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30. Juli 2013

Schreiben: eine darstellende Kunst?

In der NZZ macht sich Verleger Jochen Jung herrlich ironisch Gedanken über die modernen "Autorendarsteller": "Was einst Lesung war, heißt heute Auftritt." Nicht ganz zu Unrecht beklagt er, dass die Rückzugsgebiete für Autorinnen und Autoren rar werden - an allen Ecken und Enden zieht die Öffentlichkeit - und die Social-Media-Kultur will gar Transparenz auf allen Kanälen. Was aber macht das mit den Schriftstellern und was mit deren Kunst? Ein Artikel, der nicht nur sehr lesenswert ist - es lohnt sich, darüber nachzudenken, die eigene Situation zu überprüfen.

Spontan fiel mir bei Facebook dazu folgender Kommentar ein:
"Herrlich, diese Ironie! Und er piekst so wunderbar in die Wunden des Literaturbetriebs hinein, dass es saftet. Er hat ja so recht. So isses.
Es gab mal einen Kultschriftsteller, Tom Robbins, der hat sich jahrelang, falls er überhaupt in die Öffentlichkeit ging, bei Interviews nur mit Krokodilsmaske gezeigt. Keiner wusste, wie der Mann aussieht oder gar lebt, aber alle schrieben über ihn. Seine Bücher gingen wie warme Semmeln, obwohl den Autor niemand kannte. Oder WEIL er ein so großes Geheimnis war? Auf meinem Computer liegt jedenfalls ein altes Krokodil aus einem Kasperletheater. Um mich manchmal zu warnen, wenn ich zu sehr im Kasperletheater drin bin ...
Sicher haben wir viel gewonnen mit der Öffnung zu den Lesern und der Transparenz und der Verpflichtung, auf allen Kanälen zu tanzen. Wir haben aber vielleicht noch mehr verloren?
Kürzlich sagte mir die Bibliotheksdirektorin einer nicht ganz unwichtigen Stadt, dass die Zeit der Wasserglaslesungen vorbei sei. Die Leute wollen das zumindest in dieser Stadt nicht mehr. Verwöhnt vom allgemeinen Kulturangebot müssen Schriftsteller nun Events stemmen, tolle Veranstaltungen rund ums Buch ausdenken - lesen können die Leser selbst, im Stillen, alleine. Das ist auch fantastisch. Für die Rampensäue, die Erfindungsreichen oder die Selbstdarsteller. Aber früher, als Schriftsteller nur Bücher schrieben, konnten auch die Schüchternen, die Antisozialen und die Ängstlichen wunderbare Bücher verkaufen ..."
Und das sage ausgerechnet ich, die ich auf so vielen Kanälen "dauerpräsent" bin, wie das mal ein Freund formulierte?

Ich muss zugeben, ich bin wohl eine Rampensau. Hätte ich früher von mir nie gedacht. Anfangs starb ich auch vor jeder Wasserglaslesung drei Tage lang, obwohl ich mich da so wunderschön an meinem Buch festhalten konnte und in meiner Studienzeit immerhin eine Sprechausbildung gemacht hatte. Aber irgendwann stellte ich fest, dass ich diesen Kontakt zu Ausschnitten meines Publikums im viel größeren Stil liebe - und dass der Adrenalinstoß und die Energie, die einen auf der Bühne elektrisieren, unwahrscheinlich kreativ machen können. Bei Auftritten lade ich mich auf wie ein Akku - drum mag ich "Events".

Schnell konnte ich mich mit "normalen" Lesungen einfach nicht mehr arrangieren. Die Leser rückten mir auf die Pelle; wollten wissen, wie viel von meinen Figuren in meiner Küche sitzt, ob ich nach dem Signieren für Tante Amalie nicht auch deren Tagebuch bei meinem Agenten abgeben könne ... immer wieder die gleichen gequälten Fragen, das gleiche Abspulen eines offenbar heiligen Rituals. Das wollte ich brechen, ich brauchte Bühne, ich wollte frei sprechen, denn Lesen kann doch eigentlich jeder selbst. Laienkurse beim Theater kamen dazu, neue Ideen. Ich habe auch künstlerisch etwas von solchen Bühnen: Das Live-Erzählen prägt meinen Stil, Texte muss man auch hören können wie gute Musikkompositionen. Texte kann man sogar eigens für Bühnen schreiben ...

Aber das alles mache ich freiwillig, aus Lust. Weniger lustvoll sieht es manchmal in Social Media aus. Was zum Teufel schreibe ich heute bei FB? Ich habe schon tagelang nicht mehr getwittert: Wird man mich noch kennen? Ich rede zuviel Privates, vergesse die Themen. Ich hätte gern mehr Zeit. Zeit zum Abschalten, zum Entwickeln, zum Schreiben. Aber ich muss das alles tun. Die Verkaufszahlen beweisen es: Ohne Social Media bist du nur ein halber Autor. Dauerdarstellung. Braucht's die aber wirklich?

Und wenn es scheinbar kein Geheimnis mehr um mich oder meine Bücher gibt? Ich selbst bin ja gemein: Scheinbar plappere ich den ganzen Tag, aber gewisse Dinge erzähle ich nie und nimmer. Da gibt es große Tabus. Doch immer häufiger bekomme ich bei FB schräge bis eklige Zuschriften von Typen, die glauben, durch eine virtuelle Präsenz alles über einen Menschen zu wissen. Die über ein Schnipselchen von dieser Autorin verfügen wollen - und wenn es nur für das ominöse Tagebuch ist, dass man bitteschön dem Agenten ... Ich will das nicht. Ich mag das nicht. Live mag sich so jemand zum Signieren verirren, aber da habe ich keine Zeit für ihn. Stehe ich auf der Bühne, sitzt so jemand im Dunkeln, weit weg, verschwimmt für mich in einer konturlosen Masse.

Ja, Jochen Jung hat recht: Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme, inwieweit man selbst schon in den darstellenden Künsten angelangt ist. Ob man das so will und kann. Vor allem aber ist es Zeit für die Frage, wie viel Kunst man daraus schöpft oder wie viel Krempel man nur redet.

24. Juli 2013

Ganz aus dem Häuschen

Kann man nach vier Jahren Recherche zu einem Thema, nach dem Lesen fast aller Literatur dazu überhaupt noch Überraschungen erleben? Und wie man das kann!
Ich weiß nicht einmal, welcher dumme Zufall und welche Stichworte mich im Internet noch einmal nach einer Spezialfrage in Sachen "Faszination Nijinsky" suchen ließen. Jedenfalls surfte ich in alten Zeitungsarchiven von der New York Times über The Spectator und alte Seiten des Guardian. Und plötzlich war die richtige Spur da ...

