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31. Januar 2010

Ich bin kein Berliner

Kollegin Christa S. Lotz beschäftigt sich in ihrem Blog mit dem Thema, ob man besser nur über das schreiben solle, was man kenne. Als ich von dieser These las, musste ich spontan lachen, denn mir kam ein gewisses Erlebnis mit einer Verlegerin in den Sinn.

Eines Tages saß sie zufällig an meinem Tisch; wir kannten uns bereits flüchtig, weil sie die Lizenz eines meiner Bücher herausgebracht  und mich bei einer Lesung erlebt hatte. Irgendwann im Laufe des Abends fragte sie mich, ob ich mir vorstellen könne, über einen Russen zu schreiben, einen Russen zwischen Petersburg und Paris.

Nun ja, warum eigentlich nicht? Schließlich sind Russen Menschen wie unsereins und ich war selbst Ausländerin in Frankreich.

Ob ich mir vorstellen könne, über Ballett zu schreiben?

An dieser Stelle verschluckte sich die Autorin womöglich. Über Ballett? Aha. Ich war schon öfter in einem gewesen, als Zuschauerin, hatte es entweder unsäglich oder überwältigend gefunden. Ich wusste, dass es ein Bolschoi-Theater gab und ein Marijnsky-Theater, aber von letzterem beherrsche ich bis heute noch nicht einmal die neue deutsche Schreibweise: Mariinsky. Ich wusste, wie das aussieht, was Balletteleven an dieser komischen Stange machen - da hatten wir es schon: Ich wusste nicht, wie man diese Stange nennt. Ich wusste auch nicht, wie all die Beinhaltungen hießen, wann so eine Bewegung in der Luft beginnt und wann es schon die nächste ist. Das sagte ich der Verlegerin offen und ehrlich.

Das lässt sich alles lernen, meinte sie. Es gehe darum, ob ich bereit sei, während all dieser Zeit in und mit dem Ballett zu leben. Ob ich mich begeistern könne.

Ich wollte wissen, ob es noch ein paar solcher Haken gäbe, aller guten Dinge sind schließlich drei.

Dieser russische Balletttänzer sei psychisch krank gewesen. Ich müsste mich mit Schizophrenie auseinandersetzen. Mit Psychiatrie.

Aha. Nun habe ich zwar schon einmal Menschen in einer psychosomatischen Klinik besucht, aber die sah aus wie ein Kurhotel. In jenem besonderen Fall würde ich es mit Psychiatern zu tun haben, die ihre Patienten mit künstlichem Insulinkoma behandelten oder völlig von der Außenwelt und allen Sinneserlebnissen isolierten. Und ich würde es mit einem Tagebuch zu tun haben, in dem ein Mensch - angeblich tief im Wahn - sein Innerstes zeigt.

Drei Dinge, von denen ich obiger Theorie zufolge sofort die Finger hätte lassen sollen. Immerhin konnte ich auf einen rudimentären Russischkurs in der Schulzeit zurückblicken, den wir als freiwillige AG durchgedrückt hatten, weil wir zu viel James-Bond-Filme ansahen. Aus Baden-Baden kamen nämlich in den 1970ern ab und zu exotische, äußerst schwer von KGB-Leuten bewachte Männer in unsere Stadt zum Einkaufen. Sie stiegen aus fremdartigen Limousinen mit sowjetischen Fähnchen aus, durften niemanden anschauen, niemanden grüßen. Wir wussten damals nicht, dass es sich um eine Militärbotschaft Russlands handelte, anscheinend die einzige im Westen. Wir versponnenen Teenager wussten nur, wir würden sofort einen von denen "befreien" und verstecken , wenn er abhauen wollte. Und dazu - das hatten wir auch aus James-Bond-Filmen gelernt - mussten wir eben etwas Russisch können. Aber reicht das als Vorbildung für ein Buch?

Ich glaube mich zu erinnern, dass ich erst einmal einen Schluck Wein nahm, um fürchterlich nachzudenken über dieses verrückte, schräge, ausgefallene Projekt, das mir ziemlich unversehens über den Weg lief (damals wollte ich noch über Erdölgeschichte schreiben - und da kenne ich mich wirklich aus, auch wenn mir das keiner ansieht). Ich wollte womöglich noch einen Schluck Wein nehmen und noch mehr nachdenken, fragte aber stattdessen: Um wen geht es denn eigentlich?

Nijinsky. Die Ballets Russes.

Irgendetwas in mir erklang. Ein trauriges Gefühl. Ich hatte schon einmal irgendwo mit anderen in einer fremden Sprache über ihn geweint. Warum nur war dieses Gefühl so groß? - Es sollte lange und einige Recherchen dauern, bis ich mich an den Anlass wieder erinnerte. Es war 1993 in Warschau gewesen, als die Todesnachricht von Nurejew noch sehr frisch war und ein regelrechtes Nurejew-Nijinsky-Revival begonnen hatte. Nur war ich noch so neu in Polen, dass ich fast nichts verstand und viel zusammenreimte. Wir gingen damals ins Kino, den amerikanischen Film über den anderen Gott des Tanzes anschauen, über Nijinsky. Und da flossen dann die Tränen hemmungslos - denn Nijinsky war in Warschau getauft worden, im Wielki Teatr regelrecht aufgewachsen - wo seine Eltern getanzt hatten. Auch wenn es während seiner Kindheit und Jugend kein Polen gab (das war aufgeteilt), ist er doch dort einer der künstlerischen Nationalhelden. Ich hatte damals kaum die Hälfte verstanden und so waren Nurejew und Nijinsky irgendwie in mir verschmolzen, als eine Erinnerung an Tragik und Größe und umwerfendes Ballett.

Ich bin heute noch froh, dass mir im Lebtag nie die Überlegung durch den Kopf gegeistert wäre, man könne nur über das richtig schreiben, was man kenne. Meine Gedanken waren ganz andere. Dieses Thema lag so weit außerhalb alles bisher von mir Gedachten, war eine derart große Herausforderung und faszinierend, dass ich Ja sagte, bevor ich auch nur nachdenken konnte.

Heute lese ich die langen, englischsprachigen Passagen Bronja Nijinskas, in denen sie die Tanzschritte ihres Bruders bei der Aufführung mit allen Fachbezeichnungen wiedergibt - und sehe einen Film vor mir. Ich habe sämtliche öffentlich erreichbaren Fotos von Nijinsky derart intensiv studiert, dass ich einmal mit Erschrecken las, es habe nie Filmmaterial über ihn gegeben. Aber ich hatte diesen Schwarzweißfilm doch gesehen! Mit Erstaunen stellte ich fest, dass es diesen Film nur in meinem Kopf gibt. Ich selbst hatte ihn gedreht, als ich über L'Après-midi d'un faune schrieb.

