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31. März 2011

Aufbau kündigt

Vorhin vermeldete Buchmarkt eine üble Nachricht: Aufbau hat offensichtlich der gesamten Belegschaft von Eichborn gekündigt.

Buchmarkt nimmt seine Meldung heute teilweise wieder zurück (hoffentlich kein Aprilscherz) und kündigt demnächst direkte Informationen durch Aufbau an - wen die Sache interessiert, der sollte sie also "live" beim Buchmarkt verfolgen.


Update:
Die offizielle Verlautbarung des Verlags (35 von 48 Mitarbeitern wurde betriebsbedingt gekündigt)

BuchCamp Frankfurt

BarCamps sind offene, hierarchielose Tagungen, die von den Teilnehmern selbst spontan während der Veranstaltung entwickelt und bestückt werden - meist im Vorfeld via Social Media wie Facebook oder Twitter grob geplant.
So etwas gibt es auch für Büchermenschen:
Das BuchCamp 2011 findet vom 7. bis 8. Mai 2011 in Frankfurt statt, Infos und Anmeldung hier. Wer einen Blick in die Teilnehmerliste wirft, wird sehen, dass es beim BuchCamp nicht nur um die Zukunft und um neue Visionen in der Buchbranche geht - man kann bei solchen Gelegenheiten auch überaus spannende und hilfreiche Kontakte knüpfen. Selbstverständlich wird das BuchCamp dann auch live in den Social Media begleitet werden.

Penguin stickt Cover

Buchliebhaber schwelgen gern in Schönheit und Haptik, wollen ihre Bücher mit allen Sinnen erfahren. Viele Menschen, die Bücher lieben, sammeln fein gebundene Notizbücher oder basteln sie sogar selbst. Auch wenn sich die E-Generation zuweilen darüber lustig macht, ist in der Realität ein gegenläufiger Trend zu beobachten: Je mehr Menschen E-Books lesen, desto mehr wissen sie schön gemachte Papierbücher zu schätzen. Ein Nebeneinander entsteht. In manchen Bereichen werden sogar teure, noble, und zuweilen limitierte Ausgaben aus Papier neben dem Billig-Lesestoff vom Kindle hoffähig.

Penguin Books ist mir mit seiner Reihe "Great Ideas" unlängst schon einmal absolut positiv aufgefallen. Ich hatte davon erzählt: Längst besitze ich Virgina Woolfs bahnbrechendes Essay "A Room of One's Own" als E-Book, weil es damals anders nicht zu haben war. Trotzdem habe ich mir die Papierversion gekauft. Ein schmales, kleines Taschenbuch für 4.99 englische Pfund, bei dem einfach alles eine sinnliche Freude ist: Typografie, Umschlagpapier, Farben, Prägung. Das E-Book ist auf irgendeiner Festplatte vergessen und leistet andere Dienste: Ich kann darin leichter Textstellen suchen.

Penguin geht jetzt noch weiter. Für die Neuausgabe von Austen, Sewell und Burnett hat der Verlag die Cover von Jillian Tamaki mit Nadel und Faden sticken lassen! Die Verbraucherversion wird mit Prägedruck hergestellt, ist also ebenfalls tastbar. Die bezaubernden Ergebnisse kann man sich großformatig hier anschauen.

Wollschwein seziert

Gestern berichtete ich noch von Selbstvermarktungs-Kooperativen und Barry Eislers Entschluss, künftig alles allein in die Hand zu nehmen, da stolpere ich über einen ebenfalls sehr lesenswerten Artikel von Laura Miller in "The Salon": Author, sell thyself. Sie macht etwas ganz Raffiniertes - sie zeigt, dass es in der Buchbranche nie eindeutige Antworten und Wege gibt.

Formal erreicht sie das, indem sie zwei Erfolgsautoren von ein und demselben Verlag diametral gegenüberstellt und ihre Wege vergleicht. Amanda Hocking wurde durch selbstverlegte E-Books mit Eigenmarketing zur Millionärin und hat jetzt einen Vertrag beim Traditionsverlag St. Martin's Press unterzeichnet. Sie hat in ihrem Blog eindrucksvoll gezeigt, wie erschöpft sie vom Eigenmarketing ist. Vom neuen Verlag erhofft sie sich, dass er ihr die Werbearbeit abnimmt und vor allem bessere Bücher macht. Die ihren litten beispielsweise unter unzureichendem Lektorat.

Ausgerechnet von St. Martin's Press ist aber Barry Eisler gegangen, der eine halbe Million Dollar ausschlug, um künftig alles selbst zu machen. Er glaubt daran, dass auch Selbstverleger professionelle Cover oder Lektorate in Auftrag geben können und in Sachen Eigenmarketing sehr viel mehr tun als ein Verlag. Laura Miller wagt einen Vergleich der extrem unterschiedlichen Wege und kommt zu einer spannenden Frage: Wo bleibt eigentlich noch die Zeit zum Schreiben?

Mich erinnert die Diskussion um Veröffentlichungswege an die unzähligen Diskussionen, die ich führen musste, als ich mich sehr früh selbstständig machte. Jeder kennt die Argumente. Der Angestellte wundert sich, wie man all die Sicherheit aufgeben kann. Der Entrepreneur wundert sich, wie ein Angestellter heutzutage an Jobsicherheit glauben kann. Der Angestellte will seinen festen Feierabend und Planbarkeit - der Entrepreneur wird wahnsinnig, wenn jeder Tag gleich verläuft, und arbeitet zunächst in Selbstausbeutung. Man muss für das eine wie das andere schlicht geschaffen sein, so viel man sich sonst auch beibringen mag.

Ich behaupte, bei BuchautorInnen ist das nicht anders. Wer nicht für die Selbstständigkeit geschaffen ist, wer es scheut, zum Ein-Mensch-Unternehmen zu werden, sollte tunlichst die Finger vom Selbstverlegen lassen. Wer jedoch mehr Fähigkeiten in sich vereint als nur das pure Schreiben, wer Experimente liebt und unternehmerischen Geist besitzt, der wird womöglich auch irgendwann selbst mehr bewegen als ein Verlag das innerhalb seiner Sachzwänge leisten kann. Und natürlich kann der "angestellte" Schriftsteller eines Tages entlassen werden und der unternehmerische Schriftsteller scheitern. Ohne Risiko keine Literatur.

Vergessen wir aber nicht das Mittelfeld. Amanda Hocking und Barry Eisler gehören zu einer absoluten Minderheit auf dieser Welt, die man an den Fingern abzählen kann. Viel schlimmer sieht der Alltag aus. Schauen wir auf all die begabten und minder bekannten AutorInnen, die es in einen Konzernverlag geschafft haben, nur um festzustellen, dass die Vertreter vor dem Buchhändler keine dreißig Sekunden pro Buch haben. Die erkennen müssen, dass es Pressearbeit, die ihren Namen wirklich verdient, nur für die Spitzentitel gibt. Dass ein gutes Buch einfach auf den Markt geworfen wird - friss oder stirb - und nach manchmal sechs Monaten schon wieder verramscht wird, weil der Profit die Lagerkosten nicht einspielt.
Und was ist mit dem Heer der AutorInnen in engagierten, wunderbaren kleinen Verlagen, die einfach nicht die finanzielle und personelle Kapazität haben, sich um jede mögliche Werbeaktion selbst zu kümmern? Da war es schon immer gang und gäbe, dass sich die AutorInnen für ihre Bücher auch selbst engagieren.

Mag sein, dass sich eine Hocking oder ein Eisler tatsächlich diametral entgegengesetzte Wege aussuchen können. Otto Normalautor im deutschsprachigen Raum kann das nicht. Er wird entweder das Glück haben, in einem Verlag mit absolut fähiger Öffentlichkeitsabteilung gelandet zu sein, der mehr als nur Spitzentitel betreut (so etwas gibt's tatsächlich). Oder er wird zur Masse der anderen gehören. Die kann entweder wie beim Roulette zuschauen, ob das Buch Erfolg haben oder gleich vergessen wird. Oder sie kann, muss etwas für dieses Buch tun. Dann sind wir aber wieder bei der Gretchenfrage, die nicht nur Millionäre betrifft: Wann bitte schreiben wir eigentlich unsere Bücher?

Ganz ehrlich: Wäre ich Buchmillionärin, ich wüsste, wie ich mir die Zeit dazu verschaffe - ob mit oder ohne Verlag. Ich hätte dann nämlich längst richtig Geld ins Lektorat und in eine eigene PR-Frau investiert. Und kommt nicht auch die kleinste Werbung - und sei es nur durch Lesungen - in Sachen Abverkauf wieder zurück?

Ich dachte einmal, mit einem freien Beruf ohne festen Feierabend käme ich nie dazu, Bücher zu schreiben. Heute habe ich drei Berufe in Selbstständigkeit, schufte noch viel mehr und schreibe immer noch Bücher. Ich glaube nicht, dass es an der Frage Verlag oder Selbstverlag liegt, ob man den Hintern hochbekommt. Das muss man einzig und allein mit dem eigenen inneren Schweinehund und den eigenen Kräften ausmachen. Letztere schwinden dann, wenn ich in einem Umfeld arbeiten muss, das mich unzufrieden macht und frustriert. Die Faktoren und wie man sie abstellen kann, sind so unterschiedlich wie die Autoren selbst. Aber wer Literatur schaffen will und kann, der tut das auch, in jedem System.

30. März 2011

Marketing für Autoren

In meiner Linklese heute geht es nur vordergründig um Eigenmarketing von Indie-Autoren. Die Tipps und Überlegungen sind meiner Meinung nach genauso für herkömmlich verlegte Autoren wichtig, die zunehmend dazu gezwungen werden, selbst etwas für den Erfolg ihrer Bücher zu tun. Und Querdenken schadet bekanntlich auch nie.

Zuerst eine Warnung: In den US-Blogosphäre machen drei äußerst geschwätzige Autoren die Runde, denen es bisher nicht gelungen ist, ihre Online-Gespräche von einem harschen Lektor kürzen oder wenigstens mit Zwischenüberschriften versehen zu lassen. Ich habe mich durchgekämpft und muss sagen: Ein Exzerpt wäre hilfreich gewesen, die Gespräche lohnen sich jedoch in ganzer Länge (außer beim Baseballgeschwätz). Hintergrund für die öffentliche Tratschaktion: Barry Eisler hat einen Vertrag für zwei Bücher zu einer halben Million Dollar ausgeschlagen. Und das nur, um die Bücher auf eigene Kosten selbst zu verlegen.

Damit schafft der bereits verfilmte Erfolgsautor Eisler neue Maßstäbe. Barry Eisler und der nicht minder berüchtigte Joe Konrath unterhalten sich deshalb über Verlage, E-Books und die Chancen des Selbstverlegens in einem fast 30seitigen pdf. Das ist aber nicht alles: Beide diskutieren (kürzer) mit dem Autor Dean Wesley Smith sehr kontrovers das sogenannte Agentenmodell. Dabei geht es darum, für Indie-Bücher Herstellungsleistungen als Provisionen zu bezahlen und möglicherweise eines Tages Literaturagenturen zu übertragen. Ein Modell, das im englischsprachigen Raum breit diskutiert wird, seit einige Agenten ihre Autoren selbst im E-Book verlegen. Gegner werfen dem Konzept vor, ein Autor zahle damit lebenslänglich für Einmaljobs wie Grafik oder Werbung. Wer den US-Buchmarkt für ein weit entferntes exotisches Kuriosum hält, kann sich den ganzen Sabbel sparen, Zukunftsorientierte können aus den Gesprächen wertvolle Anregungen, Warnungen vor Fallstricken und einen Hauch dessen, was noch kommen wird, erfahren.

Immer wieder erfrischend bodenständig und kundig ist Victoria Strauss, die auch via Twitter jede Menge wertvoller Brancheninformationen bereit hält. Sie holt Autoren nach Erfolgsmeldungen über Konrath, Hocking & Co. auf den Teppich und warnt vor überzogenen Auflagenträumen. Ihre Tipps, wie man den Erfolg seiner Bücher richtig einschätzt und welche Illusionen man sich sparen kann, sollten sich auch Autoren in Großverlagen gönnen, die wie das starre Rehlein auf Amazonränge schielen.

Und weil das arme eierlegende Wollmilchschweinchen namens Autor inzwischen ja auch noch mit Links das eigene Marketing stemmt (Presseabteilungen in Konzernverlagen machen das nicht für jeden), ist eine kritische Frage angebracht. Publishing Perspectives fragt zu Recht "Are Authors too naked in their Self-Promotion?" Absolut lesenswert sind die Antworten der Leser, wie viel Eigenwerbung sein darf und ab wann es peinlich wird - aber auch, was Leser eigentlich von Autoren erfahren wollen.