Brenner's Parkhotel in Baden-Baden, 1913 Domizil illustrer Leute
 Was zum Teufel macht eine Autorin mit Recherchen, wenn das Buch doch längst erschienen ist?
Ich habe es bereits angedeutet - da ist eine Umsetzung des Themas Nijinsky in einer anderen künstlerischen Form als der des Buchs geplant und dabei geht es mir um das geheimnisvolle Jahr 1913. Jede Menge Gerüchte sind darüber zu lesen. Es gab in jenem Sommer außerdem einen kurzen Aufenthalt in Baden-Baden, im Hotel Stéphanie-les-Bains, wie Brenner's Parkhotel damals hieß. Davor - der größte Skandal der Theatergeschichte dank Nijinsky und Strawinsky. Danach - die völlig überstürzte und so ganz und gar nicht logische Heirat Nijinskys mit Romola. Dazwischen muss er sich mit seinem langjährigen Lebenspartner Sergej Diaghilew irgendwie überworfen haben. Und was ging da vor, in jenem Hotel, hinter verschlossenen Türen?

Durch verrückte Zufälle, oder nennt man es Fokussieren, habe ich eben das genaue Datum des Hotelaufenthalts entdeckt. Nun kann ich in den historischen Gästebüchern nachsuchen lassen, wer von den Ballets Russes abstieg. Aber besser noch ... ich weiß einen, der damals persönlich dabei war. Der sich aufregt über einiges, was vorgefallen ist, in einem uralten Radiointerview. Und ich kann endlich nach der Urlaubszeit dank der Daten in der Stadtbibliothek Baden-Baden die Originalzeitungen durchforsten und schauen, ob Nijinsky und Diaghilew wirklich so inkognito waren wie immer behauptet.

Kein Wunder, dass ich schon wieder unter Strom stehe, da purzeln die Dialoge nur so im Kopf!

22. Juli 2013

Die Bonbons der Bäckerin

Vorhin beim Dorfbäcker eine scheinbar alltägliche Geschichte. Ein kleiner Junge bringt etwas Geliehenes von einem Fest zurück. Die Bäckerin schenkt ihm dafür Süßigkeiten aus den großen Gläsern mit den Köstlichkeiten. Dann stockt sie, überlegt, greift noch einmal in drei Gläser. Der Beschenkte bekommt kugelrunde Augen, mit so viel hat er nicht gerechnet.


"Und die bekommst du fürs Tanzen kürzlich", sagt die Bäckerin. Der Kleine bekommt noch größere Augen.
"Ja, ich hab dich beim Schulfest tanzen sehen, du hast so ein Gefühl für Rhythmus, das kannst du richtig gut!"
Der Junge wird rot, guckt ganz stolz, und die Bäckerin setzt noch ein paar Komplimente drauf und fragt: "Bist du denn irgendwo für Unterricht eingeschrieben?"
Da schüttelt er traurig den Kopf. Er war mal im Tanzunterricht, aber dann hätten seine Eltern gemeint, das sei nicht so wichtig für einen Jungen.
Die Bäckerin holt ganz tief Luft, jetzt bekommt sie große Stauneaugen, laut sagt sie, das könne sie sich gar nicht vorstellen, bei solch einem Talent! Jeder der dagewesen sei, habe das erkannt, ja, alle hätten ihn gelobt ... so ein Talent, das sehe man selten. "Du musst da unbedingt dabei bleiben. Frag deine Eltern, ob sie dich nicht wieder in Unterricht schicken. Sag ihnen, dass ganz viele im Dorf dein Talent gesehen haben. Das wäre so schade, da nichts draus zu machen, du bist richtig gut! Und wenn sie dir nicht glauben, schick sie zum Brotholen her!"

Wundervoll. Klar, dass die Bäckerin nun in mir eine treue Stammkundin hat, auch wenn ihr Brot manchmal riesige Luftblasen aufweist. Und als ich heimfuhr, fragte ich mich - wer wird in Zukunft solche soziale Rollen übernehmen, wenn wir nur noch anonymisiert einkaufen oder gar per Internet bestellen? Wo werden Kinder künftig auf die Menschen treffen, die sie - notfalls auch gegen die Eltern - motivieren und aufbauen?

15. Juli 2013

Real Time - halten wir die aus?

Bleibendes, Bedeutsames

Es gibt diese Bücher, die genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit auftauchen. Für mich ist das im Moment "Eine amerikanische Fahrt" von Patrick Roth. Ein Buch, in dem es sehr intensiv um jene magischen Momente in Filmen (wie im Leben) geht, die durch die eigene Wahrnehmung mit Bedeutung aufgeladen werden, so dass sie eine sehr eigene innere Landkarte von Bildern ausmachen, eine Art Wegweiser. Es ist dieses Mysterium, das Carl Gustav Jung in seiner Theorie von der Synchronizität beschrieb und das die Grundessenz künstlerischer Wahrnehmung bildet. Darum immer auch in Literatur zu finden ist: Ein zufälliger Moment, der Sinnhaftigkeit zeigt, indem er sich in meiner Wahrnehmung mit anderen Momenten bildhaft verbindet. Plötzlich hat ein Augenblick in einem Film, einem Buch, einem Musikstück mir persönlich etwas ganz Besonderes zu sagen. Rückt mir im Leben auf den Leib.



Roth erzählt von anderen Filmmomenten, in denen diese Beziehung zum Leben besonders deutlich wird. Er nennt sie amerikanisch real time. Cowboys setzen sich ans Lagerfeuer. Wo gerade noch Pferde über die Leinwand fegten, verlangsamt sich die Handlung: Eine Hand legt ein Holzscheit nach, jemand reicht eine Tasse mit Kaffee, ein anderer lehnt sich gemächlich zurück, man schwatzt miteinander. Real Time - so langsam wie im Leben bewegen die sich auf der Leinwand, geben dem Zuschauer Ruhe. Oder der Film, in dem wir dabei sind, wie die Darstellerin einen Brief schreibt. Auf Papier, mit Tinte. Wir folgen jedem einzelnen Buchstabenbogen, jedem Wort. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen, da wird kein Plot weitergetrieben, nein, die Zuschauer werden in real time mit jenem magischen Moment konfrontiert, jener Sinnhaftigkeit.