Und jetzt, beim nächsten Projekt, bin ich zufällig wieder bei Russen und Emigranten gelandet und ich war immer noch nicht in Petersburg. Diesmal wird es noch schwieriger (das Hirn wächst an seinen Aufgaben, schrieb jemand kürzlich im Kommentar). Die Materiallage ist kläglich und keine Schrift kann unhinterfragt gelesen werden - die meisten strotzen vor sowjetischer oder amerikanischer Propaganda. Vielleicht kommt diesmal zu Paris und Petersburg auch noch Berlin hinzu. Aber darf man über Dinge schreiben, die man nicht kennt? Ich war noch nie in Berlin. Berlin ist für mich eine fremde Stadt mit einer fremden Mentalität - mir so fremd wie Petersburg. Ich bin im Gegensatz zu Kennedy kein Berliner.

Aber zum Glück bin ich Schriftstellerin. Und die machen das wie der Kleine Prinz mit dem Fuchs...

Und vielleicht verkaufe ich eines Tages mit meinen schrägen Themen wenigstens so viele Bücher, dass ich mir den Billigflieger leisten kann, der von Baden-Baden abfliegt, in Berlin zwischenlandet und in Petersburg ankommt. Meinen Schulkurs könnte ich in der Zwischenzeit wieder auffrischen.

30. Januar 2010

Nachts heimlich reisen

Die Autorin hat heute winzige Augen und muss sich nachher zur Hundewanderung regelrecht zwingen. Nach stundenlangem Übersetzen, Post erledigen und mehrmaligem Schneeschippen war ich eigentlich abends reif fürs Nichtstun. Also köchelte ich mir ein feines Menu und freute mich, dass der Computer endlich aus war. Vielleicht lag es daran, dass mir ein wenig zu viel Dill an den Lachs geriet. Irgendetwas muss im Essen gewesen sein. Ich kam auf komische Gedanken.

Mir fiel die kleine knubbelige "apfelgroße" Dame (s. letzter Beitrag) wieder ein, von der ich im Internet ein vergilbtes Uraltfoto fand - schließlich will man bei solchen Übersetzungen sicher gehen. Während also meine Sinne freudig Essen und schönen Wein einsogen, fiel mir außerdem ein, dass sich die Schreibweise des Namens dieser Frau im Lauf der Zeit verändert hatte. Normale Menschen kauen dann genüsslich weiter; selbst mein Name kursiert ja in den verrücktesten Verschreiber-Variationen.

Aber nein, Madame schnüffelte am Dill und dachte daran, wie blödsinnig der Wandel von Umschriften kyrillischer Buchstaben ist, so dass man manche Menschen gar nicht mehr wiedererkennt. Es gibt ja sogar Leute, die neuerdings Tschechow mit einem tschechischen "C" mit Dächlein in Bauchlage schreiben. Was habe ich geflucht bei der Recherche zu den Ballets Russes! Diaghilew, im englischen Sprachraum Diaghilev, schrieb sich zu Lebzeiten in Paris Diaghileff, obwohl das lautlich nun am wenigsten passt. Aber bringt das mal einer einer Suchmaschine bei! Die ist, wenn sie noch keine Ohren hat, schlicht einseitig. Schlimmer als Rechtschreibreform. Manchmal muss man wirklich Russisch lesen können, um jemanden zu finden.

Wäre dies jetzt ein Comic, könnte man eine Autorin mit dicken Backen sehen, der Hund schläft daneben mit einem "chrrrr" in der Sprechblase. Und über dem Kopf der Autorin erscheint leuchtend gelb Thomas Alpha Edisons Ur-Glühbirne - in solchen Fällen wollen wir ja keine Energie sparen! Was im Kopf der Autorin passiert, kann man zum Glück nicht sehen. Die nämlich legt sich bereits einen Suchplan zurecht, einen Suchmaschinenherausforderungsplan.

Irgendwie war ich mit meinem neuen Buchprojekt, das ich bei mir BLAU nenne, nicht weitergekommen. Die Idee klang verführerisch, es gab ein paar spannende Typen, um die es womöglich ging. Aber es entglitt mir immer wieder. Es gab Tage, da konnte ich mich erinnern, dieses wunderbare Heureka-Gefühl gehabt zu haben, aber es ließ sich nicht reproduzieren. Plötzlich war alles weg, die Idee löste sich auf. Wieder eine Totgeburt, so wie man für jedes Buch zig Totgeburten an Ideen als Kompost verwendet?

Da war es wieder. Diese irre Hoffnung: Vielleicht war ich nur deshalb nicht weitergekommen, weil ich mich verschrieben hatte? Vielleicht musste ich nur ein wenig mit Buchstaben jonglieren und sehen, was herauskommt? Ja, klar habe ich mitten in der Nacht wieder das Internet angeworfen (kann man ein Internet anwerfen?). Es fühlte sich an wie in den ersten Zeiten dieser Technik, als ich ausprobieren wollte, ob man bis auf ferne Inseln käme und völlig fertig war, weil ein Kontakt mit Papua-Neuguinea zustande kam. Was ist das Internet heute unspektakulär dagegen...

Ich verschrieb mich. Ich radebrechte Russisch auf Lateinisch. Und probierte. Und irgendwie wechselte Gugl endlich die Sprachen und sah ganz neu und anders aus.
Kürzen wir ab: nach Papua kam ich diesmal nicht. Aber auf eine Webseite, die noch ganz genauso aussah, wie das Internet Ende der Neunziger wirkte, als Wissenschaftler graue Seiten in Endlostexten beschrieben und mit blau-roten Links versahen, von denen die Hälfte nicht funktionierte. Diese sah so aus, funktionierte aber besser, man hatte sogar die meisten Texte auf Englisch übersetzt - welch Segen! Denn ich befand mich irgendwo in tartarischen Landen, sozusagen in der Pampa, in einem Forschungsinstitut, von dem Texte sogar beim amerikanischen MIT zu finden waren.

Goldgräbergejodel. Indianertanz. Pioniersgefühl. Und dann das Fieber der Rechercheurin, die längst ins Bett gehörte. Also ging das ganz automatisch - Texte auf Stick ziehen, Stick in den Laptop und Laptop ins Bett. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gelesen habe (Lesen am Bildschirm ist wirklich eine Katastrophe!). Ich kann mich nur daran erinnern, wie anstrengend es war, die Lider obenzuhalten. Aber auf den nächsten Tag warten konnte ich nicht. Was ich las, erfüllte meine kühnsten Träume. Es gab dieses Material über eine meiner Figuren und sie hat noch mehr getan, als ich je vermutete. Es gab dieses Material nur nicht dort, wo der depperte Westler, einseitig geworden wie Gugl, immer zuerst sucht!

