Es tut sich was. Trotz der Regenfälle oder vielmehr wegen der Feuchtigkeit gedeihen Rhododendren und Azaleen derzeit im Elsass prächtig. In meinem Grenzgängerblog habe ich darum auch einen Ausflugstipp für Kurzentschlossene, die nicht nur diese Blüten lieben, sondern auch Schlösser, Berge und Burgen.
Für die Daheimgebliebenen bereitet ARTE heute ein ganz besonderes Fest zum 100sten Jahrestag eines Skandals, bei dem nicht nur die Polizei gerufen werden musste, sondern auch anschließend die politischen Wellen geglättet werden durften. In meinem Blog über Vaslav Nijinsky bringe ich die Programmvorschau des Themenabends und erzähle natürlich, was da 1913 in Paris passiert ist!
Es lohnt sich also, auch in meine anderen Blogs zu schauen und sie vielleicht sogar per Feed zu abonnieren. Nicht nur heute!
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29. Mai 2013
27. Mai 2013
Faszinierende Welten
Es ist so weit, dass man das Geheimnis lüften kann: Madame schreibt heimlich an einem Roman. Heimlich, weil ich das aufgrund heutiger Finanzierungsmuster nur in meiner Freizeit tun kann, weil mich zunächst weder Verlage noch Agenturen interessieren und ein vordefiniertes "Zielpublikum" auch nicht. Ich will frei sein. An diesem Roman arbeite ich einfach nur deshalb, weil die Geschichte erzählt werden muss. Schließlich schreibe ich schon seit rund zehn Jahren diese Geschichte immer wieder um, nun bis zur Unkenntlichkeit verändert völlig neu. Aber jetzt hat sie mich am Haken. Und wie!
Einzelheiten werde ich nicht erzählen. Weil öffentliches Voraberzählen kreative Sprosse zum Absterben bringt, das habe ich immer wieder festgestellt. Und weil man natürlich die Spannung beim Publikum erhalten will. Aber so viel kann ich bereits im Jargon von Buch-Algorithmen sagen: Wer "Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos" liebte, wird auch auf diesen Roman heiß sein!
Ich wurde von Lesern dieses literarischen Portraits über den Startänzer der Ballets Russes häufig gefragt, warum ich denn nicht noch zusätzlich einen Roman über Nijinsky schriebe ... oder ob ich nicht noch viel mehr erzählen könne über all die Verflechtungen dieses globalen Erfolgsphänomens mit der Modewelt, der Kunst, dem Film. Fast habe ich damit liebäugelt, wären da nicht schon all die Fachbücher und Kataloge in mehreren Sprachen und ein holländischer Autor, der längst einen Roman über Nijinsky geschrieben hat. Was mich aber tatsächlich abhielt: Ich würde mich langweilen, eine Geschichte, die ich bereits zu Papier gebracht habe, lediglich in Romanform "umzusetzen".
Trotzdem lässt mich die Avantgarde-Zeit nicht los (meine Lieblingszeit überhaupt!) und das Phänomen der Ballets Russes natürlich auch nicht. Es gibt da noch so viele Randgebiete, die nie beleuchtet wurden. Was soll ich sagen: Mein Roman beginnt in einem Handlungsstrang 1909. Und nein, es wird garantiert kein historischer Roman. Und auch kein Krimi.
Meine Hauptfigur in der Jetztzeit ist Filmhistoriker - Lorenz gehört zu den Menschen, die mit Fachleuten Konzepte für die Restaurierung alter Stummfilme erarbeiten oder weltweit verschollenen Zelluloidstreifen nachjagen. Und da gibt es auch einen Film, dessen Thema mindestens in drei unterschiedlichen Fassungen gedreht wurde, aber keiner der Streifen ist bis heute vollständig erhalten.
Die eigentliche Geschichte beginnt 1909 in Paris - in den Kreisen der kosmopolitischen Avantgarde. Gemma ist mit einem Mann aus der Provinz angereist, den sie als ihren Ehemann ausgibt und mit dem sie das Bohème-Leben genießt. Alle sind aus dem Häuschen, weil eine neue Ballett-Compagnie von Russen die Theaterwelt aufmischt. Der zutiefst erotische orientalische Prunk schreckt die konservativen Geister der Belle Époque. Aber der Triumphzug in die Modewelt und den Film ist nicht mehr aufzuhalten. Gemma verreisst es schier, weil sie sich einerseits nach einem sicheren Eheleben in der Provinz sehnt oder sich das zumindest einredet. Andererseits möchte sie am liebsten mitmischen in den aufregenden Künstlerkreisen. Sie wäre dazu prädestiniert - denn als Wunderkind hat sie schon früh Schlagzeilen gemacht.
Im Jahr 1915 verschwindet Gemma spurlos. Nach einem häuslichen Streit packt sie ein Notizbuch und etwas Geld, verlässt das Haus und wird nie wieder gesehen. Der Ehemann sucht sie nicht wirklich. Vielleicht ist aber auch nur der Erste Weltkrieg daran schuld, dass man sich mit ihrem Schicksal nicht weiter befasst. Lorenz entdeckt sie fast hundert Jahre später auf einem verschollen geglaubten Zelluloidstreifen. Aus der Zeit nach ihrem Verschwinden.
So ... und das habe ich jetzt so langweilig und daneben wie möglich beschrieben, damit nicht zu viel heraus kommt. Ich darf mich jedenfalls darauf freuen, noch öfter in die faszinierende Welt von Pathé Fréres in Paris einzutauchen, in uralten Klamotten und Designs zu kramen oder in den berühmt-berüchtigen Cafés zwischen Montmartre und Montparnasse mit bekifften Berühmtheiten der internationalen Avantgarde zu trinken. Sicher gibt es dann auch mal das ein oder andere aus dieser Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu erzählen - aber das wird dann besser in mein Nijinsky-Blog passen. Drum dessen Feed abonnieren, um nichts zu verpassen!
Einzelheiten werde ich nicht erzählen. Weil öffentliches Voraberzählen kreative Sprosse zum Absterben bringt, das habe ich immer wieder festgestellt. Und weil man natürlich die Spannung beim Publikum erhalten will. Aber so viel kann ich bereits im Jargon von Buch-Algorithmen sagen: Wer "Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos" liebte, wird auch auf diesen Roman heiß sein!
Ich wurde von Lesern dieses literarischen Portraits über den Startänzer der Ballets Russes häufig gefragt, warum ich denn nicht noch zusätzlich einen Roman über Nijinsky schriebe ... oder ob ich nicht noch viel mehr erzählen könne über all die Verflechtungen dieses globalen Erfolgsphänomens mit der Modewelt, der Kunst, dem Film. Fast habe ich damit liebäugelt, wären da nicht schon all die Fachbücher und Kataloge in mehreren Sprachen und ein holländischer Autor, der längst einen Roman über Nijinsky geschrieben hat. Was mich aber tatsächlich abhielt: Ich würde mich langweilen, eine Geschichte, die ich bereits zu Papier gebracht habe, lediglich in Romanform "umzusetzen".
Trotzdem lässt mich die Avantgarde-Zeit nicht los (meine Lieblingszeit überhaupt!) und das Phänomen der Ballets Russes natürlich auch nicht. Es gibt da noch so viele Randgebiete, die nie beleuchtet wurden. Was soll ich sagen: Mein Roman beginnt in einem Handlungsstrang 1909. Und nein, es wird garantiert kein historischer Roman. Und auch kein Krimi.
Meine Hauptfigur in der Jetztzeit ist Filmhistoriker - Lorenz gehört zu den Menschen, die mit Fachleuten Konzepte für die Restaurierung alter Stummfilme erarbeiten oder weltweit verschollenen Zelluloidstreifen nachjagen. Und da gibt es auch einen Film, dessen Thema mindestens in drei unterschiedlichen Fassungen gedreht wurde, aber keiner der Streifen ist bis heute vollständig erhalten.
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Stacia Napierkowska (vor 1915), unbekannter Fotograf, Georges Grantham Bain Collection LOC |
Im Jahr 1915 verschwindet Gemma spurlos. Nach einem häuslichen Streit packt sie ein Notizbuch und etwas Geld, verlässt das Haus und wird nie wieder gesehen. Der Ehemann sucht sie nicht wirklich. Vielleicht ist aber auch nur der Erste Weltkrieg daran schuld, dass man sich mit ihrem Schicksal nicht weiter befasst. Lorenz entdeckt sie fast hundert Jahre später auf einem verschollen geglaubten Zelluloidstreifen. Aus der Zeit nach ihrem Verschwinden.
So ... und das habe ich jetzt so langweilig und daneben wie möglich beschrieben, damit nicht zu viel heraus kommt. Ich darf mich jedenfalls darauf freuen, noch öfter in die faszinierende Welt von Pathé Fréres in Paris einzutauchen, in uralten Klamotten und Designs zu kramen oder in den berühmt-berüchtigen Cafés zwischen Montmartre und Montparnasse mit bekifften Berühmtheiten der internationalen Avantgarde zu trinken. Sicher gibt es dann auch mal das ein oder andere aus dieser Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu erzählen - aber das wird dann besser in mein Nijinsky-Blog passen. Drum dessen Feed abonnieren, um nichts zu verpassen!
24. Mai 2013
Drum prüfe, wer sich ewig bindet ...
Zurück vom Tierheim, ziemlich erschlagen und müde. Ich habe nämlich nicht gewusst, dass ein Teil des Elsass komplett umgebaut wird - aber darüber schreibe ich am Wochenende im Grenzgängerblog. Statt Sight Seeing im Alsace Bossue über 100 km teilweise durch abenteuerliche Dauerbaustellen. Es tut sich was im Land. Und dann festgestellt, dass ich die Adresse und Telefonnummer des Tierheims vergessen hatte. Nein, ich habe weder Smartphone noch Navi, aber eine gute Nase. Immer dem Bier nach. Neuerdings füllt man dort Karlsbräu ab.