Das ist übrigens ein Thema, das nicht nur Autoren, sondern auch Verlage interessieren sollte. Im Eisler-Konrath-Gespräch wird ein ähnliches Problem angesprochen: Es wird immer wichtiger, direkt mit den Lesern ins Gespräch zu kommen, um Bücher zu verkaufen. Bisher dachte man, das sei nur eine Chance für Nische, für Außergewöhnliches, für all das, was Leser nicht in Stapeln finden. Inzwischen zeigt sich jedoch in den neuesten Entwicklungen der Buchbranche, dass auch Hersteller von Trendware zunehmend verlieren, wenn sie die Kundenkommunikation vernachlässigen. Wie weit aber haben sich die Verlage schon von ihren Lesern entfernt? Tele-Read wirft einen Blick auf drei Wahrheiten, die Verleger bei der Kundenbindung beherzigen sollten. Wen wundert es, dass die Beherzigung eben dieser drei Punkte u.a. den Erfolg von Konrath & Co. ausmacht? Wen wundert es, dass die Schlussfolgerungen so einfach und banal klingen: Lesern ist die Art des Verlegens und des Handels von Büchern piepschnurzegal. Sie wollen ihren Lesestoff einfach zugänglich, leicht zu kaufen, zu vernünftigen Preisen und ohne irgendwelche Barrieren.

Da wäre noch die technische Seite der Kommunikation zwischen Verlag und Kunde oder Autor und Leser, die aufgrund der Kommunikationsgewohnheiten und finanzieller Vorteile natürlich zunehmend im Netz stattfindet - idealerweise auf unterschiedlichen Ebenen. Eine Studie hat die Lebensdauer von Beiträgen bei Twitter und in Blogs geprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem Inhalte über Bücher, Videos, Musik und Magazinartikel recht langlebig sind. Blogs werden dabei zu einem wichtigen Instrument jener Kommunikation - vorausgesetzt, sie sind richtig vernetzt.

Einen absolut lesenwerten Beitrag über die Vorteile von Twitter und die Eigenheiten der sich dort tummelnden Leute bringt das Blog "Der 13. Stock". Wer immer schon wissen wollte, was man mit Twitter tatsächlich erreichen und bewegen kann, sollte den Beitrag unbedingt lesen.

Wahrscheinlich ist allen aufgefallen, dass deutschsprachige Beiträge in Sachen Weiterdenken recht rar sind im Gegensatz zum brodelnden anglo-amerikanischen Geschehen. Wir lassen uns das Denken leider immer noch allzu gern aus der Hand nehmen, um Jahre später zu imitieren, was über den Teich schwappt. Von dort kommt auch das Beispiel einer Autorenkooperative in Sachen Eigenmarketing. Solche Kooperativen sind übrigens auch in Europa schon gang und gäbe (ich berichtete über Frankreich) - nur in Deutschland kämpft man noch selbstverliebt den genialischen Traum der Einzelkämpfer.

Die Fiction Writers Co-Op wurde von etwa 50 etablierten Autoren gegründet, um Eigenmarketing auf eine breitere und schlagkräftigere Basis zu stellen. Die Stärke liegt in der Mischung: Bestsellerautoren aus den Listen der New York Times sind neben Anfängern im gleichen Club. Entstanden ist die Idee aufgrund des zunehmenden Drucks, der verlagsseitig auf Autoren ausgeübt wird. Der reicht von der Berechnung des Marketing-Budgets nach der Zahl der Facebook-Freunde bis zum Verlangen, Autoren müssten immer stärker in Social Media auftreten. Und endet dabei, dass Autoren häufiger als früher dazu gezwungen sind, Eigenmittel aufzuwenden, um ihr Buch zu bewerben, weil es der Verlag nicht ausreichend erledigt.

Die Autorenkooperative nimmt das nun gruppenweise in die Hand und wirbt gegenseitig für die Bücher der Kollegen, schreibt Beiträge in Blogs, bei Twitter, auf Facebook und kann sich vor allem durch Gruppenrabatte sogar professionelle Marketingaktionen leichter leisten. Inzwischen gibt sie aber auch wie ein Buchclub besonders ausgewählte Buchtipps heraus und wendet sich damit an Buchhändler und Bibliotheken. Die Mitglieder schätzen vor allem die offene Struktur zwischen alten Hasen, Bestsellerautoren und blutigen Anfängern: Jeder lerne von jedem und schüchterne Autoren würden in der Gruppe mutiger. Vor allem aber stärke der kameradschaftliche Umgang die Motivation in einem sonst einsamen Beruf. Das Konzept ist so erfolgreich, dass es bereits eine Warteliste für Mitgliedschaften gibt. (Fiction Writers Co-Op bei Facebook).

Ich finde, dieses Konzept sollte Schule machen (in Frankreich gibt es solche Gruppen übrigens auch). Denn die meisten Einzelkämpfer sind einfach überfordert mit dem, was Verlage manchmal neben dem immer schnelleren Schreiben von ihnen verlangen. Allerdings müsste sich dann grundlegend etwas an der Konkurrenzmentalität ändern und jeder gleichermaßen bereit sein, Buchmarketing zumindest grundlegend zu erlernen. Vernetzung ist bekanntlich nur so effektiv wie die Präsenz der Einzelnen in den unterschiedlichen Werbemedien.

Immerhin gibt es im deutschsprachigen Raum nun einen Anfang: Der Virenschleuder-Preis soll nun jährlich für erfolgreiches Buchmarketing in den Social Media vergeben werden - bewerben können sich Verlage, der Buchhandel, aber auch Autoren. Für alle, die sich mangels Projekt nicht bewerben können, bietet die Website eine Fülle von Ideen.

Hätte eine Kooperative von Autoren oder das Eigenmarketing von Einzelkämpfern wirklich Erfolg, stellen sich allerdings die nächsten Fragen: Wozu brauchen Autoren dann überhaupt noch Verlage, wenn diese zunehmend typische Verlagsleistungen an ihre Autoren outsourcen? Müsste da nicht langsam eine Rückbesinnung auf die Kernkompetenzen innerhalb der Verlage stattfinden? Oder haben wir eines Tages nur noch Dienstleister mit Outsourcing-Kompetenzen statt Verleger?

28. März 2011

Das Achterbahn-Komplott

Klingt wie ein Thriller, ging auch ähnlich an die Nerven. Jemand bei Twitter fragt, wann und wo "Nijinsky" erscheinen wird, und eben habe ich die letzten Danksagungen ins Manuskript getippt. Dabei fiel mir wieder der eine Abend ein, der bei mir einen Schalter umgelegt hatte und dazu führte, dass ich alle Pfade der Tugend verließ, pardon, alle eingetretenen Autorenwege. Ungläubig starre ich auf den Kalender: Über zwei Jahre sind vergangen!

"Nijinsky" war ursprünglich ein Verlagsauftrag - ein Hörbuch war geplant, das pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum der Ballets Russes im September 2009 erscheinen sollte. Ende 2008 hatte ich den Vertrag unterschrieben, im August 2009 waren alle Arbeiten am Manuskript angeschlossen. Ich hatte das Letzte aus mir herausgepresst - die Recherchen waren immens, das Schreiben ein Kraftakt. Wie das manchmal vorkommt, kam es zu Verzögerungen, doch konnte ich im Januar 2010 jubeln: Nijinsky war als Spitzentitel eingeplant.

Es folgte eine Zeit der Wechselbäder und drei Monate später war es dann amtlich: Das Hörbuch konnte nicht produziert werden. Gleichzeitig zwei Todesfälle in der engsten Familie, ein Fast-Todesfall und ein erster Auftrag im neuen Übersetzerberuf, der terminlich drängte - ich weiß nicht mehr, wie ich diese Zeit überstanden habe. Ich erinnere mich nur noch dunkel daran, dass mein Anwalt es mir abnahm, die Rechte zurückzurufen. Da stand ich nun, mit dem meiner Meinung nach besten Text meiner Laufbahn, meinen Rechten - und völlig am Ende aller Kräfte.

Verzweifelt griff ich nach dem letzten Strohhalm, den ich erkennen konnte: Ich müsste einfach ganz schnell einen herkömmlichen Verlag für das Manuskript finden und es zum normalen Buch umarbeiten. Während ich zwei Monate lang fast jeden Tag 100 km fuhr, um eine Wohnung aufzulösen und mich um Formalitäten zu kümmern (und "nebenbei" ein Buch über die Avantgarde übersetzte), schaffte ich es irgendwie, auch noch ein Exposé zu stricken und loszuschicken. Klar, dass ich jubelte, als mir die Verlegerin eines anderen Verlags am Telefon quasi zusagte. Sie wolle den Nijinsky gern ins Programm aufnehmen. Herbst 2011 war als Erscheinungstermin angedacht, ebenfalls als Spitzentitel. Damals war ich noch so naiv, an telefonische Versprechungen zu glauben.

Aber dann wurden die Vertreter zu Rate gezogen, externe Vertreter eines dritten Verlags übrigens, der sich nicht gerade mit dem Einkauf deutschsprachiger Autoren einen Namen gemacht hat. Und diese Vertreter zeigten mit dem Daumen nach unten - aus einem völlig abstrusen Grund. Freitag der 13., im August 2010 - und wie man im Blog nachlesen kann, war ich da in Stimmung für Wodka und Chopin. Undenkbar für mich, das Ganze selbst in die Hand zu nehmen, ich empfand das als "Bankrotterklärung meiner selbst". Noch war ich zu blind, um zu erkennen, dass ganz andere sich bankrott erklärt hatten. Aber in Wodka und Chopin lagen wohl Kraft, denn ich notierte:
"Nicht dass ich jetzt von den Russen lassen würde. Da ist der berühmte "point of no return" längst erreicht..."

Es folgte völlige Konfusion. Ich versuchte es euphorisch mit einem anderen Manuskript und gab es wieder auf. Ich dachte daran, den Manuskripttext von "Nijinsky" mit einem "Unmaking of" zu einem Ratgeber für Autoren umzugestalten. Daran kann man sehen, dass ich eigentlich nur noch verzweifelt war. Jeder normale Mensch hätte aufgegeben, Urlaub gemacht, brav gearbeitet und sich der nächsten Idee zugewandt. Aber dieses Buch war nicht normal und ich war es offensichtlich auch längst nicht mehr.

In solchen Momenten, in denen man trotz aller Katastrophen und Kraftlosigkeit noch die Leidenschaft aufbringt, an ein künstlerisches Projekt zu glauben, begegnen einem oft seltsam passende Menschen und Zeichen. Man kann in solchen Momenten die Augen davor verschließen oder mutig ins eiskalte Wasser springen.

Es war das Musikfestival in Wissembourg, das alles für mich veränderte. Zwei Wochen lang war ich fast jeden Tag in einem Konzert mit dem Schwerpunkt russische Musik, um alles zu vergessen und einfach nur noch zu mir zu kommen. "Mein Nijinsky", der von Petersburg nach Paris gekommen war, würde - so dachte ich - nie das Licht der Welt erblicken. Also saß ich in Frankreich, um mir Petersburger Musiker anzuhören. Meiner französischen Freundin werde ich nie vergessen, dass sie mich an einem Abend zu einem gemeinsamen Essen mit den Petersburgern schleppte, bei dem auch zwei Musikmäzene aus den USA anwesend waren, die junge Talente gefördert hatten, deren Namen man heute kennt. Und da musste ich aufgeregt und völlig nervös in viersprachiger Runde mein Projekt "pitchen", von meinem Manuskript erzählen.

Ich war im siebten Himmel. Mit den Russen konnte ich mich plötzlich über einen Tänzer austauschen, der in ihrer Heimat noch absolut lebendig und präsent ist. An jenem Abend hatten sie eine Uraufführung von Musik eines seiner Ballettkomponisten gespielt - dessen vergessene Noten sie in einer Bibliothek in Petersburg entdeckt hatten. Petersburg war plötzlich ganz nah und ich konnte meine Leidenschaft teilen. Die Amerikaner haben mir dann erfolgreich den Kopf gewaschen. Warum ich mich denn in solch einem wichtigen Bereich wie der Kunst von Menschen abhängig machen würde, die nur behinderten, die zu träge geworden seien und sich gar nicht mehr für die Inhalte interessierten? Sie meinten die Verlagswelt.

Es waren diese besonderen Menschen, es war die Magie dieses Abends, die mir die verrückteste Idee eingab: "Nijinsky" würde nach zweimaligem Scheitern trotzdem ein Buch werden. Jetzt erst recht. Ich würde es selbst machen und mir nur noch Menschen suchen, die mich vorwärts brachten, anstatt mich zu blockieren. Euphorisch triumphierte ich über das kleinliche Konkurrenzdenken jenes zweiten Verlags und drehte den Spieß um: Gute Bücher macht man mit Partnern, nicht gegen jemanden. Und so suchte ich mir für den zweiten Teil zwei namhafte Fachmenschen, die ich interviewen wollte: einen Choreografen und einen Museumskurator.

