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21. April 2019

Aus der Matratzengruft

Keine Angst, ganz so schlimm wie Heinrich Heine geht es mir nicht, obwohl ich in den letzten Tagen auch oft dachte: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht." Das meinte der in Frankreich lebende deutsche Dichter viel netter als ich, aber dafür mache ich es mir netter als er: Die Matratze lasse ich Matratze sein und schleife Kopfkissen und Bettzeug auf eine harte Gartenbank. Ich brauche die dicke Decke gegen das Frösteln bei hochsommerlichen Temperaturen. Und so gibt auch der vierbeinige Chefpfleger endlich Ruhe, der mich gestern alle Stunden besorgt überprüft hat, ob ich nicht irgendwie aus dem Bett zu holen sei.

Église du pétrole habe ich diese Ruine genannt. Es ist die älteste noch erhaltene Raffinerie auf dem Gebiet von Pechelbronn, wo man im 19. Jahrhundert Lampenöl destillierte. Auch das ist Kulturerbe.

Kurzum - statt Ostern feiere ich die deftigste Erkältung seit langem und freue mich schon auf die Zeit, wenn die Bronchien sich beim Husten nicht mehr anfühlen, als habe sie jemand mit Sandpapier bearbeitet. Ich achte brav auf mich und zelebriere die Einnahme von Paracetamol, als seien es Osterbiskuitlämmchen. Zum ausgefallenen ( = Fasten mangels Appetit) Festmahl tue ich so, als sei Ingwertee eine Köstlichkeit. Außer der Blase hilft er eigentlich gegen nichts wirklich, vielleicht wäre ich aber auch nur noch kränker ohne ihn. Ich bibbere, weil der Chefpfleger bei diesen Temperaturen seine Aufgabe als persönliche Wärmflasche vernachlässigt.

Aber ich genieße es auch, soweit man von Genießen reden kann. Als Kind fand ich es wundervoll, Fieber zu haben. Da war messbar ein Zustand eingetreten, bei dem man nicht in die Schule musste und stattdessen gepäppelt wurde. Keiner konnte einem vorwerfen, man tue nur so als ob. Und ich durfte unendlich lange lesen. Das gelingt auch dem schmerzendsten Wattebollen von Kopf noch: Mit Fantomiald alias Donald Duck die Welt retten lassen. Die Welt hätte ihn nötig. Überhaupt hätte die Welt ein wenig mehr von einem Donald Duck nötig - dieser nur scheinbar faulen Ente, die so herrlich grummeln und dämlacken kann, aber durch und durch liebenswert ist - weil sie bedingungslos liebt.

Noch etwas verschwindet dank Wattebollen ins Nirwhana: Social Media. Und das tut besonders gut. Zwar treibt mich die Fieberlangeweile manchmal zu Twitter, aber ich habe keine Energie mehr für Murks. Die Plattformen sind voll von Murks. Was ich angesichts der Katastrophe um Notre Dame vor allem aus Richtung Deutschland gehört und gelesen habe, hat mir oft im Herzen weh getan, mich an der Kulturfähigkeit vieler Menschen zweifeln lassen. Und dieses Bessergewissere, das hielt ich eigentlich für ein Vorurteil (oder schreibt man das "Bessergeschissere"?). Hier in Frankreich gibt es solche Leute auch, aber sie sind eine extreme Minderheit und sie werden aufgeputscht von der unseligen Allianz aus Gelbwesten, extrem Rechten und Linken, die sich immer öfter die Patschhand im Namen der Zerstörung geben. Was sie an Barbarei äußern, stößt mittlerweile auch viele Fans der Gelbwesten ab.

Was aber macht man mit einer Öffentlichkeit, die einem bei jedem Wort sofort ein "Ja, aber ..." entgegenbrüllt? Die selbstgerecht und empathielos Trauer "um ein paar Steine" verdammt und es pervers findet, dass eine Nation, die darin eben mehr sieht als nur Steine, all das bewahren will für künftige Generationen?