Ich will es kurz machen. Schmachtender Hundeblick gut und schön, aber man muss sich die Kerlchen wirklich genau anschauen, ohne weich zu werden. Und die Beschreibungen sind immer geschönt. Warum nicht weich werden? Die meisten landen leider im Tierheim, weil sich Menschen von süßen Stupsnasen, Werbebildchen oder Schmachteaugen treiben lassen, so ein niedliches Viech anzuschaffen. Oder man hat einen Hund, weil man auch ein Auto und ein Haus hat. Und dann die Katastrophe: Das Viech braucht eine zweibeinige Alpha-Töle, braucht konsequente Erziehung und Grenzen. Pfui, das macht Arbeit - und der ist doch so niedlich. Und irgendwann tanzt einem das niedliche Kerlchen auf der Nase herum, zerlegt die Wohnung, wird zum Dauerkläffer oder entwickelt andere komische Eigenschaften. Weg damit. Den schmusigsten Hund im Tierheim haben sie bei Arbeitsbeginn gefunden. Jemand hatte ihn mit einem Strick an den Zaun gebunden.
Jerry ist ein netter, offenherziger Kerl. Eine Kraftbombe mit Extraenergieturbolader. Ich denke mal, nach drei Tagen Marsch quer durch die Vogesen ist der endlich so ruhig, dass man ihn wirklich beurteilen kann. Wenn man es schafft, ihn so lange zu halten, ohne sich die Arme auszukugeln. Angeblich hat den etwa einjährigen Labrador eine Familie weggegeben, weil ein neues Kind kam, das eine Hundehaarallergie entwickelte. Wie ich diese Lügen hasse. Immer die gleiche Geschichte! Man schafft gleichzeitig mit dem ersten Baby ein süßes Hundewelpchen an, damit die beiden sich schön den Tag vertreiben und Mama Fernsehen gucken kann. Dann kommt das nächste Baby. Und das heranwachsende Hundebaby fordert längst Erziehung, braucht verdammt noch mal mehr Auslauf als dieses Kinderwagengeschiebe ... und Liebe. Der Hund wird womöglich eifersüchtig aufs Baby Nr. 2. Das nennt man dann Allergie und anstatt sich mit dem Hund abzugeben, dass er auch Baby 2 liebt, schmeißt man ihn weg. Ist ja nur eine Sache, so ein Hund. Eine lästige Sache.
So kann ich mir Jerrys Vorleben vorstellen. Falls er wirklich in einer Familie gelebt haben sollte, so muss diese auch untereinander mit einem absoluten Minimum an Sozialverhalten ausgekommen sein. Der Hund ist nett. Aber alles, was er kennt, ist sein eigener Name.
Alles, wirklich alles, was ein Welpe so lernt, muss er erst lernen. "Sitz" haben sie ihm schon im Tierheim beigebracht inzwischen, das kann er, wenn's Leckerli gibt. Gelehrig ist er. Aber - ich weiß nicht, wie diese Familie mit ihm gelebt hat - er kennt kein einziges Wort für Nein! In keiner Sprache. Er springt vor Freude und in Erwartung hoch wie ein Bekloppter, höher, als ich groß bin. Ehrfurchtgebietend, was für eine Kraft so ein Klops von "kleinem" Labrador im Flug entwickelt!
Und das fand ich dann auch körperlich ein wenig brutal, obwohl ich wirklich Kraft habe. Ein Hund, der weder Leinenführigkeit gelernt hat, noch auf irgend etwas hört. Der kein "non" kennt, kein "assez", kein "pfui" - wie bringt man den zum Aufhören? Mir blieb nur, ihn mit dem Sitzbefehl abzulenken, aber er hatte gelernt, dass das Fresschen bedeutet. Als dabei vor Freude meine Hand in seinem Maul verschwand ... das sind herrliche Momente. Sie blieb dran, speichelig halt. Immerhin, er beißt nicht ...
Ich hatte zum Glück einen Ersatzpullover dabei. Der von unserem Wiesengang war nämlich nachher von oben bis unten voller Schlammpfoten und man kicherte bei meiner Rückkehr. Im Gesicht hatte ich ebenfalls Kriegsbemalung mit roter Vogesenerde. Der Gang war stressig, trotz Regen und Kälte schwitzte ich ohne Jacke - ich konnte ihn nicht frei laufen lassen. Auch das und das Zurückkommen müsste er erst lernen. Und es ist wirklich nicht schön, ständig mit voller Wucht am Oberkörper angesprungen zu werden.
Ich weiß, was für eine harte Arbeit es ist, einen bereits einjährigen Hund all das beizubringen, was Welpen lernen. Labradors sind allerdings sehr gelehrige Hunde und Jerry hat sichtlich Spaß, wenn einem etwas gefällt. Aber bei der Größe und Körperkraft von Hund wird es ohne Training auf dem Hundeplatz wohl kaum funktionieren. Jerry ist mindestens ein halbes Jahr lang mindestens ein Halbtagsjob. Für einen konsequenten und erfahrenen Hundehalter, der weiß, wie man Hunde führt, ohne auf weiche Blicke hereinzufallen, ist Jerry ideal, da kann er sich entfalten. Ein Mann mit robustem Körperbau wäre auch nicht übel. Und wenn er noch einmal in eine Familie kommt, die das nicht kann oder will, ist er irgendwann ein Fall für den Hundepsychiater. Wie so viele.
Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Ich weiß nicht, ob ich das alles leisten kann und will. Aber natürlich schnitt es ins Herz, wie er sich nach dem Wiesengang traurig in den Zwinger legte, als ginge die Welt unter. Und wie er von weitem reagierte, als ich seinen Namen von der Straße aus leise sagte. Ich muss mal schauen. In mich gehen. Vielleicht mache ich bei besserem Wetter eine längere Tour mit ihm. Aber die größte Frage wird wirklich sein, ob ich mit meinem aufreibenden Beruf noch halbtags den Hundetrainer machen kann ... Eher nicht.
Und jetzt muss ich erst mal den letzten roten Schlamm loswerden, meine blauen Flecken zählen, ein halbes Schaf verspeisen und die geschundenen Knochen hochlegen ;-)
Und nein, das Kerlchen war nicht zu fotografieren. Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun!
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Mindestausrüstung für Hundemenschen |
Ich will es kurz machen. Schmachtender Hundeblick gut und schön, aber man muss sich die Kerlchen wirklich genau anschauen, ohne weich zu werden. Und die Beschreibungen sind immer geschönt. Warum nicht weich werden? Die meisten landen leider im Tierheim, weil sich Menschen von süßen Stupsnasen, Werbebildchen oder Schmachteaugen treiben lassen, so ein niedliches Viech anzuschaffen. Oder man hat einen Hund, weil man auch ein Auto und ein Haus hat. Und dann die Katastrophe: Das Viech braucht eine zweibeinige Alpha-Töle, braucht konsequente Erziehung und Grenzen. Pfui, das macht Arbeit - und der ist doch so niedlich. Und irgendwann tanzt einem das niedliche Kerlchen auf der Nase herum, zerlegt die Wohnung, wird zum Dauerkläffer oder entwickelt andere komische Eigenschaften. Weg damit. Den schmusigsten Hund im Tierheim haben sie bei Arbeitsbeginn gefunden. Jemand hatte ihn mit einem Strick an den Zaun gebunden.
Jerry ist ein netter, offenherziger Kerl. Eine Kraftbombe mit Extraenergieturbolader. Ich denke mal, nach drei Tagen Marsch quer durch die Vogesen ist der endlich so ruhig, dass man ihn wirklich beurteilen kann. Wenn man es schafft, ihn so lange zu halten, ohne sich die Arme auszukugeln. Angeblich hat den etwa einjährigen Labrador eine Familie weggegeben, weil ein neues Kind kam, das eine Hundehaarallergie entwickelte. Wie ich diese Lügen hasse. Immer die gleiche Geschichte! Man schafft gleichzeitig mit dem ersten Baby ein süßes Hundewelpchen an, damit die beiden sich schön den Tag vertreiben und Mama Fernsehen gucken kann. Dann kommt das nächste Baby. Und das heranwachsende Hundebaby fordert längst Erziehung, braucht verdammt noch mal mehr Auslauf als dieses Kinderwagengeschiebe ... und Liebe. Der Hund wird womöglich eifersüchtig aufs Baby Nr. 2. Das nennt man dann Allergie und anstatt sich mit dem Hund abzugeben, dass er auch Baby 2 liebt, schmeißt man ihn weg. Ist ja nur eine Sache, so ein Hund. Eine lästige Sache.
So kann ich mir Jerrys Vorleben vorstellen. Falls er wirklich in einer Familie gelebt haben sollte, so muss diese auch untereinander mit einem absoluten Minimum an Sozialverhalten ausgekommen sein. Der Hund ist nett. Aber alles, was er kennt, ist sein eigener Name.
Alles, wirklich alles, was ein Welpe so lernt, muss er erst lernen. "Sitz" haben sie ihm schon im Tierheim beigebracht inzwischen, das kann er, wenn's Leckerli gibt. Gelehrig ist er. Aber - ich weiß nicht, wie diese Familie mit ihm gelebt hat - er kennt kein einziges Wort für Nein! In keiner Sprache. Er springt vor Freude und in Erwartung hoch wie ein Bekloppter, höher, als ich groß bin. Ehrfurchtgebietend, was für eine Kraft so ein Klops von "kleinem" Labrador im Flug entwickelt!