Was dann folgte, hat jeder in der Serie "Ich bastle ein Buch" verfolgen können. Heute lache ich über KollegInnen, die behaupten, ein Buch im Print-on-Demand-Verfahren habe Schmuddelimage. Es hat meine Interviewpartner nicht gestört, es hat auch viele andere nicht gestört, die ich kontaktierte. Im Gegenteil, sogar Menschen aus der etablierten Buchbranche und aus Verlagen sprangen mir plötzlich helfend und motivierend zur Seite, nicht zuletzt die Bücherfrauen. Ich bin der Meinung, dass man als Profiautor durchaus auch ohne Verlag professionelle Bücher machen kann - es macht nur sehr viel mehr Arbeit und kostet erst einmal Geld.

Ich bin jetzt gerade dabei, die Fotorechte zu besorgen und das Buch zu setzen. Derweil wird das Cover gestaltet. Da ich lieber mit Weile eile als im letzten Moment noch etwas zu verhunzen, gebe ich noch keinen genauen Erscheinungstermin bekannt. Vom Satz bis zur Käuflichkeit muss ich etwa vier bis sechs Wochen für den Hersteller rechnen - das sind also absehbare Zeiträume. Erscheinen wird das Buch bei Monsenstein & Vannerdat - im Nijinsky-Blog werde ich natürlich rechtzeitig den Erscheinungstermin und den endgültigen Titel bekannt geben. Ich muss wohl kaum sagen, dass sich durch dieses Projekt und vor allem das Festhalten daran so viel in meinem Denken geändert hat, dass ich auch künftig mit dem Kopf durch Betonwände gehen werde. Und irgendwann, irgendwann werde dann auch ich einmal nach Sankt Petersburg reisen...

27. März 2011

Fjodor oder die Zeitenschmelze

Ein seltsamer Moment, das Abschiednehmen. Eben hat die Autorin und gnadenlose Bis-zum-letzten-Moment-Korrektorin das "Nijinsky"-Manuskript endgültig aus der Hand gegeben - an die Layouterin und Setzerin. Das ging diesmal nicht ohne Musik...

Spulen wir einmal die Zeit zurück. Das übersättigte und verfeinerte Westeuropa langweilt sich gründlich. Fin-de-siècle heißt das Lebensgefühl, das selbst Angst, Tod und Untergang noch ästhetisiert - während man auf den Weltuntergang wartet und überall Zeichen liest. Man tanzt auf dem Vulkan und lebt aus dem Vollen - nur ist irgendwie vor lauter Lebensgefühl das Gefühl fürs Leben abhanden gekommen. Selbst die Opernaufführung am Wochenende ist zum Defilée der Roben verkommen, zum gemäßigten Genuss des Erwartbaren. Wenn da nicht in dieser Pariser Saison im Jahr 1908 ein exotischer Name auf dem Programm stünde: Fjodor Schaljapin.

Die Russen kommen. Eigentlich sind sie längst in der Stadt, haben ganze Häuserzeilen erobert: als Emigranten, Hungerleider, Anarchisten, Künstler. Viele von ihnen sprechen Französisch, die Verbindungen beider Länder sind nicht neu. Doch jetzt machen sie ernst. Einer von ihnen will Europa erobern, aber keineswegs durch Anpassung. Sergej Diaghilew bringt die sperrigste, exotischste Oper auf die Bühne, die man sich zu dieser Zeit nur denken kann, voller Folklore und Anklänge an Lithurgie - und er lässt sie gnadenlos komplett auf Russisch singen. Mussorgsky hat die Oper "Boris Godunov" komponiert, Rimsky-Korsakoff hat sie bearbeitet. Und die verfeinerten und übersättigten Pariser sind hin und weg, als sich ihnen der damals schon berühmte Fjodor Schaljapin in die Herzen singt. Der Mann, der den Weg frei singt für die Ballets Russes, der mit Nijinsky verkehrt und von Nijinskys Schwester schließlich sogar liebend verehrt wird. Schaljapin geht als weltberühmter Jahrhundert-Bass in die Geschichte ein.

Ich habe gestern zum ersten Mal in Muße die ganze Oper in einer außergewöhnlichen Aufnahme anhören können und dann nicht schlecht gestaunt. Nach dem letzten Akt lief die CD nämlich einfach weiter. Mir war das Extra völlig entgangen, restauriert vom genialen Mark Obert-Thorn: Fjodor Schaljapin als Boris Godunov.

Die letzten Sätze im "Nijinsky" fügte ich beim Hören von Schaljapins Gesang ein. Auch wenn es schwierig ist, mit heutigen Hörgewohnheiten und durch den Filter der Technik zu erahnen, wie das Original damals auf der Bühne geklungen haben mag, ist diese Stimme umwerfend. Spontan fällt mir nicht "Mensch" oder "Mann" oder "Sänger" als Bezeichnung ein, sondern "Klangkörper". Ein Klangkörper, der unwahrscheinliche Weiten umspannt und doch hochflexibel und lebendig ist. Eine Stimme mit Charisma. Eine Leichtigkeit in den Stimmungsschwankungen, so dass Trauer und Triumph, Klage und Freude dicht nebeneinander liegen; derart dicht, dass das eine ohne das andere nicht denkbar ist. Wenn jemand sogar russische Weichheitszeichen singen kann - dann er. Wenn einer den Boris nach hundert Jahren noch lebendig sterben kann, dann Fjodor Schaljapin.

Nijinsky, der so weit entfernte und doch so nahe Nijinsky, hat ihm die Hand geschüttelt, mit ihm Tee getrunken, ihn gehört. Die Stimme eines längst Verstorbenen, die aus meinen Lautsprechern klingt, hat mit Nijinsky gesprochen, hat auch für ihn gesungen. Vor mir breitet sie Welten aus, unendliche Weiten, in die das russische Glockenspiel Mussorgskys klingt und mit meinen eigenen Bildern singt. Tiefblauer Schmerz und blütenberauschter Tanz nur Takte voneinander entfernt - und das Gesungene formt sich zur in diesem Moment schönsten Sprache der Welt. Das hat nichts von der Blutleere eines Fin-de-siècle und doch ist es opernschönes, wundervoll herzangreifendes Sterben. Oder sagt man dazu Leben? Die weichen Laute, das sanfte Zischen, das russische Glockenspiel - sie verschmelzen Kulturen und Zeiten. 2011 ist nicht mehr. Ich bin nicht mehr.

Was zählt, ist dieser Hauch aus einem urvertrauten Irgendwo. Herzzerreißend traurig und himmelerhebend, tragisch-schön - genauso wie das Beenden eines Manuskripts, das zu einem Teil des Lebens wurde. Vielleicht ist das ein Geheimnis dieses magischen letzten Punkts unter einem Manuskript: Wenn man ihn setzt, hat man sich längst verwandelt. Und dann gibt es nur noch eins: vorwärtsschreiben...

Seine intensive Bewegungskraft setzt im scheinbar toten Punkt an, aus dem einfach alles entstehen kann, weil er der Moment der Stille vor der Schöpfung ist. (Petra van Cronenburg über Vaslav Nijinsky)

Ein echter Poet wie er kann weder lügen noch sich zurückhalten: Er gibt sich ganz und gar der heiligen Hitze seiner Emotion hin. (Francis de Miomandre 1912 über Vaslav Nijinsky)

26. März 2011

Klappentext - das Ergebnis

Es ist so weit, endlich habe ich Zeit für die Korrekturen am Klappentext gefunden. Ich erinnere an das außergewöhnliche Experiment: Normalerweise ist der Klappentext oder der Waschzettel eines der am längsten gehüteten Geheimnisse im Verlauf der Buchentstehung. Bevor nicht die Buchvorschau erscheint, darf in der Regel kaum etwas über ein Buch nach außen dringen, weil die Verlage fürchten, die Konkurrenz könnte anhand der Informationen irgendwelchen Nutzen ziehen (was auch tatsächlich immer wieder geschieht). Im Gegensatz dazu habe ich meine LeserInnen aufgefordert, mich schon in der Entstehungsphase zu kritisieren. Über die fleißige Beteiligung habe ich mich sehr gefreut, die Beiträge waren erstaunlich hilfreich und konkret, auch per Mail.

Nicht alles konnte oder wollte ich berücksichtigen - zumal ich Titel, Inhalt und Zielpublikum natürlich genauer kenne als die hier Lesenden. So verloren z.B. zwei Vorschläge, die den Text umgekrempelt hätten: einmal in Richtung reißerisch - einmal in Richtung akademisch. Für andere Bücher oder bestimmte Verlage wären diese Vorschläge durchaus nützlich gewesen. Das habe ich bei der Aktion gelernt: Man darf sich nicht verunsichern lassen durch die vielen, manchmal widersprüchlichen Stimmen. Je besser man die Ratgeber "kennt", desto besser kann man auch deren Kritik einschätzen und daraus lernen. Und sollte dabei doch ganz nah am eigenen Vorhaben und Zielpublikum bleiben.

Ich bedanke mich sehr herzlich für euer Engagement mit der Veröffentlichung der Überarbeitung. So kann jeder im Vergleich sehen, was sich verändert hat. Das Manko, dass der Buchrückentext (!) eigentlich zu lang ist, kommt dadurch zustande, dass es bei diesem Buch keine Klappen geben wird. Die Autorenbiografie habe ich ganz ins Buchinnere verbannt. Hätte das Buch Klappen, hätte ich den gesamten ersten Abschnitt dorthin verschoben.

Ich habe den größten Schauspieler der Welt gesehen. Sarah Bernard über Vaslav Nijinsky

Ein glorifizierter Halbgott der glänzendsten Legende und des dunkelsten Dramas, der größte Künstler der Ballets Russes. Françoise Reiss

Apollon hält den Faden, an dem er hängt. Jean Cocteau

Isadora Duncan wollte vom „Gott des Tanzes“ ein Kind. Die Pariser Modewelt um Cartier, Chanel und Guerlain produzierte passend zu seinen Rollen bei den Ballets Russes. Er inspirierte Charlie Chaplin und Rudolph Valentino. Die Berühmtheiten der europäischen und russischen Avantgarde feierten ihn als ersten Weltstar des Balletts.

Vaslav Nijinsky (1889-1950) berauschte das Publikum mit virtuosen Sprüngen und androgynem Charisma; seine gewagten Choreografien provozierten Skandale. Er liebte einen Mann und heiratete eine Frau. Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stürzte der Tänzer ab: Eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie, zweifelhafte Diagnosen und Therapieexperimente trieben seine Seele ins Unerreichbare.

Mit romanhaftem Schwung und bildreicher Anschaulichkeit lässt diese Biografie den vergötterten Star und Menschen zwischen den Extremen lebendig werden. Sie zeigt einen Mann, der besessen für die Kunst lebte und ohne Tanz nicht lebensfähig war. Die ungebrochene Faszination, die vom Mythos Nijinsky heute noch ausstrahlt, loten Gespräche mit XX und YY aus.

Die unterstrichene Passage gefällt mir selbst noch überhaupt nicht, obwohl ich den ersten Ausdruck von einem anderen Klappentext geklaut habe (pfui, ich weiß) ... In Ruhe überlege ich, wie man "erzählendes, literarisches Sachbuch" knackig verpackt, aber ein Text kann ja auch unmöglich auf Anhieb perfekt sein.
Und jetzt schreibe ich brav die bewusste Mail, ändere noch einen Textfehler und mache mich morgen an das Abenteuer, das Buch komplett zu setzen, damit der Mensch, der das Cover gestaltet, endlich die genaue Millimeterstärke des Buchrückens bekommt.

Warnung vor überhöhten Preisen

Aus aktuellem Anlass möchte ich davor warnen, meine vergriffenen Bücher zu völlig überhöhten Preisen im Antiquariat zu kaufen. Eine Freundin hat mich gerade informiert, dass mein Elsass-Buch bei Amazon von einem Händler für stolze 136,42 E angeboten wird. Das ist natürlich der blanke Wahnsinn für ein Buch, das einst um die 12 Euro kostete - auf diese Art könnte ich schnell reich werden. Aber so berühmt bin ich dann doch nicht, dass sich Groupies Preisschlachten liefern...

Schlimm daran ist, dass einige Händler zumindest bei Amazon inzwischen mit einer Art Preis-Bot arbeiten. Sprich, sie bieten immer nur ein Buch an und der Preis-Bot richtet je nach Umfeld das Angebot ein - so kommen auch die seltsam krummen Zahlen zustande. In dem Moment, in dem noch ein anderer das gleiche Buch einstellt, sinkt dieser Preis sofort entsprechend. Und natürlich suchen diese Bots nach lukrativen Nischen, wo möglichst wenig Angebote vorhanden sind. Bieten noch vier Antiquare mein Buch an, werden diese 136,42 E blitzschnell auf 20 E sinken. Bietet ein Antiquar das Buch für 1,80 E an, senkt der Preisbot das irre teure Buch ganz schnell auf 99 Cent.