Irgendwann, wenn ich mal wieder ausgeschlafen bin und etwas freie Zeit finde, steht eine Rundreise auf russischen Seiten an. Und zum Glück sprechen die beiden Fachleute für die Sache Englisch und haben Email. Zum Glück gibt es sogar Emigrantennachfahren in Frankreich. Die Welt ist ein Dorf. Und mein Projekt steht jetzt endlich auf festen Füßen, ist herrlich schräg und unwahrscheinlich spannend. Und das klaut mir so schnell keine Lektorin (ja, sowas gibt's in unserer Branche), die nur des Deutschen mächtig ist.

Aber - auch das gehört zum Beruf: Zuerst ist Disziplin angesagt. Heute und morgen wieder die große Runde Übersetzen, ab Montag Großkampf beim Europaprojekt, zwischendurch wieder einmal schlafen - und schmökern und denken und träumen. Das wäre eigentlich auch ein schöner Beruf: Büchererfinder. Dann müsste man sich nachher mit der schnöden und harten Arbeit nicht abquälen, die den glücklichen Pionier ganz schnell auf den Wüstenboden stellt und sagt: Nun mach mal, finde Wasser!

28. Januar 2010

Komplizierte Wörter

Ich liebe es, wenn ich als Übersetzerin Wörter entdecke, die ich garantiert noch nie gehört habe. Und die ich aus dem Zusammenhang heraus auch garantiert nie erraten hätte!
Da erschallt zum Beispiel gegen Anfang des Jahrhunderts ein Schrei, der mit einem Adjektiv belegt wird. Ein Schreibfehler? Irgendwie ergibt es keinen Sinn. Doch in der Suchmaschine ist der Name des Mannes schnell gefunden, den man wie im Deutschen mit einem "schen" im Französischen durch ein "ien" zum Adjektiv machen kann. Also so, als würde "Einstein'schen" = relativ heißen. Dumm nur, dass das, wofür dieser Mann steht, erst aus dem Jahr 1949 stammt. Aber inzwischen kenne ich ja ein wenig die Kopfwinkelzüge meines Autors und kann erraten, was er hat sagen wollen.

Viel witziger war die Beschreibung einer Frau. Er lässt sie als ein "ludion" hinter einer Bar Geschirr abwaschen. Und dieses "ludion" ist so "hoch wie ein halber Apfel". Letzteres findet man als Beschreibung auf Webseiten mit winzigen Welpen, wenn die Hündchen gerade geboren sind. Also eine ziemlich winzige Frau. Aber was um Himmels Willen ist ein "ludion"? Als ich das Spaßgerät fand, war ich auch nicht schlauer.

Zum Glück gibt es Twitter. Binnen weniger Minuten hatte ich von zwei freundlichen Helfern den deutschen Fachbegriff: Kartesischer Taucher. Das Internet verriet mir außerdem Synonyme wie Wasserteufel, Drehteufel oder Flaschenteufel.

So - jetzt haben wir also eine Frau, winzig wie ein neugeborener Hundewelpe, die hinter einer Bar den Flaschenteufel spielt und wie ein kartesischer Taucher abspült. Alles klar - hier fängt endlich das Übersetzen an.

Innenleben

So, jetzt haben wir also die eierlegende Wollmilchsau von morgen kennengelernt, nach den rasenden Reportern des 20. Jahrhunderts kommen die Autoren auf Speed. Kippen morgens mit ihrem Technikcoach einen Espresso mit doppelter Dosis Koffein und telefonieren dabei mit Journalisten, die ihnen PR-Artikelchen ins Blatt hieven sollen. Irgendwann spät abends nach ihrer Werbetour fürs selbstgemachte Buch und den Besprechungen mit Grafiker und Layouter treffen sie ihren Zen-Coach, der ihnen nach dem vollkommen dreißigsekündigen Nichts einprägt, sie müssten doch endlich mal wieder ein wenig Text...

Ich kann mir das gut vorstellen, ich kann das sogar selbst. Weil ich zu dumm für alle möglichen ordentlichen Berufe war und nichts anderes als Schreiben plus Nebenkram gelernt habe, weiß ich, wie das geht, wenn man zwei Stunden durch den Schnee fährt und sechs Stunden in der Konferenz den Kopf rauchen lässt. All das, was der Autor von morgen angeblich selbst in die Hand nehmen muss, erledige ich nämlich für andere. Ich organisiere mal für einen Kunden eine niedliche Pressekonferenz, texte und übersetze für andere, stelle Leute und ihre Arbeit ins richtige Licht, übersetze und arbeite mit anderen an Kulturprojekten oder bin eines der vielen grauen Mäuschen, die keiner wahrnimmt und die einem den Urlaub verbessern. Und weil der Tag bekanntlich vierundzwanzig Stunden hat, sitze ich noch mindestens drei bis vier davon an einer Buchübersetzung und lerne da auch noch ständig dazu.

Nicht selten fluche ich ganz laut. Weil sich mit solch einem Arbeitspensum, vor allem nach kreativer Hochleistung, oft nicht mehr an eigenen Buchprojekten arbeiten lässt. Weil sich aus dieser Welt so oft nicht umschalten lässt in diese Kopfwelten, die stillen, die so viel Schutz brauchen. Ich atme dann tief durch und sage mir: Gewöhn dich dran (das sage ich nun schon bald 25 Jahre). Du hast halt nichts Besseres gelernt. Und ein im Sterben liegender reicher Erbonkel oder ein Privatsponsor sind auch nicht in Sicht. Also weitermachen. Dafür muss ich im Winter nicht mehr frieren und habe genug im Kühlschrank. Bücher schreiben ist leider Luxus geworden, obwohl es dafür eine Garantiesumme gibt, wenn es zum Vertrag kommt. Aber die reicht eben nicht nicht über so lange Zeit, wie sie meine Projekte brauchen. Also schreibe ich Texte über Splitterholz oder Kunstgalerien, über Tagebau und Revolutionskriege.

Jetzt stelle ich mir vor, ich müsste all diese Arbeit nicht für andere, sondern für mich selbst tun. Ich kann das ja. Ich könnte auch für mich Kontakte knüpfen, Pressekonferenzen organisieren, Leaflets entwerfen und und und. Ich hätte einen wahrscheinlich anstrengenderen Tagesablauf als für Kunden - denn sich selbst anzupreisen ist schließlich das Schwerste im Metier. Da greifen die üblichen Mechanismen nicht mehr. Man will ja nicht als Billiger Jakob erscheinen und muss sich trotzdem ständig im Gespräch halten. Das wäre also alles noch denkbar. Aber.

