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27. Dezember 2013

Geht doch mit links!

Feiertägliche Stille ohne Mediengetingel, gepaart mit gutem Essen, viel Schlaf und Bewegung tun ihre Wirkung: Madame läuft quer durchs Arbeitszimmer, hält inne, versucht eine Drehung und plappert wie irre vor sich hin. Schweigt, schüttelt den Kopf, sagt einen neuen Satz, dreht und wendet ihn, verändert ihn, sagt ihn wieder, kaut ihn durch. Zwischendurch rast sie wie besessen zu einem blau verhängten Schuhkarton und spielt mit Papp-Püppchen zum gleichen Text. Manchmal, mitten in der Nacht mit einem "Heureka!" auf den Lippen aus dem Schlaf hochgeschreckt, notiert sie etwas mit Bleistift in eine Notizbuch, das sie derzeit immer bei sich trägt. Getippt wird eher wenig, dafür kann man die Zahnrädchen in ihrem Gehirn fast wie in einem Chaplin-Film bei der Arbeit sehen. Ein "Stück" entsteht mit dem Titel: "Jeux - russische Spiele in Baden-Baden".

Low-Budget-Produktion: Madame lässt die Puppen tanzen (Foto: PvC)

Wenn ich irgendwo erzähle, woran ich gerade arbeite und warum mir das so viel Hirnschmalz abverlangt, dann höre ich grundsätzlich ein lustiges: "Das geht doch mit links!" Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei nicht um ein persönliches "Das machst du doch mit links" - etwa, weil die Leute meine Fähigkeiten abschätzen und mir das zutrauen. Nein, einige setzen dem noch eins drauf: "Fürs Theater schreiben ist doch kinderleicht! Du musst einfach nur den Zwischentext weglassen, brauchst nix mehr erzählen und lässt die Leute einfach nur babbeln."

Aha. Schöne neue Zeiten. Alles ist so einfach heutzutage! Bücher schreiben beispielsweise. Dazu braucht man nicht einmal einen einzigen Satz geradeaus schreiben können, Hauptsache, man muss dringend diese eine Geschichte erzählen wie Tante Erna mit ihrem Fußpilztagebuch. Dann ab ins Super-Casting unter den Superfußpilzen und schon bist du reich und berühmt!

Und jetzt soll es noch einfacher gehen. Lässte einfach allen Ballast weg, musst nicht mehr das Wetter beschreiben und Cliffhangers aufhängen, plotten musste auch nicht mehr und schick einfach alles zum Teufel, was zwischen den Dialogen steht. Schon haste ein Theaterstück. Wenn ich gewusst hätte, dass Typen wie Ibsen und Tschechow solche faulen Stinker gewesen sind, ich hätte mir weniger Panik gemacht! Wozu habe ich eigentlich vorher so viele Dramen in Minimalbesetzung gelesen? Lernen von den Könnern? Kann doch heute jeder! Stell Tante Erna auf die Bühne und ihren Fußpilz daneben, verpass ihm am besten eine Naziuniform, streich den ganzen Text aus Tante Ernas Tagebuch und lass die beiden schwadronieren. Schon haste ein Erfolgsstück. Aua.

Irgendwie will die Masche von Tante Erna bei mir nicht funktionieren.

Als ich das "Stück" zum ersten Mal vor meinem geistigen Auge sah, rannten schätzungsweise sieben Menschen auf einer Bühne herum, das aufwändige Dekor änderte sich mit den Akten, die Kostümbildnerin hätte in den 1910er Jahren schwelgen können. Aber in der Realität geht es einem wie Drehbuchschreibern beim Fernsehen: "Lassen Sie den Kommissar Bienzle um Himmels Willen auf dem schwäbischen Weinberg sitzen, eine Mexikoreise können wir für den Tatort unmöglich finanzieren!" In meinem Fall setzt Low Budget noch viel tiefer an: Zunächst wird hier gar nichts inszeniert werden, es gibt eine sogenannte szenische Lesung - das, was Schauspieler machen, bevor sie spielen.

Wo aber kann man sparen, wenn man überall sparen muss? Und macht das überhaupt noch Spaß?
Und wie es Spaß macht! Es ist eine Herausforderung, die zu einer völlig neuen Geschichte führt. Die Beschränkungen der Antike auf die Einheit von Ort und Zeit waren so ungeschickt nicht! Möglichst wenige Schauspieler, eine absolut winzige Bühne und natürlich kein Bühnenaufbau wie für "Aida" in Plüsch. Ich habe mich gegen einen Monolog entschieden und werde Nijinsky und Diaghilew mit- und gegeneinander antreten lassen: in einer Ménage à trois! Lange habe ich gegrübelt, aber genau das ist die Chance der Bühne, wenn auch schriftstellerisch die Herausforderung: Man kann Unsichtbare agieren lassen. Man kann ungehörte Dialogteile im Kopf der Zuschauer entstehen lassen. Wer je einem dieser Exhibitionisten mit Handy zugehört hat, der auf dem Gehsteig seine Monologe in den Hörer brüllt, weiß, was ich meine.