Und das fand ich dann auch körperlich ein wenig brutal, obwohl ich wirklich Kraft habe. Ein Hund, der weder Leinenführigkeit gelernt hat, noch auf irgend etwas hört. Der kein "non" kennt, kein "assez", kein "pfui" - wie bringt man den zum Aufhören? Mir blieb nur, ihn mit dem Sitzbefehl abzulenken, aber er hatte gelernt, dass das Fresschen bedeutet. Als dabei vor Freude meine Hand in seinem Maul verschwand ... das sind herrliche Momente. Sie blieb dran, speichelig halt. Immerhin, er beißt nicht ...
Ich hatte zum Glück einen Ersatzpullover dabei. Der von unserem Wiesengang war nämlich nachher von oben bis unten voller Schlammpfoten und man kicherte bei meiner Rückkehr. Im Gesicht hatte ich ebenfalls Kriegsbemalung mit roter Vogesenerde. Der Gang war stressig, trotz Regen und Kälte schwitzte ich ohne Jacke - ich konnte ihn nicht frei laufen lassen. Auch das und das Zurückkommen müsste er erst lernen. Und es ist wirklich nicht schön, ständig mit voller Wucht am Oberkörper angesprungen zu werden.
Ich weiß, was für eine harte Arbeit es ist, einen bereits einjährigen Hund all das beizubringen, was Welpen lernen. Labradors sind allerdings sehr gelehrige Hunde und Jerry hat sichtlich Spaß, wenn einem etwas gefällt. Aber bei der Größe und Körperkraft von Hund wird es ohne Training auf dem Hundeplatz wohl kaum funktionieren. Jerry ist mindestens ein halbes Jahr lang mindestens ein Halbtagsjob. Für einen konsequenten und erfahrenen Hundehalter, der weiß, wie man Hunde führt, ohne auf weiche Blicke hereinzufallen, ist Jerry ideal, da kann er sich entfalten. Ein Mann mit robustem Körperbau wäre auch nicht übel. Und wenn er noch einmal in eine Familie kommt, die das nicht kann oder will, ist er irgendwann ein Fall für den Hundepsychiater. Wie so viele.
Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Ich weiß nicht, ob ich das alles leisten kann und will. Aber natürlich schnitt es ins Herz, wie er sich nach dem Wiesengang traurig in den Zwinger legte, als ginge die Welt unter. Und wie er von weitem reagierte, als ich seinen Namen von der Straße aus leise sagte. Ich muss mal schauen. In mich gehen. Vielleicht mache ich bei besserem Wetter eine längere Tour mit ihm. Aber die größte Frage wird wirklich sein, ob ich mit meinem aufreibenden Beruf noch halbtags den Hundetrainer machen kann ... Eher nicht.
Und jetzt muss ich erst mal den letzten roten Schlamm loswerden, meine blauen Flecken zählen, ein halbes Schaf verspeisen und die geschundenen Knochen hochlegen ;-)
Und nein, das Kerlchen war nicht zu fotografieren. Ich hatte im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun!
Blind Date mit Jerry
Leute, die schon mal in einer Datingbörse waren, können sich meine Gefühle im Moment vorstellen. Ich habe in ein paar Stunden ein Blind Date. Er heißt Jerry und hat schwarze Haare, scheint ein fröhlicher Typ zu sein. Nur die dunklen Augen kommen auf dem Profilphoto vielleicht einen Tick zu schmachtend rüber. Aber nun bin ich ja der toughe Typ Frau, der sich auf Schnulzphotos nicht verlässt und das reale Beschnuppern braucht.
Erfahrungen mit Datings habe ich auch. Schließlich habe ich für meinen Roman "Alptraum mit Plüschbär" nicht nur theoretisch recherchiert, was einer Frau da alles passieren kann, sondern sogar verdeckt ermittelt. Und mir danach geschworen, diesen Weg nie nie nie selbst einzuschlagen, sollte es mal nötig werden.
Aber auch toughe Typen vergessen leider manchmal ihre guten Vorsätze. Da sehe ich also nachher zum ersten Mal im Leben Jerry und habe all diese bekloppten Gefühle, die frau nicht haben sollte, wenn sie wenigstens den letzten Rest Verstand bewahren will. Nicht nur, dass ich fast zwei Stunden zu dem Kerl fahre ... um dann vielleicht innerhalb von drei Minuten festzustellen, dass wir uns nicht riechen können. Weil sein Haar nach der falschen Fleischbrühe riecht oder sein Atem faulig oder ...
Es muss ja nicht sein. Liebe auf den ersten Blick kann man nicht herbei"daten". Die Magie von Zweisamkeit muss langsam entstehen. Ich bin drauf und dran, den Termin abzusagen. Mein Herz spielt verrückt. Ich fühle mich schlecht. Eigentlich bin ich noch viel zu erkältet, um in dieses Wetter ... aber ich habe gestern vollgetankt. Ich warte seit Tagen mit echtem Fieber und welchem im Kopf. Jetzt absagen wäre "untough". Jetzt erst recht!
Bin ich total durchgedreht? Ausgerechnet jetzt? Nichts in meinem Leben ist gerade ideal für eine Beziehung dieser Art. Ich müsste ihn demnächst schon wieder allein lassen, anstatt in kuscheligen Rendezvous zu schwelgen. Meinen Beruf werde ich nicht zurückschrauben, das muss er verstehen. Bin ich bereit, diese Zusatzenergie zu investieren für all die Alltagsdinge, die sich hinter der Liebe einschleichen? Will ich mich so rückhaltslos binden, wie er das offensichtlich sucht?
Jemand hat mich gewarnt. Jerry soll recht ... "unerzogen" sein. Oh nein, nicht schon wieder ein Typ, dem man die Mama oder die Lehrerin ersetzen soll! Können die Kerls nicht in einem gewissen Alter irgendwie mal fertig sein? Ich ertappe mich sogar bei grauenhaften, bösen Gedanken. Was, wenn Jerry eines Tages an einer schlimmen Erbkrankheit leidet? Da, wo er herkommt, geht das um. Darf man so etwas denken, bevor man sich verliebt? Und er würde mein Leben wieder um einiges verändern. Will ich das? Mein Leben verändert sich ständig, ich will mich doch auch mal ausruhen.
Irgendwas stimmt mit meinem Herzen nicht. Es pumpt so schnell. Die Zeit rast. Ich muss los. Mir Jerry anschauen. Er weiß noch nicht, dass ich komme. Ich darf die Hundekekse nicht vergessen.
Erfahrungen mit Datings habe ich auch. Schließlich habe ich für meinen Roman "Alptraum mit Plüschbär" nicht nur theoretisch recherchiert, was einer Frau da alles passieren kann, sondern sogar verdeckt ermittelt. Und mir danach geschworen, diesen Weg nie nie nie selbst einzuschlagen, sollte es mal nötig werden.
Aber auch toughe Typen vergessen leider manchmal ihre guten Vorsätze. Da sehe ich also nachher zum ersten Mal im Leben Jerry und habe all diese bekloppten Gefühle, die frau nicht haben sollte, wenn sie wenigstens den letzten Rest Verstand bewahren will. Nicht nur, dass ich fast zwei Stunden zu dem Kerl fahre ... um dann vielleicht innerhalb von drei Minuten festzustellen, dass wir uns nicht riechen können. Weil sein Haar nach der falschen Fleischbrühe riecht oder sein Atem faulig oder ...
Es muss ja nicht sein. Liebe auf den ersten Blick kann man nicht herbei"daten". Die Magie von Zweisamkeit muss langsam entstehen. Ich bin drauf und dran, den Termin abzusagen. Mein Herz spielt verrückt. Ich fühle mich schlecht. Eigentlich bin ich noch viel zu erkältet, um in dieses Wetter ... aber ich habe gestern vollgetankt. Ich warte seit Tagen mit echtem Fieber und welchem im Kopf. Jetzt absagen wäre "untough". Jetzt erst recht!
Bin ich total durchgedreht? Ausgerechnet jetzt? Nichts in meinem Leben ist gerade ideal für eine Beziehung dieser Art. Ich müsste ihn demnächst schon wieder allein lassen, anstatt in kuscheligen Rendezvous zu schwelgen. Meinen Beruf werde ich nicht zurückschrauben, das muss er verstehen. Bin ich bereit, diese Zusatzenergie zu investieren für all die Alltagsdinge, die sich hinter der Liebe einschleichen? Will ich mich so rückhaltslos binden, wie er das offensichtlich sucht?
Jemand hat mich gewarnt. Jerry soll recht ... "unerzogen" sein. Oh nein, nicht schon wieder ein Typ, dem man die Mama oder die Lehrerin ersetzen soll! Können die Kerls nicht in einem gewissen Alter irgendwie mal fertig sein? Ich ertappe mich sogar bei grauenhaften, bösen Gedanken. Was, wenn Jerry eines Tages an einer schlimmen Erbkrankheit leidet? Da, wo er herkommt, geht das um. Darf man so etwas denken, bevor man sich verliebt? Und er würde mein Leben wieder um einiges verändern. Will ich das? Mein Leben verändert sich ständig, ich will mich doch auch mal ausruhen.
Irgendwas stimmt mit meinem Herzen nicht. Es pumpt so schnell. Die Zeit rast. Ich muss los. Mir Jerry anschauen. Er weiß noch nicht, dass ich komme. Ich darf die Hundekekse nicht vergessen.