Patrick Roths Überlegungen zu jenen unvergesslichen Momenten, die sich ewig ins Gedächtnis eingraben, faszinieren mich deshalb so besonders, weil ich mich in meinem entstehenden Roman mit genau dem Gegenteil beschäftige. Einer meiner Protagonisten jagt voller Sehnen nach dem Beständigen, der Greifbarkeit von Historie, uralten Filmen nach. Manche von ihnen sind vielleicht nur ein Mythos, wurden nie gedreht, sind vage Bilder im Kopf. Andere drohen, noch vor dem Auffinden, sich selbst zu zersetzen - das Material alter Stummfilme ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Die Rasanz des Zerfalls, des Vergessens in unserer Zeit. Wie viel real time ist noch möglich, wie schnell surfen wir von Bild zu Bild, von Oberflächen getrieben? Ist da die Wahrnehmung von Essenz, vom Bleibenden und Bedeutsamen überhaupt noch möglich? Es gibt so viele Bereiche, wo ich mir mehr real time wünsche! Aber bei den Büchern fällt es mir besonders auf.


Ungeschliffene Diamanten

Ich lese gerne Erstlinge von sehr berühmten Schriftstellern. Weil ich in diesen Büchern oft noch den ungeschliffenen Rohdiamant hervorblitzen sehe, weil sie so ungeheuer lebendig Begabungen neben Schwächen zeigen, kurzum: eine Schriftstellerpersönlichkeit, die noch Ecken und Kanten hat. Viel Zeit und Mühen wurden in diese Schriftsteller investiert, ihr eigener Weg in den Erfolg war in der Regel arbeitsreich und lang. Literatur muss reifen können - und jedes Buch hat seine ganz eigene Zeit. Patrick Roth hat an seinem neuesten Roman sechs Jahre gearbeitet.

Und dann erlebe ich eine absolut wahnwitzige Raserei unter so vielen Anfängern in so vielen Künsten. Opernstimmen werden ruiniert, weil man sich in der Sucht nach dem schnellen Ruhm ganz allein aufs Glätten für bestimmte Publikumswünsche konzentriert, anstatt jenseits der Stimme zu entwickeln, was die ganz großen Sänger der Vergangenheit ausgemacht hat: Persönlichkeit. Charakterbildung. Beides hat so viel Einfluss auf Stimme und Auftreten! Ich habe Maler erlebt, die hochbegabt waren und Begnadetes hätten schaffen können. Wenn sie den Mut zur real time gehabt hätten, zur Langsamkeit, die Kunst nun einmal braucht. Und dann hat der eine seine Malerei aufgegeben, weil er lieber auf gewissem Standard leben wollte, und das bitte schnell. Und der andere malt heute Kilometerware im Auftrag für Möbelhäuser, weil er dadurch bequemer zu Geld kam. Dieses "Malen Sie mir doch etwas Passendes zu einem roten Sofa" hat ihn als Künstler völlig zerstört: Sein Talent ist verkümmert. Er kann gar keine Kunst mehr schaffen, er ist innerlich kaputt, leer.

Auch mit dem Schreiben geht es manchen nicht schnell genug. Kaum ist das erste Lob da, werden sie übermütig und ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus - im Unterhaltungsbusiness nennt man das "Eintagsfliegen", die Charts der Popmusik sind voll davon. Verlage kaufen nicht umsonst lieber Autoren ein, die mehr als nur ein Buch anbieten, die den Biss haben, dranzubleiben. Andere beobachten den lieben langen Tag nur noch Rankings und Verkaufszahlen, anstatt in dieser Zeit vielleicht gute Bücher zu lesen, von denen sie noch viel lernen könnten. Oder sie lassen sich von Fabrikschreibern und manchen Verlagen irre machen, dass ein Buch pro Jahr doch nun wirklich viel zu langsam sei, dass so ein Roman durchaus auch in drei Monaten zu bewältigen wäre. Patrick Roth hat an seinem letzten sechs Jahre lang geschrieben.

Und ja, es gibt auch diejenigen, die sich die eigene Stimme zerschreiben, bevor sie überhaupt voll entwickelt ist. Die ihrem Talent nicht diese real time schenken, die es braucht, um stark genug zu werden - durch das notwendige Wissen, das Handwerk, vor allem aber die Erfahrung. Erfahrung, die es ermöglicht, die eigenen Schwächen langsam abzuschleifen, mit genau der Geschwindigkeit, die gezielte Erosion braucht, um nicht den ganzen Berg zu zersetzen. Erfahrung, die im Verborgenen, Intimen, vonstatten gehen muss, nicht im schrillen bunten Kauf-mich-Kaufhaus.

Gewiss, auch hier lockt die große Bühne, die Illusion vom schnellen Welterfolg. Was tun manche nicht alles, um all diese Rankings zu erklimmen, um Verträge mit großen Verlagen abzuschließen. Und ist man erst einmal drin in der Maschinerie, dann geht es einem vielleicht wie dem jungen Opernsänger, den es schier zerreisst. Heute in New York, morgen in Tokio, Hauptsache genug Kohle und passend zur PR-Kampagne. Wer man selbst ist, was man selbst wollte, was man selbst kann und vor allem noch nicht kann ... das kommt unter die Räder, weil für real time keine Zeit mehr ist. Auch große Namen werden gezwiebelt, immer schneller und sogar Unvollkommenes anzubieten. Image statt Bildtiefe. Viele Lektorate orientieren sich eher an Verkaufbarkeit denn an künstlerischer Entwicklung. Die braucht Zeit, die braucht Kennerschaft - und Mühe. Wer von all diesen wohlfeilen Beratern aber will uns wohl? Und wer will nur unser Geld? Wer ist wirklich daran interessiert, Rohdiamanten zu ihrem schönstmöglichen Glanz zu schleifen, Künstler bei der Entwicklung ihres Charaktere zu unterstützen? Time is money. Wir zahlen an die grauen Herren der Zeitsparkasse.

Halten wir es wirklich noch aus, wenn die Schauspielerin auf der Leinwand Wort für Wort an einem Brief schreibt, mit Tinte auf Papier? Hätten wir die Szene mit den Cowboys am Feuer nicht am liebsten gekürzt, "damit es den Plot vorantreibt"? Überhaupt, all dieses Pferdegetrappel zwischen den bedeutsamen Momenten, cut - cut - cut! Das muss doch effektiver gehen!

Magische Momente der Bedeutsamkeit, Bilder, die sich bei Generationen von Menschen unlöschbar ins Gedächtnis einbrennen, auch all diese zufälligen Metaphern für den eigenen Weg - sie funktionieren so nicht. Schneiden wir unseren Film zu schnell, übersehen wir diese Momente. Wir können ihre Bedeutung nicht mehr lesen. Da leuchtet nur noch als Dekoration ein Lagerfeuer kurz auf, Image, Oberfläche. Und wir sind womöglich dabei, uns selbst zu verpassen, real time.