Wenn ich mich recht erinnere, stehen auf der Bühne moderne Stahlrohrsessel und ein Glastisch. Letzteren könnte man leicht verschwinden lassen, aber habe ich Möbelpacker? Aber muss Diaghilew denn im luxuriösen Jugendstilambiente sitzen und zu einem der neuesten Tischfernsprecher seiner Zeit greifen? Wie modern ist 1913 eigentlich? Rein in den Stahlrohrsessel, gebt dem Mann ein Handy! Schließlich ist gerade erst Bankier J. P. Morgan gestorben und man zerbricht sich den Kopf, was aus dieser Bank wird; alle Welt schaut Fantomas im Kino, die New York Times berichtet quasi "zeitecht" mittels drahtloser Marconi-Technik vom schlimmsten Theaterskandal in Paris, auf den Straßen toben die Frauen für mehr Rechte und man trällert Irving-Berlin-Songs, während Baden-Baden einen auf Zeppelinflughafen macht! Die Romanows können es nicht lassen, ihr 300jähriges Thronjubiläum zu feiern - währenddessen die zwei berühmtesten Russen der Welt ihre Theaterneuerungen nebst schwulem Liebesleben nur im Exil ausleben können. Alles tanzt übernervös auf einem Vulkan, aber wenn ein blutjunger Choreograf die Puppen mal nicht so tanzen lässt, wie sich das die reichen Mäzene vorstellen, provoziert das beinahe internationale Verwicklungen. Die Engländer sind die Schlimmsten: Geld für die Kunst, ja, aber nur gegen Zugeständnisse an die Konservativen!

Wie viel 1913 ist heute? Welche Scheren haben die Künstler heute im Kopf, was würde die Reichen und Schönen schockieren? Wollen wir wirklich die "reine, anspruchsvolle Kunst" (Nijinsky) oder lieber Zerstreuung, Unterhaltung, Wohlgefallen mit nur etwas wohldosiertem Kitzel (die Mäzene)? Zwei schwule Russen, von denen einer für Hochglanz-Sammelalben der Szene posiert und plötzlich, unerklärterweise heiratet ... während der andere sich mit jungem Frischfleisch tröstet, heimwehkrank nach Russland - heute noch ein Thema?

Es macht verdammt viel Spaß, zur Essenz eines Konflikts vorzudringen. Aber da muss jedes Wort sitzen. Wie eröffnet man vor einem Publikum, das die Namen und Begebenheiten vielleicht nie zuvor gehört hat? Wie vermeidet man "Infodumping"? Wie zeichnet man gleich mit der ersten Szene Charaktere, Situation, innere Bilder - wie deutet man einen Konflikt an?

Wenn mir noch einmal jemand mit dem Spruch kommt, Schreiben für die Bühne sei ja noch viel einfacher als Bücherschreiben, weil man einfach nur alles weglassen müsse ... wenn noch einmal jemand findet, ich würde mir zu viel Sorgen machen, das könne ja schließlich jeder, dann - ich schwöre - lasse ich ihm eine Einladung von Tante Erna zukommen. Die wollte sich schon immer mal mit durchlauchten Gästen ausführlich über ihren Fußpilz unterhalten!

Update:
Jemand hat mir gesteckt, dass es im Internet 1001 wohlfeile Anleitungen für Tante Erna gibt, auch Theaterstücke schreiben zu können. Ich möchte es mir verkneifen, auf die schlimmsten Blüten zu verlinken, aber zitieren möchte ich einige doch, des Amusements wegen:
In einer Anleitung heißt es: "Ein Theaterstück zu schreiben macht dich noch einzigartiger und du solltest darauf stolz sein." Nur mal so, falls ich an mir zweifeln sollte ... Und ich bräuchte unbedingt einen Bösewicht und eine lustige Rolle, damit man mir das Stück auch abkaufe. Klar, dass Tante Erna Testleserin wird ... und immer schön laaaaangsam schreiben, denn "auch brauchen die Schauspieler immer etwas Zeit, um sich in Position zu stellen." Sehr wichtig ist die Abgrenzung zum Film: "Beim Theater heißt dein Werk nicht Drehbuch, weil ja nichts gedreht wird." Aha. Ich bin dann an der Stelle ausgestiegen, als eine Mäusefee gesteht, sie studiere das Zeug zwar, habe aber eigentlich auch keine Ahnung und könne deshalb nur raten, sich Anleitungsbücher zu kaufen.
Immerhin hat sich die ZEIT schon 1959 Gedanken darum gemacht, wie es denn nun eigentlich funktioniert und prompt die Vorlage für mein Tantchen Erna gefunden: „Kann ich schreiben rechts, kann ich schreiben links...“ ... sagte der Schmock von Gustav Freitag. Und nein, diesen Link kann und will ich mir nicht verkneifen: Zum eigenen Theaterstück in nur einer Stunde!

21. Dezember 2013

Ein rasendes, verrücktes Jahr

Als Kind habe ich mir einmal selbst einen Brief in die Zukunft geschrieben - ich habe ihn auf das Jahr 2001 datiert, wenn ich meiner damaligen Meinung nach längst eien uralte Frau sein würde; in einer Welt, in der Autos durch die Luft schweben, Menschen auf Rollbändern durch die Straßen getragen würden und kleine Übersetzungsmaschinen am Hals hätten. Viel war in diesem Brief vom Träumen die Rede, vom Leben von Träumen und von Freiheit. Lass dir ja nie von Erwachsenen die Freiheit nehmen, schrieb ich der vermeintlich alten Frau.

Zwölf Jahre nach Ankunftsdatum fühle ich mich immer noch jung und lustig und bin fasziniert, wie sich Alterswahrnehmungen mit der Zeit verschieben. Es ist auch rührend, wenn wir - egal in welchem Alter - gefragt werden, wie wir uns die Zukunft vorstellen ... in zehn, zwanzig oder auch vierzig Jahren. Was davon tritt ein? Und wie viel von dem, was kommt, gestalten wir aktiv und bewusst selbst - wie oft mischen wir uns ein, damit unsere Zukunft auch wirklich die unsrige wird? Wie viele Träume holen wir ins Leben, anstatt uns durch dieses ewige "Aber" selbst zu behindern? Sind wir uns immer dessen bewusst, wie schnell so ein Leben vorbei sein kann ... wo man doch so viel auf die lange Bank geschoben hat? Das Karussell dreht sich ...