Das Geschäft lohnt sich. Kauft nur ein Liebhaber, der ein Buch unbedingt jetzt und sofort haben will, etwas für 120 E, das den Händler 2 E kostete, sind das 118 E Verdienst. Die muss man mit normalen Preisen erst einmal erwirtschaften. Drum: Trau, schau, wem. Im antiquarischen Onlinehandel ist nicht alles seriös, was seriös wirkt. Natürlich sind Liebhaberbücher manchmal teuer, je seltener sie sind - aber bei 132,42 E sollte zumindest ein handsigniertes Exemplar einer ungebrauchten Erstauflage drin sein.

Wahnsinnig sind die Preise noch aus einem anderen Grund: Den Großteil der vergriffenen Bücher, allem voran mein Elsassbuch, werde ich in diesem Jahr neu auflegen - zu vernünftigen Preisen. Warten lohnt sich also. Und wer nicht warten mag ... Rosenbücher hätte ich noch zu 232,86 E das Stück, ok? ;-)

25. März 2011

Trau dich? Trau dich!

Falls mich jetzt jemand beim Prokrastinieren erwischt: Ich brauche das. Ich bin im Moment so überarbeitet, dass mich Bloggen entspannt, als sei es Urlaub (sagt eine nach zwei Stunden Faulenzia in der Sonne). Zudem ist das meine Art, mich gewissen Plänen zu nähern, für die ich im wahren Leben nie den Mut aufbringen würde. Ich schreibe mir sozusagen die eigenen Vorhaben schön. Ich bilde mir ein, wenn ich etwas öffentlich mache, nimmt mich das auch in die Pflicht.

Man liest das ja überall, dass Künstler in modernen Zeiten endlich Eigeninitiative entwickeln und viel mehr selbst erledigen sollten. Weil auf die anderen plötzlich kein Verlass mehr ist - und weil Seth Godin und Amanda Hocking der lächelnde Beweis sind, dass Erfolg nur hat, wer den Hintern hochbekommt. An dem Hintern ist ja etwas Wahres dran. Aber wo am eigenen Hinterteil hört die Künstlerpflicht auf und fängt die Selbstüberschätzung an? Was ist gerechtfertigt, was vermessen? Wann wird der Künstler zum nervigen Bittsteller und wann zum sympathischen Kontakt? Ich habe diesbezüglich schon Künstler beraten. Auf mich selbst höre ich selbstverständlich nicht.

Als ich einer Freundin erzählte, dass ich jetzt langsam sehr konkret ans Marketing für mein Nijinsky-Buch gehen müsste, weil mir der Vorteil der begeistert das Buch auslegenden Buchhändler fehlen wird, fiel mir plötzlich das Herz in die Hose. Vor einem Jahr fühlte sich diese Aufgabe noch wohltuend theoretisch an und mir gelang es, mich als Privatmensch irgendwie davon abzuspalten. Im wahren Leben bin ich nämlich die mieseste Selbstverkäuferin, schüchternste Klinkenputzerin und hasse nichts mehr als Akquise. Bisher hatte ich dafür immer andere Menschen, die das unblutig für mich erledigten - oder leider auch in den meisten Fällen eben nicht erledigten. Jetzt muss ich selbst ran.

Prokrastiniert habe ich bis zum letzten Augenblick einen sogenannten Blurb. Ein sehr bekannter Mensch hat vor über einem Jahr mein Buch gelesen und war - nach Hörensagen - begeistert gewesen. Leider weiß ich das nur vom Hörensagen und kann dann solche Sachen nicht zitieren. Ich muss ihm mein Manuskript noch einmal schicken (wie peinlich), ihn fragen, ob er einen Satz für mich hätte, den ich zitieren darf (wie bettlerisch). Und was, wenn sich dann herausstellt, dass das Hörensagen nur eine Ente war? Seit Wochen verzweifle ich an dieser Mail, habe mir aber jetzt ein Limit gesetzt.

Aus meinem Umfeld bekomme ich nur zu hören, dass ich deppert, viel zu schüchtern, dumm und nicht mutig genug sei. Das sei doch das Normalste der Welt. Also kommt zum Aufschieben und zur Mutlosigkeit noch etwas Lähmendes hinzu: Ich mache mir Selbstvorwürfe. Dass ich nicht so tough und frech und mutig und geschickt wie die anderen bin, für die es das Normalste der Welt ist, bekannten Leuten Bittbriefe zu schicken, die wahrscheinlich in Bittbriefen dieser Art ersticken. Wird der eine Satz denn das Buch wirklich besser verkaufen? Ich muss mich zu so etwas überwinden, zwingen, geradezu peitschen. Sollte ich lernen, endlich "normaler" zu werden?

Mit Firmen aus der Nicht-Verlagswelt habe ich weniger Probleme. Wo Business und Auslesekapitalismus herrschen, kann ich mitspielen. Sie wollen nichts von mir, aber ich hätte vielleicht eine Idee, wie wir gemeinsam etwas erreichen können. Lassen Sie uns eine Win-Win-Situation schaffen. Klare Regeln, jeder macht's, das kann ich auch. Für solche Momente besitze ich sogar ein stinklangweiliges Kostüm.

An Ideen mangelt es jedenfalls nicht. Die nötige Leidenschaft, herumzuschwärmen, ist ebenfalls vorhanden und hat sich durch die Arbeit eher verstärkt. Dumm nur ist an meinen Ideen, dass ich persönlich ein paar Kontakte knüpfen müsste, wie ich sie mir im wahren Leben nicht einmal im Traum einfallen ließe, geschweige denn zutrauen. Da sitze ich dann wieder gespalten und rede mit mir selbst. Das eine Ich ist begeistert: "Die Idee ist so verstiegen und verrückt, dass sie einschlagen muss! Trau dich!" Das andere Ich zieht eine Flunsch und jammert: "Weißt du noch, wie deine Mutter dich immer davor gewarnt hat, wie Tante Else zu werden?!" Tante Else ist Familienmythos. Im Krieg vererbte sie der Familie einen Silberschatz, den man '45 bei den Russen gegen alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten eintauschte. Tante Else war von Beruf Hochstaplerin. Das begeisterte Ich widerspricht: "Das ist kein Hochstapeln, so geht das Geschäft, alle machen das so. Trau dich!"

Und wieder nölt das alltagsgraue Ich herum: "Ich kann doch nicht so tun, als hätte ich ein Restaurant in den USA eröffnet, wenn ich nur eine Hot-Dog-Bude betreibe!" Meine Onkels und Tanten in den USA haben das gekonnt und sind so tatsächlich noch zum Restaurant gekommen. Oder sollte ich mir etwas von meinem Großvater abschauen? Der hat laut Legende seine Schulzeugnisse gefälscht und ist zum Hoteldirektor aufgestiegen. Aber irgendetwas läuft falsch mit mir. Meine Familie hat es von Anfang an gewusst: Wenn ich Künstlerin würde, wäre ich endgültig das schwarze Schaf. Einfach untauglich fürs Leben, diese brotlosen Verrückten...

Der Blick auf die Chuzpe der anderen hilft nicht, er lähmt eher. Als die Hochstaplergene in den Reinkarnationskreislauf gelangten, war ich noch nicht gezeugt. Aber eines weiß ich: Ich werde weder Psycho- noch Verkaufsseminare belegen, um aus mir etwas zu machen, was ich nicht bin. Ich weiß, dass ich eine lausige Verkäuferin bin. Aber ich glaube, genau das könnte meine Stärke sein! Dieses Wissen gibt mir nämlich die Kraft, es nicht so zu machen, wie "man" das macht, wie alle anderen das machen. Dieses Versagen birgt einen Vorteil: Ich kann die bleiben, die ich bin, ich werde mich nicht plötzlich verwandeln, nur weil Marketing eben sein muss. Ich habe nur in der nächsten Zeit etwas mehr Arbeit und Mühe als alle anderen.

Ich notiere mir meine Ideen. Die besten. Die verrücktesten, gewagtesten, verstiegensten.
Dann mache ich mir zu jeder Idee eine Checkliste. Auf der einen Seite notiere ich in Rosarot: Wie genau könnte man diesen Wahnsinn Schritt für Schritt ins Leben holen und real machen? Was müsste ich dazu tun, wen bräuchte ich dazu, in welchem zeitlichen und finanziellen Rahmen wäre es machbar? Auf der anderen Seite der Liste steht in Grau geschrieben, was ich spontan an meiner Idee am dämlichsten und unerfüllbarsten finde. Was jeden vernünftigen Menschen davon abbringen müsste. Natürlich fängt Rosarot immer ganz oben an. Kleiner wird man nachhher automatisch.

Dann folgt der Kampf der Giganten: Rosarot gegen Grau. Grau ist von Natur aus negativ, nörglerisch und selbstmitleidig. Rosarot muss Grau beweisen, warum alle Ausreden unmöglich gelten können und warum der Weg machbar ist. Grau zeigt Rosarot, wo es aufpassen muss. Die Endliste schreibt Rosarot. Schritt für Schritt: wie ich, die arme eierlegende graurosa Wollmilchsau, vorgehen muss.

Vor dem Umsetzen eines jeden Punktes braucht es dann all diese kleinen Tricks, die man auch gegen Lampenfieber unnütz anwendet. Erst wenn das Adrenalin flutet, weiß ich, ich habe es angepackt. Für abgearbeitete Punkte gibt es selbstverständlich eine kleine Belohnung und Verschnaufpause. Und für jedes "Ich trau mich nicht" halte ich die härtesten Drohungen aus der persönlichen Horrorkiste bereit. Die Kassiererinnen dieser Welt mögen es mir verzeihen: Ich drohe mir immer damit, dass das langweilige Kostüm für immer im Schrank bleibt. Nichts mit Essen im Palais Gagarin - Aldi an der Kasse wäre dann die Alternative! Man möge mir dieses persönliche Horrorszenario wirklich verzeihen - ich kann nämlich nicht rechnen. Nur das Abitur wiederholen zu müssen, wäre noch schrecklicher!

So hole ich also tief Luft und benutze meinen rosaroten Kopierstift als Stilett gegen mein graues Ich. Ich kann weder rechnen noch verkaufen, aber Ideen umsetzen. Und Leidenschaft zeigen. Ob ich es damit wirklich schaffe, morgen diese Mail zu schreiben? Und dann all die anderen Ideen anzugehen?

Einem geschenkten Gaul...

Gestern habe ich ein pferdelanges Gesicht gemacht und gelernt: Einem geschenkten Gaul sollte man sofort ins Maul schauen! Ich hatte mich letztes Jahr so gefreut, als ich bei der Buchung für das Mariinski-Theater im Festspielhaus Baden-Baden mit meiner Karte zum Abreißen verbunden einen Geschenkgutschein fand. Das ist aber mal nobel und eine wunderbare PR-Strategie, Neukunden zu werben, dachte ich - und fragte ungläubig die Dame an der Kasse: "Ist der für mich?" - "Ja, das ist ein Geschenk". Geschenkgutschein heißt das Ding ja auch, klar. Rund 160 E war er wert. Mir hätte sofort einfallen sollen, dass auf dieser Welt nichts umsonst zu haben ist.

Gestern nutzte ich den prächtigen Tag, um mir ein Geschenk zu machen. Voller Vorfreude hatte ich mir ein Konzert ausgesucht, dass ich mir nie leisten könnte: Das New York Symphonic Orchestra mit irgendeiner Berühmtheit und Musik von Gustav Mahler. Es waren sogar noch Plätze frei. Und dann kam die böse Überraschung. "Der Gutschein ist schon storniert", meinte die freundliche Dame an der Kasse. Ich verstand natürlich erst einmal nichts, war ungläubig und erzählte ihr meine Geschichte. Sie hängte sich ans Telefon. "Die Kundin behauptet..." Hoppla, ich behauptete nicht, das hat ein G'schmäckle, ich war verwundert, baff, ungläubig. Und musste noch einmal erklären, wie ich zu dem Gutschein gekommen war. Der sei nämlich längst per Lastschrift verbucht worden.

Die Sache hat sich dann geklärt, aber irgendwie stellte sich bei mir kein Gefühl der Befriedigung darüber ein. Anscheinend hatte es sich um Geld für eine Kartenrückerstattung gehandelt und die Kassiererin habe offenbar diesen Gutschein im Computer vergessen gehabt und dann mit meiner Karte zusammen aus dem Drucker gelassen. Dumm, solche Pannen können passieren. Nur war, als ich die Karte abholte, weit und breit vor mir niemand im Festspielhaus gewesen. Wie kann man einen Gutschein so lange im Drucker vergessen und dann auch noch auf meine überraschte Nachfrage antworten, das sei ein Geschenk? Auch hinter mir drängelte niemand, so dass Zeit zum Überlegen gewesen wäre. Wie dem auch sei - der Geschenkgutschein war kein Geschenk an eine Neukundin. Für die gibt es Sektgutscheine und einen solchen bekam ich dann als Trost und Entschuldigung. Die arme Dame an der Kasse konnte ja auch nichts für ihre Kollegin vom letzten Jahr.