14. Juli 2013

Trüffelschwein trifft Elefanten

Das Trüffelschwein suhlt sich in Büchern, bekifft sich an guten Texten. Selten, ganz selten, findet es einen richtig schönen Fliegenpilz, pardon, Trüffel: eines dieser Bücher, an denen sich auch andere berauschen sollten. Dabei ist das Trüffelschwein gnadenlos subjektiv und vor allem unbestechlich. Besprochen werden nur selbst gekaufte Bücher. Zusendungen und Werbung aller Art tritt das Schwein in den Morast - keine Chance!

Erschnuppert: 
Helmut Pöll: Die Elefanten meines Bruders, Roman (All Age), Self Publishing - alle Formate

Die Fährte:
Jemand, auf dessen Fachurteil der Trüffler vertraut, hat das Buch wärmstens empfohlen. Der Trüffler las sich sofort fest, las in einem Rutsch und fragte dann den Autor, warum zum Teufel dieses Buch nicht in einem Verlag erscheine. Das hätte es können, wenn der Autor es braver zurechtgemacht hätte, hieß es. Und zwar so brav, dass man vom Original nichts mehr erkannt hätte. Nun fragt sich das Trüffelschwein, wie man sich solch einen Trüffel entgehen lassen kann?

Die Story:
Der zwölfjährige Billy Hoffmann hat ein großes Problem: Er würde zu gern mit seinem Bruder in den Zirkus gehen, um sich Elefanten anzuschauen - die nicht eingelösten Eintrittskarten bewahrt er auf wie einen Schatz. Billy hat überhaupt jede Menge faszinierender Pläne. Spaziergänger möchte er eines Tages beruflich werden, er, der um die Säule in der Tiefgarage zigmal in die eine Richtung herumrennen muss und dann in die andere, damit sein Kosmos im Gleichgewicht bleibt. Denn Billy hat ADHS, er ist eine wandelnde Filmdatenbank, rettet sich durch feste Rituale auch sprachlicher Art - und wird frühzeitig in die Psychotherapie geschleppt.
Der Roman zeigt die Innensicht eines Kindes, ohne in Betroffenheitsgedöns zu versinken. Denn die eigentlich Behandlungsbedürftigen in diesem Buch scheinen die Eltern zu sein, die weder mit dem Anderssein des einen Sohns umgehen können noch mit dem Unfalltod des anderen. Billy Hoffmann macht sich darum mit dem ihm eigenen Humor und einer verzaubert-verzaubernden Weltsicht auf den Weg, die Elefanten seines Bruders zu suchen.

Das Trüffelschwein denkt:
Mich hatte Billy sofort am Haken, weil ich einem solch faszinierenden Jungen länger in seine Gedankenwelt folgen wollte. Das Anfangsbild vom angefahrenen Bruderengel, die akribischen Berechnungen der Tonnenlast herannahender Busse; die Frage, ob man Engel überfahren könne - das ist so intensiv wie unspektakulär, so lebensecht wie ohne jedes falsche Pathos - und darum berührend. Helmut Pöll findet in der Ich-Perspektive sofort einen mitreißenden Ton, der sprachlich einen ungeheuren Sog entwickelt. Man spürt die Tonnenlast auf der Seele des Jungen und amüsiert sich doch mit ihm über die schrill wirkenden Dinge der Erwachsenenwelt. Man hört es wieder im Rhythmus der Sprache, in der Veränderung des Vokabulars je nach Stimmung des Protagonisten. Die schräg-liebenswerte Geschichte besticht durch Magie, ohne zum Märchen zu werden. Die Figuren erscheinen in ihrer tiefsten Verletzlichkeit und geraten darum so stark - allen voran Billy und seine Freundin Mona. Das erinnert durchaus an die Welten des frühen John Irving und besticht, weil der Autor diesen sehr eigenen Erzählkosmos bis zum Schluss auf Niveau hält.

Fasziniert verändert sich beim Lesen der eigene Blick auf die Welt, der eigene Standpunkt verschiebt sich. Aus anfänglicher Neugier auf die Innensicht von ADHS wird zunächst Faszination, dann Verständnis und schließlich sogar Staunen. Billy erscheint eher wie ein Philosoph oder ein Spiegel für unsere Gesellschaft denn als kranker Junge. Wer bitte ist hier schräg? Die Hauptfigur, dessen Eltern, die Leser?

Fast bis zur Schmerzgrenze zwingt uns Pöll mit seiner authentisch wirkenden, und dabei immer flexibel bleibenden Sprache in die lebenserhaltende Ritualistik des kleinen Billy, in jene rasante Kamerafahrt aus dem Kopf heraus. Der Junge dreht zeitweise in Worten wie Taten durch, übermäßige visuelle Reize und Farben bringen ihn aus dem Tritt. Dabei hat er längst eine verblüffende Erklärung für sein Anderssein gefunden, denn krank sind die anderen: "Ich habe nur viel Energie. So viel wie ein Fusionsreaktor. Und Kindern mit ADHS darf man nichts tun."

Damit im Kopf bei Überhitzung keine "Kernschmelze" eintritt, hat der Junge, der sich häufig mit Maschinen oder Robotern vergleicht, einen Notausschaltknopf. Im herannahenden Ernstfall verlangsamt er Zeit durch exzessive Wiederholungen, durch magisch erscheinende Rituale, die Harmonie wiederherzustellen versuchen. Wenn alles nichts mehr hilft, gibt es den "Rainman-Schrei". Oder der Junge rast mit dem Todesstern aus dem "Krieg der Sterne" durch die schockierte Erwachsenenwelt. Weil er aber die Welt etwas anders sieht und manchmal auch die Fantasie mit ihm durchgeht, verdächtigt er einen alten Mann, ein Terrorist zu sein. Er löst Bombenalarm aus bei der Polizei. Und doch ist es ausgerechnet jener "böse" Mann, mit dem der Junge später einen Weg zu den Elefanten seines Bruders finden kann.

Bei einem anderen Autor wäre eine solche Geschichte womöglich zum Slapstick geraten, zur Betroffenheitsschmonzette oder zur schrillen Unglaublichkeit. Davon ist Helmut Pöll weit entfernt: Jede seiner Figuren ist auch in den schrägsten Konstellationen absolut glaubhaft, die Magie der Szenen immer leise, mit feinem Humor unterlegt. Wenn in diesem Buch entlarvt wird, dann nie einfach nur schonungslos, sondern gepaart mit Liebe auch für die, die es nicht besser wissen wollen. Wir, die Leser, sind es schließlich, die über all die verpassten Gelegenheiten eines Lebens nachdenken, über Schuld und Verantwortung oder über die eigentlich naheliegende Möglichkeit, auch das zu akzeptieren, was wir nicht verstehen können, was uns zu bedrohen scheint.