Das Jahr 2013 hat sich für mich angefühlt, als sei es wie ein Komet vorbeigerast, als könne ich keinen einzigen Tag fassen. Mag sein, dass dieses Gefühl auch am Alter liegen mag - ich glaube es nicht. Ich glaube, dieses Gefühl der Raserei kommt durch zwei Effekte zustande: Wenn man sich selbst bis an die Grenze aus- oder belastet und zu wenig Auszeit nimmt. Oder aber, wenn ein Ereignis, das zunächst nebensächlich erscheinen mag, plötzlich einen Schlund in uns aufreißt, durch den wir in einen Abgrund sehen können, auf etwas "Größeres". Das kann manchmal eine persönliche Lebenserschütterung sein, durch die man sich der eigenen Endlichkeit wieder bewusst wird und nachzudenken beginnt über den Tod. Plötzlich wirkt so ein Menschenleben ganz winzig im kosmischen Gefüge, wo bleibt die Zeit ... was tut die Zeit dort? Rast sie? Steht sie?

Es kann aber auch einer dieser seltenen Momente sein, wie ich ihn in diesem Jahr erlebt habe: Etwas im fernen Außen passiert. Und man wird sich plötzlich dessen bewusst, dass ein ganzer Geschichtsverlauf umkippt. Das nichts mehr ist, wofür man es vorher hielt. Man fällt aus dem Weltgefüge, das man sich in vermeintlicher Sicherheit zurechtgezimmert und fein tapeziert hat. Da gähnt wieder dieser Schlund - man ahnt einen möglichen Abgrund, aber diesmal schließen alle die Augen. Diese Angst vor dem Aufprall! Dieser kurze, blitzartige Gedanke, dass man genau in der Katastrophe landen könnte, vor der das Kind damals die Erwachsene eindringlich gewarnt hat: dem Verlust der Freiheit! Geschichte geschieht. Und ich ... und jeder andere mit mir ... wir stehen am Rande und schauen und haben die letzte Chance zu sehen. Geschichte wird gemacht. Und wir können das regelrecht beobachten, das Stichwort heißt NSA.

Wie viel habe ich selbst für eine gute Zukunft getan, wie oft weggeschaut? Das Karussell dreht sich seit 2013 so rasend, dass wir immer noch allzu fassungslos staunen: Wir leben in theoretisch klarem Bewusstsein in einer Welt, in der jede einzelne Bürgerin, jeder einzelne Bürger zum gläsernen Menschen wird, a priori kriminalisiert. Wir werden überwacht in all unseren Äußerungen: im Internet, in unseren Mails, unseren privaten Telefongesprächen und per Überwachungskamera auch noch in Städten abgefilmt - denn jeder von uns wird in einem solchen System a priori verdächtigt, er könne ein Verbrecher sein, ein Terrorist. Was dagegen ist Wirtschaftsspionage von Staaten oder das Abhören von befreundeten Politikern? Wir rasen offenen Auges in einen Abgrund und schauen still zu. Es gehen nicht Millionen von Bürgern auf die Straße.

Im Gegenteil: Viele von uns ziehen sich erstaunlich ungeniert in aller Öffentlichkeit aus. Was ich in diesem Jahr bei Facebook erleben durfte und leider auch musste, lässt mich tief philosophisch nachdenken über das Wesen Mensch. Mehrfach wurde ich per Foto unfreiwillig Zeugin von Krankenhausaufenthalten, wo manchmal fast bis zum OP-Tisch gesendet wurde. Wollte ich wirklich all das Blut sehen, die OP-Entstellungen von halbnackten Körpern? Wollte ich von manchen Menschen den Eindruck bekommen, sie seien da drinnen im Krankenhaus elend einsam oder einfach nur öffentlichkeitsgeil oder irgend etwas Undeutbares?

Was waren das für Zeiten, als es noch ein Mindestmaß an Intimzone gab! Als man sich selbst guten Bekannten erst einmal vorsichtig annäherte und deren Grenzen des Aushaltbaren respektierte. Als man vielleicht im Stillen mit Freunden da draußen im Leben über die Ängste auf der Intensivstation sprach oder über das Bewusstwerden der eigenen Grenzen, der Zerbrechlichkeit von Gesundheit. Als man noch den "rechten Moment" abpasste und nicht zu den Mahlzeiten über Leichenteile redete. Stattdessen klicken wir "gefällt mir" im Akkord, tippen "Gute Besserung" gleich im Dutzend und rauschen zum nächsten Patienten. Dazu Bilder misshandelter Tiere zum Frühstück, Agitationen wegen gequälten Essens zum Mittag ... und ja, ich habe zum Abendessen dann auch schon mal Petitionen unterschrieben, an die ich mich nicht mehr erinnern kann.

An all dem bin ich nämlich selbst schuld: Ich kann ja filtern, kann stumm schalten, kann mich verweigern. Schlimm, wenn dann Dinge geschehen, wie ich sie von außen bei anderen erlebte: Da streitet sich ein Paar nicht am Küchentisch, sondern macht sich bei FB gegenseitig im jeweils eigenen Profil stinkig ... jemand wird im echten Leben auf den Partner eifersüchtig, weil der in Social Media mehr Erfolg und Zulauf hat ... und die Höhe: Eine Hochzeit wird online aufgekündigt. Da ist die Frau, die für das, was sie ins Internet kübelte, nun Job und Familie verloren haben soll, eigentlich nur noch ein winziges Mosaiksteinchen, das wir in 30 Tagen schon wieder vergessen haben werden. Sie ist aber auch ein Beispiel dafür, dass wir uns vehement fragen müssen, wie wir in Zukunft in einer vernetzten Welt mitmenschlich sein wollen, miteinander umgehen wollen. Was bedeuten uns die Gefühle und Verletzungen anderer? Wollen wir in Zukunft den entfesselten Mob und die Instant-Trennung per Smartphone oder lieber Werte wie Achtsamkeit und Behutsamkeit, womöglich Empathie?