23. Mai 2013
Alptraum Facebook
Mark langweilt sich. Er braucht mal wieder neue Sandelförmchen. Derzeit sammelt er verstärkt Daten. Fragt einen nach Telefonnummern, weil's angeblich sicherer macht; will wissen, ob man nicht doch endlich mit der verdammt miesen Schule im Problemviertel rausrücken will oder den einen Arbeitgeber preisgibt, der so karriereschädlich war.
Lieber Mark, jetzt gibst du mir bitte erst mal deine Telefonnummer! Dann könnte ich dich nämlich jedes Mal anrufen, wenn du wieder so einen Mist verzapfst:
Ich weiß nicht, was dir die Menschen in Norderstedt getan haben. Das ist nicht fair.
Und wenn jetzt schon Bücher einen Wohnort brauchen, dann warte ich nur noch, bis du den Plüschbär nach seiner Handynummer fragst. Spar dir die Mühe, der ist nicht mehr zu haben ... aber wenn du das Buch kaufst, dann verrate ich dir auch, ob es in Norderstedt spielt.
Lieber Mark, jetzt gibst du mir bitte erst mal deine Telefonnummer! Dann könnte ich dich nämlich jedes Mal anrufen, wenn du wieder so einen Mist verzapfst:
Ich weiß nicht, was dir die Menschen in Norderstedt getan haben. Das ist nicht fair.
Und wenn jetzt schon Bücher einen Wohnort brauchen, dann warte ich nur noch, bis du den Plüschbär nach seiner Handynummer fragst. Spar dir die Mühe, der ist nicht mehr zu haben ... aber wenn du das Buch kaufst, dann verrate ich dir auch, ob es in Norderstedt spielt.
21. Mai 2013
Dumm gelaufen ...
Manchmal fallen einem beim Aufräumen längst verdrängte Dinge entgegen. Manchmal rächen sich diese Dinge über Jahre hinweg an denen, die sie heimlich verschwinden ließen. Dies hier ist mein erster "veröffentlichter" Text, eine Hausaufgabe im Literaturkurs - wir sollten ein freies Gedicht zu einem Gemälde schreiben. Ich war damals süße 17 und starb fast mit hochrotem Streichholzkopf, weil ich das Ding vor der ganzen Klasse vortragen musste. Die Lehrerin sammelte die Blätter dann zum Benoten ein. Und weil mir der Vortrag so ultrapeinlich gewesen war, habe ich nicht bemerkt, dass nur die anderen ihre Gedichte zurückbekamen.
Schlimm war dann eigentlich die Tatsache, wo ich das Manuskript sehr zufällig wiederfand - bei der Haushaltsauflösung meiner verstorbenen Eltern. Die Lehrerin hatte das Gedicht über lange Jahre behalten und erst in ihrer Rentenzeit meinen Eltern gegeben. Ich war ja längst von zuhause weg und Buchautorin geworden. Zu jener Zeit fand ich es überaus schade, dass einige meiner frühen Texte verloren schienen. Meine Eltern hatten dafür eine Art Giftfach angelegt! Völlig hinter alten Prospekten versteckt, Fundstücke einer Jugend, die nicht ordentlich oder brav waren. Meine Lehrerin hatte gesagt, ich solle unbedingt weiterschreiben. Das tat ich mehr oder weniger heimlich.
Aber dieses Manuskript, das ich so sehr vermisste, weil ich aus meinen Anfängen lernen wollte, landete im Giftschrank. Alles haben sie versucht, damit ich um Himmels Willen nie Künstlerin werden würde. Brotlos! Unehrenhaft! Hippiemäßig! Nur schwarze Schafe machen Kunst. So wie der Opa, von dem man nie erzählen wollte, dass er eine Weile seine Familie mit genialen Gemäldekopien alter Meister über Wasser gehalten hatte. Dann war da dieses ausgeflippte Paar, das neben dem Künstlergetue - echte Arbeit ist das ja nicht - auch noch fleißig hochstapelte, als Baron und Baronin nach 1945 mit den Russen Schwarzhandel betrieb ... und ebenfalls die Familie ernährte. Werde bloß nicht wie die! Suche dir einen anständigen Job!
Der allerschlimmste in der familiären Schreckensreihe war Vorfahr N. N. aus dem 19. Jahrhundert. Den malte man mir schon in der Kindheit als Monster und Antischablone an die Wand. Eigentlich wollte seinen Namen ja keiner mehr laut aussprechen. Aber wenn es dazu diente, ein Kind auf den rechten Bürgersweg zu bringen, nahm man auch dieses Opfer auf sich. Vielleicht war der Mann ja auch gar nicht so richtig verwandt, er war ausgewandert und schrieb sich seither etwas anders. Sicher nur ein Versehen im Stammbaum. Nichtsdestotrotz ein hervorragendes Beispiel, um jeden Wunsch nach Kunst zu töten. Kind, bedenke, dieser Mann wurde in so vielen Zeitungen angegriffen und beschimpft! Willst du dir so etwas antun? So viele wichtige Leute haben sich über ihn aufgeregt: Bürgermeister, Ärzte, Apotheker, Pastoren. Du könntest mit deinen Fähigkeiten eigentlich Ärztin werden, meinst du nicht? Dann kannst du dich immer noch zur Bürgermeisterin wählen lassen.
N. N. war ein rotes Tuch und natürlich war ich mir Ende der 1960er sicher: Er musste ein Hippie gewesen sein. Hippies waren auch so ein rotes Tuch. Und dann hat sich dieser missratene Sohn auch noch mit einem ganz berühmten Musiker angelegt. Vor einigen Jahren habe ich sein berühmtes Buch unter den Gratisklassikern entdeckt und heruntergeladen. Und einfach immer nur schmunzeln müssen. Ich selbst hatte nach einem Umweg an der Universität ausgerechnet seinen Beruf ergriffen. Und wir beide liebten den gleichen Musiker. Dass N. N. dem mal sehr geholfen hat, machte mich stolz und ich liebte N. N. dafür.. Als ich ihn auf einem historischen Filmschnipsel zufällig entdeckte, bin ich fast ausgerastet vor Erschauern. Was wäre passiert, wenn man mich nicht derart vor ihm gewarnt hätte? Wenn der Vorfahr ein Vorbild hätte sein dürfen?
Egal, was sie sich abgerackert haben, um aus mir jemanden mit einem "anständigen" und einträglichen Beruf zu machen ... so etwas schlägt immer irgendwann zurück. Jetzt, wo ich ganz offiziell zu den schwarzen Schafen der Familie gehöre, habe ich das Buch von N. N. auf dem Reader. Ich besitze für Recherchen das "Handbuch für Kunstfälscher", weil eine Romanprotagonistin einmal eine werden sollte. Wie die falschen Barone umgebe ich mich mit Russen. Und das Manuskript aus dem Giftschrank ist auch wieder da. So gesehen, könnte das Gedicht auch einen anderen Titel tragen: "Trotzdem".
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Schreibversuche mit süßen 17. Der Drang zum Signieren schon vorhanden. |
Schlimm war dann eigentlich die Tatsache, wo ich das Manuskript sehr zufällig wiederfand - bei der Haushaltsauflösung meiner verstorbenen Eltern. Die Lehrerin hatte das Gedicht über lange Jahre behalten und erst in ihrer Rentenzeit meinen Eltern gegeben. Ich war ja längst von zuhause weg und Buchautorin geworden. Zu jener Zeit fand ich es überaus schade, dass einige meiner frühen Texte verloren schienen. Meine Eltern hatten dafür eine Art Giftfach angelegt! Völlig hinter alten Prospekten versteckt, Fundstücke einer Jugend, die nicht ordentlich oder brav waren. Meine Lehrerin hatte gesagt, ich solle unbedingt weiterschreiben. Das tat ich mehr oder weniger heimlich.
Aber dieses Manuskript, das ich so sehr vermisste, weil ich aus meinen Anfängen lernen wollte, landete im Giftschrank. Alles haben sie versucht, damit ich um Himmels Willen nie Künstlerin werden würde. Brotlos! Unehrenhaft! Hippiemäßig! Nur schwarze Schafe machen Kunst. So wie der Opa, von dem man nie erzählen wollte, dass er eine Weile seine Familie mit genialen Gemäldekopien alter Meister über Wasser gehalten hatte. Dann war da dieses ausgeflippte Paar, das neben dem Künstlergetue - echte Arbeit ist das ja nicht - auch noch fleißig hochstapelte, als Baron und Baronin nach 1945 mit den Russen Schwarzhandel betrieb ... und ebenfalls die Familie ernährte. Werde bloß nicht wie die! Suche dir einen anständigen Job!
Der allerschlimmste in der familiären Schreckensreihe war Vorfahr N. N. aus dem 19. Jahrhundert. Den malte man mir schon in der Kindheit als Monster und Antischablone an die Wand. Eigentlich wollte seinen Namen ja keiner mehr laut aussprechen. Aber wenn es dazu diente, ein Kind auf den rechten Bürgersweg zu bringen, nahm man auch dieses Opfer auf sich. Vielleicht war der Mann ja auch gar nicht so richtig verwandt, er war ausgewandert und schrieb sich seither etwas anders. Sicher nur ein Versehen im Stammbaum. Nichtsdestotrotz ein hervorragendes Beispiel, um jeden Wunsch nach Kunst zu töten. Kind, bedenke, dieser Mann wurde in so vielen Zeitungen angegriffen und beschimpft! Willst du dir so etwas antun? So viele wichtige Leute haben sich über ihn aufgeregt: Bürgermeister, Ärzte, Apotheker, Pastoren. Du könntest mit deinen Fähigkeiten eigentlich Ärztin werden, meinst du nicht? Dann kannst du dich immer noch zur Bürgermeisterin wählen lassen.