Man möchte nicht aufhören, Billy zu begleiten. Etwa wenn er mit der Selbstverständlichkeit eines Kindes die Erinnerungen an den geliebten Bruder sortiert oder messerscharf die Unfähigkeit zur Trauer bei den Erwachsenen seziert. Er blickt mit staunenden Augen auf ihre himmelweite Angst vor seinem Anderssein und empfindet sich selbst als richtig, so wie er ist. Die Szenen bei den nicht minder hilflosen Psychiaterinnen gehören zu den Perlen des Buchs, seltsam deppert experimentiert die Iguanodondame aus "Jurassic Park" an ihm herum, so hat es den Anschein. Denn Billy verliert sich Filmwelten, wenn er überfordert wird; aus Ohnmachten wacht er mit Filmzitaten auf, die dem Roman eine weitere Sichtebene verleihen. Einziger, klitzekleiner Wehmutstropfen angesichts der unterschiedlichen Ebenen: Hier hätte man das Ende in der dramaturgischen Entwicklung um ein Fitzelchen zuspitzen können - aber das ist nun ein rein persönliches Geschmacksurteil.

"Die Elefanten meines Bruders" ist ein sprach- und bildstarker Roman über das Erwachsenwerden und den Umgang mit Trauer, ein humorvoll-feinsinniger Einblick in die Erlebenswelt eines ADHS-Kindes und in die Sprachlosigkeit von Erwachsenen, die doch einfach nur diesem Kind zuhören müssten, dieses Kind ernstnehmen müssten, um sich selbst zu erlösen. Dass dieser Roman nicht nach irgendwelchen Glättungs- und Verniedlichungswünschen zurechtgestutzt wurde, ist eine weitere Stärke - und das macht ihn so lesbar für Jugendliche wie Erwachsene.

Helmut Pöll wünsche ich, dass er sich durch nichts auf der Welt unter Druck setzen lässt. Sich stattdessen alle Zeit nimmt, die es für ein weiteres Buch von diesem Niveau braucht. Ich wünsche ihm, dass er sich nicht wie so viele nach dem Erstling anpasst an all die Instanttipps, die man gemeinhin für angeblich "Bestsellerverdächtiges" behauptet. Wäre ich Verlegerin eines Publikumsverlags, ich hätte das Manuskript eingekauft, ohne mit der Wimper zu zucken. So werde ich als Leserin geduldig auf ein zweites Buch warten und als Kritikerin all jene Verlage bemitleiden, denen dieses Manuskript entging.

10. Juli 2013

Madame geht werkeln ...

Nein, eine echte Sommerpause mache ich nicht, dafür kann ich mein schriftliches Mundwerk viel zu wenig halten. Aber ich werde öfter mal rar, vernachlässige Blogs und Social Media.
Kreativität braucht Stille. Die Ruhe am siebten Tag reicht einem oft nicht.


Viel Schöpfung ist angesagt. Für einen Buchauftrag von Privat muss ich ein Konzept und einen Text entwickeln. Den Rest der Zeit spiele ich mit kleinen Püppchen in der Puppenstube. Mit zwei Stimmen lasse ich die in einen Dialog treten. Oder anders gesagt: Ich versuche gerade zu lernen, wie man ein Kammerspiel zu zwei Stimmen schreibt. An diese irre Projekt glaube ich erst einmal ganz frech und haue jetzt ein Exposé dafür in die Tasten. Daumen dürfen jederzeit gedrückt werden ...
Eben schneit noch der Auftrag für eine Buchübersetzung herein - ebenfalls zum Thema Garten. Da blühe ich regelrecht auf.

8. Juli 2013

Geheimnis Odilienberg

Auch Autoren haben Leichen im Keller. Diejenige, die am meisten stinkt, ist mein Erstling: "Geheimnis Odilienberg". Im damals noch edlen, für religionswissenschaftliche Themen berühmten Eugen Diederichs Verlag war es gleich zu Anfang ein richtiger Bestseller. Aber schon 1998 erkannte man Trends und so wurde ich mangels Doktorentitel in Richtung "Esoterik" verkauft. Damals der absolute Renner, New Age ging um und in jeder zweiten Frau steckte eine Hexe. Dementsprechend wurde das Buch "gebürstet", auch wenn jede Menge religionswissenschaftliche Theorien dahinterstecken. Ich war von der Buchbranche unbeleckt und naiv, wusste nicht, dass man auch Nein hätte sagen dürfen. Also ließ ich die Werbemaschinerie anlaufen, selbst wenn es mich persönlich fast verriss - zwischen meinem eigenen Anspruch und der Person, die ich durch PR werden sollte.
"Geheimnis Odilienberg" wird völlig neu bearbeitet werden.
Der feine verlegergeführte Verlag ging dann den Weg alles Irdischen, Aufkäufe, Fusionen, Konfusionen. Zuletzt endete nur noch sein Name als Imprint bei Random House - und die haben mir dann auch ganz schnell all meine Rechte am Buch wiedergegeben. Die zahlreichen Vorbesitzer hatten sich nicht imstande gesehen, auch nur eine Mail von mir, von der Agentur oder dem Anwalt zu beantworten. Keine schönen Gefühle also, die mich mit diesem Buch noch verbanden.

Kam dazu, dass wissenschaftliche Erkenntnisse sich im Lauf der Zeit verändern, Moden auch. Und nicht zuletzt fanden auf dem Berg neue Ausgrabungen statt. So, wie der Text, der 1998 erschien, auf dem Papier steht, ist er nicht mehr zu halten. So viel ist zu ändern, zu streichen, dass ich das Buch in der Urform nicht neu auflegen lassen kann. Denn ich kann 2013 nicht mehr hinter diesem Text stehen - er ist in großen Teilen überholt, auch meine eigenen Meinungen haben sich verändert. Ein Fall für Depublikation ...

