schaut und gleich entscheidet.

Notiz: Nächstes Manuskript nicht an Verlag geben, der Frauen auf Cover druckt.

6. August 2009

Twitter und Facebook attackiert

Leider kann man in diesem Blog meine letzten Twitterbeiträge nicht mehr live mitlesen, sondern muss sich statt dessen dorthin klicken (rechts im Menu der Link zu meinem Account @buchfieber ).

Den Schritt fand ich notwendig, weil Twitter öfter mal down ist und der Script so unpraktisch, dass in solchen Fällen mein restliches Menu nicht mehr lädt. Solche Verzögerungen möchte ich meinen Leserinnen und Lesern nicht zumuten, auch wenn es praktisch war, meine Kurztipps bereits hier anbieten zu können.

Heute war es besonders schlimm, laut CNN wurden Twitter und Facebook Opfer eines sogenannten DDoS-Angriffs. In verständlichem Deutsch heißt das, jemand hat beide Dienste mit derart riesigen Datenmengen bombardiert, dass sie in die Knie gingen - sprich, jemand hat die Dienste ausschalten wollen. Wer und was genau dahintersteckt, weiß man noch nicht, Twitter verspricht, zuerst einmal zu reparieren, was zu reparieren ist und dann die Verfolgung der Täter aufzunehmen.

Schöner Anlass, um einmal wieder auf die Sicherheit bei Social Media aufmerksam zu machen und die Unbekümmertheit bei vielen Nutzern. In den USA werden deshalb Stimmen laut, die eine Reform der Social Media zu offenen Systemen und mehr Datenschutz fordern. Vor allem Facebook ist ja ein Kandidat, der ständig übel in die Schlagzeilen gerät.

Ansonsten, wie ich vorhin mit Müh und Not schon twitterte:
Countdown (noch 10 Tage): Hirn leer, Pensum übererfüllt, 132 min. Hörtext fertig, kalten Cinsault im Glas, genießend.
Und das gibt mir schon wieder satirische Gedanken ein: Wenn ich heute einen Krieg führen würde, käme kein einziger Soldat mehr ins Feld. Die würde ich umschulen und auf Social Media ansetzen. Oder einfach den Strom ausknipsen lassen. Wer heute wohl noch überlebt, wenn er aufs reine Leben zurückgeworfen wird?
Und nein, ich war's nicht. Ich war offline.

Ein typischer Tag

... im Leben eines Künstlers...
Gestern zitierte ich noch Tante Erna, diese fiktive Figur, in der sich alle mir begegnenden Fragen und Meinungen von außen verdichten. Denn besonders oft werde ich gefragt: "Was machst du eigentlich den ganzen Tag, du schreibst doch bloß?"

Heute morgen hieß das Aufstehen. Zugegeben, ich leiste mir einen etwas späteren Arbeitsbeginn als in der Fabrik, weil ich oft bis in die Nacht arbeite. Punkt zehn Uhr muss jedoch der Hund versorgt sein, habe ich bei dieser Hitze die Blumen gegossen, Amtskram erledigt. Während manche denken, ich faulenze bei Twitter oder in meinem Blog herum, erledige ich nebenher wichtige Post und Mails, recherchiere zu meinem Thema und mache mir Notizen. Das Gesülze im Internet ist oft nur eine Belohnung dafür, dass ich mal wieder im Affenzahn Texte in vier Sprachen verarbeitet habe. Dann geht's an den offline-Computer zum Schreiben. Und heute Morgen, wie in allen Endphasen, standen vorher noch Lektoratsarbeiten am eigenen Text an.

Natürlich kommt manchmal die Müdigkeit hoch, die Erschöpfung. Vor allem, wenn man wie ich gestern die Kaffeepause dazu verwandt hat, für den Verlag Bebilderungsvorschläge zu recherchieren und auch noch kleine Thumbnails zum Anschauen für die Archivleute zu produzieren. Dazu hätte ich theoretisch 14 Tage Zeit gehabt, aber angesichts möglicher Verzögerungen bei Dritten sage ich mir dann: Besser heute im Archiv, dann können die anderen loslegen. Auch das ist professionelles Bücherschreiben: Funktionieren im Team, Zuarbeiten. Das Getwittere dann wieder als Ventil, weil einem Gettyimages & Co. vor den Augen flimmern. Tante Erna denkt, ich könne mich dann einfach hinlegen, feiern oder eine Runde schwimmen gehen. Aber wer professionell schreibt, kennt kein Laissez-faire, nur Termine und Disziplin, eiserne Diziplin.