Auch das ist in diesem Jahr für mich erstmals spürbar geschehen: Längst ist eine Trennung von "echtem Leben" und "Internetleben" absolut nicht mehr denkbar. Dinge, die wir früher mit uns alleine ausgemacht haben oder nur unter wahren Freunden, finden inzwischen in aller Öffentlichkeit statt, virtuell, mit heruntergelassenen Hosen. Trauer, Schmerz, Trennung, Scheidung, Mobbing, Haß, Shitstorms - alles längst in Social Media angekommen.

Ich möchte wetten, so mancher, der da im Internet seine Lieben (?) in die Wüste schickt, steht womöglich sprachlos mit gezückten Smartphone im Nebenzimmer eben jener Lieben. Aber Anrufen ist nicht mehr. Clicktivism statt echter Kommunikation. Vielleicht rast auch deshalb mein Jahr so dahin ... weil ich nicht fassen kann, nicht fassen möchte, wie Dinge ausgetragen werden, die Tiefe verdient hätten und Bedeutung.

Auch ich war nämlich in diesem Jahr im Krankenhaus. Für mich persönlich trotz der "Routinesache" eine derart umwälzende Erfahrung, dass ich absolut offline war und ganz bewusst währenddessen akribisch und auf Papier Tagebuch geführt habe, intensiv Menschen beobachtete und natürlich mich selbst. Gespräche blieben im inneren Kreis. Schriftsteller machen so etwas, irgendwann wachsen die Erfahrungen und Bilder in Bücher hinein ... aber sie müssen Zeit und Luft haben zum Wachsen, umgeben von lieben Menschen. Im Nachhinein frage ich mich, was ich hätte twittern oder teilen sollen? Wo ich doch jetzt im Moment schon bereue, es auch nur erwähnt zu haben! Wer sagt mir denn, dass nicht irgend eine Versicherung mir demnächst kündigt, weil sie mitliest? Oder dass ich eines Tages deshalb in einem Unrechtsstaat leichte, angreifbare Beute sein werde? In welche Schublade bringt mich das bei der NSA und in den Werbealgorithmen? So viel Schere schon im Kopf ...

Oh ja, ich hätte Fotos teilen können. Vielleicht vom Supermanager auf der Intensivstation, der angesichts dessen, dass er das Bett einkotete, dem Personal gegenüber zum Vieh wurde, weil der supertoughe, supercoole Pascha sich noch nie damit auseinandergesetzt hatte, dass ihm eines Tages Fremde den Hintern abwischen müssten. Ich hätte das Lächeln der algerischen Putzfrau fotografieren können, die mir einen extra Kaffee besorgte, weil ich sie nach ihrer Tochter fragte. Oder jenen brüllenden, puterroten Sohn, der seine demente Mutter nicht in die Spezialstation bringen lassen wollte, der nicht sehen wollte, wie das Personal am Ende war, der herumbrüllte, hier seien doch einfach alle irre, seine Mutter sei schon seit zehn Jahren so und man müsse akzeptieren, dass sie nachts herumwandle und andere Patienten würgen wolle. Folie à deux. Ich hätte den Tropf mit dem wohltuenden Drogencocktail fotografieren können oder die Angst einer jungen Mutter vor der OP. Ich hätte Hände fotografieren können, die andere Hände halten. Fremde Menschen, die sich plötzlich verbunden fühlten, die sich gegenseitig beistanden, obwohl es beiden Seiten jämmerlich ging. Ein immer lächelndes, immer lebenslustiges Personal hätte ich fotografieren können, das sich keine Belastung anmerken ließ. Was davon wäre geblieben? Ein Klick, ein "gefällt mir"?

Vielleicht aber müssen diejenigen, die sich selbst beobachten können und müssen bis zum bitteren Ende, die ihr Leben schreibend erleben und schreibend bearbeiten, das wirklich für die Öffentlichkeit tun. Vielleicht ist das unsere moderne Art des Lernens für die eigene Vergänglichkeit? Wolfgang Herrndorf hat sich auf diese Weise 2013 selbst in den Tod hineingeschrieben. Als der Schriftsteller nichts mehr zu verlieren hatte - das Todesurteil hatte ein bösartiger Hirntumor erteilt - begann er mit einem Blogtagebuch, unerbittlich seinen täglichen Weg in die Katastrophe zeigend. Der begabte Schriftsteller hat sich im August selbst vom Leiden erlöst und uns jenen letzten Gang als Erbe zum Nachdenken hinterlassen, nun auch als Buch.

Da ist sie wieder, diese Frage: Was tue ich, um meine Träume ins Leben zu holen, wo doch so ein Leben endlich ist?

Ich bin da inzwischen radikal. Zum Glück. Und stelle fest: Seit ich frech ins eiskalte Wasser springe, habe ich solche wunderbare Begegnungen, mit denen ich schwimmen lerne! Nijinsky und Diaghilew ... nie waren "Buchfiguren" so lebendig für mich. Ich hätte sie auf einer Bühne sehen können. Warum eigentlich nicht? Als mir Unterlagen in die Hände fielen, die das 100 Jahre alte Geheimnis lüften könnten, warum sich Diaghilew so plötzlich mit Nijinsky überwarf und der völlig unlogisch eine Frau heiratete, obwohl er sein Leben lang nur mit Männern zusammen war, da brodelte es in mir.