Ebenfalls nicht schön waren damals manche Auswüchse im Publikum, die mich völlig überrollten, denn hier in Frankreich wird man nicht gleich als Spinner angeschaut, wenn man das Wort "Schalensteine" oder "Schamanismus" in den Mund nimmt. Leider hat mich da die PR-Arbeit in ein Licht gestellt, in das ich eigentlich nicht wollte. Ich erlebte Dinge, die ich nie wieder erleben möchte: Frauen, die beim Signieren fast auf die Knie fielen und mich fragten, in welcher Geheimloge ich initiiert sei; Neonazis, die meine Lesung stürmten und von ihrem sauigeligen Möchtegerngral erzählen wollten, den sie mal schnell auf dem Berg geortet haben wollten. Der angebliche Nachfahre des Leibarztes des Kaisers von China kontaktierte mich telefonisch, weil ich dringend meinen Namen für seine Seminare hergeben sollte, bei denen man offensichtlich für viel Geld in den dritten Grad des Schwachsinns levitierte. Und als ich selbst eine historische Führung auf dem Berg anbot, wurde ich ständig mit Fragen gelöchert wie: "Spüren Sie auch diese gelb-schwarz gepünktelte Aura um diesen Stein?" Eine Frau war kurz davor, zum Notfall für den Rettungsdienst zu werden, fiel mir mit einem nicht enden wollenden Heulkrampf in die Arme: Sie hatte zum ersten Mal seit 20 Jahren bewusst den Wind auf ihrer Haut gespürt (ja, eine Szene im späteren Roman "Alptraum mit Plüschbär" lässt grüßen).

Es kostete mich immer mehr Kraft, mich solch einen Publikum zu stellen. Gewiss waren über 90% aller Zuhörer bei Vorträgen normale Menschen, aber die Ausgeflippten hefteten sich umso klebriger an meine Fersen. Ich wollte ernst genommen werden, nicht ständig versucht sein müssen, den sozialpsychiatrischen Dienst für meine Fans anrufen zu müssen.
Zwei Jahre hat mich jene Art der PR gekostet, bis ich durch harte Arbeit endlich wieder beweisen konnte: Ich bin nicht diese Esoterik-Maus, die ihr euch wünscht! Ich beschäftige mich auch mal mit Randthemen, aber nicht, ohne meinen Grips auszuschalten. Und ich kann Erleuchtungen am laufenden Meter im Wochenendseminar überhaupt nicht leiden. Mein persönlicher Glücksfall war ein Engagement durch die BBC, die das fachliche Wissen in meinem zweiten Buch erkannt hatten und mich gemeinsam mit zwei weltbekannten Wissenschaftlerinnen auftreten ließen. Ich hatte den falschen Kokon abgestreift und konnte endlich neu anfangen. "Geheimnis Odilienberg" war für mich nun Schnee von gestern.

Heute kann ich über all das lachen und aus dem Anekdotenfundus schöpfen. Ich kann sogar über mein Buch von damals lachen, diese süße Naivität meinerseits, all diese Unzulänglichkeiten im Schreiben und diese knetbare Masse von Autorin, die ich heute nicht mehr bin.

Bis heute erreichen mich Leseranfragen, doch bitte dieses wichtige Buch wieder neu aufzulegen. Bis heute habe ich mich dagegen gesträubt. Und dann nachgeschaut, was denn die Leser an diesem Buch so wichtig finden könnten ...
Die Milde vieler vergangener Jahre, ein völlig neuer Blick mit Abstand: Ja, doch, da ist tatsächlich viel zu viel Gutes im Buch, um es vergammeln zu lassen. Und es ist anders als die üblichen Reisebücher.

Jetzt denke ich, "Geheimnis Odilienberg" hat eien zweite Chance verdient. Allerdings in einer völligen Neubearbeitung. Aktualisiert, sprachlich geglättet, viel leserlicher geschrieben (was habe ich in den Jahren seither alles gelernt!). So etwas macht Arbeit, viel Arbeit. Es ist ein komplett neues Buch. Ganze Passagen müssen neu geschrieben werden, bleibende Passagen überarbeitet. Anschließend ist ein neues Lektorat fällig. Ich kann also nicht versprechen, bis wann ich so etwas neben meiner Arbeit leisten kann. Ich kann nur so viel sagen: Liebhaber des Mont Ste. Odile / Odilienbergs und seiner "Heidenmauer" können sich notieren, dass es eine Neuerscheinung geben wird. Ich werde sie ganz sicher rechtzeitig in meinen Blogs ankündigen. Eine neue Idee für die Aufmachung habe ich außerdem: Es wird stärker zum Reisebuch an einen besonderen Ort werden. Zu einem Reisebuch mit unterschiedlichen Wegen der Annäherung. Was es in dem Buch garantiert nicht geben wird: Rosa-grün gestreifte Levitationen des achten Level der eingeweichten Gralsaussäufer. Nur mal so prophylaktisch bemerkt.

4. Juli 2013

Züchtet Riesenpilze in eurem Keller!

"'Fabulous growth in twenty-four hours'", Tom quoted from memory. "Plant them in your cellar ..."
Was hatte ich als Kind Gänsehaut beim Lesen dieser Kurzgeschichte. Einmal so schreiben können wie Ray Bradbury in "Jungs! Züchtet Riesenpilze in eurem Keller" ... allein dieser Titel! Fortan wurde der für mich zum geflügelten Wort, wenn ich Dinge ausbrütete, die drei Nummern zu groß für mich schienen. Leider war ich lange Strecken meines Lebens nicht so mutig wie die Jungs im Keller - ich begrub viele Ideen schon als Leichen, bevor sie überhaupt gestorben waren - aus Angst, "das sowieso nicht zu können".

Zum Glück wird man in der zweiten Lebenshälfte wohl doch ein ganz klein wenig schlauer. Oder es sind die neuen Vorbilder, denen man im Laufe des Lebens begegnet. Ein gewisser Terry Gilliam etwa hat mich in den schlimmsten Zeiten gerettet, als mein Buch "Faszination Nijinsky" beinahe an Dritten gescheitert wäre. Ich sah nämlich zufällig zur rechten Zeit die Doku "Lost in La Mancha" über das wohl spannendste Scheitern, das man sich vorstellen kann. Ja, ich wollte nicht nur schreiben können, ich wollte auch diesen Biss haben, diesen Glauben an ein Projekt, diese irrsinnige Durchhaltekraft!
"Roger Willis: What's intuition?
Huge Fortnum: Uh, the stuff you know that you don't know you know?
Roger Willis: That's it. Over a period of time, things gather. Surprises. Your hands get dirty but you don't remember how they got that way. Dust falls on you every day but you don't feel it. But when you get enough dust collected up, there it is. You see it."
(aus dem Film "Boys! Raise Giant Mushrooms in Your Cellar!")
Hätte ich doch nur früher auf den guten alten Bradbury gehört! Als ich wider alle Hindernisse und Unkenrufe mein Projekt über die Ballets Russes ins Leben brachte, sah ich mich unversehens in einem Strudel, der mein Leben umwälzte. Ich war Menschen begegnet, die ähnlich verrückte Dinge taten, ähnlich an die Verwirklichung von Projekten in der Kunst glaubten und mir das Gefühl gaben, dass all diese Aliens des Alltagslebens immer und immer wieder Riesenpilze pflanzten, weil Riesenpilze ein wenig den Alltag verändern und einfach wunderschön sein können. Plötzlich sah ich mich in einem Mycel von Musikern, Sängern, Choreografen, Malern und anderen Künstlern, die in die Keller der Intuition und Kreativität hinabstiegen, ob in den USA oder Russland, in Frankreich oder Deutschland. Dass ich damit auch Menschen kennengelernt hatte, die einem beim Graben im Humus helfen konnten, realisierte ich wiederum sehr spät.