N. N. war ein rotes Tuch und natürlich war ich mir Ende der 1960er sicher: Er musste ein Hippie gewesen sein. Hippies waren auch so ein rotes Tuch. Und dann hat sich dieser missratene Sohn auch noch mit einem ganz berühmten Musiker angelegt. Vor einigen Jahren habe ich sein berühmtes Buch unter den Gratisklassikern entdeckt und heruntergeladen. Und einfach immer nur schmunzeln müssen. Ich selbst hatte nach einem Umweg an der Universität ausgerechnet seinen Beruf ergriffen. Und wir beide liebten den gleichen Musiker. Dass N. N. dem mal sehr geholfen hat, machte mich stolz und ich liebte N. N. dafür.. Als ich ihn auf einem historischen Filmschnipsel zufällig entdeckte, bin ich fast ausgerastet vor Erschauern. Was wäre passiert, wenn man mich nicht derart vor ihm gewarnt hätte? Wenn der Vorfahr ein Vorbild hätte sein dürfen?
Egal, was sie sich abgerackert haben, um aus mir jemanden mit einem "anständigen" und einträglichen Beruf zu machen ... so etwas schlägt immer irgendwann zurück. Jetzt, wo ich ganz offiziell zu den schwarzen Schafen der Familie gehöre, habe ich das Buch von N. N. auf dem Reader. Ich besitze für Recherchen das "Handbuch für Kunstfälscher", weil eine Romanprotagonistin einmal eine werden sollte. Wie die falschen Barone umgebe ich mich mit Russen. Und das Manuskript aus dem Giftschrank ist auch wieder da. So gesehen, könnte das Gedicht auch einen anderen Titel tragen: "Trotzdem".
15. Mai 2013
Gnadenlos verwurstet
Es ist frech und erstaunlich, woher sich ein Autorengehirn Inspirationen besorgt. Ich verstehe jetzt erst die Drohung, die einmal eine Kollegin gegenüber jemandem austieß, der ihr übel wollte: "Pass auf, sonst landest du als Mordopfer in meinem nächsten Krimi!" Seither schreibe ich in Gedanken ständig die besten Thriller und Dorfdoofgeschichten, auch wenn ich sie nie zu Papier bringe. Aber es hat durchaus etwas Befreiendes, wenn man den Laberheini beim Bäcker fiktiv im Kopf bei Max und Moritz in einen gewissen Getreidesack stecken kann. Die arrogante Angeberin beim Schuhkauf landet als böse Schwiegermutter im Chicklit, der Dorfvoyeur versinkt in einem Thriller eines Tages beim Gucken im Moor - und der Typ, der einem mit Affenzahn die Vorfahrt nimmt, klebt in einem Arztroman an einem Betonpfeiler, wird dreimal wiederbelebt und verröchelt genau in dem Moment, in dem ein Pinscher ans Rad seines völlig zerstörten BMW pinkelt. Das hält die Fantasie fit und das Gehirn frisch, erspart unnötiges Workout in der Muckibude oder Omm-Singen.
Zum Glück hat Google noch keine Brille entwickelt, mit der man in die Gehirne scheinbar passiver und völlig entspannter Autorinnen schauen kann. Unsere Macht ist unbegrenzt. Wenn es sein muss, schicken wir den Lehrer unserer Kinder auf einen fernen Planeten voller Wuselwürmer und überalterter Gorgonzolas auf drei Beinen. Lichtschwerter brauchen wir nicht. Wir schlagen mit versteinerten Brezeln zu, killen mit sprechenden Marshmallows, die sich im Hals aufblasen, und radieren auch schon mal Figuren einfach vom Papier.
Heute ist es wieder passiert. Ich schreibe an meinem Roman. Die Passage, die vor dem Ersten Weltkrieg spielen soll, flutschte nur so, aber sie wirkte leblos und künstlich. Also braute ich mir erst einmal einen Café au lait, der damals Trendgetränk war, und versumpfte in der Kaffeepause bei Facebook. Am Cafétisch im Roman saßen derweil zwei aufgedonnerte Frauen, meine zweite Hauptfigur, ein stinkender, ärmlicher und schweigender Typ und drei sichtlich angeheiterte Mannsbilder. Einer davon klein, mit komischer Frisur und spanischem Akzent. Einer mit etwas krausem Haar fasste die Zigarettenspitze mit abgespreiztem kleinen Finger. Aber da fehlte der Pepp für eine Eröffnungsszene. Meine Gemma - so heißt die Dame, die wie aus einem Dusel erwacht - schrie geradezu nach einem Streit, einer Auseinandersetzung, die ihr an die eigene Substanz gehen würde. Weil sie nämlich gar nicht weiß, ob sie zu der Gesellschaft in diesem Pariser Café gehört.
Facebook lässt einen nie im Stich. Mit einem Klick stieß ich in einer Gruppe auf Menschen, die ich bisher für recht kultiviert hielt, wie sie über Angehörige einer Nation herzogen, bis mir fast körperlich schlecht wurde. Da wurden die Vorurteile und Klischees nur so hingeklatscht. Im ersten Moment bin ich immer verblüfft, wie man sich freiwillig unter Klarnamen so eindeutig outen kann. Im zweiten Moment bin ich einfach nur entsetzt. Ich gab dann meinen Grenzgängersenf dazu, möglichst ruhig und besonnen. Aber das hat mich überanstrengt. Sehr überanstrengt und an den Romantext getrieben.
Da hatte ich meine Steilvorlage! Ob die Neugier und das Interesse an Gemma echt waren? Oder waren die anwesenden Einheimischen nur darauf aus, die Fremde herauszufordern, bis sie sich eine Blöße gab, bis einer draufhauen konnte? Der stille Typ im schäbigen Anzug, der mit dem üblen Geruch, bekam alles ab. Alle Häme, die eine vermeintlich kosmopolitische Gesellschaft über einem ausschütten konnte, der sich äußerlich wie im Benehmen nicht anpassen wollte. Verdammter Emigrant und Farbenkleckser, schnorrte seinen Café au lait und was hatte er sonst zu bieten? Sprach noch nicht mal richtig Französisch, dieser Russe, der! Aber Chaim Soutine bleibt ruhig und trinkt nur.
Nicht, dass jetzt diese eine Szene alle späteren Überarbeitungsvorgänge überleben wird. Vielleicht wird sie sogar in einem anderen Jahr mit anderen Menschen am Tisch spielen. Vielleicht wird alles ganz anders anfangen. Nur passt auf, wenn ihr Autoren auf die Palme bringt. Die klauen sich gnadenlos ihre Szenen im Leben zusammen. Beim Bäcker, im Restaurant, auf der Straße, bei Facebook ...
Zum Glück hat Google noch keine Brille entwickelt, mit der man in die Gehirne scheinbar passiver und völlig entspannter Autorinnen schauen kann. Unsere Macht ist unbegrenzt. Wenn es sein muss, schicken wir den Lehrer unserer Kinder auf einen fernen Planeten voller Wuselwürmer und überalterter Gorgonzolas auf drei Beinen. Lichtschwerter brauchen wir nicht. Wir schlagen mit versteinerten Brezeln zu, killen mit sprechenden Marshmallows, die sich im Hals aufblasen, und radieren auch schon mal Figuren einfach vom Papier.
Heute ist es wieder passiert. Ich schreibe an meinem Roman. Die Passage, die vor dem Ersten Weltkrieg spielen soll, flutschte nur so, aber sie wirkte leblos und künstlich. Also braute ich mir erst einmal einen Café au lait, der damals Trendgetränk war, und versumpfte in der Kaffeepause bei Facebook. Am Cafétisch im Roman saßen derweil zwei aufgedonnerte Frauen, meine zweite Hauptfigur, ein stinkender, ärmlicher und schweigender Typ und drei sichtlich angeheiterte Mannsbilder. Einer davon klein, mit komischer Frisur und spanischem Akzent. Einer mit etwas krausem Haar fasste die Zigarettenspitze mit abgespreiztem kleinen Finger. Aber da fehlte der Pepp für eine Eröffnungsszene. Meine Gemma - so heißt die Dame, die wie aus einem Dusel erwacht - schrie geradezu nach einem Streit, einer Auseinandersetzung, die ihr an die eigene Substanz gehen würde. Weil sie nämlich gar nicht weiß, ob sie zu der Gesellschaft in diesem Pariser Café gehört.
Facebook lässt einen nie im Stich. Mit einem Klick stieß ich in einer Gruppe auf Menschen, die ich bisher für recht kultiviert hielt, wie sie über Angehörige einer Nation herzogen, bis mir fast körperlich schlecht wurde. Da wurden die Vorurteile und Klischees nur so hingeklatscht. Im ersten Moment bin ich immer verblüfft, wie man sich freiwillig unter Klarnamen so eindeutig outen kann. Im zweiten Moment bin ich einfach nur entsetzt. Ich gab dann meinen Grenzgängersenf dazu, möglichst ruhig und besonnen. Aber das hat mich überanstrengt. Sehr überanstrengt und an den Romantext getrieben.
Da hatte ich meine Steilvorlage! Ob die Neugier und das Interesse an Gemma echt waren? Oder waren die anwesenden Einheimischen nur darauf aus, die Fremde herauszufordern, bis sie sich eine Blöße gab, bis einer draufhauen konnte? Der stille Typ im schäbigen Anzug, der mit dem üblen Geruch, bekam alles ab. Alle Häme, die eine vermeintlich kosmopolitische Gesellschaft über einem ausschütten konnte, der sich äußerlich wie im Benehmen nicht anpassen wollte. Verdammter Emigrant und Farbenkleckser, schnorrte seinen Café au lait und was hatte er sonst zu bieten? Sprach noch nicht mal richtig Französisch, dieser Russe, der! Aber Chaim Soutine bleibt ruhig und trinkt nur.