Gleichzeitig machte ich spannende Bekanntschaften in der Ballettwelt. Ich traf auf Menschen, die ich begeistern konnte, die an mich glaubten. Und nun ist es so weit: Ich muss das Stück schleunigst schreiben! Bis zur letzten Minute drohte alles, an den Finanzen zu scheitern - ein öffentlicher Zuschuss fiel aus. Und dann das große Wunder: eine Überweisung, die alles rettete! Völlig unerwartet, unverhofft, verblüffend. Eine Mäzenin, die im Internet von dem Projekt erfahren hatte. Sie tauchte so plötzlich und unerwartet auf wie die russischen Freunde, die nach meiner Heimkehr aus dem Krankenhaus mit einem riesigen Fresskorb vor der Tür standen.

Für all diese Menschen bin ich in diesem rasenden, verrückten Jahr 2013 dankbar. Genauso wie für die kurzen Momente, wo Leserinnen und Leser mir so berührend geschrieben haben, was meine Bücher ihnen gaben. Es sind die Momente, die mich immer wieder mit Kraft und Motivation versorgen, diesen irrsinnigen Beruf durchzuhalten und wieder zu wissen, warum ich das tue.

2014 kann kommen.
Und ich wünsche in diesem Sinne all meinen Leserinnen und Lesern besinnliche, stressfreie Feiertage, die man mit seinen Lieben verbringt oder einfach nur zum Innehalten nutzt. Und weil ich jetzt ins Schreibkämmerchen abtauche, wünsche ich jetzt schon einen guten Rutsch in ein Jahr, in dem wir hoffentlich unsere Zukunft etwas aktiver anpacken als im letzten!

17. Dezember 2013

Bilbo lässt grüßen

Hobbingen ist ja derzeit in den Medien in aller Munde ... mein Hund Bilbo meinte, da würde es Zeit, seinen Fans mal wieder die neuesten Fotos zukommen zu lassen. Hochzufrieden ist das Kerlchen derzeit, weil es bei diesem Wetter die Menschin fast durch ganz Mittelerde schleifen kann. Nach zweieinhalb Stunden Marsch setzt sich Bilbo dann mal kurz hin, schnauft dreimal und drängelt weiter ... Wie gut dass dieser Hobbit nicht in der Stadt leben muss!

Jetzt noch ein Jäger und ein Wildschwein und er würde den Napf apportieren.

Einfach ... ganz Nase!

Neue Rassenbestimmung: Feld-, Wald und Wiesenhund.

Wasserscheu war mal. Jetzt heißt es nach Herzenslust herumsauen!

14. Dezember 2013

Wenn der Zander in Bits schwimmt

Es ist bald so weit für eine besondere Premiere - das E-Book zu einem im renommierten Insel-Verlag verlegten Buch wird in meinem eigenen Verlag "Edition tetebrec" erscheinen. Und die große Überraschung: Es soll der Auftakt einer Serie werden!

Noch vor Weihnachten ist die E-Book-Ausgabe online!
Noch vor wenigen Jahren war der Weg für Autoren klar vorgezeichnet: außer seriösen Verlagen und betrügerischen Halsabschneidern gab es keinen Mittelweg. Das Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" war ein Glücksfall - als Hardcover im Geschenkschuber im Imprint "sanssouci" bei Hanser Verlag 2004 erschienen, wurde es mustergültig gepäppelt, umsorgt und groß gemacht: Zwei restlos ausverkaufte Auflagen und eine Hörbuchlizenz mit der von ARTE bekannten "Genussreisen-Stimme" Doris Wolters, zahlreiche Lesungen meinerseits, auch kulinarische Lesungen mit auf dem Buch basierenden Menus.

Leider passierte dann das, was heutzutage so oft passiert: Der Verlag strukturierte sein Programm um und stellte die Reihe "Oasen für die Sinne" ein, von der mein Elsass-Buch einer der Bände gewesen war. Zu diesem Zeitpunkt war das Buch derart ausverkauft, dass nicht einmal mir ein Vorrat an Exemplaren blieb. Normalerweise bedeutet so etwas das Aus für ein Buch. Normalerweise geschieht so etwas in großen Publikumsverlagen noch viel früher. Bei Hanser hatte ich einen wahren Longseller gelandet. Und das Publikum verlangte nach mehr! Ständig musste ich Leute vertrösten, dass auch ich kein Exemplar mehr abgeben könne und leider im Moment nicht die Zeit hätte, eine Neuauflage selbst in die Hand zu nehmen.

In der Zwischenzeit war nämlich das Self Publishing in die Buchbranche eingebrochen, Verlagsautoren konnten endlich vergriffene Exemplare mit Eigeninvestition und viel Arbeit selbst neu herausbringen. Die Rechte lagen wieder bei mir. Aber manchmal ist es ganz gut, wenn man vor lauter Arbeit nicht zu Schnellschüssen kommt!

Der Anruf von Hanser kam völlig überraschend: Ob ich mir vorstellen könne, wenn Suhrkamp die Taschenbuchlizenz für seinen Insel-Verlag erwerbe. Ich muss niemandem sagen, welche Schriftstellerträume mit diesem Verlagsnamen zusammen hängen. Auch wenn heutzutage immer wieder behauptet wird, man brauche doch keine Verlage mehr: Manche Verlagsnamen öffnen nicht nur alle möglichen Türen, sie adeln einen sogar ein wenig. Und manche liebt man geradezu, weil sie sich wirklich vorbildlich um ihre Autoren und Bücher kümmern. Dass ein Verlag, der längst alle Rechte an mich zurückgegeben hatte, sich noch einmal für mich krummlegt und eine Lizenz bei einem anderen Verlag unterbringt - das hat mir umso mehr gezeigt, wie gute Zusammenarbeit zwischen Autoren und Verlag aussehen kann.