Es gibt immer dieses dicke, ekelhafte Aber: die Autorin ist ein armer Schlucker. Die verdient zwar an ihren Büchern etwas, Garantiesummen pro Stück und inzwischen auch Tantiemen (dazu müssen ja erst die Garantiesummen "hereingeholt" sein). Aber es reicht nicht, um die PR-Frau in ihr zu bezahlen. Es reicht vielleicht gerade mal, der Journalistin in ihr etwas zuzustecken. Es reicht nicht, die Planung und Herstellung von Leaflets bei dieser PvC zu bezahlen. Kurzum: die PR-PvC, die Texterin PvC und all die Zulieferer-PvCs müssten für die Buchautorin PvC auf ihren gerechten Lohn verzichten, nur damit diese von verkauften Büchern und Umsätzen träumen kann. Die Sache ist klar - das ist ganz eindeutig Ausbeutung. Dadurch, dass es sich um Selbstausbeutung handelt, wird die Sache nicht gesünder. Autorin PvC würde nämlich wieder frieren, öfter nichts im Kühlschrank haben und sich in ihren restlichen Persönlichkeitsanteilen krumm schuften, ohne Rente versteht sich. Und wenn der Traum nicht Wirklichkeit wird? Sicher ist nur eins - frierend und hungernd hat der Mensch nicht mehr viel Kraft zur Kreativität.

Dieses Horrorszenario hole ich mir gern vor Augen, wenn mich mein Brotberuf wieder einmal schmerzhaft vom Bücherschreiben abhält. Ein Horroszenario wäre es außerdem, weil ich mich als Unternehmerin in einem Beruf aufopferte, den ich selbst nicht für besonders wirtschaftlich erachte. Ich habe schon einmal in Polen eine GmbH aufgebaut und wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet in Bücher zu investieren! Nein, ich will keine Firma "PvC-Förderung" aufbauen, schon der Businessplan dafür wäre mir zuwider. Ich will auch nicht andere dafür bezahlen müssen.

Ich will meine Textarbeiten für andere machen, um bezahlt zu werden, um leben zu können. Und das nimmt mir eine ungeheure Last von den Schultern. Ich muss für meine Bücher nicht noch herumflippen. Ich könnte es. Wenn ich wollte. Natürlich mache ich auch Werbung dafür, natürlich freue ich mich an Büchertischen. Ich steuere auch mal Adressen und Ideen bei. Aber im Grunde habe ich immer meine Verlage im Rücken. Die verkaufen tatsächlich meine Bücher auch dann, wenn ich selbst gar nichts in Sachen Marketing tue. Wenn ich nur das ausübe, was die eigentliche Bestimmung einer Autorin ist: das Schreiben.

Durch diese Konstellation passiert etwas, was mir kein Coach und kein Koffein geben können: Ich kann tief durchatmen. Und finde in diesem Freiberuflerwahnsinn mit Überstunden und Wochenendarbeit entspannte Zeitlöcher. Dadurch, dass ich nicht mehr darüber nachdenken muss, wie ich mich vermarkte oder wieder mal hip gestylt irgendwo im Internet auftreten sollte, gelingt mir Innenleben. Kunst und Schreiben brauchen Rückzug, Stille, Gegenwelten, Selbstbesinnung. Kunst und Marketing funktionieren nicht miteinander (deshalb gibt's für sowas Fachleute von außen). Kreatives muss absolut marktfrei entstehen und wachsen können. Das Marketing bekommen Bücher dann noch früh genug aufgedrückt - aber zu früh ist es tödlich. Es sind zwei Denkwelten, die nicht miteinander vereinbar sind - nicht im kreativen Prozess.

Ich liebe diese gestohlenen stillen Stunden, diese Freiheit von all dem Profitgewäsch und Auflagensteigerungsgedöns. Ich liebe diese Gegenwelten der zu erzählenden Geschichten, wenn ich unverfroren die verrücktesten Ideen haben darf, Figuren durch meinen Kopf jage, wild herumrecherchiere. Ich liebe es, diese verrückten Ideen mit Leuten aus der Branche zu besprechen, vielleicht sogar gemeinsam daran herumzuspinnen - oder andre verrückte Ideen aufprallen zu lassen. In dieser mitternachtsblauen Stille keimt ein Lebewesen, das von allen Seiten Nahrung aufnimmt, sich dehnt  und manchmal zu völlig überraschenden Formen wächst. Manchmal geht es auch schon erste Schritte in einem Verlag, manchmal wird es überbehütet.

Ich bin langsamer geworden beim Bücherschreiben. Ich hätte die Zeit nicht wie andere Kollegen, nur wenige Monate für einen dicken Schmöker zu brauchen. Aber ich habe das ungeheure Privileg, zwischen zwei anregenden Berufswelten hin- und herschalten zu können, in denen es eben nicht nur immer um mich geht. Es reicht mir, im Schreibprozess in mir gefangen zu sein. Ich möchte nicht auch noch im Brotberuf immer nur mich sehen, mich auch noch auf ein Podest hochpreisen müssen, nur weil der moderne Autor das so zu machen hat. Hat er das? Müssen Autoren irgendwas? Müssen sie nicht. Künstler haben einen der letzten Berufe, in denen man sich verweigern kann. Dieses Recht sollte man sich nicht nehmen lassen.

Ich bin froh, dass mir andere diese Arbeiten abnehmen. Ich kann über meine Bücher reden, aber ich will sie nicht verkaufen müssen. Ich kann an Rezensionen leiden, aber ich will sie nicht auch noch in Auftrag gegeben haben. Ich kann mich auf der Bühne verbeugen, aber ich will nicht irgendwo auf den Knien rutschen müssen. Ich kann mich darstellen, aber ich will nicht zum Selbstdarsteller werden. Wenn mich jemand fragt, was ich mir am meisten wünsche, was ich wirklich will, dann gibt es nur eine Antwort: Schreiben.

27. Januar 2010

Verlegen ohne Verlage

Noch vor nicht allzu langer Zeit heftete einem ein Schmuddelimage in der Branche an, wenn man Bücher selbst verlegte. Denn auf den Plattformen der Print-on-Demand-Verfahren tummelten sich nicht nur extrem seltene Perlen neben völlig unkorrigiertem Schrott, es gab auch einige zweifelhafte "Verlage", die in diesem Bereich Kundschaft abgrasten. Nur "gestandene" Autoren konnten es sich leisten, aus wichtigen Gründen einmal eine Schrift selbst zu veröffentlichen, aber allzu oft konnte man das im Karriereplan nicht vorzeigen.

Und irgendwie bestand bei Autorinnen und Autoren, die auf professionellem Niveau schrieben, auch überhaupt kein Bedarf nach Verlagsalternativen. "Wer gut genug ist und Durchhaltekraft hat, wird immer veröffentlicht werden", lautete noch vor wenigen Jahren die Devise, "gute Bücher werden immer veröffentlicht." Autoren, die wie ich länger im Geschäft sind, wissen, dass das längst nicht mehr stimmt. Es werden Bücher veröffentlicht, bei denen man sich gelinde fragt, wie der Autor es geschafft hat, sowas an den Mann zu bringen, während mehrfach veröffentlichte Kollegen plötzlich abgewiesen werden, weil sie nicht bereit sind, in Romanen Schablonenfiguren zu zeichnen.