Jetzt eine kurze Kaffeepause, zum Essen ist keine Zeit und zu heiß ist es ohnehin. Kurz dabei ins Internet, um den Kopf zu entlüften. Denn gleich danach geht's nach Hollywood und zu Nijinskys Wirkung. Das bedeutet, dass ich noch einmal ganz fix einen ellenlangen englischen Fachartikel querlesen muss, damit ich auch ja keinen wichtigen Punkt übersehe. Dafür gebe ich mir eine halbe Stunde inklusive Notizen, dann muss der Stoff flüssig in die Tasten laufen, den ich in langen Wochen recherchiert habe. Falls ich bis heute abend den Sprung von Hollywood zurück nach Paris geschafft haben werde, liege ich gut in der Zeit und kann das Kapitel spätestens morgen abschließen.

Während ich abends dann den Hund füttere und mir heute zum Glück nur etwas aufwärmen muss (Zeit fürs Kochen hat man in Endphasen nämlich auch nicht), lasse ich das Geschriebene vor meinen Augen noch einmal Revue passieren. Block und Stift liegen immer bereit, weil mir dabei Fehler auffallen, Ideen kommen. Essenspause. Nach 20 Uhr wird es gemütlich. Statt Fernsehen gibt's Schmökern im Recherchematerial für den nächsten Tag. Mein Hund hält an meiner Seite sein erstes Abendschläfchen. Spät nachts gehen wir beide hellwach noch einmal an die Luft und dann gibt's - zumindest für mich, Luxus pur: Bettlektüre. Unabhängig vom Arbeitsthema. Wenn ich nur nicht schon nach wenigen Seiten einschlafen würde! Aber das muss ich, möglichst erholsam, denn am nächsten Tag geht der Zirkus von vorne los.

Und natürlich sehne ich mich nach den Zeiten, die es im professionellen Autorenleben auch gibt: Wenn man wieder Zeit zum Einkaufen oder Putzen hat, wenn man abends Freunde trifft, wenn man in Ruhe etwas Leckeres kochen kann, wenn man zwei Stunden mit dem Hund durch die Pampa läuft - und einfach mal wieder die Augen ausruht... Nur wie Tante Erna das denkt, als Schriftsteller den ganzen Tag am Pool liegen und so - wie das geht, habe ich noch nicht herausgefunden! Was vielleicht daran liegen mag, dass ich mir mit diesem Beruf wohl nie einen Pool verdienen werde.

5. August 2009

Total-Buyout rechtswidrig

Endlich: Total-Buyout Verträge und Einmalhonorare bei Mehrfachverwertungen sind jetzt bei drei Verfahren (gegen Springer, Bauer, Nordkurier) als rechtswidrig eingestuft worden. Freie Journalisten können aufatmen und ähnliche Verträge von anderen Zeitungen dorthin werfen, wo sie hingehören: in den Mülleimer!

Die Fälle und Argumentationshilfen in gesamter Länge bringt Mediafon (gefunden via Protextbewegung). Es lohnt sich, den Artikel ganz zu lesen, denn auch einige andere Vertragspunkte wurden moniert, gegen die jedoch Berufung läuft.

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4. August 2009

Schlaflos in der Bibliothek

Ich habe eine gute Ausrede: Demnächst ist Vollmond, intelligente Tiere sollen das im Voraus spüren und schlaflos werden, sagt man. Der wahre Grund ist prosaischer. Ich hänge fest. Ich hänge verdammt noch mal kurz vor Abgabetermin fest, weil ich den Sprung von Sonia Delaunay-Terk (Madame, das nehme ich Ihnen lebenslang übel, dass Sie sich eingeschlichen haben) zu Strawinsky nicht schaffe!

Dann hat mich meine Mutter ganz konfus gemacht. Ich hätte schon mit fünf Jahren auf Russisch zählen und etwas sprechen können. Bis dahin war ich der festen Meinung, meine erste Fremdsprache sei Latein gewesen. Und dann krame ich im Fremdsprachenregal und finde Hefte. Feinstes Kyrillisch. Klein-Petra hat sich mit importierten Lehrbüchern aus der DDR mit neun Jahren selbst Russisch beigebracht. So, jetzt fehlt nur noch die Hypnosetherapie, die diese vergessenen Schätze wieder ins Wachbewusstsein bringt! Das ist doch alles nicht mehr ganz normal...

Eigentlich bin ich in die Bibliothek gegangen, um eine möglichst einschläfernde Bettlektüre zu finden, eine, die erfolgreich das Recherchehirn abschaltet und die Torschlusspanik am Manuskript vergessen lässt. Hätte ich nur nicht ein derart fotografisches Gedächtnis! Vargas zum zweiten Mal? Unmöglich, wenn man den Mörder kennt. Vielleicht doch noch ein ungelesener Turgenjew, Tolstoi oder sonst etwas Passendes zum Manuskript?