Nicht, dass jetzt diese eine Szene alle späteren Überarbeitungsvorgänge überleben wird. Vielleicht wird sie sogar in einem anderen Jahr mit anderen Menschen am Tisch spielen. Vielleicht wird alles ganz anders anfangen. Nur passt auf, wenn ihr Autoren auf die Palme bringt. Die klauen sich gnadenlos ihre Szenen im Leben zusammen. Beim Bäcker, im Restaurant, auf der Straße, bei Facebook ...
3. Mai 2013
Wenn E-Texte stinken und spitze Metallröhren schleudern
Als Kind hatte ich einen phantastischen Lehrer. Der prüfte regelmäßig altgriechische Vokabeln und ertappte mich dabei, dass mir partout die deutsche Bedeutung nicht einfallen wollte, denn so richtig fleißig hatte ich nicht gepaukt. Ich behauptete, zu wissen, was das Wort bedeute, das auf Seite 32 links oben in der zweiten Kolumne in der dritten Zeile stünde, nämlich genau das, was er uns drei Stunden zuvor in vier Sprachen auf dieses alte Notenpapier geschrieben habe, das so nach Haferflocken rieche, etwa 8 cm vom linken Rand in der neunten Zeile. Er gab mir die volle Punktzahl, weil er meinte, es sei viel komplizierter, sich all das zu merken als eine läppische Vokabel. Dabei habe ich nur ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis ... wenn es um Papier oder andere dreidimensionale Darstellungen geht, also Dinge, die vielleicht zweidimensional dargestellt sind, die ich jedoch in die Hand nehmen kann.
Als sich die ersten E-Reader wirklich etablierten, brandete in der Branche und unter Lesern eine hochemotionale Diskussion auf. Es wurde behauptet, ein E-Book würde ein gedrucktes Buch nie und nimmer verdrängen. Am ehesten wurden für Argumente alte Vertrautheiten bemüht: Dass eine Bibliothek als Raum eine besondere, begehbare Ausstrahlung habe - und dass E-Books das "Haptische" fehle. Inzwischen sind wir zum Glück etwas weiter: Wir haben gelernt, dass beide Medien friedlich miteinander koexistieren können. Nicht nur, weil sie unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen, sondern weil sie auch für unterschiedliche Arten des Lesens ganz eigene Vor- und Nachteile haben. Längst gibt es Autoren, die darüber nachdenken, ob auch das Schreiben für das Medium E-Book ein anderes sein dürfte als das für Print - es ist ja eigentlich dämlich, ein und diesselbe Gewohnheit 1:1 auf einen anderen medialen Träger zu transportieren, ohne dessen Eigenheiten wirklich auszunutzen. Doch trotz aller Offenheit - die Debatte unter Buchmenschen ist nach wie vor emotional geladen.
Nun hat sich auch der Scientific American des Themas angenommen und untersucht wohltuend unaufgeregt, ob sich das Lesen vom Display oder Bildschirm nicht doch vom Lesen von Papier unterscheidet: "The Reading Brain in the Digital Age: The Science of Paper versus Screens." Auch für wissenschaftliche Laien verständlich und sehr spannend geschrieben, etwa, wenn berichtet wird, dass wir Buchstaben zunächst wie dreidimensionale Objekte wahrnehmen und im Gehirn daraus "Landkarten" formen. Zu denen bieten Papierbücher kulturell erlernte zusätzliche Orientierungspunkte: etwa die Gesamtdicke eines Buchs, von außen sichtbare Eselsohren, das Cover. Ist schon einmal jemandem aufgefallen, dass man beim zugeklappten Papierbuch immer Autor und Titel in Erinnerung gebracht bekommt, sich aber beim E-Book manchmal den Namen des gerade gelesenen Autors überhaupt nicht merken kann?
Mir ist bei der Lektüre des Artikels aufgefallen, dass ich als Synästhesistin manchmal anders "ticke" und darum ganz eigene "Erfahrungen" bei den unterschiedlichen Arten des Lesens habe. Beim Schreibprozess arbeite ich absichtlich und sehr stark mit Synästhesie: Erst wenn bestimmte Formen (die nur ich wahrnehme) und zwei- oder dreidimensionale Bilder und deren Töne stimmen, ist mein Text fertig redigiert. Ich kann zwar bis heute kaum eine Kommaregel aufsagen, aber dafür spüre ich falsch gesetzte Kommata als superfeine, spitze Metallröhren, die sich in den Ellbogen bohren: ekelhaft! Und natürlich lernt man oft schon als Kind, kulturell und sozial bedingt, so etwas zu filtern. So mag es zar hip klingen, wenn ich ein Bild von Kandinsky wie eine Symphonie hören kann; aber wenn mich jemand fragt, wie die tolle rote Erdbeere schmeckt, dann muss ich gelernt haben, dass der "süß" oder "sauer" hören will und nicht: "Genauso, wie der soundsovielte Satz in der Symphonie von Gustav Mahler bei einem Sonnenuntergang im Sommer ausieht". Es ist schon vertrackt, wenn man mit Worten beschreiben will, was Bewusstsein mit Wörtern anstellt.
Beim Lesen ist das nämlich bei mir genau umgekehrt. Da entschwinde ich in einem guten Buch in eine andere Welt, aber die entspricht einfach nur meiner Fantasie und dem, was der fremde Autor mir bietet ... und ob er das gut kann. Laufen zwei Personen in einem Buch durch einen blühenden Apfelgarten, geht es mir womöglich wie allen anderen Lesern auch: Ich sehe zwei Leute wie in einem Traum oder einem Film in einem Apfelgarten. Je nach Detailreichtum der Beschreibung sehe ich ein bestimmtes Licht auf den Zweigen und höre die Worte der Figuren. Aber mehr auch nicht. Ich rieche keine Blüten. Ich hör-sehe nicht, was bei echtem Blätterrascheln passiert. Nur die wenigsten Schriftsteller können mich Szenen riechen und schmecken lassen, wie das etwa Patrick Süßkind konnte. Obwohl ich dessen "Parfum" selbst auch nicht roch, sondern eher den Dreck auf den mittelalterlichen Straßen.
Ja, natürlich lege auch ich Landkarten des Gelesenen an, aber das sind bei Papier Landkarten bewusster Kontrolle. Wie bei den Vokabeln einst kann ich mir merken, wer auf welcher Seite stirbt oder rülpst. Und als erfahrene Autorin muss ich nur die Dicke des bereits Gelesenen zwischen zwei Finger nehmen, um sagen zu können, in welchem Akt sich der Plot bewegt und wann spätestens ein "Turning Point" kommen müsste. Es ist eine bewusste Wahrnehmung von außen, die den Apfelgarten als Welt an sich ausschließt.
Ganz genau wie im Artikel beschrieben, verliere ich mit dem E-Book die Navigation dieser "äußeren" Lesewelt. Das hat Nachteile: Etwa den, dass mir mit dem Reader ständig der Titel des "aufgeklappten" Buchs entfällt. Ich lese gerade dieses Buch von diesem berühmten Amerikaner, der irgendwie wie ein Tier klingt und unwahrscheinlich viele Seiten über diesen Jungen geschrieben hat. Und der Vater säuft ständig und macht was mit Engeln. (Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel)
Dafür passiert mir aber etwas anderes. Etwas, das ich schon seit Computerzeiten beim Surfen erlebe: Ich nehme virtuelle Dokumente aller Art als Räume wahr. Es ist am ehesten vergleichbar mit einem Computerspiel. Wenn ich etwa bei einer Fachrecherche zig Tabs im Browser geöffnet habe, auf denen ich kreuz und quer durch unterschiedliche Websites und Archive gesurft bin, so weiß ich, schneller als die Browser-History mir erklären kann, dass ich in die New York Library nur komme, wenn ich auf dem Paris-Tab über die quietschorangefarbene Privatwebsite rückwärts durch den schrägen Link hinter den Bildern dreimal nach rechts abbiege. Oder so ähnlich ... Die virtuellen Leseräume absorbieren mich. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie viele Seiten ich schon von Thomas Wolfe gelesen habe, aber ich weiß, wie viele Schritte der Junge von seinem Zuhause zur Werkstatt seines Vaters geht, wo die Berge liegen und wie ich einen Bogen um seine Kumpels hinter einem der Gartenzäune machen könnte. Ich kann jede Episode des Romans quasi im Kopf anklicken und bin sofort in dieser "virtuellen" Welt, ohne ein Gefühl für Seiten oder Kapitel zu haben.
Mir fehlt in der Tat jene Kontrollinstanz der dreidimensionalen Wahrnehmung von Papier: Ich stürze direkt in die Geschichte! Irgendwann habe ich mich einmal mit dem Reader in der Hand gefragt: Was riecht denn plötzlich so streng im Zimmer? Pfui Teufel! Da war weder der Geruch von Leim noch von Papier, der mich ablenken konnte. Es stank einfach nur jämmerlich. Und ich brauchte wirklich eine Schrecksekunde, bis ich merkte, dass ich jenen sturzbesoffenen und ungewaschenen Vater im Roman roch - und zwar so lange, bis ihn der Autor endlich gnädig von der Bühne nahm. Der Apfelgarten, der beim Papierbuch reiner Film bleibt ... vom E-Reader gelesen ist er Teil eines riesigen Computerspiels mit unterschiedlichen Räumen einer Geschichte - und er duftet! Endlich nicht mehr abgelenkt von papiereigener Haptik und Sinneswirkung, spielen meine Sinne mit den Inhalten selbst. Und verlieren die Orientierung jener Welt, die das hergestellte "Objekt" betrifft. Aber ist das immer so schlimm?