Trotzdem ist das Verlegen mit Verlag die Norm der hohen Kunst des Schreibens; die einzige Möglichkeit, eine Art "Qualitätslabel" zu bekommen. Einen finanziellen Vorschuss obendrein. Und Pressearbeit kostenlos und PR und Vertrieb - so ein Verlag umtuddelt schließlich seine Autoren und Bücher!

Halt, stopp, Denkfehler. Das war einmal. Und das ist ganz sicher noch der Fall in kleineren Verlagen und Verlagen, die bekannt dafür sind, dass sie Autoren und Backlist umsorgen. Viele scheinen das aber nicht mehr nötig zu haben. Manche Taschenbücher scheinen inzwischen in Indien lektoriert zu werden, so strotzen sie vor Fehlern - nicht nur von Druckfehlern. Manche Übersetzungen klingen so, wie sie angefertigt wurden: vom unterbezahlten Übersetzungssklaven, der kaum Zeit hatte, den Beststeller auszuspucken. Da möchte man als erfahrener Autor sagen: das kann ich auch selbst. Ein solches, sicher besseres Lektorat könnte man im Tandem aufziehen.

Pressearbeit und PR müssten wir ohnehin längst selbst übernehmen. Die gibt es nämlich auch nur noch in bemühten Verlagen. Ansonsten rechnet sie sich nicht mehr, Spitzentitel und Promis bekommen sie - also eigentlich die Leute, die Werbung so nötig nicht hätten. Normale Titel werden heutzutage auf den Markt geworfen: Friss Vogel oder stirb! Nicht selten stirbt er, denn der Markt ist durch all seine Neuerscheinungen so unübersichtlich geworden wie es sonst dem Internet nachgesagt wird.

Und wie ist das mit der Autorenpflege? Es vergeht kaum eine Woche, wo nicht Kollegen bei mir klagen, wie schlimm sie behandelt würden. Zu einer Art Auftragsschreiber degradiert, ohne jede Wertschätzung, dass ein Verlag ja von ihren Werken lebt - und selten umgekehrt. Honorare werden auch bei wirklich erfolgreichen Autoren zunehmend gedrückt, indem man alle möglichen Dinge findet, die plötzlich an der Arbeit auszusetzen wären. Einer Autorin wollte man weismachen, 40.000 verkaufte Bücher im ersten Jahr sei ganz schön mies. Lektoren verunstalten selbstherrlich Texte, Manuskripte werden bis zur Unkenntlichkeit geglättet, weil man ja kein Risiko eingehen will. Die Wartezeiten für Entscheidungen dauern immer länger und gekauft wird - genau, was kein Risiko verspricht. Die Autoren schweigen - aus Angst, sonst gar nicht verlegt zu werden.

Ich hatte mehrfach hier über mein Sachbuchprojekt berichtet, das mir wegen meines Geschlechts (!) von mehreren Verlagen abgelehnt wurde und schließlich, weil Erdöl "kein Thema" sei, zu schmutzig, zu trist, gar nicht lustig in der Krise. Damals war ich so dumm, auf Verlage zu bauen - die müssten ja theoretisch wissen, wovon sie reden. Heute juckt es mir in den Fingern (wenn ich nur die Zeit hätte), das Buch selbst zu verlegen: als Ebook. Als Selbstverleger. Verlegt ohne Verlag.

Denn das hat inzwischen kein Schmuddelimage mehr, nachdem immer mehr Könner und Vollprofis zu dieser Methode greifen. In den USA haben sich namhafte Autoren bereits zum Selbstverlegen zusammengetan. Das Image des Selbstverlegens hat sich geändert - so langsam bekommen einige Verlage ein Imageproblem. Es wird immer häufiger öffentlich, dass sich Autoren nicht mehr genügend betreut fühlen, nicht mehr zufrieden sind mit dem Umgang mit ihren Werken und Ideen. Plötzlich ist eine Alternative aufgetaucht, die Kollegen verhandlungssicherer machen sollte - und vielleicht sogar Alternativen bietet. Auf dem Sachbuchmarkt ganz sicher. Und vielleicht werden sich Verlage endlich wieder auf ihre Leistungen besinnen: Hochwertiges und professionelles Lektorat, ordentliches Korrektorat, Zusammenarbeit mit den Autoren auf gleicher Augenhöhe unter Partnern, professionelle Werbearbeit nicht nur für Bestseller, Backlists statt Verramschen nach Monaten. Eben all das, weswegen sich unsereins einen Verlag sucht (ich habe zum Glück solche gefunden) - denn drucken und verkaufen kann heute jeder.

Ich denke, die Stunde der kleineren und bemühten Verlage hat ohnehin geschlagen. Und die der Alternativen. Autoren sollten in dieser Hinsicht ruhig mutiger werden!
Natürlich ist das Selbstmachen die Arbeit einer eierlegenden Wollmilchsau, die bereit ist, viel Zeit und Energie fürs Buch zu investieren. Aber man sollte das wirklich einmal gegen die eigene Arbeit aufrechnen, die man sonst für andere tut...
Noch nicht gelöst ist das Problem für Autoren wie Leser, in diesem Bereich künftig die Spreu vom Weizen zu trennen. Plattformen für Hobbyautoren sind z.B. für Profis wenig attraktiv. Aber noch steckt das Ganze ja in den Kinderschuhen.

Dieser Artikel hat eine Fortsetzung: Warum ich mir das Verlegen ohne Verlage nicht antun wollte.

Wer sich einlesen mag, hier ein paar Tipps:
  • open-ebook.de bringt das Beispiel des Sachbuchs "Meconomy", das der Journalist Markus Albers als Ebook herausgebracht hat - ohne Verlag. Im Kommentar (27.1.) ist er so freundlich, meine Fragen um Arbeitsaufwand und Kosten zu beantworten. Er tut das so anschaulich, dass selbst verlegte Autoren von den Werbemaßnahmen lernen können. Lesenswert! (Übrigens betrifft das Thema seines Buchs auch irgendwie die Arbeitswelt der eierlegenden Wollmilchsau des Vollzeitautors).
  • Richard K. Breuer, der auch seine Printbücher selbst verlegt (mit Lektorat und allem Drum-und-Dran) beschreibt in seinem Blog den Selbstversuch, ein Ebook zu gestalten, in diesem Fall für den Kindle. Zuerst gab es Schweiss und Tränen - dann hat das Ebook das Licht der Welt erblickt. Jetzt muss es, wie er richtig sagt, nur noch gefunden werden - die Nacharbeit beginnt.
  • update: Wir sind hier brandaktuell, heute antwortet im Börsenblatt der Leiter des Verbrecherverlags, Jörg Sundermeier, auf einen Beitrag von Markus Albers und sagt: "Man schafft Verlage nicht ab, indem man seinen eigenen gründet." Stimmt, Selbstverleger sind Verleger, so einfach ist das.
  • Und denen, die mir gestern dankbar schrieben: "Endlich sagt das über die Arbeitsbedingungen mal einer", möchte ich die Frage stellen: Warum soll das nur ich können? Zu einem guten Arbeitsverhältnis gehört immer offene Kommunikation, die nicht nur in einer Richtung läuft.