Das Gefühl war unschön. Als habe man ein Kind in ein Zimmer mit geschmücktem Weihnachtsbaum geführt, nur um zu erklären, dass Weihnachten ausfalle. Ich hätte mich nicht so intensiv vorfreuen sollen. Allerdings gebe ich dem Festspielhaus und anderen Theatern zu bedenken, dass ein Geschenkgutschein für Neukunden von durchaus kleinerer Summe (5 E wären nur 1 E mehr als das Glas Sekt kostet) ein idealeres Mittel zum "Anfixen" wäre als ein bißchen Alkohol! Hätte ich nämlich ein nur dort einlösbares Sümmchen in der Hand oder einen Rabatt für die zweite Karte, ich würde mit Freuden wiederkommen und aufzahlen. Einen sehr viel besseren Sekt kann ich nämlich zuhause trinken - kein Anlass, so viele Kilometer zu fahren und Eintrittskarten zu kaufen. So viele Opernhäuser und Theater ringen um genau die ZuschauerInnen, die noch nie da waren: bindet eure Kunden mit irgendetwas!

Natürlich bin ich wegen eines Versehens, das einmal vorkommen kann, nicht böse. Wagemutig habe ich mir eine andere Eintrittskarte gegönnt für ein Ballett, das wie für mich platziert scheint zum Abschluss der Arbeiten am Nijinsky: Das Aterballetto aus Italien mit einer Uraufführung von Strawinskys Le Sacre in der Choreografie von Mauro Bigonzetti.
So sehr ich mich über dieses "Zeichen" freue, so aufgeregt bin ich. Ich kenne inzwischen Le Sacre fast Takt für Takt auswendig. Seither ertrage ich nur ganz bestimmte Aufnahmen und andere kann ich beim besten Willen nicht anhören. Und ich kenne die Rekonstruktion des Balletts nach der Choreografie Nijinskys ebenfalls fast in- und auswendig - eine der atemberaubendsten Choreografien überhaupt. Es ist nicht einfach, sich mit einem derart vorgefüllten Kopf auf ein neues Experiment des 21. Jahrhunderts einzulassen, zumal die Kritiken äußerst widersprüchlich sind.

Sollte das Aterballetto wirklich so nah am schönen Kitsch bauen, wie manche ihm nachsagen, würde es alles zerstören, was sich Strawinsky und Nijinsky zu diesem Stück je gedacht haben. Vielleicht aber ist auch das der Skandal unserer Zeit? Wo damals nur "Kakophonie" und "Verrenkung" schockierte, muss es heute vielleicht Schönheit und Kitsch sein? Ich bin schwer gespannt...

Für Interessierte noch ein Jahre alter Artikel über das Aterballetto und die Methode Berlusconi, das Tanztheater in Italien nachhaltig zu ruinieren. Auch diese Art von Kunst- und Kulturzerstörung hat Geschichte. Die Ballets Russes hätten in Paris 1909 nicht diese Erfolge feiern können, wenn nicht die Franzosen das Ballett in ihrem Land durch Vernachlässigung, fehlende Gelder und fehlenden Mut völlig zugrunde gerichtet hätten. Kommt einem bekannt vor? Nikola alias Rabenblut hat einen wunderschön bissigen Beitrag zu den Sparmaßnahmen in Kunst und Kultur geschrieben. Wenn wir uns im "alten Europa" kulturell zu Boden gewirtschaftet haben, kommt vielleicht  eines Tages eine Gruppe aus irgendeinem vergessenen, exotischen Land und zeigt uns wieder, was Kunst und Kultur an Zivilisationsarbeit leisten?

23. März 2011

Was bleibt...

Ich habe eine geheime Leidenschaft. Zusammen mit meinem Hund und einer Billigkamera stiefele ich mit Vorliebe auf Gelände herum, auf dem der Mensch Spuren hinterlassen, sich selbst aber ausradiert hat: Ruinen, Industriebrachen, archäologischen Stätten.

Es ist nicht immer erlaubt, nicht immer ganz ungefährlich, aber irgendetwas fasziniert mich an der fast morbiden Schönheit dieser absolut menschenleeren Landschaften und an den Geschichten, die solche Orte erzählen. Heute mittag bin ich wieder zu einem dieser Plätze gefahren. Nein, er liegt nicht etwa in Texas, sah aber früher einmal ein wenig so aus wie in entsprechenden alten amerikanischen Filmen. Tatsächlich aber waren es die Elsässer, die lange vor den Amerikanern Erdöl förderten und verarbeiteten. Die Zeugnisse aus der Zeit des europäischen Ölrauschs verrotten, verkommen und werden von der Natur zurückerobert. Die Geschichten dazu geraten langsam bei der Bevölkerung in Vergessenheit - es bleiben nur Spuren ...

In der Schublade rottet auch ein Manuskript dazu ("Thema trauen wir einer Frau nicht zu"), aber irgendwann wird seine Stunde schlagen. Bilder zum Vergrößern anklicken. Die Fotos von der "Deponie" sind im Herbst aufgenommen.

Was bleibt...
Eine Abraumhalde für Ölsande, Anfang 20. Jhdt. - und moderner Abraum
Die Idylle trügt und ist wegen unterirdischer Gase und Einsturzgefahr abgesperrt



22. März 2011

Radiotipp für heute abend

Eben bei Twitter reingekommen, ein super Radiotipp:
Heute abend um 19:30 im Deutschlandradio: "Tanz zwischen Messern" - acht bekannte Schriftsteller aus allen Teilen der Welt erzählen von unterschiedlichen Erwerbsmodellen im Beruf Schriftsteller ... "Schreiben ist ein seltsames Gewerbe und ein unmögliches Geschäft."

Zeit der Abrechnungen

Der März ist für die meisten Autorinnen und Autoren der Monat, in dem sie sich sozusagen statt Brot auch einmal Kuchen leisten können. Die meisten Menschen wissen das gar nicht: Tantiemen werden in der Regel nur einmal pro Jahr (bei sehr hohen Auflagen auch mal halbjährlich) abgerechnet und für diese Abrechnung haben die Verlage drei Monate Zeit. Oft flattern aber auch nur Abrechnungen mit Minuszeichen ins Haus, denn die Tantiemen müssen zuerst den Vorschuss, die Garantiesumme, einspielen, bevor sie fließen. Und immer öfter darf man sich mit säumigen und schludernden Verlagen herumärgern und Abrechnungen anmahnen - im Idealfall durch eine Agentur.

Auf alle Fälle aber erfahren die Schriftsteller im März ganz genau, wie viele Exemplare eines Buchs tatsächlich in einem Jahr verkauft und remittiert wurden. Die Panischen, die ständig Amazon-Verkaufsränge anstarren, sind dann meist völlig überrascht, dass der Großteil der Bücher in Deutschland noch körperlich über den stationären Buchhandel eingekauft wird. Und die Vielseitigen wundern sich im Vergleich von Verlagen, was beim Verkauf eines Buchs geleistet werden kann oder nicht geleistet wird.

Ich bin eine von den Vielseitigen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich ja  das zweifelhafte Vergnügen mit einer Abwicklungsgesellschaft, die mir bewies, wie man ein Buch erfolgreich an die Wand fahren kann. Und ich habe den Vergleich zwischen literarischem und Konzernverlag, zwischen Roman und Sachbuch, zwischen Gängigem und Anspruchsvollem. Seither bin ich geheilt von jeder Schubladendenke. Die Verlagsgröße wirkt sich in der Höhe der Verkäufe nicht aus. Angeblich unpopuläre Bücher oder Nischenware können sich besser verkaufen als Mainstream. Manche Bücher laufen eher über den Internethandel und manche gar nicht. Für manche Bücher kann man als Autor viel tun, bei anderen kommt man gegen fehlende Verlagsarbeit nicht an.

Wo aber liegt das Geheimnis der Verkäufe?

In all den Jahren mache ich folgende Punkte aus:
- Bücher brauchen einen absolut fähigen Vertrieb und breite Distribution
- Bücher müssen ihr Publikum finden / Verlage müssen gezielt an die Menschen ran
- Bücher und ihre Autoren müssen gepflegt, nicht auf den Markt geworfen werden
- Keine Pressearbeit ist besser als schlechte oder falsche Pressearbeit
- Markenbildung um den Autor ist besser als Markenbildung um Bücher oder Programmplätze

Das ist subjektiv und Laienmeinung, ich gebe es zu. Es deckt auch nicht all die anderen wichtigen Punkte ab, die eine Rolle beim Erfolg spielen, von denen der Glücksfaktor übrigens einer der größten ist. Für mich sind das aber die entscheidenden Punkte, die bei jeder Verlagsbewerbung und bei Vertragsverhandlungen eine Rolle spielen: Kann und will mir ein Verlag das bieten?
Man kann auch an diesen Punkten sehen, warum Selbstverlegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach nicht die Auflagenstärken erreicht wie Verlage - die beiden wichtigsten Voraussetzungen sind nämlich oft nur unzureichend gegeben: Vertrieb und Distribution - sowie Kommunikation mit den Kunden. Trotzdem gibt es ganz ordentliche Verlage, die Selbstverlegerzahlen noch unterbieten. Und es gibt Selbstverleger, die über genügend eigene Netze verfügen, um Verlage zu überbieten - aber das ist in unseren Breiten die Ausnahme.

Jedenfalls habe ich gestern wieder gestaunt. Ich bekam nämlich die Endabrechnung meines Elsassbuchs, das ja seit 2010 nicht nur restlos vergriffen ist - die ganze Reihe wird leider vom Verlag eingestellt. Gigantisch, wie sich dieses kleine, literarische "Nischen"büchlein verkauft hat, obwohl der Vertrieb in Frankreich (dank der dortigen Buchhändler) nicht klappte. Es ist eine Zahl, die man auch in der Belletristik im Konzernverlag nicht unbedingt erreicht.

Abgesehen vom Buch selbst, das natürlich für sich sprach, in Aufmachung wie Inhalt, waren hier die wichtigsten Punkte geboten:
Hanser hat einen unwahrscheinlich starken, fähigen Vertrieb und darüber hinaus eine der professionellsten Presseabteilungen, die ich je kennenlernen durfte. Vor allem aber ist das ein Verlag, der langfristig seine Autoren und Bücher pflegt - das spüren die am Buch Beteiligten, aber auch die Buchhändler und letztendlich die Leserinnen und Leser. Natürlich sind durch den hohen Qualitätsanspruch auch die Anforderungen an die Autoren entsprechend hoch - ich habe zum ersten Mal in meinem Leben zwei Exposés schreiben müssen: eins fürs Lektorat und ein spezielles für den Vertrieb. Da wird nicht einfach ein Buch auf den Markt gekippt und kurz getestet - diese Bücher kann man auch nach Jahren noch genießen. Sechs Jahre lang war das meine auf dem Markt - und trotzdem fand ich bis zum Schluss im Verlag immer ein offenes Ohr noch für kleinste Lesung am schrägsten Ort - die Bücher waren nicht nur da, sondern lagen oft gleichzeitig im Schaufenster. Auch nach sechs Jahren noch. Das sind Verlage, von denen man sich nur mit einem weinenden Auge trennt - es gibt sie noch, aber sie sind besonders, nicht die Regel.

Glücklich und auch stolz schaue ich zurück auf den Erfolg, aber vor allem auf all das, was ich dabei lernen durfte. Vertrieb und Distribution werden für mich und meine französische Kollegin die große, völlig neu zu denkende Voraussetzung sein, wenn wir unsere grenzüberschreitenden Buchprojekte planen. Und da freue ich mich schon darauf, diesmal von den Franzosen zu lernen, die in dieser Hinsicht sehr viel flexibler und offener agieren sollen.

Auch wenn es das Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" in dieser Form nicht mehr gibt*** - es ist der Nährstoff für weitere Bücher dieser Art!

*** In diesem Jahr werde ich das Buch für Liebhaber neu auflegen, dann allerdings auch in anderer Aufmachung, denn die ist ja vom Verlag geschützt. Weiterhin zu haben ist allerdings das Hörbuch!

21. März 2011

Haut rein!