Inzwischen ist das Taschenbuch im Insel-Verlag erschienen. Es kann sich natürlich nicht mit der Hardcover-Ausgabe messen, ist aber diesmal mit Farbfotos ausgestattet, einem zu jedem Kapitel plus Frontispiz.
Und weil ich alle anderen Rechte selbst halte, war da natürlich die Überlegung: Was geschieht mit einer möglichen E-Book-Ausgabe? Ich habe mich dafür entschieden, sie selbst herauszubringen. Heute, nach all dem juristischen Hickhack und der Insolvenz bei Suhrkamp und Insel, bin ich heilfroh darum. Zwar funktionieren beide Verlage weiter, scheinbar wie gewohnt - aber was vor Gericht und in den Medien läuft, lässt Autoren nicht wirklich ruhig schlafen. Inzwischen habe ich auch den eigenen Verlag für solche Schritte - die Edition tetebrec.

Es ist nun nicht damit getan, einen vorhandenen Text einfach nur technisch zu konvertieren, zumal eine Problemlösung gefunden werden musste: Im gedruckten Buch sind die Rezepte mitten im Text vom Buchsatz her sofort zu identifizieren ... auf dem Reader gibt es keinen Satz in diesem Sinne - die Leser wählen ihre Schriften und Schriftgrößen. Aus urheberrechtlichen Gründen mussten außerdem Layout und Bebilderung sowie das Cover völlig neu gestaltet werden. Allein die Fotorecherchen gestalteten sich langwierig: Datenbanken, in denen Verlage mit einem Fingerschnipp einkaufen, sind für Autoren nicht nur nicht immer erschwinglich, sondern vor allem für ein E-Book nicht wirtschaftlich. Denn eines war klar: Ich will keine E-Book-Preise à la Suhrkamp nehmen!

Es fanden sich Lösungen: Die Rezepte sind nun kursiv gesetzt und mit Sternchen abgegrenzt vom Fließtext. Und wenn alles klappt, kann man sie vom Rezepteregister aus direkt als Link ansteuern. Der Vorteil von E-Books, wenn sie richtig programmiert sind: Man kann auch innerhalb des Buchs Dinge verlinken. Dreizehn Fotos gibt es auch im E-Book, ebenfalls vom Inhaltsverzeichnis aus einzeln anzusteuern. So kann man auch mal nur Bilder anschauen. Eine besondere Herausforderung ist hier die Bildbearbeitung angesichts des Geräte-Chaos. E-Ink-Reader zeigen Fotos derzeit nur in Schwarzweiß und in kleineren Formaten. Sind die Fotos zu groß formatiert, etwa für Tablets, schrumpft sie der Reader zwar zusammen, aber man hat die Gestaltung dann nicht mehr wirklich selbst im Griff ... plötzlich können Leerseiten auftauchen und andere technische Probleme, die man lösen muss. Ich muss also die Fotos in einer mittleren Größe so optimieren, dass sie sowohl in Farbe als auch in Grauwerten nach etwas aussehen - ein wirkliches Optimum ist das natürlich nie. Bleibt die Konvertierung in die beiden derzeit gängigsten Formate: mobi (Kindle) und epub. Außerdem nach dem Erfassen des Texts und nach jedem größeren technischen Eingriff: Korrektorat! Das sparen sich manche Verlage übrigens beim E-Book in der irrigen Annahme, der Text sei ja schon einmal lektoriert und korrigiert worden. Unsäglich, was beim Gestalten des E-Books aber noch an Fehlerquellen auftauchen kann.

Und wer jetzt glaubt, so eine fertige Buchdatei ist schnell mal in die Shops hochgebeamt, der macht sich etwas vor. Aller Lobbyistenschimpferei gegen Amazon zum Trotz muss ich sagen: Das ist die derzeit einzige Firma weit und breit, bei der ich täglich und kinderleicht mein Buch selbst in den Shop bringen kann - und die auch noch pünktlich bezahlt. Alle anderen haben höhere Hürden und der vielgepriesene Buchhandel in Deutschland verlangt mir außerdem ab, dass ich einen Distributor, also Zwischenhändler einschalte - selbst einen Shop bestücken ... wo kämen wir denn da hin! Und ja, natürlich verdient der Zwischenhändler am Buch mit, während mir bei Amazon die vollen Tantiemen bleiben!

Das ist der Grund, warum es noch vor Weihnachten das Kindle bei Amazon geben wird. Die sind jeden Tag für mich und meine LeserInnen da, auch an Feiertagen. Und wenn ich dann einen Distributor gefunden habe und der auch noch aus der Weihnachtspause (!) gekommen ist, dann kann ich dem schon mal die Epub-Datei geben. Bis er die auf die einzelnen Läden verteilt haben wird ... das dauert wieder. Doch noch bin ich so weit nicht. Ich lade die Datei nämlich jetzt erst einmal zur Endkontrolle auf meinen Kindle. Ich bin zu gespannt, ob die Verlinkung zwischen Register und Rezepten wirklich funktioniert! Und ob das technisch alles rund geworden ist ... Die Daumen dürfen gedrückt werden ...
Wenn dann alles läuft, wird hochgeladen, werden Preise und Klappentexte eingestellt und hoffentlich auch alle Buchausgaben miteinander verknüpft.