Im "Russenregal" fällt mir ein schmales Bändchen mit schwarzem Rücken auf, ohne Titel, ohne Autor. "Der lebendige Leichnam" von Tolstoi - so fühle ich mich gerade auch. Ein Drama als Bettlektüre? Nijinsky hat Tolstoi verehrt. Widerwillig blättere ich darin. Das Buch kommt mir völlig unbekannt vor, warum habe ich das nie angeschaut? Jemand hat es signiert - 1918. Die Zeit, über die ich gerade schreibe, aha. Das Jahr, in dem Nijinsky Tolstoi nacheifern wollte. Ein uraltes Briefkuvert fällt mir entgegen. Sind das Fotos? Ja, das sind zwei Fotos. Echte, alte. Aufnahmen von einem gewissen Alexander Moissi in der Rolle des Fedja.

Neugierig, wie ich bin, schlage ich den Mann sofort im Internet nach. Zwischen 1910 und 1930 der berühmteste Schauspieler im deutschsprachigen Raum, lese ich, vor allem als Fedja. Von Max Reinhardt gefördert. Hat irgendeine Rolle im Studenten von Prag gespielt. Man kann ihn sogar hören, lebendig, obwohl tot. Komische Tage gibt es...

Neben meinem Computer liegen Notizen über den Einfluss eines Balletts von Nijinsky auf Max Reinhardt (Nijinskys Schwester hat später für ihn sogar gearbeitet). Und darunter versteckt sich ein Blatt Papier mit der wirren Notiz "vgl. 1913 Der Student von Prag, Expressionismus, Doppelgänger, Maschinenmenschen, Petruschka..."

Was soll man machen: Aus dem Bett wird nichts mehr. Strawinskys Petruschka auf die Ohren, Papier, Bleistift - und dann direkt von Sonias drehenden Scheiben in drehende Rhythmen hinein. Ich habe meine Überleitung. Und ein wenig Grusel vor den unbekannten Tiefen meiner Bibliothek. Aber ach was: Es ist nur der Mond schuld.

Kulturpakt-Kasperletheater

Ich habe gestern vor dem Fernseher schon schallend gelacht. Da erfindet ein Kanzlerkandidat im fernen exotischen Nachbarland ganz ohne diabolisches Grinsen einen "Kulturpakt" (das Wort muss man sich auf der Zunge zergehen lassen) und verspricht 500.000 neue Arbeitsplätze für Kulturschaffende, also äh, Kulturschaffende, äh und Leute in der Werbebranche (sic! Kultur pur!), äh, sagt er. Kulturpakt klingt in meinen Ohren wie Rettungspaket. Und das hatten wir ja eben noch, dass Milliarden Steuergelder in Banken & Co. versenkt wurden, die wieder dreist ihre Boni auszahlen und fröhlich weiter zocken, was das Zeug hält. Aber wie sagte schon Voltaire: "Wenn Sie einen Schweizer Bankier aus dem Fenster springen sehen, springen Sie hinterher. Es gibt bestimmt etwas zu verdienen."

Jener ferne Politiker im fernen Märchenland also will es jetzt so machen wie bei den anderen schlechtestens bezahlten und mies behandelten Arbeitskräften - den Pflegekräften. Er will die Zahl dieser miesen Arbeitsplätze fördern, das killt Arbeitslosenquote, das hatten wir schon mal mit dem 1-Euro-Sklavereisystem. Hätte er doch nur mal schneller reagiert, als er noch an der Macht war! Aber da hatte ich beschlossen, lieber nicht mehr ins Märchenland zurück zu imigrieren, weil ich dort als freie Schriftstellerin vor die Hunde gehen würde. Künstler, Kunst, Kultur, igitt. Streichen wir Gelder, bluten wir aus, machen Zahlungsstopps wegen der Rettungspakete und dann machen wir den Pakt. Den ersten richtig roten Pakt nach dem Warschauer. Derweil wandern die Deutschen aus wie nie zuvor, auf Platz 2 der Beliebtheitsliste steht inzwischen Polen. Und wer je dort in der Nähe von Danzig an der Ostsee war, hat sie vielleicht getroffen: Die deutschen Schauspieler, Autoren, bildenden Künstler, Musiker - die nach Polen geflüchtet sind, weil sie im Märchenland wie der letzte Aussatz der Gesellschaft dastanden.