Tatsächlich bemerke ich nach längerer Eingewöhnung mit dem Reader, dass ich mich unterschiedlich beim Lesen verhalte. Wie in den Anfangszeiten des Internet lese ich auch wissenschaftliche und Fachtexte "virtuell", vor allem zum schnellen Durchsurfen. Was ich dann aber wirklich brauche, womit ich nachher arbeite - ja, ich drucke es aus. Denn dann muss ich frei mit dem Bleistift Notizen machen können, im Text herumfuhrwerken ... und ein eigenes System von Eselsohren anwenden dürfen. Räumt niemand meinen Stapel Papiere auf, weiß ich mit einem einzigen Handgriff, wo ein gesuchter Artikel liegt - auf meinem Computer muss ich selbst vertraute Dateien oft suchen. Aber da ist der große Unterschied zwischen Computer und E-Ink, denn letzteres ist eben kein "Screen": Es ist stressfrei, absolut augenfreundlich, viel augenfreundlicher als so manche gedruckte Typografie. Ich lese noch schneller, noch mehr, ohne irgend ein Übersättigungsgefühl. Auf die Art kann man Bücher "fressen".
Zum Lesen auf E-Ink kommt eine zweite Hirntätigkeit hinzu: das Lernen. Seit dieses Lesen mit integriertem Wörterbuch möglich ist, wage ich mich auch an schwierigere Texte in anderen Sprachen und vergrößere meinen Wortschatz mit jedem Buch. Ich stelle fest, dass ich solche Bücher gleichzeitig auf zwei Ebenen wahrnehme: Da ist die ganz normale Ebene der Geschichte ... und da ist eine mehr oder weniger bewusste Ebene von Sprachwahrnehmung, wo ich mich an einem Klang erfreue, mich in einer unbekannten Redewendung geradezu wälzen möchte, fasziniert bin von verwandten Worten. Es ist eine Ebene, wie sie beim Lesen literarischer Bücher ebenfalls vorkommt: Dieses Schwelgen in Sprache neben der Verzauberung durch den Inhalt.
Aufgrund des "easy reading" und des Computerspieleffekts lese ich auf dem Reader zwar auch alles, aber am liebsten Romane der Sorte "Bettlektüre". Ich bin in der Geschichte drin wie ein Avatar und erlebe sie mit allen Sinnen. Inzwischen verschiebt sich bei mir etwas im Papierbereich. Ich akzeptiere nicht mehr jedes schlechte oder unpassend als Objekt gestaltetes Buch. Ein uralter Band von Virginia Woolf vom Flohmarkt vermittelt mir, dass hier etwas "richtig" riecht und klingt. Aber eben habe ich ein Taschenbuch aus einem literarischen Verlag aufgeklappt, die Klebung brach mit dem falschen Ton, der Buchrücken "roch" billig, die Haptik war die eines billigen Print-on-Demand-Objekts. Bei diesem Buch bekam ich Gänsehaut! Ich werde sensibel für falsche Gerüche, unpassende Haptik. Ich erinnere mich an den grandios "leckeren" Duft eines bestimmten streichelmatten Covers und eines Buchs aus dem Tiefdruck. Und dann kaufe ich gierig ein E-Book, weil ich den Geruch des Billigleims eines Taschenbuchs nicht ertrage oder die Lacke auf einem Fotoband, den man in China produzieren ließ.
Ich bin natürlich beruflich verbogen. Laien riechen so etwas nicht und Leute, die in Druckereien arbeiten, riechen noch unendlich viel mehr als ich. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen: Unterschiedliche Medien haben eine unterschiedliche Wirkung. Warum also soll nicht das Hirn auch völlig anders mit dem einen oder dem anderen umgehen?
Warum ich das alles erzähle? Ganz bestimmt nicht, um mich als Zootierchen mit drolligen Angewohnheiten auszustellen. Aber ich mache mir schon mein Leben lang Gedanken, wie man Sinneseindrücke so schildern kann, dass auch ein Außenstehender ungefähr nachvollziehen kann, was er selbst vielleicht in seiner Welt nie erlebt. Dahinter steckt die ganze Magie des Schreibens: Ich muss eine mir völlig fremde und unsichtbare Person in Nullkommanichts verführen und dann völlig verzaubern mit einer Geschichte (durchaus auch im Sachtext). Das gelingt mir erst dann wirklich, wenn diese Person vergisst, ob sie Papier oder Plastik in der Hand hat, ob ein Leim stinkt oder schon wieder Helvetica gedruckt wurde.
Warum ich mich mit diesem Thema beschäftige, hat schriftstellerische Gründe: Wie könnte schriftliches Erzählen außerhalb des Papiers aussehen? Jonathan Safran Foer hat sich mit seinem Buch "Extrem laut und unglaublich nah" das Medium Papierbuch damals fast gesprengt ... weil er darin versuchte, das Unsagbare zu sagen. Wie hätte er diese Geschichte erzählt, wenn damals schon andere Medienformen des "Buchs" etabliert gewesen wären? Ich experimentiere gerade mit einer Verbindung von Fotos und Roman und einem Vexierspiel zwischen reiner Fiktion, fotografierter Lüge und Realitäten. Absolut faszinierend, aber ist das noch eine Geschichte für Papier? Was würde die Papierversion in den Lesern auslösen, was ein E-Book?
Vorankündigung:
Mein Essay über die Zukunft des Buchs erscheint in der Mai-Ausgabe der Universitas zum Schwerpunkt "Litera-Tour".
Als sich die ersten E-Reader wirklich etablierten, brandete in der Branche und unter Lesern eine hochemotionale Diskussion auf. Es wurde behauptet, ein E-Book würde ein gedrucktes Buch nie und nimmer verdrängen. Am ehesten wurden für Argumente alte Vertrautheiten bemüht: Dass eine Bibliothek als Raum eine besondere, begehbare Ausstrahlung habe - und dass E-Books das "Haptische" fehle. Inzwischen sind wir zum Glück etwas weiter: Wir haben gelernt, dass beide Medien friedlich miteinander koexistieren können. Nicht nur, weil sie unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen, sondern weil sie auch für unterschiedliche Arten des Lesens ganz eigene Vor- und Nachteile haben. Längst gibt es Autoren, die darüber nachdenken, ob auch das Schreiben für das Medium E-Book ein anderes sein dürfte als das für Print - es ist ja eigentlich dämlich, ein und diesselbe Gewohnheit 1:1 auf einen anderen medialen Träger zu transportieren, ohne dessen Eigenheiten wirklich auszunutzen. Doch trotz aller Offenheit - die Debatte unter Buchmenschen ist nach wie vor emotional geladen.
Nun hat sich auch der Scientific American des Themas angenommen und untersucht wohltuend unaufgeregt, ob sich das Lesen vom Display oder Bildschirm nicht doch vom Lesen von Papier unterscheidet: "The Reading Brain in the Digital Age: The Science of Paper versus Screens." Auch für wissenschaftliche Laien verständlich und sehr spannend geschrieben, etwa, wenn berichtet wird, dass wir Buchstaben zunächst wie dreidimensionale Objekte wahrnehmen und im Gehirn daraus "Landkarten" formen. Zu denen bieten Papierbücher kulturell erlernte zusätzliche Orientierungspunkte: etwa die Gesamtdicke eines Buchs, von außen sichtbare Eselsohren, das Cover. Ist schon einmal jemandem aufgefallen, dass man beim zugeklappten Papierbuch immer Autor und Titel in Erinnerung gebracht bekommt, sich aber beim E-Book manchmal den Namen des gerade gelesenen Autors überhaupt nicht merken kann?
Mir ist bei der Lektüre des Artikels aufgefallen, dass ich als Synästhesistin manchmal anders "ticke" und darum ganz eigene "Erfahrungen" bei den unterschiedlichen Arten des Lesens habe. Beim Schreibprozess arbeite ich absichtlich und sehr stark mit Synästhesie: Erst wenn bestimmte Formen (die nur ich wahrnehme) und zwei- oder dreidimensionale Bilder und deren Töne stimmen, ist mein Text fertig redigiert. Ich kann zwar bis heute kaum eine Kommaregel aufsagen, aber dafür spüre ich falsch gesetzte Kommata als superfeine, spitze Metallröhren, die sich in den Ellbogen bohren: ekelhaft! Und natürlich lernt man oft schon als Kind, kulturell und sozial bedingt, so etwas zu filtern. So mag es zar hip klingen, wenn ich ein Bild von Kandinsky wie eine Symphonie hören kann; aber wenn mich jemand fragt, wie die tolle rote Erdbeere schmeckt, dann muss ich gelernt haben, dass der "süß" oder "sauer" hören will und nicht: "Genauso, wie der soundsovielte Satz in der Symphonie von Gustav Mahler bei einem Sonnenuntergang im Sommer ausieht". Es ist schon vertrackt, wenn man mit Worten beschreiben will, was Bewusstsein mit Wörtern anstellt.