26. Januar 2010

Auflagenzahlen steigern - leichtgemacht

Jemand hat mich mal als "komplett bescheuert" bezeichnet, als ich sagte, mir sei ein einziger wirklich interessierter Leser wichtiger als zehn, die sich mit meinen Texten nachher die Schuhsohlen abputzen. Doch reine Verkaufszahlen sind für manche KollegInnen alles (und für manche Verlage, deren Mitarbeiter nicht mehr wissen, was in den eigenen Büchern steht, offensichtlich auch). Bei Twitter spricht man neuerdings von "Eliten", wenn Eitlen und Selbstbespieglern besonders viele "Follower" folgen, von denen dann die meisten Bots sind und sich mindestens 30% das "Entfolgen" nicht trauen, aus Angst, morgen nicht mehr hip zu sein. Wer heutzutage nicht fett in einer Cloud schwebt (dieses Gewusel, in dem Stichworte verschieden groß durch die Luft wabern) und bei Google nicht auf Platz Eins in die Masse gespuckt wird, der muss sich schleunigst überlegen, was in seinem Leben falsch läuft.

Oh ja, ich darf maßlos übertreiben! Ich habe nämlich seit einiger Zeit heimlich, still und leise den ultimativen, bösartigen Selbstversuch laufen, wie das so aussieht mit meinem Blog und dem vielgepriesenen Massengeschmack. Angenommen, ich müsste tatsächlich mit Texten Geld verdienen (hämisches Autorengelächter aus drei Textjobs), könnte ich dann in der heutigen auflagengeilen Zeit noch mithalten? Würde ich mehr als nur einen gelangweilten Kollegen hinterm Ofen hervorlocken? Wüsste ich noch, wie man Leserinnen gierig macht und Leser von den Börsennachrichten abhält?

Meine Erhebung, mal wieder nicht repräsentativ (wie immer bei nichtrepräsentativen Leuten), war ganz einfach in der Vorbereitung. Kann jeder nachmachen. Zuerst schrieb ich in breiter Mischung eiskalt auf, was mich selbst interessierte. Nach dem Motto: Wo ein Schreiber, da auch ein Leser. Dann streute ich dazwischen Themen auf Flimmerkistenniveau - und Themen für Leute, die meilenweit, tieffliegertief, an der Twitterelite vorbeischrammen, weil sie so komische Vorlieben haben. Und weil ich nebenbei auch eine gemeine PR-Frau bin, streute ich die Verbreitung jener Artikel in den vielgepriesenen Social Media, wobei ich mich auf Twitter und Verlinkungen beschränkte, weil ich Facebook immer noch für beschränkt halte. Man hat ja schließlich auch noch was zu arbeiten.

Jetzt würde ich zu gern Wetten abschließen lassen, welche der Artikel auf dieser Seite die beliebtesten waren. Hand aufs Herz! Viel lieber aber würde ich fragen: Was passiert, wenn ich in Zukunft nur noch diese Lieblingsthemen der Masse da draußen anbiete? Wenn ich also eine von diesen Toptypen-Elite-Eitlen werden wollte, denen die Fans nur so auf den (Sch)Leim gingen? Was bliebe von meinen Texten? Was bliebe von mir?

Ich will es kurz machen. Weit abgeschlagen auf dem ersten Platz steht der heutige Tag. So viele Leser hatte dieser Blog noch nie an einem Tag. Könnte man das auf ein Jahr hochrechnen (kann man natürlich nicht) und auf ein Buch umlegen, würde ich in einem Jahr 60.225 Exemplare eines einzigen Buchs verkaufen. Davon kann ich nur träumen - und es tröstet mich, dass man Statistiken so nicht vergewaltigen darf (ich müsste erst alle Stammleser abziehen). Aber selbst bei einem Bruchteil schlage ich womöglich schneller und leichter Billigsttexte unters Volk als Verlegtes. Billigst bedeutet: beim Kaffeetrinken in die Tasten gekippt. Ich darf das gar nicht in letzter Konsequenz weiterdenken. Ich würde ja sofort alles Arbeiten einstellen und kaffeesüchtig werden!

Ich weiß allerdings absolut nicht, was die Leute gelesen haben - denn der Beitrag von heute war es garantiert nicht! So viel von wegen Tagesaktualität bei Blogs und Internetgeschwindigkeit.

Das Rennen machen ganz eindeutig die Nerds und Computerfreaks vor den Damen mit Faltenwurf und Dekolleté. Erstere wissen nämlich auch, wie man fleißig verlinkt und vertwittert, empfiehlt und weitergibt. Und so wird aus einer kleinen Schneeflocke eine zweite, eine dritte, irgendwann ein kleiner Schneeball. Wenn man viel Zeit hätte und Ideen, diesen noch an viele andere Orte zu rollen, könnte man wahrscheinlich irgendwann ein kleines Schneemännchen bauen.

Und schon haben wir die erste Anomalität: die starken Frauen aus dem Mittelalter sind weniger gefragt als Bits & Bytes. Liebe Kolleginnen der betreffenden Sparte - baut in euren nächsten Roman unbedingt einen mittelalterlichen Rechenmaschinenfreak als Herzensprinzen ein, wenn ihr keinen Trend verpassen wollt!

Aber mal wieder typisch: Die Nerds interessieren sich gar nicht für das, was in den Büchern drin ist, sondern dafür, woraus sie gemacht werden. Und sie lassen sich durch nichtrepräsentative Umfragen ködern (weswegen ich hier eine nachschiebe, ich will ja berühmt werden)!
Platz 1: Digitale Analphabeten (Ebooks)
Platz 2: Stimmen hören (Hörbücher)
Diese Veräußerlichung von Buchstaben in unterschiedlichen Trägermedien ist als Studie downloadbar unter dem Titel "Wenn digitale Analphabeten Stimmen hören" (in unserem Institut für 2658,55 Euro, Link per Briefpost). Die Studie empfiehlt sich vor allem für Buchbinder, Heringsverkäufer, Kulturmanager und Hardwarepfriemler.

Und jetzt habe ich geschummelt. "Kotschergin in Berlin" stand auf dem zweiten Platz. Ich wusste ja, dass Regionalkrimis laufen, aber dass Berlin so hip ist ... Ich lasse den Beitrag trotzdem außer Konkurrenz laufen, denn da haben einige Berliner und Berlinbesucher wohl heftig am Rädchen gedreht. Würde ich jetzt meiner eigenen Statistik auf den Leim gehen, hieße das in letzter Konsequenz, ein Blog für Ebooks und Russen in Berlin betreiben zu müssen.