Eigentlich sollen Klappentexte Leserinnen und Leser ein Buch schmackhaft machen. Aber werden sie je danach gefragt, was sie auf einem Buchrücken wirklich lesen wollen?
Wenn schon neue Wege gehen, dann richtig. Ich lasse mir ins Handwerk schauen und stelle drei Versionen eines Klappentextes zum Nijinsky-Projekt vor. Damit nicht genug: Ich frage hiermit meine Leserinnen und Leser, ob sie Version 3 (der Weisheit vorläufig letzter Schluss) tatsächlich neugierig auf das Buch macht? Was könnte ich mir sparen, was ist Gesülze, wo steigt man aus? Birgt vielleicht eine alte Version den besseren Kick? Es darf tüchtig kritisiert werden, ich höre mir neugierig alles an.

Version 1

Das war der - von mir verfasste (ich mache das auch für Verlage) - ursprüngliche Text der Buchvorschau für die Buchhändler. Für einen Klappentext zu lang - da wäre einfach tüchtig gekürzt worden. Zum Lesen / Vergrößern anklicken (jetzt lesbar!):


Version 2

Spart euch das Kritisieren hier. So sieht ein Text aus dem Mülleimer aus, bei dem die Autorin versucht, aus Version 1 eine kürzere und populärere Version zu stricken - und den üblichen Stuss produziert. Die Streichungen und Neuanläufe sind original! Diese Version 2 gibt es in mindestens 5 grausamen Varianten, in denen ich mir darüber klar zu werden versuchte, worauf es ankommt. Ideal, um zu lernen, wie Klappentexte garantiert nicht funktionieren:
Isadora Duncan wollte ein Kind von ihm... blablabla... Der erste Weltstar des Balletts und beste Tänzer des 20. Jahrhunderts verkehrte mit dem Aga Khan, der Marchesa Luisa Casati oder dem Bloomsbury Kreis um Ottoline Morrell: Vaslav Nijinsky, der Star von Sergej Diaghilews Ballets Russes, versetzte mit seinen scheinbar schwerelosen virtuosen Sprüngen und einem legendären androgynen Charisma das Publikum in Rauschzustände. Mit seinen gewagten Choreografien provozierte er die größten Skandale der Theatergeschichte. Von Nijinskys Rollen und dem Gesamtkunstwerk der Ballets Russes an seiner Seite Igor Strawinsky... VN und die BR beeinflussten die Avantgarde Schwindelnde Höhen erreichte sein Ruhm...
Version 3

Das ist sozusagen die Endversion fürs Überarbeiten, Feilen und vielleicht Kürzen - und jetzt erst einmal zum Kritisieren! Der Text wird später auf dem Buchrücken stehen, Klappen gibt es in dem Sinne nicht, weil das HC keinen Schutzumschlag haben wird. Die Autorenkurzbiografie wird man vorn im Buch lesen können.
Isadora Duncan wollte ein Kind von ihm. Charlie Chaplin und Rudolph Valentino ließen sich von ihm inspirieren. Die Pariser Modewelt um Louis Cartier, Paul Poiret, Coco Chanel und Guerlain produzierte passend zu seinen Rollen. Der erste Weltstar des Balletts feierte mit den Berühmtheiten der europäischen und russischen Avantgarde, lebte mit einem Mann und heiratete eine Frau.

Vaslav Nijinsky (1889-1950), der Startänzer der Ballets Russes, versetzte sein Publikum mit virtuosen Sprüngen und androgynem Charisma in Rauschzustände. Seine gewagten Choreografien provozierten Skandale. Doch auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stürzte der Tänzer ab: Eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie, zweifelhafte Diagnosen und Therapieexperimente trieben seine Seele in den Rückzug.

Petra van Cronenburg sucht nach einer Annäherung an den Künstler und Privatmenschen zwischen den Extremen, zwischen höchstem Ruhm und tiefster Tragödie, zwischen Erfüllung und Leid. Sie erzählt von einem Menschen, der nur für die Kunst lebte und ohne Kunst nicht lebensfähig war. Welche Faszination Vaslav Nijinsky noch heute als Tänzer, Choreograf, Zeichner, Autor und psychisch Kranker ausübt, loten Gespräche mit dem Choreografen XX und dem Kurator YY aus.
Welche aufregenden Menschen ich hier interviewt habe, werde ich natürlich erst ein wenig später verraten...

20. März 2011

Die "Zone" im Film

Nach den Buchtipps habe ich noch einen sehr besonderen Filmtipp, der zufällig ebenfalls aus Russland stammt. Jedes Mal, wenn ich die Fernsehbilder aus Japan sehe oder die apokalyptischen Fotos von James Nachtwey aus Japan, kommt mir der Ausdruck "die Zone" in den Sinn. Verstärkt wird das durch die Vermutung, dass auch Fukushima für lange Zeit wie Tschernobyl eine "Zone" nach sich ziehen könnte, obwohl man jetzt noch so tut, als hätte man alles im Griff und als sei Radioaktivität ab- und überbaubar.

Wer einmal bewusst umschalten und sich auf einen künstlerischen Jahrhundertfilm einlassen möchte, dem empfehle ich Andrej Tarkowskis Meisterwerk "Der Stalker" (Inhalt und Rezension) - auf DVD zu haben. Als Tarkowski den Film 1979 in der Sowjetunion drehte, hat er nicht ahnen können, dass es eines Tages tatsächlich illegale Eindringlinge in einer echten "Zone" geben würde. Heute sind das Menschen, die entweder hoffnungslos verstrahlt sind oder sonst im Leben nichts mehr zu verlieren haben, die in der Sperrzone von Tschernobyl radioaktiv hoch verseuchte Dinge stehlen, um sich mit deren Verkauf außerhalb der Zone irgendwie das Überleben zu finanzieren.

Tarkowskis "Zone" ist jedoch keine eindeutige Sache - und auch der seltsame Stalker, der gegen das Gesetz und unter Lebensgefahr den "Wissenschaftler" und den "Schriftsteller" in die "Zone" bringt, ist eine höchst vieldeutige Gestalt. Der Ort einer unfassbaren Katastrophe hat sich durch seine Verschlossenheit mythisiert - die draußen Lebenden glauben, wer ins Innerste vordringe, bekomme dort seinen geheimsten Wunsch erfüllt. Die Reise ist streng verboten, aber die drei Menschen schlagen alle Bedenken in den Wind und machen sich auf die Suche. (Abgesehen davon kann ich alle Filme Tarkowskis schwer empfehlen - er ist einer der Künstler, die mich in meinem Leben am nachhaltigsten beeindruckt haben).

Von einer Zone redet heute übrigens auch der Kulturwissenschaftler Harald Welzer in der FAS: Nach Fukushima: Abschaffung der Komfortzone. Einer der lesenswertesten Artikel der letzten Wochen.

Es klingt ja immer alles so schön wie "haben wir im Griff" aus Fukushima. Ausgerechnet das vielgescholtene französische Institut für atomare Sicherheit ist dabei, die von Japan (viel zu langsam und lückenhaft) übermittelten Strahlenwerte in Animationen umzusetzen. Hier kann man die Verteilung der radioaktiven Wolke über Japan jeweils bis zum Vortag aktuell mitverfolgen. Da liegt dann auch das angeblich nicht betroffene Tokio ganz plötzlich im roten Bereich (etwa am 15.3.)...

Dass es die Wolke auch bis über den Atlantik blasen wird, wird auch nicht überall verraten. Das IRSN hat zusammen mit dem Wetterdienst Météo France und dem CMRS Toulouse eine Animation ihrer Prognose über die globale Verbreitung erstellt. (Hier mit verschiedenen Infos und Messwerten und hier die Animation direkt). Leider sind sämtliche Infos derzeit nur auf Französisch verfügbar, aber Bilder und Zahlen sprechen ja auch Bände. Es kann übrigens wegen der vielen Abrufe öfter dazu kommen, dass der Server klemmt. Alle Zahlen sind Näherungswerte und Prognosen, man beklagt die mangelnde Transparenz in Japan bezüglich gesicherten Zahlenmaterials. Man rechnet damit, dass die Wolke Mittwoch oder Donnerstag über Frankreich ankommen wird - durch die große "Verdünnung" soll sie "völlig ungefährlich" sein. Das IRSN kommt in etwa auf Werte, die leicht unter dem radioaktiven Wert in den 1960ern zur Zeit der Atomwaffentests liegen soll.

Erinnern wir uns bei der Gelegenheit, dass nach Tschernobyl die radioaktive Wolke brav an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland Halt machte. Erst nach Jahren waren französische Behörden und Medien so weit, eine Verseuchung zuzugeben. Die wahren Vorkommnise in Fukushima werden wir vielleicht auch erst in Jahren erfahren, nur kann dank Google Maps (verrückt irgendwie) heute nicht mehr ganz so viel verschwiegen werden - die Satelliten bringen so manches an den Tag.

19. März 2011

Am Nullpunkt

In regelmäßigen Zyklen glauben Menschen, die Zeiten stünden besonders schlecht ("früher war alles besser"), die Menschheit lebe am Abgrund und demnächst platze der Planet wie ein Ballon auseinander. Viel interessanter als die Apokalypsen, die sich so vortrefflich in alle Richtungen missbrauchen lassen, sind jedoch die wirklichen Umbruchzeiten. Aber kann man die spüren, wenn man mittendrin sitzt? Kann man, während alles den Bach herunter zu gehen scheint, Zukunft erdenken? Ein paar arme Irre versuchen auch das mit schöner Regelmäßigkeit in der Geschichte - und es gelingt ihnen vielleicht sogar deshalb, weil sie wirklich oft arm sind und darum nicht viel im alten System zu verlieren haben: Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle - oft im Verein mit Philosophen, Wissenschaftlern und anderen Denkern und Forschern.

Die letzte, aus unserer Sicht massiv spürbare Zeitenwende geschah um 1900. Die Belle Époque, die "schöne Epoche", war überfettet und feist in die Jahre gekommen, übersättigt feierte man schließlich einen Lebensstil, der den Untergang zum ästhetischen Moment hochstilisierte: Fin-de-siècle, das Jahrhundertende, Jahrtausendende, Zeitenende. Nie mehr sonst haben genau in dieser Zeit derart viele Künstler und Intellektuelle Trotz, Anarchie und Aufstand geübt wie damals - und das grenzübergreifend von Paris bis Moskau und schließlich über den großen Teich. Es entstand eine brodelnde Kunst-Kultur, eng verknüpft mit dem Leben, die wir heute als Avantgarde kennen. Ihre große Blütezeit ging erst mit den 1920ern zu Ende. Die Avantgarde veränderte die Welt: Sie erprobte neue politische Ideen, neue Rollenverhältnisse. Sie setzte sich mit den Lebensveränderungen durch Maschinen, Massenmedien und Elektrifizierung auseinander. Doch idealistische Bewegungen sind stets verführbar. Von West bis Ost versackten diejenigen, die einst zum großen Weltenumbruch angetreten waren, im Faschismus, der auch sie erstickte.

Seit meiner Schulzeit bin ich von der Avantgarde fasziniert, aber erst mit der Öffnung zum Osten und in den letzten Jahren stehen zunehmend mehr russische Texte in Übersetzungen zur Verfügung. Weil die Avantgarde, die in Paris ihr internationales Zentrum hatte, ohne die russische Avantgarde (das "Silberne Zeitalter") nicht denkbar war, ist diese Gesamtschau so wichtig. Für mich wird das Thema immer spannender, weil sich so viel über unsere eigene Zeit und unser Reagieren darauf lernen lässt. Manchmal wirkt jene Zeit wie ein Spiegel. Ein paar Buchtipps habe ich dazu, einige fürs "breite" Publikum, andere fürs fachliche Vertiefen.

Ursula Keller / Natalja Sharandak: Abende nicht von dieser Welt. St. Petersburger Salondamen und Künstlerinnen des Silbernen Zeitalters, AvivA-Verlag

Eine Sammlung von Portraits berühmter Russinnen von Sinaida Gippius über Anna Achmatowa bis Natalja Gontscharowa, die sich nicht nur spannend liest, sondern sehr gut das Phänomen künstlerischer oder literarischer Salons beschreibt - und deren Wirkung auf Bildung, Kultur und Frauenrollen. Die kleinen Keimzellen in den Privathäusern waren revolutionär und die Emigrantinnen exportierten ihre Ideen schließlich auch nach Paris.

Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909-1921, HC bei Hanser, TB bei Fischer

Das opulente 700 Seiten starke Werk ist ein gut lesbares Fachbuch und das Standardwerk überhaupt. Es zeigt die eindrucksvolle Petersburger "Laborküche" von Künstlern, Architekten und Utopisten, die in dieser Stadt um die Jahrtausendwende nach neuen Ausdrucksformen und "Weltenideen" suchten, bis Oktoberrevolution und Krieg dazwischenkamen und viele Denker in die Emigration trieben. Für mich aufregend wie ein kulturgeschichtlicher Krimi - und nachdenklich machend für alles, was uns derzeit umtreibt und verunsichert.