Mit besten Freunden habe ich manchmal darüber geredet. Dass mich die faszinierende Welt der Ballets Russes nicht mehr loslässt. Es wäre wohl die Zeit, in die ich mich mit einer Zeitmaschine zuerst beamen lassen würde. Ich habe mit einem Roman begonnen, der teilweise in jener Zeit spielt, aber ein völlig anderes Thema hat. Die andere Idee keimte nur still in meinem dunklen Keller, schien zu verrückt, zu sehr "Alien", um im Wachzustand und Licht einen Gedanken daran zu verschwenden. Weil ich solch eine Idee unmöglich allein stemmen kann. Einer, der Erfahrung mit so etwas hat, versprach, mein härtester Kritiker zu werden, wenn ich es durchbrächte. Aber wie? Das ewige Geldverdienenmüssen verdrängte zunächst die Idee ... zu viel Geld würde sie kosten.

Wie gut, dass sich Künstler ablenken lassen. Es geschah wie immer, heimlich, still und leise, aus dem Keller schleichend - dieser Moment, den Willis in Bradburys Kurzgeschichte so treffend beschreibt, als er meint, wir würden nur zehn Prozent unserer Begabungen nutzen. Wir sollten viel mehr hinhören, fühlen, riechen, ertasten. Irgend etwas sei plötzlich anders, meint er. Vielleicht nur die Art, wie der Wind übers Unkraut streicht. Vielleicht scheine nur die Sonne anders auf die Telefondrähte ... wenn wir nur hinspüren und vergleichen könnten!

Zwei Figuren machten sich selbstständig. Wo ich ging und stand, hörte ich sie miteinander reden. Die Jungs wollten raus aus ihrem Buch, schlichen sich in meinen Keller, räumten um, stellten ein Klavier auf, der rechte öffnete ein großes Fenster:
"N: Wenn ich tanzen soll, muss das offen bleiben. Wegen der Linien.
D: Du wirst hier aber nicht deinen berühmten Fenstersprung zelebrieren!
N: Sieht abschüssig aus da draußen.
D: Man nimmt dort den Tee am Ufer irgendeines Bachs.
N mürrisch: Ich tanze in gedachten Linien. In Kreisen, Augenformen. Die Leute wissen es nicht zu schätzen. Ich habe ihnen meine Augen gezeigt und sie haben gebrüllt! Sie hätten die Linien und Winkel in der Musik sehen können, aber sie haben nur Augen für ihre teuren Roben! Wie die Affen sind sie, nicht zur Kunst bereit. Affen, die sich vor anderen Affen ausstellen, Affen, Laffen!
D: Ruhig Blut, Vatsa. Uns hätte nichts Besseres passieren können als dieser Tumult in Paris."
(Text: Petra van Cronenburg)
Flohzirkus. Löse dich von deinen Figuren! Lege endlich weg, was geschaffen ist! Gieße Beton über die Leichen im Keller und mach dich auf zu neuen Ufern ...
Aber da war kein Entkommen, die Pilzsporen hatten sich bereits eingenistet. Ich hätte, wie ich das früher gemacht hätte, laut lachen können über mich, und zur Tagesordnung übergehen. Aber dann begegneten mir wieder Menschen aus diesem seltsamen Künstlermycel, die seltsame Dinge zur rechten Zeit sagten. Manchmal nur einen einzigen Satz. Zufälle, keinerlei Zusammenhänge, lose Worte. Nur Menschen, die stark auf eine Idee hin fokussieren, hören all das zusammen, sehen plötzlich die Unterschiede des Sonnenlichts auf den Telefondrähten ...

Ich bin über all meine Schatten gesprungen, weil ich in jener für Projekte gesunden Phase war, diese Idee sowieso nicht verwirklichen zu wollen. Das macht frei. Und dann habe ich sie einfach ein paar Leuten vorgestellt und sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, so etwas ins Leben zu hieven. Ich wusste nicht, wie Leidenschaft überzeugen kann. Und offensichtlich rede ich mich bei so etwas immer in Leidenschaft.

Die Sache ist komplett irre, wenn man sie vernünftig betrachtet. Es ist eigentlich ein Jahr zu spät, um damit anzufangen. Gelder müssen beschafft werden, Räumlichkeiten, Partner, Mitwirkende. Allein die Organisation könnte ich allein nie stemmen, wir brauchen viele geölte Rädchen in einer Wundermaschine. Aber jetzt, wo ich nicht mehr ganz allein bin mit meiner Idee, kann es losgehen: Kurzkonzept schreiben, Ideen entwickeln, Verbündete suchen, unzählige Türklinken putzen, Finanzierungsplan aufstellen, Sponsoren suchen. Und natürlich die Kunst nicht zu vergessen! Ein Text, der sich aus dem Format Buch befreit. Wir fangen klein an, mit der Option auf Größeres. Ich werde nun doch extrem fleißig im Keller meine Riesenpilze züchten müssen, denn 2014 ist bald, fast zu bald. Das Jahr, in dem der Mann mit dem Fenster 125 Jahre alt geworden wäre.

Zum Glück bin ich nicht allein. Zum Glück hat mir das Buch über jenen Mann so viele außergewöhnliche Bekanntschaften beschert. Es wird ein Projekt eines Teams und vieler Helfer. Ein Projekt, das jeden Tag und zu jeder Stunde sterben kann. Das vielleicht nur lächerlich winzig wird, vielleicht angenehm schön. Aber wie soll man Riesenpilze züchten, wenn man sich nicht wenigstens einmal in den Keller traut?

1. Juli 2013

Wenn plötzlich alles weg ist

In zwei Wochen, genauer gesagt, am 19. Juli, habe ich eine Lesung in Baden-Baden ... völlig vergessen! Irgendwie ist der Termin von meinem Schirm gerutscht, ich habe mir noch nicht einmal im Terminkalender notiert, wo und wann das stattfindet. Weiß nur, es ist fürs Deutsche Sozialwerk - und ich muss mein Elsassbuch mitnehmen. Früher wäre mir so etwas nie passiert. Da fieberte ich Wochen vorher, probte fleißig herum und starb regelmäßig kurz vor dem Termin an Lampenfieber. Inzwischen muss ich mir so etwas rot aufschreiben und am besten noch den Wecker danebenstellen. Was ist passiert? Werde ich vergesslich? Bin ich zu routiniert?