Schon wollte ich darüber bloggen und merkte sofort, wie verstrickt ich damit wäre. Man wird in eine Ecke gedrängt, sich vor einer extrem lauten Minderheit zu rechtfertigen. Wozu? Agieren statt Reagieren ist meine Devise. Solchen Hassepetern und Miesmachern nicht auf den Leim gehen, sich nicht benutzen lassen.

Ob ich nicht schon wieder einmal zuviel darüber nachdenke? Keineswegs, denn ich hadere seit ein paar Wochen mit einem Wort, das ich mit Inhalt füllen möchte, füllen muss - und das ich nur im Französischen wirklich fühle. Ich arbeite ja jetzt ehrenamtlich in einem "centre d'interpretation du patrimoine" - auf Deutsch banal "Kulturerbe-Zentrum". Zwischen den Bezeichnungen liegen Welten und die französische ist so viel reicher als die deutsche. Vielleicht liegt da der kulturelle Unterschied versteckt, warum so viele jenseits des Rheins unsere Begeisterung und Liebe fürs Patrimoine nicht verstehen? Was macht man mit einer Öffentlichkeit, die sich nicht mehr um gegenseitiges Verständnis bemüht, sondern einfach ätzen und hassen will?

L'église du pétrole von innen

Ich kann etwas tun. Das, was ich gelernt habe und kann: erzählen! Ich merke, wieviele in meinen Augen selbstverständlich erscheinende Geschichten gar nicht mehr bewusst sind bei so vielen Menschen. Wieviele Geschichten wir noch  erzählen und bewahren müssen. Denn diese "paar Steine" sind auch so etwas wie eine sichtbare Partitur für Jahrhunderte von Geschichten - und damit Menschenleben.

Es spornt mich nun umso mehr an, deutsche TouristInnen durchs Kulturerbe-Zentrum Maison Rurale zu führen. Ich werde Vergnügen haben, ihnen zu zeigen, dass diese "paar Steine nebst Kram" nicht einfach nur ein Bauernhofmuseum sind, wie man das meist nennt. Diese Steine transportieren Wissen, es oszilliert mit dem heutigen, Wissen von Gestern und Heute durchdringt sich, durchdringt sich in den Emotionen - es entsteht Neues. Wir können von den Menschen damals lernen. Und wären sie Geister, hätten sie wahrscheinlich ebenfalls diese Neugier, unserem Wissen zu lauschen, wenn dort Kurse aus dem Heute stattfinden. Das ist auch so etwas: Ein Kulturerbe-Zentrum birgt dieses Rad, das man nicht ständig neu erfinden muss. Man kann es aber erst weiterentwickeln, wenn man seine alte Funktionsweise und die Tricks und Kniffe beim Bau gelernt hat.

Und da wäre noch dieses Naturprojekt, an dem ich schon lange herumüberlege. Natur ist auch ein Patrimoine, ein Erbe, das uns von Vorfahren hinterlassen wurde und für dessen Erhalt wir verantwortlich sind.

Ich muss das noch in den Untertiteln im Blog einbauen: Unter Nature Writing schreibe ich, woraus vielleicht einmal ein Buch entstehen könnte, vielleicht auch nicht. Es sind diese Gänge mit meinem Hund Bilbo in der Natur, die eigentlich Gratwanderungen sind: zwischen den Sondermülldeponien vergangener Jahrhunderte und dem Naturpark. Hier wird eine Schnittstelle sichtbar, auf der wir auch heute balancieren.

Und dann wird es eine Rubrik "Elsass" geben, in der ich an mein altes Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" anknüpfen werde und die Geschichten erzählen möchte, die wir gegen Hass, Unverstand und die selbstgerechte Egomanie brauchen könnten. Ich will es mal so formulieren: Ich habe wieder einen Sinn an solchen Texten gefunden. Ich werde mich langsam wieder hineintasten - und vielleicht beißt es mich ja wieder. So sagt man in Frankreich, wenn ein Sujet die Leidenschaft weckt.

Anmerkung: Auf Social Media wird es nur noch "Linkabwurf" dazu geben. Die Geschichten bedeuten mir zuviel, als dass ich sie den Kostverächtern vorwerfen möchte.