Weil jener ferne Märchenpolitiker gestern im für ihn oberpeinlichen Interview mit Marietta Slomka (behandelt man intelligente Frauen wie Väterlein Witzig?) selbst nicht wusste, wie man so einen Pakt macht, habe ich einen Vorschlag:

Wir schulen all die Arbeitslosen schnell mal auf Kultur um. Bandarbeiter von Opel können in Verlagen Manuskripte am Band abfertigen und sorgen gleichzeitig für eine volksnahe Nivellierung von Inhalten. Die offene Dirigentenstelle geben wir dem Langzeitsarbeitslosen Karl, der beim Spargelbauer aus dem 1-Euro-Job geflogen ist, weil er die Spargelstangen beim Herumfuchteln zerbrach. Hoffnungslos unterqualifizierte Jugendliche lassen wir Bilder malen, so ein bißchen Picasso kann jeder und Kunst ist gut fürs Sozialverhalten. Wenn's da mal ein wenig mangelt, stellen wir Rentner aus dem Altenheim als Erzieher ein. Den Job kann man auch im Sitzen machen, zum Streiken haben die keine Kraft mehr, und dafür brauchen wir dann weniger Pflegekräfte.

Und dann schaffen wir 1-Euro-Auftritte für Künstler! Weil jeder die Chance auf Öffentlichkeit haben sollte. Weil Billigstauftreten Publikum schafft und berühmt macht - das sehen wir an kostenlosen Downloads und verschenkten Ebooks. Diese Billigstauftritte sollen natürlich dem Wohl der Gesellschaft zugute kommen, denn wer finanziert das schließlich alles? So spielen wir fröhlich auf, wenn unsere grünen Sklavenarbeiter in der Wüste Solaranlagen montieren, wir geben Kabarett für die Renterinnen-Putzkolonne in den Banken und machen Comedy im Bundestag, um die Anwesenheitsquoten etwas zu erhöhen. Noch ein Vorteil: Derart hochbeschäftigte Künstler und Kulturschaffende kommen nicht mehr dazu, im Internet staatszersetzende Ideen zu verbreiten oder sich gar unzensiert zu benehmen.

Sicher wird uns Nina Ruge mit einem Feenlächeln à la Märchenland den Kulturpakt zur Unterschrift mit unserem Blute reichen: "Alles wird gut."
Derweil sitze ich fern vom Märchenland in einer völlig anderen Welt und denke an Elke Heidenreich, wie sie blutjung im Raumschiff Orion verkündete: "Alles wird galaktisch gut!"

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3. August 2009

Deadline-Gefühle

Es steht nun definitiv fest: Am 17.8.2009 muss mein Manuskript im Verlag sein. Die nächsten vierzehn Tage werden ablaufen wie alle Schreibendphasen aller Bücher. Man unterdrückt aufkommende Torschlusspanik, verdrängt andere notwendige Termine und den Haushalt sowieso, sagt das Leben draußen ab und füllt noch einmal den Kühlschrank tüchtig. Denn kurz vor Schluss geht meist gar nichts mehr außer Schreiben.

Zum Glück habe ich morgen diesen letzten Kühlschrankfülltermin. Mir ist nämlich das Druckerpapier ausgegangen. Und nun hänge ich so richtig schön fest. Mir ist mein hirnliches Manko so noch nie aufgefallen, weil ich eigentlich meist auf Computer arbeite. Aber das Thema ist gerade äußerst komplex und drei unterschiedliche Ebenen wollen linear beim Hören verstanden werden.

In solchen Momenten setzt es bei der Bildschirmarbeit einfach aus. Ich erlebe Informationen, Recherchen und Links wie auf einer inneren Landkarte, auf der ich nach Herzenslust im Kopf oder am Bildschirm herumsurfen kann, ohne auch nur einen der Wege und Verbindungen zu vergessen. Aber sobald das alles in einen Text geronnen ist, brauche ich, warum auch immer, dreidimensionale Vorstellungskraft. Ich weiß, es klingt dämlich, aber ich brauche ein dreidimensionales, haptisches Textgefühl. Erst dann kann ich wirklich feilen und Dubletten erkennen.

Wie man einen dreidimensionalen Text überprüft? Ganz einfach: Man bildet sinnhafte Haufen auf einem großen Tisch, markiert Einschnitte mit Stiften und auch einmal mit einer noch nicht angeknabberten Möhre - schichtet um, schafft Überlappungen und agiert mit zwei Händen und zehn Fingern, als sei man eine dieser vielhändigen indischen Gottheiten. Wenn ich danach noch genau weiß, wo der rote Faden lag, wenn ich das Gefühl habe, all diese Schichtungen und Querverbindungen seien harmonisch und stimmen im Rhythmus ... dann komme ich dem nahe, was ich im Kopf hatte. Dann wird im Computer umgeordnet und verschoben, dann kann ich ans Feinfeilen gehen.

Natürlich werde ich nicht auf den Papierkauf morgen warten. Aber ich weiß jetzt schon, dass all das, was ich jetzt zweidimensional am Bildschirm erschaffe, morgen zigfach umgekrempelt werden muss. Von wegen Geradeausschreiben...