Beim Lesen ist das nämlich bei mir genau umgekehrt. Da entschwinde ich in einem guten Buch in eine andere Welt, aber die entspricht einfach nur meiner Fantasie und dem, was der fremde Autor mir bietet ... und ob er das gut kann. Laufen zwei Personen in einem Buch durch einen blühenden Apfelgarten, geht es mir womöglich wie allen anderen Lesern auch: Ich sehe zwei Leute wie in einem Traum oder einem Film in einem Apfelgarten. Je nach Detailreichtum der Beschreibung sehe ich ein bestimmtes Licht auf den Zweigen und höre die Worte der Figuren. Aber mehr auch nicht. Ich rieche keine Blüten. Ich hör-sehe nicht, was bei echtem Blätterrascheln passiert. Nur die wenigsten Schriftsteller können mich Szenen riechen und schmecken lassen, wie das etwa Patrick Süßkind konnte. Obwohl ich dessen "Parfum" selbst auch nicht roch, sondern eher den Dreck auf den mittelalterlichen Straßen.
Ja, natürlich lege auch ich Landkarten des Gelesenen an, aber das sind bei Papier Landkarten bewusster Kontrolle. Wie bei den Vokabeln einst kann ich mir merken, wer auf welcher Seite stirbt oder rülpst. Und als erfahrene Autorin muss ich nur die Dicke des bereits Gelesenen zwischen zwei Finger nehmen, um sagen zu können, in welchem Akt sich der Plot bewegt und wann spätestens ein "Turning Point" kommen müsste. Es ist eine bewusste Wahrnehmung von außen, die den Apfelgarten als Welt an sich ausschließt.
Ganz genau wie im Artikel beschrieben, verliere ich mit dem E-Book die Navigation dieser "äußeren" Lesewelt. Das hat Nachteile: Etwa den, dass mir mit dem Reader ständig der Titel des "aufgeklappten" Buchs entfällt. Ich lese gerade dieses Buch von diesem berühmten Amerikaner, der irgendwie wie ein Tier klingt und unwahrscheinlich viele Seiten über diesen Jungen geschrieben hat. Und der Vater säuft ständig und macht was mit Engeln. (Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel)
Dafür passiert mir aber etwas anderes. Etwas, das ich schon seit Computerzeiten beim Surfen erlebe: Ich nehme virtuelle Dokumente aller Art als Räume wahr. Es ist am ehesten vergleichbar mit einem Computerspiel. Wenn ich etwa bei einer Fachrecherche zig Tabs im Browser geöffnet habe, auf denen ich kreuz und quer durch unterschiedliche Websites und Archive gesurft bin, so weiß ich, schneller als die Browser-History mir erklären kann, dass ich in die New York Library nur komme, wenn ich auf dem Paris-Tab über die quietschorangefarbene Privatwebsite rückwärts durch den schrägen Link hinter den Bildern dreimal nach rechts abbiege. Oder so ähnlich ... Die virtuellen Leseräume absorbieren mich. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie viele Seiten ich schon von Thomas Wolfe gelesen habe, aber ich weiß, wie viele Schritte der Junge von seinem Zuhause zur Werkstatt seines Vaters geht, wo die Berge liegen und wie ich einen Bogen um seine Kumpels hinter einem der Gartenzäune machen könnte. Ich kann jede Episode des Romans quasi im Kopf anklicken und bin sofort in dieser "virtuellen" Welt, ohne ein Gefühl für Seiten oder Kapitel zu haben.
Mir fehlt in der Tat jene Kontrollinstanz der dreidimensionalen Wahrnehmung von Papier: Ich stürze direkt in die Geschichte! Irgendwann habe ich mich einmal mit dem Reader in der Hand gefragt: Was riecht denn plötzlich so streng im Zimmer? Pfui Teufel! Da war weder der Geruch von Leim noch von Papier, der mich ablenken konnte. Es stank einfach nur jämmerlich. Und ich brauchte wirklich eine Schrecksekunde, bis ich merkte, dass ich jenen sturzbesoffenen und ungewaschenen Vater im Roman roch - und zwar so lange, bis ihn der Autor endlich gnädig von der Bühne nahm. Der Apfelgarten, der beim Papierbuch reiner Film bleibt ... vom E-Reader gelesen ist er Teil eines riesigen Computerspiels mit unterschiedlichen Räumen einer Geschichte - und er duftet! Endlich nicht mehr abgelenkt von papiereigener Haptik und Sinneswirkung, spielen meine Sinne mit den Inhalten selbst. Und verlieren die Orientierung jener Welt, die das hergestellte "Objekt" betrifft. Aber ist das immer so schlimm?
Tatsächlich bemerke ich nach längerer Eingewöhnung mit dem Reader, dass ich mich unterschiedlich beim Lesen verhalte. Wie in den Anfangszeiten des Internet lese ich auch wissenschaftliche und Fachtexte "virtuell", vor allem zum schnellen Durchsurfen. Was ich dann aber wirklich brauche, womit ich nachher arbeite - ja, ich drucke es aus. Denn dann muss ich frei mit dem Bleistift Notizen machen können, im Text herumfuhrwerken ... und ein eigenes System von Eselsohren anwenden dürfen. Räumt niemand meinen Stapel Papiere auf, weiß ich mit einem einzigen Handgriff, wo ein gesuchter Artikel liegt - auf meinem Computer muss ich selbst vertraute Dateien oft suchen. Aber da ist der große Unterschied zwischen Computer und E-Ink, denn letzteres ist eben kein "Screen": Es ist stressfrei, absolut augenfreundlich, viel augenfreundlicher als so manche gedruckte Typografie. Ich lese noch schneller, noch mehr, ohne irgend ein Übersättigungsgefühl. Auf die Art kann man Bücher "fressen".
Zum Lesen auf E-Ink kommt eine zweite Hirntätigkeit hinzu: das Lernen. Seit dieses Lesen mit integriertem Wörterbuch möglich ist, wage ich mich auch an schwierigere Texte in anderen Sprachen und vergrößere meinen Wortschatz mit jedem Buch. Ich stelle fest, dass ich solche Bücher gleichzeitig auf zwei Ebenen wahrnehme: Da ist die ganz normale Ebene der Geschichte ... und da ist eine mehr oder weniger bewusste Ebene von Sprachwahrnehmung, wo ich mich an einem Klang erfreue, mich in einer unbekannten Redewendung geradezu wälzen möchte, fasziniert bin von verwandten Worten. Es ist eine Ebene, wie sie beim Lesen literarischer Bücher ebenfalls vorkommt: Dieses Schwelgen in Sprache neben der Verzauberung durch den Inhalt.
Aufgrund des "easy reading" und des Computerspieleffekts lese ich auf dem Reader zwar auch alles, aber am liebsten Romane der Sorte "Bettlektüre". Ich bin in der Geschichte drin wie ein Avatar und erlebe sie mit allen Sinnen. Inzwischen verschiebt sich bei mir etwas im Papierbereich. Ich akzeptiere nicht mehr jedes schlechte oder unpassend als Objekt gestaltetes Buch. Ein uralter Band von Virginia Woolf vom Flohmarkt vermittelt mir, dass hier etwas "richtig" riecht und klingt. Aber eben habe ich ein Taschenbuch aus einem literarischen Verlag aufgeklappt, die Klebung brach mit dem falschen Ton, der Buchrücken "roch" billig, die Haptik war die eines billigen Print-on-Demand-Objekts. Bei diesem Buch bekam ich Gänsehaut! Ich werde sensibel für falsche Gerüche, unpassende Haptik. Ich erinnere mich an den grandios "leckeren" Duft eines bestimmten streichelmatten Covers und eines Buchs aus dem Tiefdruck. Und dann kaufe ich gierig ein E-Book, weil ich den Geruch des Billigleims eines Taschenbuchs nicht ertrage oder die Lacke auf einem Fotoband, den man in China produzieren ließ.
Ich bin natürlich beruflich verbogen. Laien riechen so etwas nicht und Leute, die in Druckereien arbeiten, riechen noch unendlich viel mehr als ich. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen: Unterschiedliche Medien haben eine unterschiedliche Wirkung. Warum also soll nicht das Hirn auch völlig anders mit dem einen oder dem anderen umgehen?
Warum ich das alles erzähle? Ganz bestimmt nicht, um mich als Zootierchen mit drolligen Angewohnheiten auszustellen. Aber ich mache mir schon mein Leben lang Gedanken, wie man Sinneseindrücke so schildern kann, dass auch ein Außenstehender ungefähr nachvollziehen kann, was er selbst vielleicht in seiner Welt nie erlebt. Dahinter steckt die ganze Magie des Schreibens: Ich muss eine mir völlig fremde und unsichtbare Person in Nullkommanichts verführen und dann völlig verzaubern mit einer Geschichte (durchaus auch im Sachtext). Das gelingt mir erst dann wirklich, wenn diese Person vergisst, ob sie Papier oder Plastik in der Hand hat, ob ein Leim stinkt oder schon wieder Helvetica gedruckt wurde.
Warum ich mich mit diesem Thema beschäftige, hat schriftstellerische Gründe: Wie könnte schriftliches Erzählen außerhalb des Papiers aussehen? Jonathan Safran Foer hat sich mit seinem Buch "Extrem laut und unglaublich nah" das Medium Papierbuch damals fast gesprengt ... weil er darin versuchte, das Unsagbare zu sagen. Wie hätte er diese Geschichte erzählt, wenn damals schon andere Medienformen des "Buchs" etabliert gewesen wären? Ich experimentiere gerade mit einer Verbindung von Fotos und Roman und einem Vexierspiel zwischen reiner Fiktion, fotografierter Lüge und Realitäten. Absolut faszinierend, aber ist das noch eine Geschichte für Papier? Was würde die Papierversion in den Lesern auslösen, was ein E-Book?
Vorankündigung:
Mein Essay über die Zukunft des Buchs erscheint in der Mai-Ausgabe der Universitas zum Schwerpunkt "Litera-Tour".