Folgende Ausgaben von "Petra van Cronenburg: Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" gibt es derzeit (wird ergänzt):

Hardcover bei sanssouci / Hanser Verlag (nur antiquarisch)
Hörbuch bei Gugis (nur antiquarisch)
Taschenbuch im Insel Verlag (überall im Buchhandel)
Kindle in der Edition tetebrec bei Amazon (soeben erschienen!)
Epub in der Edition tetebrec in den üblichen Läden wie Weltbild, Thalia etc. (bald)

6. Dezember 2013

Nijinsky kommt auf die Bühne

Es ist eigentlich ein Projekt des "galoppierenden Wahnsinns". Aber wenn ich betrachte, wie es dazu kam, dann ist mein neuer Traum von Anfang an daraus entstanden, verwegen ins eiskalte Wasser zu springen und nicht nach möglichem Scheitern zu fragen. Scheitern kann man in der Kunst immer - aber um Fehler machen zu können, muss man schließlich erst einmal etwas anpacken!


Wer hier schon länger mitliest, kennt die Geschichte meines Herzensprojekts "Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos" über den berühmtesten Balletttänzer des 20. Jahrhunderts, der tragisch im Wahnsinn endete - und die kulturprägenden Ballets Russes, ein literarisches Sachbuch. Der erste Verlag musste kurz vor Produktion die Geschäfte aufgeben, ein zweiter hielt mich über wertvolle, somit vertane Monate hinweg hin, um dann mit einer absolut fadenscheinigen Begründung abzuspringen (ein englischer Ausstellungskatalog in London habe angeblich den Markt für dieses Buch in Deutschland kaputt gemacht). Ich habe im Blog damals ausführlich die Geschichte meiner Verzweiflung erzählt, die mich schriftstellerisch fast lähmte. Zum Glück haben mir die richtigen Menschen einen Tritt verpasst und mich gefragt, warum ich das Projekt nicht selbst anpacke, anstatt mich auf Dritte zu verlassen. Habe ich gemacht und es war gut so.

Seither hat dieses Buch mein Leben völlig umgeblasen. Ich habe neue Welten kennen gelernt, die ich mir zuvor nicht erträumt hätte; war endlich dort, wo ich mich immer hin wünschte: künstlerisch tätig zu sein ohne diese ewigen Behinderer und Bedenkenträger, die nur nach Quoten und billigen Trends schielen. Es ist hart, es ist ärmlich, aber um so viel befriedigender. Aber man muss sein Buch auch gegen den Millionenwust an Neuerscheinungen und Altauflagen selbst sichtbar halten. Im nächsten Jahr steht Vaslav Nijinskys 125. Geburtstag an, im Jahr darauf rundet sich sein Todestag. Immer noch in den alten Buchwelten gefangen, dachte ich also an Lesungen zum Jubiläum. Und dann begann alles damit, dass mir ein Veranstalter erzählte, die Leute seien der herkömmlichen Lesungen müde, dazu käme kaum mehr jemand freiwillig.

Recht gab ich ihm - ich hatte bisher eher zu Dias frei erzählt und Proben gelesen, das machte die Welt der Ballets Russes viel lebendiger. Der Satz setzte sich fest in meinem Hinterkopf. Ich blätterte zum soundsovielten Male mein eigenes Buch wieder durch und stieß auf ein Geheimnis. Diese so bedeutende Nahtstelle, an der sich die gesamte Geschichte änderte: Für Nijinsky, den Startänzer - für Diaghilew, seinen Lebenspartner und Impresario - und damit für die gesamte kulturelle Welt der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Beide waren inkognito in Baden-Baden. Vorher das berühmteste schwule Paar Europas, das sich deshalb nicht verstecken muss ... kurze Zeit später Nijinskys Überraschungsheirat mit Romola, einem Society-Girl und Groupie. Vorher die größten Theaterskandale der Zeit, Nijinsky seiner Zeit voraus ... und dann der Ruck in Diaghilew, sich lieber wieder Konventionellerem zuwenden zu wollen, um das reiche Publikum nicht zu sehr zu verschrecken. Was war in jener Zwischenzeit geschehen? Weder Biografen noch Forscher haben es je herausgefunden ... es gibt jede Menge abenteuerlicher Theorien, aber keine Beweise.

Mir fiel ein Text eines Augenzeugen in die Hand, der mich auf eine Idee brachte. Was aber macht man mit einer Begebenheit, deren Rätsel nie gelöst werden konnte? Man kann sie nur künstlerisch bearbeiten. Ich trieb mich wieder einmal am Ort des Geschehens herum und hörte die beiden förmlich miteinander reden. Das muss aufs Papier, dachte ich. Aber wer kauft Dialoge auf Papier? Es schrie nach Bühne ...

Diaghilew und Nijinsky
Ich will nicht damit langweilen, wie ich mir ein Exposé aus dem Bauch hämmerte, mit wie vielen Menschen ich darüber sprach - Menschen, die vorab Vertrauen in mein Können haben mussten, weil ich das Stück noch nicht geschrieben habe. Es war zunächst nur ein völlig verrückter, verwegener Traum ... und diese Geschichte, mit der ich irgendwie noch nicht fertig bin. Gestern kam die Zusage vom Dramaturgen. Die Veranstaltung wird eine szenische Lesung mit Schauspielern sein, sozusagen als Generalprobe ... ich muss mich ja erst noch beweisen. Es könnte ein Anfang werden ...

Und so kann ich jetzt schon herzlich einladen:
Die Bibliotheksgesellschaft Baden-Baden und das Stadttheater bringen am 27. Mai 2014 anlässlich des 125. Geburtstags von Vaslav Nijinsky eine szenische Lesung auf die Bühne des Literaturmuseums Baden-Baden:
"Jeux - russische Spiele in Baden-Baden" von Petra van Cronenburg

Ich werde natürlich rechtzeitig bekannt geben, welche Schauspieler lesen werden und wann der Vorverkauf startet, denn der Raum ist begrenzt. Und sicher wird jeder verstehen, dass ich jetzt in Schöpfungspause gehe!