John E. Bowlt: Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900-1920, Paperback bei dtv

Bowlt ist zur Zeit der Kenner der russischen Avantgarde, an seinen Büchern kommt kein Forscher und kein interessierter Laie vorbei. Zum Glück schreibt er absolut verständlich bis unterhaltsam und ist spürbar mit Leidenschaft beim Thema. Dieser Band, der in einer Reihe mit Büchern über Wien, Berlin und München steht, ist überreich bebildert, aber nicht nur ein Augenschmaus. Auch weniger Beschlagene in Sachen Kunst erahnen hier, wie Kunst sich auf Gesellschaft und Politik, aber auch Unterhaltung und Wirtschaft auswirkt und unsere Welt lebbar und verstehbar macht. Wer begreifen möchte, wie der Mensch der Moderne "modern" wurde - hier lässt sich das in Wort und Bild nachvollziehen.

Elizabeth Wilson: Bohemians. The Glamorous Outcasts, Tauris Parke Paperbacks, London

Viele gute Bücher werden leider nie übersetzt. Dieses ist in zweifacher Hinsicht gut: Die Autorin schreibt in einer Anschaulichkeit und Leidenschaftlichkeit, das man schon im Vorwort ständig Sätze unterstreichen möchte, weil sie so wunderbar und treffend sind. Und trotz aller Lockerheit schafft sie es, dem Phänomen der Bohème zwischen Paris, London, New York, Berlin, München und Kalifornien kulturwissenschaftlich genau nachzuspüren. Ein großer Verdienst dieses Buchs ist es, dass sie bei der Frage nach den Ausgestoßenen der Avantgarde nicht stehenbleibt, sondern immer auch fragt, ob es in späteren Zeiten ähnliche Bewegungen gegeben hat. Wie werden Künstler und Intellektuelle zu Außenseitern einer Gesellschaft und wie verändern sie sie? Das "Land Bohemia" scheint variabel zu sein, aber noch nicht tot...

Groys / Hansen-Löve / von der Heiden (Hrsg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Suhrkamp Wissenschaft

Das fast 800 Seiten starke Taschenbuch ist im wahrsten Sinne ein "Klopper". Die Sammlung von zum Teil erstmals übersetzten Originaltexten der russischen Avantgarde hat manchmal einen Apparat von Endnoten, der länger ist als der Originaltext, sich aber genauso interessant liest. Sicher spannend, immer wieder einmal einen Text herauszupicken und auf sich wirken zu lassen, aber ohne Vorkenntnisse über unterschiedliche Kunstbewegungen vom Futurismus bis Suprematismus kein wirkliches Vergnügen. Es handelt sich eben um ein wissenschaftliches Fachbuch, eine Textsammlung. Wer sich darauf einlassen kann, wird wahre Schätze des Denkens ausgraben und in eine Zeit blicken, von der wir im Westen fast nichts wissen.

Die Verführbarkeit zu Utopien, die verstiegenen Zukunftsideen mögen für uns heute teilweise fast lächerlich und grotesk wirken. Aber so lustig da manche Idee wirkt, bleibt einem das Lachen im Halse stecken, weil sich Stalinismus, Terror und Diktatur bereits darin zeigen. Es ist faszinierend, wie sich Intellektuelle damals Gedanken um neue soziale Systeme oder eine Reise zum Mond machten, um Volksbildung oder neue Medien, die weltweit in Echtzeit Menschen kommunizieren lassen könnten. Genauso erschreckend ist es aber auch zu sehen, wie Denker in Zeiten der Unsicherheit und Umbrüche zu vermeintlicher Sicherheit streben, zu faschistischen Ideen und Kontrolle. Wenn es nicht wirklich anstrengend zu lesen wäre, würde ich "Am Nullpunkt" zur warnenden Pflichtlektüre empfehlen.

Die beiden dicksten Luxusbücher habe ich mir dank einer Spende für dieses Blog kaufen können - sie wären sonst nicht in meinem Budget gewesen. Damit hat der freundliche Spender mir nicht nur eine Freude gemacht, sondern auch auf mein Denken eingewirkt. Und vielleicht hat er sogar eine Facette zu einem neuen Buch von mir beigetragen - denn ohne eigene Ideen vergeht so eine Lektüre kaum. Wer die Arbeit an meinem Blog wertschätzt - die Danketaste mit den Büchergutscheinen (ab 5 E möglich) gibt's rechts im Menu (ich nehme bewusst keine Geldspenden).

18. März 2011

Das böse Wort mit D

Spontan habe ich heute nach dem Frühstück bei der Aktion #schoenesWort ein Wort getwittert, das mir seit Tagen auf der Zunge liegt: Demut. Ich konnte gar nicht so schnell weiterklicken, wie Protest aufkam. Einige fanden das angesichts der Weltsituation völlig daneben. Mir ist natürlich bewusst, dass das Wort Demut gerade in Machtstrukturen oft mit Fehlbedeutungen aufgeladen wurde - und dass es jede Menge falscher Demut gibt. Aber was kann das Wort dafür, wenn Menschen es nicht verstehen? Oder wenn sie ihm die Schuld für Dinge geben, die Menschen Menschen antun?

Ich will hier keinesfalls predigen. Wer mich kennt, der weiß, ich habe einmal Theologie und Judaistik und ein bißchen Religionswissenschaften studiert, aber ich bin auch genau deshalb aus der Kirche ausgetreten. Ich habe die masochistischen oder noch schlimmer, die heuchelnden falschen Demütigen kennengelernt, die sich sozusagen mit der Geißel auf die eigene Brust klopften, um zu sagen: Schaut, wie überaus bescheiden und demütig ich bin, viel besser als ihr, viel gottgefälliger! Und ich habe stille, in sich ruhende Menschen in Klöstern erlebt, die Demut als Dienst am Mitmenschen verstanden und - statt viel zu reden - einfach selbstlos handelten.

Mein erstes Demutserlebnis hatte ich jedoch vollkommen unkirchlich und weltlich als Kind im Garten. Es war schwarze Nacht und wir beobachteten Sternbilder. Die ganz großen konnten wir schon finden und uns am Himmel orientieren, hell leuchteten ihre Sterne. Wie eine ordentliche Landkarte schien das "Himmelszelt", übersichtlich und behaglich. Aber je mehr ich schaute, desto mehr Sterne tauchten auf, desto mehr Winzlinge leuchteten immer kräftiger. Schon ließen sich innerhalb der Sternbilder so viele neue Lichter erkennen, dass die Landkarte in ihren Grenzen zu verschwimmen begann. Es war, als würde sich der Himmel mit jeder Sekunde mehr weiten. Das Zelt hob ab. Das war ein Wunder von unzählbar vielen kleinen Diamanten im Nichts, ein überirdisch schönes Flackern.

Ich werde diesen Moment nie vergessen - und ich kann ihn in manchen Nächten in der absoluten Stille wiederholen: Plötzlich hatte ich das Gefühl, nicht ich würde die Sterne beobachten, sondern die Sterne würden mich beobachten. In dem Maße, mit dem ich den Himmel zu dehnen schien, verlor ich selbst an Größe. Nun war ich nur ein kleines Kind. Aber ich schrumpfte zuerst auf Sternenpunktgröße und schließlich zum Staubkorn. Das kosmische Staunen, das mich dabei erfüllte, war so grandios, dass es mir den Atem nahm. Ein Staubkorn mit Allgefühl. Ich fühlte mich nämlich plötzlich als Teil des Ganzen. Ich konnte zwar nicht erfassen, was dieses "Ganze" sein sollte, aber ich fühlte mich unendlich geborgen und in mir ruhend. So klein und dumm und winzig ich da stand, zu irgendetwas musste ich nütze sein, sonst würde ich nicht auf einem dieser Planeten herumwuseln. Irgendwie würden ganz viele Staubkörner zusammen auch einen Stern bilden können und vielleicht ein wenig Licht abgeben - aber dazu mussten sie erst einmal wissen, wie klein sie wirklich sind.

Man braucht für dieses Urgefühl der Religio (= Rückbindung) keine Religion. Bergsteiger kennen es genauso wie Piloten, man kann es auf dem Meer erleben oder in der Wüste. Die Natur ist eine gute Lehrerin. Demut nennt man diesen Gegensatz zum Hochmut. Solche Demut rückt einen im Weltzusammenhang wieder an den richtigen Fleck, zeigt dem Menschen den Platz in der Natur. Wir wollen die Wüste, das Meer, die Berge, das All bezwingen und glauben, alles sei machbar. Aber wer das je allein mit reiner Menschenkraft versucht hat, wird plötzlich ganz klein schrumpfen. Die Natur ist größer als wir. Diejenigen mit der Hybris, die gar nicht Demütigen, werden manchmal vom Berg abstürzen, manchmal den Berg zerstören. Das Gefühl des Aufgehobenseins kennen sie nicht. Die anderen werden vielleicht über ihre Kräfte gehen, vielleicht scheitern. Aber sie haben die Möglichkeit zu lernen, wie die Staubkörnchen namens Mensch mit dem Berg, statt gegen den Berg leben könnten. Teil eines großen Ganzen zu sein, der Natur, des Kosmos - das bedeutet auch, dass ich dafür Sorge tragen muss, meine Umwelt hege und pflege. Jedes Staubkorn ist dafür verantwortlich, was mit dieser Erde geschieht - und in der Summe hätten wir Sternenkräfte...

Ich denke in den letzten Tagen sehr viel darüber nach, warum in einem der entferntesten Länder von Japan eine solch panische, oft kopflose Aufgescheuchtheit losbricht. All dieses zynische, menschenverachtende Besserwissertum, dass seit Tagen in den Kommentarspalten der großen Zeitungen regelrecht ausgekotzt wird ... Ich verstehe es nicht. Wenn jemand panisch reagieren müsste, dann doch die direkt Betroffenen? Wie viele verächtliche Worte kursieren stattdessen über die ach so stoischen Japaner und ihre Wahrnehmung von einem Ganzen vor dem Individuum. Würden wir im Ernstfall - der hoffentlich nie eintreten wird - denn nur unseren eigenen Hintern retten? Oder würde unsere dünne Kruste Zivilisation wie vor Jahren in New Orleans schon mit einem Wirbelsturm zerbröseln?

Alle Erklärungsmodelle, die ich mir für dieses Phänomen der Hysterie zurechtgelegt hatte, überzeugen mich letztendlich nicht: Kommt die derzeit vom Ausland wieder belachte German Angst durch mangelnde Bildung zustande, durch fehlende Empathie oder durch Hybris? Was lässt die Leute so durchdrehen, obwohl sie weit, weit weg im Warmen und Sicheren auf ihren Sesseln sitzen?

Ich habe keine Antwort auf meine Fragen und muss zugeben: diese Hysterie macht mir Angst. Im Moment frage ich mich, ob es etwas mit dem Verhältnis zur Demut zu tun haben könnte. Irgendwo und irgendwann muss sie manchen verlorengegangen sein. Irgendwie wollen sich viele nur groß und stark und mächtig fühlen. Alles im Griff. Alles machbar. We are the kings und Schwäche gilt nicht. Es gibt da offensichtlich ein großes Problem mit der Hybris. Dem Hochmut.

Für dieses Kinderallgefühl, dieses Aufgehobensein des Winzlings und Kraftsaugen aus den Sternen, für das Urvertrauen, braucht es Besinnung. Die Schwärze aus unseren Fernsehern und Bildschirmen schlägt uns derzeit fast nieder. Vielleicht wäre es nicht übel, in der nächsten sternenklaren Nacht den Mut aufzubringen, sich endlich einmal wieder der Schwärze des Kosmos zu stellen. Das ist allerdings nicht ganz ungefährlich. Das Gefühl da draußen in der Natur hat nämlich schon so manchen völlig verändert. Es kann ein heilsamer Schock sein, wieder auf sich selbst zurechtzuschrumpfen.

17. März 2011

Adrenalin pur

Manchmal helfen bei hohem Arbeitspensum, trübkaltem Wetter und Nachrichtenübersättigung weder Kaffee noch Tee, um richtig wach zu werden. Und dann muss ich nur mit den richtigen, inspirierenden Querdenkern kommunizieren, schon stehe ich unter purem Adrenalin. Wahrscheinlich verzichten deshalb so viele Künstler aufs Bungeespringen und sind doch süchtig nach dem Kick, den Kreativität gibt, wenn sie wild überschießen darf.

Es schwelte schon länger im Hinterkopf, war nur nicht klar umrissen und die Zeit war nicht reif. Außerdem dachte ich selbst noch viel zu konventionell und feige. Aber heute kam irgendwie alles zusammen: Miba Eisbraun brachte mich dazu, einfach alles Vertraute neu und anders zu denken. Eine französische Kollegin brachte mich dazu, einfach alles Bekannte "fremd" zu denken. Es kam ziemlich plötzlich zu einer Ideenexplosion - Paris meets Leipzig ... (beide haben Buchmesse).