Und dann kamen natürlich (weit abgeschlagen, ermüdet da ein Trend?) die historischen Romane mit "Nie wieder!" und mit ihnen Leute, die sonst nie in meinem Blog lesen und nach der Lektüre sicher "Nie wieder!" gebrüllt haben. Wäre ich jetzt Elitegroßprotzdingensmanager, würde ich die zusätzliche, noch nicht von mir befriedigte Zielgruppe abgreifen und mit Nerds und Berlinern und Russen zu verkuppeln versuchen. So ein Manager hat's nicht leicht und zum Glück habe ich keinen Verlag, in dem ich die alle unter einen Hut bringen muss.

Und sonst? Rezensionen, Verlagsportrait, Filmtipp, läuft alles ganz nett - kommt aber alles nicht an die Analphabeten ran. Steht in keinem Verhältnis zu aufgewendeten Arbeit. Könnte man, wenn man denn Zahlenfreak wäre, als reine Selbstbefriedigung betrachten.

Ganz abgeschlagen, am hinteren Ende der Fahnenstange, hängt die Autorin selbst. Was ich über meine eigene Arbeit schreibe, interessiert, gelinde gesagt, kein Schwein. Mit dem, was mich wirklich interessiert, ist kein Staat zu machen. So wird aus mir nie etwas. Vor allem das Gelaber um Sprache, Übersetzen und Buchprojekte sollte ich in Zukunft lassen. Wenn da von Twitter trotz knalliger Schlagzeile zehn Hanseln vorbeischauen, ist das schon gigantisch. Zum Glück kommen noch ein paar Steampunks mit dem Dampfschiff vorbei, sonst könnte ich zumachen.

Und da sind wir beim schlauen Vernetzen: Twitterer reagieren nicht auf Sachthemen oder zivilisierte Aussagen. Man kann den gleichen Link unter drei Titelmethoden ins Volk streuen, es gewinnt grundsätzlich die herausfordernd dämlichste, knallschrillbunte Schlagzeile mit Trendschlagworten. Man versuche also, die BLÖD-Zeitung zu übertrumpfen, dann wird am meisten geklickt. Auch Geheimnis, Vieldeutigkeit und Kalauer kommen gut.

Tja, liebe Leserinnen und Leser, wenn ich jetzt so auflagenzahlengierig wäre, wie sich das heutzutage gehört, dann gäbe es in diesem Blog künftig nur noch nichtrepräsentative Erhebungen zu computeraffinen Trendschlagwörtern, aufgelockert mit Ausgehtipps für Berlin und jede Menge Promigetratsche über Schauspieler, Urmel aus dem Eis und dolle Sprecher. Und statt Text bauen wir öfter mal ein #ebook #hörbücher #famous_actors ein, das reicht bei den Lesegewohnheiten und dann machen wir noch 'ne iphone-app draus und...

Was?

Wie bitte?

Ich höre keinen Protest?

25. Januar 2010

Das Unikum hinter der Sprache

Als Autorin dachte ich immer, man könne sich in einem Buch so herrlich selbst verstecken. Leser nehmen ja grundsätzlich immer das Falsche für bare Münze. Wer einmal einen Roman in der Ich-Perspektive geschrieben hat, wird das kennen: Keiner glaubt einem, dass ein fiktives Ich eine Erzählfigur ist und nicht identisch mit dem Autor. Ich hatte in Lesungen dann immer den Kalauer drauf: "Wenn ich das wirklich alles selbst erlebt hätte, säße ich jetzt nicht vor Ihnen, sondern im Sanatorium." Und als mir ein lieber Fachkenner beim Testlesen einmal in ein Sachbuch ein "wir" einkorrigieren wollte, fragte ich ihn "Meinst du mich und dich oder nehmen wir noch jemanden mit?"

Kurzum: Man gibt zwar jede Menge Seelenschmalz und Eigenkämpfe in ein Buch, aber Kommissar Wampinger ist nicht sein spindeldürrer Autor - und Autorinnen von Vampirromanen trinken in seltensten Fällen ihre Freunde aus. Dass natürlich keiner einen Vampirroman schreibt, der solche lächerlich findet, ist klar - und schon blüht die Küchenpsychologie wieder - es wird über Knutschflecken und womöglich Unappetitliches räsonniert. Wie gut, dass viele Autoren so naiv sind wie ich, dass sie sich geschützt glauben durch das biss-chen Druckerschwärze!

Als Übersetzerin bin ich nämlich jetzt so weit, dass ich das Gefühl habe, "meinem" Autor unangenehm nah ans Innenleben zu rücken. Ich will das alles gar nicht sehen und gar nicht wissen, ich will eigentlich nur ein Buch möglichst gut übersetzen. Aber dazu gehört eben auch, seine ganz eigene Art von Humor zu verstehen und zu erfühlen; abzuwägen, warum er in einer bestimmten Situation ein Wort verwendet, obwohl ein anderes folgerichtiger wäre. Die Hüllen fallen. Sprache ist um so viel verräterischer als Inhalt! Vor allem, wenn man jeden Tag derart intensiv damit umgeht.

Inzwischen kenne ich seine Lieblingswörter, mit denen er immer dann kämpft, wenn er unsicher wird. Seine Satzlängen und grammatikalischen Konstruktionen ändern sich kaum merklich, wenn er über ein Thema nicht ganz so gut Bescheid weiß oder nicht ganz so überzeugt hinter seiner Aussage steht. Ein Wort verwendet er grundsätzlich falsch - und es gibt in Frankreich einen ganz bestimmten Typus, der dieses Wort so benutzt. Will er dazugehören? Gehört er dazu? Und wenn er dann wieder seinen Punkt eben an dieser Stelle setzt und nicht woanders, dann weiß ich: Aha, jetzt freut er sich wieder, dieser eine Punkt, der feixt ihm förmlich aus dem Gesicht. Wenn bei einer Lesung genau da die Leute klatschen würden, der Mann wäre überglücklich.

Wenn man tagtäglich über Stunden der Sprache eines Menschen (plus einem von ihm geliebten Thema) derart auf die Pelle rückt, fängt man natürlich an, zu abstrahieren. Und so wird der Autor fast selbst zu einer Romanfigur vor meinen Augen. Ich weiß, was er über Frauen denkt und glaube zu wissen, wie er sich ihnen gegenüber verhalten würde. Ich ahne, wie er sich im Café benimmt, welche Zoten er auf Partys reißt, bei was für Menschen er kleinlaut würde, von wem er gern zum Mittagessen eingeladen würde. Ich denke, ich kann hören, was ihm in Kunstausstellungen durch den Kopf ginge, ich kann sehen, wie er Musik hört und ein achtgängiges Menu verdrückt. Ich sehe aber auch vor mir, wo er nur eine Fassade gäbe und spielte, ich sehe, was er vielleicht hintenherum denkt, wann er grinsen könnte.