Es hat mich wieder eines gelehrt: Nicht Rankings und Trends spielen eine Rolle, sondern brennende Leidenschaft. Sie überträgt sich auf andere, steckt an, begeistert. Und da draußen sind so viele fantastische Leute, mit denen man etwas auf die Beine stellen kann!

3. Dezember 2013

Prolls oder Publikum?

Ein Bild:
Unwahrscheinlich hohe Zypressenwipfel werden vom Sturm gezaust, sie bewegen sich vor einem düsteren Himmel. Irgendwo ein breiter Fluss, unsichtbar, man kann ihn nur wegen des Tutens von Lastkähnen erahnen. Beton. Viel Beton zwischen den Zypressen, in der Ferne möglichwerweise Waldboden, aus dem eine hohe Mauer wächst. Ein hoher, schmaler Durchgang aus Betonquadern darin, der einzige Ausblick, der einzige Durchgang in eine andere Welt. Drüben scheint die Sonne. Dort liegt ein Waldsee, in den ein Bach hineinplätschert. Die eigenen Quellen wiederfinden, bevor der Beton alles zudeckt ...

Mich packt zunehmend ein Unbehagen speziell bei Facebook, und ganz besonders, nachdem Zuckerberg zum zigsten Mal alles Mögliche neu einstellt und verändert. Anfangs diente dieser Kanal seinen Usern, jetzt dienen nur noch die User dem Kanal, habe ich den Eindruck. Letztens brauchte ich drei Stunden und Beratung durch eine Kollegin, wie ich die willkürlich von FB eingesetzte Ortsangabe wieder löschen konnte, die nicht einmal dem Ort entsprach, in dem ich mich aufhielt, aber zu jedem Posting erschien. Ich werde morgens mit einem Wust von "Mitteilungen" beballert, die nicht wirklich welche sind ... und wenn ich sie nicht sofort anklicke, poppt eine Erinnerung auf, dass ich doch diese Mitteilungen hätte. Alles, was ich nicht ganz schnell  so mache, wie Zuckerberg das gern hätte, lässt irgendwo eine dämliche Message aufblinken ... und der Stream von den Freunden wird immer chaotischer, springt auch schon mal während des Lesens weg. Kommuniziere ich noch? Oder bin ich Sklave einer Führung wohin auch immer, die nur noch einer Effektivität des Profits und der Datensammelströme gehorcht? Was macht das mit mir, meinem Gehirn, meiner Wahrnehmung?

Aber da ist noch etwas anderes. Etwas, an dem ich durchaus selbst schuld bin. Ich bin ein offener Mensch, habe neugierig wichtige Medien abonniert und schaue auch mal, was "Freunde" so liken. Dementsprechend bekomme ich auch Kommentare von Menschen mit, die ich nicht kenne, mit denen ich selbst nicht verbandelt bin. Auch hier beobachte ich eine Veränderung der Qualität. Will ich aber wirklich den Hassaufruf von Männern lesen, eine Frau zu vergewaltigen, die von einer Zeitung als Beispiel für die neue Unlust am Sex gebracht wurde? Will ich die allerletzten Prolls mit Namen kennenlernen, die einfach nur auf niedrigstem Niveau hetzen: gegen Demokratie, gegen Minderheiten, gegen Literatur, gegen den Gebrauch von Intelligenz, gegen Fleischesser, gegen Veganer, gegen Religiöse oder Nichtreligiöse? Will ich "FB-Freunde" haben, die "FB-Freunde" haben, die so sind? Ich setze mich doch auch in der Kneipe nicht an den Tisch von solchen Leuten!

Der Prollfaktor steigt irgendwie in den letzten Monaten eponential mit dem Nervfaktor. Und die guten Leute werden vom Grundrauschen und Lärm übertönt, bleiben langsam immer öfter auf der Strecke. Mich macht das unzufrieden bis aggressiv. Das Geschrei wird mir zu laut, wenn ich Stille zum Innehalten brauche, zur kreativen Schöpfung.

Ich bin nicht die einzige, die nun das Folgende ankündigt (und dass es so viele von den spannenden Leuten tun, gibt mir auch zu denken):
Bis übers Jahresende hinweg werde ich nur hauptsächlich hier in meinen Blogs aktiv sein. Wer etwas von mir will, muss sich schon hierher bewegen. Bei Twitter und FB werde ich natürlich verkünden, falls in der Zwischenzeit ein neues Buch von mir erscheint.
Mir ist nach Publikum statt nach Prolls. Nach meinen Leserinnen und Lesern - den Menschen, die mir am Herzen liegen. Mir ist nach Selbstbestimmung in einer durchaus langsameren Kommunikation statt nach Knechtung durch Mitteilungsgedöns und Algorithmen. Mir ist nach Tiefe statt nach Konsumismus von Dauersprechblasen ... zu denen ich mich vermehrt selbst angesteckt fühlte.

Ich freue mich auf jeden, der in meine drei Blogs findet:
cronenburg fürs Autorenleben und die Buchwelt
Vaslav Nijinsky über den Startänzer, die Ballets Russes und verwandte Kunst & Kultur
Grenzgängereien für Feines aus dem Dreiländereck und Russland.
Und die bestücke ich langsam und gemächlich, durchaus mit Pausen.

Denn im "real life" tauche ich dieser Tage ab und schreibe fürs Theater. Vermessen und verrückt. Ob "das Ding" jemals aufgeführt werden wird, steht in den Sternen. Aber wer nicht wagt, gewinnt auch nicht. Schon allein deshalb muss ich mich aus dem Lärm in andere Welten begeben ...
Und ich wünsche euch allen, dass ihr euren ganz persönlichen See mit seinem frischen, plätschernden Quellwasser nicht aus den Augen verliert!
Nächstes Jahr werde ich entscheiden, wie das mit mir und Social Media weiterlaufen wird.