Man stelle sich vor, "Buch" könne völlig neu gedacht werden. Ohne all die Jammerei um Verlage, Vertrieb, Buchhandel, Formen, was nicht geht, was noch nicht geht, was vielleicht danebengeht. Zwei Frauen, ein Projekt. Zwei Nationen, zwei Kulturen, ein Buch. Ein Buch und noch ein Buch, eine Serie. Im Buchhandel und nicht im Buchhandel. Hüben wie drüben, französisch und deutsch. Mit klugen Köpfen und Profis ihres Fachs. Verlagen zeigen, was geht. Nicht ins Grüne arbeiten, finanziert werden. Innovativ sein und unbefriedigte Bedürfnisse bei LeserInnen stillen. Grenzgängerei auf allen Ebenen.

Uff. Das Schlimme an solchen Ideen: Sie sind in etwa so aufwändig wie eine Existenzgründung. Sie wollen gut vorbereitet sein. Kostenrechnungen wollen erstellt werden. Kontakte geknüpft werden. Bikulturell und zweisprachig.
Irgendwie fügt sich eins zum anderen: Ohne das "Selbstbasteln" des Nijinsky-Projekts hätte ich gar keinen Einblick, was Bücher wirklich kosten und an welchen Stellen man sparen kann und nicht sparen sollte. Ohne die Bücherfrauen wüsste ich gar nicht, wo ich Rat und Tat und Fachfrauen finde. Ohne mein komisches Berufssammelsurium wäre ich für diesen Job gar nicht geeignet.

Noch wird das Ganze verdrängt - das Nijinsky-Buch verlangt jede freie Minute, jedes Energiezpfelchen von mir - die Feierabende sind kurz und rar. Aber dann ist Schluss mit dem "Sabbatsemester". Natürlich rede ich nicht über ungelegte Eier, zumal ich da abergläubisch bin. Aber Freunde des Dreiländerecks und seiner Genüsse können sich vielleicht vielleicht schon einmal ein wenig vorfreuen auf die Zukunft. "Zwischendurch" kommt als Wartetrost mein Elsassbuch wieder.

Tja - jetzt stehe ich vor einem ganz komischen Dilemma: Würde mir morgen ein Verlag einen Vertrag anbieten, hätte ich vielleicht nicht einmal mehr Zeit, ihn zu lesen...

Ein Buch mit eigenem Kopf

Bücher sind ein wunderliches Ding. Sie scheinen immer gleich auszusehen: Ein Deckelgebilde hält Seiten, die etwas erzählen oder auch nicht. Recommendation concerning the International Standardization of Statistics Relating to Book Production and Periodicals heißt der Paragraphenwurm der UNESCO, der Bücherwürmern sagt, was Sache ist. Darin wird akribisch definiert, was Buch sein darf und was nicht. Eine UNESCO-Ausschlussliste für die bösen Werke also, die nur vorgeben, ein echtes Buch zu sein. Telefonbücher, Atlanten, als Hardcover 300seitig redigierte Preislisten, nicht mit mechanischen Druckverfahren hergestellte Bücher, wahrscheinlich sogar das umfangreiche Manuskript von Jack Torrance dürfen sich am Welttag des Buchs nicht feiern lassen.

Bücher sind ein verlässlich Ding. Sie tragen weithin sichtbar die Aufschrift "Roman" oder zwängen sich in ein Genre-Regal, sie werden von Buchhändlern hilflos aussortiert, wenn sie Genregrenzen sprengen. Manche glänzen mit Aufklebern wie "Buch des Monats" oder "Spitzentitel". Seit der Abschaffung der Schriftrollen und Pergamente stricken wir an der kollektiven Vorstellung vom Buch, das von richtigen Buchautoren geschrieben sein muss, sonst ist es womöglich nur ein Tagebuch. Bücherwürmer wissen das.The General Conference of the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization mit ihrer Recommendation concerning the International Standardization of Statistics Relating to Book Production and Periodicals - welch ein Wortwurm! Verschlafen haben sie das E-Book...

Bücher sind frech. Neue Formen wollen alte stürzen. Doch wir zähmen sie sogleich und diskutieren Schubladen und Normen: epub, pdf, app. Was darf ein E-Book und was nicht? Reicht es, Papier zu scannen oder müssen Bücher künftig interaktiv sein? Ist eine App noch ein Buch? Wir haben genug von "totem Holz", beschimpfen die einen das Buch. Wir brauchen Haptik, Genuss, wir wollen Bücher streicheln, brüllen die anderen. Und so manch einer geht ganz leise in uralte Bibliotheken, inhaliert den Staub der Jahrhunderte, als sei es eine Droge, lässt sich eine Inkunabel vorlegen-  und streift vorsichtig und genüsslich die weißen Handschuhe über. Manche Bücher verlangen Respekt.

Währenddessen machen die Bücher, was sie wollen. Sie lösen sich von ihren Menschen und spazieren allein in die Welt hinaus. Sie nehmen ihre Geschichten einfach mit. Früher haben sie nur Zeiten überdauert und Jahrhunderte überlebt. Heute erobern sie den Raum. Der Reiseführer ist mit dem GPS verbunden und nudelt in der richtigen Kirche die richtige Musik ab. Wandelbare Stadtgeschichten vernetzen sich im Internet und verdichten sich zu elektronischen Büchern, geschrieben und erfunden von Fußgängern - nicht mehr von echten Buchautoren. Wandelbücher von Wandlern geschrieben. Fußgängerbücher, multimediale Bücher, Multiple-Choice-Bücher mit offenen Enden - Tagebuchschreiber werden Mitautoren, Leser greifen in Geschichten ein und es wird geklickt und verlinkt und vernetzt. Und fleißig raubkopiert.

Autoren kämpfen um Urheberrechte und manche Leser kämpfen um Bücher für alle und jeden. Autoren kämpfen darum, Autoren zu sein. Leser kämpfen darum, Autoren zu werden. Bücher werden verliehen, unzählige Male kopiert, verschenkt und wie die Sau um den Erdball getrieben. Bücher haben es schwer. Je öfter sie sich klonen lassen, desto eher gesteht man ihnen Überleben zu. Nicht mehr das Material bestimmt die Dauer, sondern die Masse; nicht mehr der Inhalt, sondern der Profit. Manchmal nähert sich so ein Erfolgsbuch dem bösen Telefonbuch an. Und manchmal, in Umbruchzeiten, scheinen sich Bücher von ihren Menschen zu lösen und ein Eigenleben zu entwickeln. Brauchen Menschen Bücher oder brauchen Bücher Menschen? Wie viel Print muss sein, wie viel Experiment darf sein? Wer ist Autor und was ist Lesen? Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch?

Zur Leipziger Buchmesse, die heute beginnt, stehen sie wieder brav in Reihe. Und sogar die E-Books kommen ordentlich daher, in Reader gepackt, im genormten Seitenoutfit. Selbst das elektronische Eselsohr darf nicht fehlen. Kauft mich! Die Masse macht ein Buch, ein richtig erfolgreiches Buch, ein Telefonbuchromanspitzentitelbuch.

Auf der Leipziger Buchmesse hat sich jedoch in Halle 3, Stand E 521 ein besonders freches Buch eingeschlichen. Eine kleine Buchrevolution. Dieses Buch hat nämlich seinen eigenen Kopf. Und obendrein keine Brustwarzen. Mit 21,0 x 29,7 cm brächte es die Fachkommission der UNESCO zum Frohlocken und Holz und Print ist da irgendwie auch. Die Haptiker - diese Leute, die Bücher streicheln und Geschichten liebkosen, bekommen die weißen Handschuhe gleich mitgeliefert.

Es ist das erste transmediale EinBUCH der Welt.

Oder ist es eher ein EINbuch? "EINBUCH 1 1 von 1", "Einbuch 2 1 von 1", klingt nach Verweigerung und Einzigartigkeit - Auflage hat dieses Buch nicht nötig. Auf den Kopierer lässt es sich so leicht nicht legen. Und doch steht es irgendwie frei bei youtube im virtuellen Raum und irgendwie doch nicht.

Angewandte, Bildende und Darstellende Kunst in Bündelung
Kunst (Performance, Video, Fotografie, Skulptur, Objekt) . Literatur . Klang

Das alles verspricht das transmediale EinBUCH. Miba Eisbraun zeichnet dafür verantwortlich, aber wer mag Miba Eisbraun sein? Ein echter Buchautor oder eine echte Buchautorin? Oder ein Mensch, der fotografiertbildhauertschreibtkomponiertfilmtperformanced? Schlagen wir doch das Buch einmal auf...

So einfach ist das nicht. Das Buchobjekt will liebevoll behandelt und demontiert werden. Demontage von Büchern? Zwischen Text und Fotografie verbirgt die Skulptur Buch eine DVD. Eine einzige DVD für ein einziges Buch. Millionenfach, zum Trailer gekürzt, abzurufen bei youtube: die Performance. Oder ist es eine Lesung? Die Geschichte: eine einzige für ein einziges Buch. Millionenfach abzurufen in einem Blog, gestylt in absolutem Selfmade-Understatement: Just another wordpress.com-site. Gedruckt, aber nicht auf Papier. Gelesen, aber nicht in einer Lesung. Das EinBUCH ist inszeniert, fotografiert, aufgeführt, gefilmt, hergestellt. Gleichzeitig elitär begrenzt auf das Extrem des Begrenzbaren - und doch weltweit verfügbar in gewandelter Form. Ein Objekt, das man vorsichtig mit Handschuhen berührt; ein Datenstrom, den man sich nachlässig herbeiklicken kann.
Wo ist das Buch, wo fängt es an, wo hört es auf? Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch ist ein EinBUCH?

Miba Eisbraun: Das Blog zum EinBUCH 1 1 von 1
Die Performance in Kurzfassung
Live auf der Leipziger Buchmesse bis Sonntag in Halle 3, Stand E 521

16. März 2011

"Liquidatoren"

Einen Artikel muss ich jetzt empfehlen, weil solche Artikel notwendig und wichtig sind gegen das Vergessen - und weil diejenigen eine Stimme bekommen, deren Existenz immer noch und immer wieder totgeschwiegen oder weggelogen wird.

Der Auslandskorrespondent Alexei Makartsev schreibt für die Rheinzeitung über einen der verstrahlten Liquidatoren von Tschernobyl und zieht Parallelen zu den 50 Arbeitern, die in Fukushima unter höllischen Bedingungen kämpfen. Und nun schickt Moskau "Liquidatoren" aus Tschernobyl zu den Reaktoren nach Japan...
Alexei Makartsev twittert übrigens als @51Nord0West aus London.

In dem Moment, in dem ich diesen Beitrag online gestellt habe, vermeldet Reuters, dass die japanische Polizei versuchen soll, mit Wasserwerfern den Reaktor zu kühlen. Das zeigt nicht nur, wie verzweifelt die Lage ist. Wie viele dieser Männer haben sich einst ein völlig anderes Leben vorgestellt? Wie freiwillig, gezwungen oder verzweifelt werden sie das tun? Und was kommt danach?

Noch ein absolut lesenswerter Beitrag völlig anderer Art, denn man sieht vor dem inneren Auge förmlich die Maus aus der Sendung mit derselben wie ein HB-Männchen in die Luft gehen: Dedalus Root brüllt seine Facebook-Freunde an: Don't just click!

15. März 2011

Dreifach sprachlos

Die Arbeit macht mich dieser Tage sprachlos im Blog, das Layouten und Setzen eines Buchs ohne Profisoftware ist Maloche pur - und in meinem Fall höchst förderlich für einen steifen Hals. Daneben ist mir jedes Tippen (auch von Mails) nur noch zuwider.

Sprachlos bin ich heute außerdem aufgrund der Auswüchse, mit denen mich die ach so informativen Social Media zugeschüttet haben. Zeitweise fühlte ich mich auf einem völlig fremden Planeten zwischen panisch Jod fressenden Deutschen, Katastrophenegozentrik, Apokalypsepredigern und hirnlevitierten Lichtgestalten. Wenn solche Leute die Weltherrschaft übernehmen, möchte ich vorher weggebeamt sein. Ich dachte, wir hätten das finstere Mittelalter hinter uns gelassen.

Sprachlos macht mich aber vor allem die Katastrophe in Japan, die für mich ganz persönlich jenseits des Begreifbaren liegt. Und damit jenseits des Sagbaren, Beschreibbaren, Kommentierbaren. Jeder Blogbeitrag (auch dieser) kommt mir im Moment einfach nur seltsam und fremdartig vor.
Ich halte es deshalb mit dem Abschalten: dem Abschalten von Twitter, Handy und immer wieder auch den Nachrichten. Eine Kernschmelze, zwei, drei - wer kann sich das trotz aller Bilder überhaupt wirklich vorstellen? Das Gewusel abschalten. Zu sich kommen. Um an andere zu denken.

Nachdenken statt laut denken.