In diesem Sinne wünsche ich allen ein schönes, erholsames und fröhliches Osterfest!

17. April 2019

Augen auf, Hirn an!

Was ich sonst nicht mache - ich teile hier einen Beitrag, den ich auf Facebook gepostet habe, weil er mir aus aktuellem Anlass am Herzen liegt. Zum Nachdenken nicht nur in diesem Fall.



Heute in Frankreich der Angriff der Killertomaten, ähm, meist rot wie die einschlägige Putinpresse vereint mit alt-right in den USA, meist tödlich für Synapsenverschaltungen im Hirn. Sprich - die Verschwörungstheorien sprießen im Moment schneller als der Osterspinat.

Das Schlimme: Die nutzen die Emotions- und Empörungsspirale aus, extrem erfolgreich. Und Menschen wollen Zusammenhänge sehen in einer komplexen Welt, darum wirkt das Gift. Die Algorithmen, die auf Wutmännchen eher anspringen als auf Likes, tun ihr Übriges. Und weil ich das auch in deutschsprachigen Social Media sehe: Man kann das natürlich machen, sich darüber aufregen. Aber meist macht man sich damit unbedacht zum Sprachrohr!

Bevor ihr Dinge teilt oder euch über irgendwas erbost, denkt nach: Wem ist damit gedient, wenn ihr das tut? Was verändert sich dadurch? Erreicht ihr überhaupt die Verschwörungstheoretiker? Lesen die Labilen und Unentschlossenen wirklich gerade mit und sind die dann nicht eher von diesen Inhalten angezogen als von eurem Ärger? Oder tut's euch einfach nur geil gut, wenn ihr euch in eurer Bubble mal wieder so richtig auskotzen oder jemanden lächerlich machen könnt? (Ist verständlich, aber geht lieber ein Eis essen, tut besser und ist gesünder!)

Seid subversiv im Denken. Überlegt, was diese Typen NICHT wollen. Das Schlimmste, was ihnen zustoßen kann: Wenn keiner ihre Ideen teilt, auch nicht im Ärger. Wenn keiner auf sie hört, sie ernst nimmt.

Aber dann blasen die das ja trotzdem raus, meint ihr? Die sicherlich. Aber eben nicht ihr auch noch. Das ist ein Mengenunterschied.

Wie kann man reagieren? Teilt Konstruktives, teilt Denkstoff. Seid keine Passivteiler, überlegt, was ihr aktiv erreichen und verändern wollt. Es gibt all die Faktenchecker, die seriösen Medien, die Falschmeldungen und Fakefotos untersuchen und entlarven. TEILT DIE! Teilt genau die Fakten, die diese Leute verachten. Oder beschreibt euren Ärger in euren eigenen Worten, ohne Zitatebildchen von Extremisten hochzuhalten, ohne deren Propagandabeiträge weiterzugeben.

Denn dann klärt ihr nicht nur umfassend und seriös auf, ihr nehmt auch die aufgeheizten Emotionen raus. Ihr sorgt dafür, dass die Algorithmen immer öfter seriöse Seiten zu fressen bekommen. Und vor allem macht ihr damit auch Werbung dafür, wo mensch sich seine Aufklärung abholen kann.

Springt nicht auf jeden dummdreisten Spruch etwa von Rechtsradikalen an. Zu oft sehe ich deren Zitate schön verteilt, auch in Gegnerkreisen. Handelt direkt, seid einfallsreich. Wenn ein besonderer Dummbeutel davon quakt, er werde Kulturgut gegen Dingens und Dongens zigfach aufbauen, verstärkt nicht sein Quaken. Gebt ihm einfach die Spendenadresse für den Wiederaufbau! Und messt die Menschen dann an ihren Taten.

Denkt nach, teilt dann. Verschwörungstheorien verbreiten sich seit gestern schlimmer als jedes Lauffeuer. Anders als ein Dachstuhlbrand sind sie kaum zu löschen, sie brennen sich in die Köpfe. Auch in intelligente Köpfe.