Der Grund ist ein ganz hässlicher: Der Schreiballtag einer Buchautorin, die hauptberuflich vom Schreiben lebt, vermüllt zusehends. Viele Honorargeber verpassen grundsätzlich jede Preiserhöhung in den Läden und das Steigen von Energiepreisen. Selbst wenn man taff bleibt, kann man sich ausrechnen, was wird: Verdreifacht sich der Ölpreis innerhalb von zwei Jahren, muss ich innerhalb dieser Jahre dreimal so viel arbeiten, um es gleich warm zu haben. Und weil man zuerst immer an den Kreativen und am liebsten an Autoren spart, landen immer mehr "unsittliche" Anträge auf dem Schreibtisch. Wo man sich fragt, woher die Leute eigentlich die Chuzpe nehmen, überhaupt solche Frechheiten zu formulieren und abzuschicken! Dabei zähle ich nicht einmal die Vollpfosten, die glauben, ich würde mal schnell "was für umme" machen, weil ja auch mein Stromanbieter den Saft verschenkt und der Bäcker kostenlos fressen lässt.

Es wird immer kurioser! Könnse uns mal schnell alle ihre Rechte lebenslänglich und bis zum Erbenende schenken? Nur die Rechte für die Aufführung des Pressetexts als Ballett ist noch nicht vorgesehen - soll ich für solche Banausen auch nur ein Wort tippen? Wenn schon, dann Ballett bitte! - Hach, sagense, Sie sind doch Spezialistin für ... sagen wir Steine. Könnse für uns mal eben schnell im Steinbruch kloppen und uns versprechen, nie wieder irgendwo und irgendwie über Steine zu schreiben, lebenslänglich, und bis zum Erbenende und so? - Ach jetzt komm, das machste doch mit LINKS!!! Und dafür willste SONNTAGSzuschlag? - Ach, du schaffst sowas nich über Nacht, willste auch extra Geld, spinnste, bei so'nem spannenden Projekt, wo du doch die Nacht eh bloß verschlafen hättst? - Was jetzt, haste seit der Volontärszeit nicht mehr gemacht? Willste nich? Biste zu erfahren dazu? Jetzt hattse auch noch den Dünkel und meint, wir sollten uns Studenten suchen!

Nicht, dass ich mich mit Anfragen dieser Art länger beschäftigen würde, aber mittlerweile ist es so lästig geworden, abzulehnen, dass ich manche gar nicht erst beantworte. Spam einer neuen Art: "Ich halt dich mal für doof"-Mails.

Und wenn man dann Schreibtisch und Kopf endlich saubergewischt hat, kommen die ordentlichen Projekte von den ordentlichen Auftraggebern. Arbeit, die man selbstverständlich auch gern mal sonntags oder nachts erledigt, weil solche Kunden das zu schätzen wissen. Und dann ist der Kühlschrank wieder gefüllt und man macht sich einen schönen Tag.

Trifft andere Künstler und eine, die man schon länger nicht gesehen hat, fragt: "Wie geht's deinem Projekt?"
Schweigen. Schwärze im Hirn. Was meint sie bloß?
"Na das tolle Projekt, an dem du gerade schreibst!"
Den Pressetext von unlängst meint sie wohl eher nicht. Glaubt sie, ich hätte den Sklavenauftrag im Steinbruch angenommen? Kann auch nicht sein. Mittlerweile schaut sie mich fragend an, weil ich so begriffsstutzig wirke.
"Du hast doch einen Roman angefangen!", hilft sie mir auf die Sprünge, "den mit der Avantgarde!"
Hektisch kämpfe ich mich durch meine Hirnwindungen: Welche Fassung meint sie nur? Wann habe ich sie zum letzten Mal gesehen? Kennt sie die private Version oder hat sie es aus dem Internet?

"Was ist los mit dir? Du arbeitest doch grade an einem Projekt?"
"Nicht nur an einem ..." Da ist der Brotauftrag XY, dann wartet jetzt das Gartenbuch, das ich im Auftrag für jemanden schreibe. Das hat Vorfahrt, weil's die Butter bezahlt. Vielleicht noch eine Übersetzung ...
"Aber du arbeitest doch noch literarisch, oder?"

An der Stelle kommt der Schock. Ich würde ja zu gern. Aber die Zeiten haben sich derart verändert, dass die hauptberufliche Autorin Romane nur noch als Hobby schreiben kann. Für Stipendien bin ich längst zu alt und zu unterhaltsam. Ob ich das Dinge je gebacken bekomme? Um mich herum sind sie nicht so irre, da werden die Schmonzetten in weniger als einem halben Jahr produziert. Und dass durch meinen Eklektizismus die Aufträge inzwischen richtig schöne Arbeiten sind, die ich gern mache ... das zählt nicht. Nicht für sie. Ich fühle mich wie eine Versagerin. Ob ich es in meinem Alter je noch auf die Reihe bekomme?

Als ich ihr sage, dass der Roman immer nur in den Pausen drankommt, weil er ja erst mal nichts einbringt, wird sie wütend. Aber es geht ihr in ihrer Kunst ähnlich. Die Arbeit im Steinbruch weitet sich aus. Sie hat auch keine Lösung.

Ich habe anschließend den Fehler gemacht, in Social Media zu schauen. Wo man hinschaut, Diskussionen um Rankings, um Billigstpreise für Bücher, um fast maschinell hingehuddelte Schnellware. Irgendetwas mache ich falsch. Sterben Menschen aus, die noch künstlerisch am Text arbeiten?

Ich habe dann schleunigst abgeschaltet und mich mit einem guten Stück Literatur in die Sonne gesetzt. Das stärkt udn regeneriert auch die Hirnmasse. Dabei habe ich beschlossen, in dieser Woche einen Härtetest zu machen. Mit meiner verrücktesten, abgefahrensten Idee. Die hat sogar ein kleines bißchen mit dem Roman zu tun. Sie ist nur zu verrückt. Aber wenn nicht jetzt, wann dann? Wahrscheinlich ernte ich schallendes Lachen. Oder den schönen Spruch: "Wer soll das alles bezahlen?" Mal sehen. Ich will es jetzt wissen: Ob da draußen noch ein paar andere Spinner sind, denen Kunst und Kultur noch am Herzen liegen.

Das Schlimmste kann ich nun auch zugeben: Ich habe diesen Beitrag nur geschrieben, um mir einzuprägen, dass ich am 19. Juli auftreten muss und jetzt endlich den Brief mit Ort und Uhrzeit suchen sollte. Jetzt.