Ich bin mir bewusst, dass ich mir nur ein Bild mache, ein Bild meiner Fantasie. Aber ich ziehe es aus seinen Ausdrücken, seinem Sprachniveau, der Sprachschicht, seiner ganz persönlichen Art, die Norm zu beugen. Millionen Menschen benutzen ein Adjektiv, aber die Art, es an unvermuteter Stelle im Satzgefüge ausgerechnet so und nicht anders zu verwenden - die ist recht individuell. Vor allem im Französischen, wo ein Wort auch einmal sehr entgegengesetzte Bedeutungen haben kann, ist es spannend zu sehen, warum er ausgerechnet zu dem einen greift - und das meist unbewusst. In einer Sprache, die sich wie in konzentrischen Ringen auf ein Etwas hinzubewegt, um ihm seinen Sinn zu geben, ist es spannend zu sehen, wie sich einer anschleicht, von welchen Seiten er kommt, wie viele Kreise er braucht.

Womöglich tue ich dem Autor mit meinem Bild von ihm im Kopf genauso Unrecht, wie das Leser tun, die Autoren mit ihren Inhalten identifizieren. Aber das, was allein aus der Sprache entsteht, ist um so viel plastischer und lebensechter als jede Romanfigur. Als Autorin macht es mir richtig Angst. Ich glaube, wir haben unseren Übersetzern nicht nur das stillschweigende Ausbessern von Fehlern zu verdanken, die auch das Lektorat übersehen hat. Wir müssen ihnen wahrscheinlich noch danken, dass sie den Mund halten über unsere Marotten und Unschärfen, kleinen Angebereien und heimlichen Lüstchen, die uns mit jedem Wort unbewusst aufs Papier fallen. (Bei den Wortfeilern und Manieristen lassen sich solche Dinge noch leichter herauslesen.)

24. Januar 2010

Digitale Analphabeten

Wenn man wie ich bei Twitter vor allem Verlage, Buchleute und Branchendienste abonniert hat, könnte man meinen, das gedruckte Buch sei ähnlich wie das untergangserprobte Abendland dem rasanten Untergang geweiht. Nerds, PR-Hörige und Leute, die auch immer den neuesten Staubsauger kaufen müssen, ohne ihrer Frau beim Putzen zu helfen, machen einem weis, wer noch keinen Reader besitze, zähle bereits zu den ewig Gestrigen. Und wer noch nie ein Ebook gelesen habe, sei ein digitaler Analphabet.

Nun bin ich selbst das genaue Gegenteil. Auf meiner Festplatte schimmeln nämlich zwei Manuskriptentwürfe in englischer Sprache, die ich im Jahr 2000, beim ersten Hype, für einen amerikanischen Ebook-Verlag geschrieben hatte. Ich erinnere mich noch gut an das Pioniergefühl, als eine absolut seriöse und in den USA nicht übel verkaufende Verlegerin sich für die Ideen einer völlig unbekannten deutschen Autorin interessierte. Normalerweise kennt man das nur umgekehrt. Plötzlich schienen Grenzen zu fallen. Und weil ich eigene technische Vorschläge einbringen durfte, träumte ich von einem webverlinkten Ebook mit interner Suchfunktion und eingebauten Bildern, mit regelmäßigen Updates für aktuelle Daten. In Deutschland wagte man Multimedia-Ebooks noch gar nicht zu denken.

Als die Verlegerin so weit war, mir den Vertrag zu schicken, verschluckte sich der Hype plötzlich an sich selbst. Damals scheiterte das Ganze am ultrateuren "Rocketbook" und fehlender Kompatibilität der Systeme. Die Kunden hatten schlicht keine Lust. Und ein einfaches pdf oder html-Konstrukt war für mich keine wirklich technische Erneuerung. So schnell wie manche Verlage fürs Hochladen einer neuen Webseite brauchen, war jene Verlegerin plötzlich pleite - und nicht nur sie. Aus der künstlich hochgepowerten Ebookmode war ein stinkender Leichnam geworden, den keiner mehr anfassen wollte. An die Verlage, die so dumm waren, alles auf eine Karte zu setzen, erinnert sich zehn Jahre später niemand mehr.

Anlaufphase zwei im Jahr 2010 liest sich für den kritischen Beobachter genauso wie Anlaufphase eins: Jeder will dabei sein; keiner traut sich, gegen den Strom zu schwimmen - und während alle lobhudeln und keinerlei gesicherten Erkenntnisse vorliegen, freuen sich nur wieder einmal die Hersteller. Die wie damals mit eigenen Standards und eigenen Plattformen nur den altvertrauten Machtkampf um den Profit pflegen, aber weder AutorInnen noch Publikum. Überhaupt hört man erschreckend wenig über Autorinnen und Autoren, es sei denn, sie sind so prominent, dass sie auch bedrucktes Toilettenpapier verkaufen könnten. Wieder gibt es massiv teure Endgeräte, wieder verrückte Investitionen von Verlagen, wieder keine weltkompatible Norm. Aber meine Einstellung hat sich seither geändert. Ich würde nicht jedes meiner Bücher als Ebook freigeben, würde aber Dinge per Ebook lancieren, die eigentlich kein Buch sind oder werden - und scheitere daran, woran alle AutorInnen schon damals scheiterten: an Handling, Urheberunsicherheit, an kompatiblen und vor allem bezahlbaren technischen Lösungen. Die scheinen wie immer nur für die Großen gemacht zu sein - nämlich teuer.

Deshalb wollte ich jetzt einmal genau wissen, ob ich mir irgendwann den Schuss geben müsste, denn ich besitze auch keinen Reader - habe nicht vor, für so etwas Unausgereiftes Firmen reich zu machen. Unsereins wartet ab, wartet auf E-Ink und augenfreundlichere Formate - und will natürlich Bücher auch künftig in der Badewanne und bei Stromausfall lesen können. Bin ich ein Dinosaurier der Jetztzeit? In einer nicht repräsentativen Umfrage in meinem nicht repräsentativen Bekanntenkreis kam Aufregendes zutage:
  • Eine Freundin kennt zwar im engsten Freundeskreis ein Todesopfer der Schweinegrippe, kennt aber auch im weitesten Bekanntenkreis niemanden, der einen Reader besitzt oder kaufen will.
  • In meinem gesamten Bekanntenkreis (Vielleser, Branchenleute) kennt niemand irgendwen persönlich, der einen Reader besitzt. Eine Frau meinte, der Chef habe einen, weil dem die Firma XY einen zum Ausprobieren / Verführen geschenkt habe. Doch, im Zug würde er den benutzen, aber die meiste Zeit fahre er ja Auto.
  • Wer bekennt, schon einmal ein Ebook gelesen zu haben oder lesen zu wollen, verwendete dafür Plattformen wie Gutenberg, die guten alten pdf-Dateien oder CD-ROMs. Auch Menschen, die sich wie ich häufig in internationalen Bibliotheken und Fachdatenbanken einloggen, um Bücher oder Zeitschriften abzurufen, tun das ausschließlich wegen Benutzer- und Augenfreundlichkeit am Computer und unterwegs am Laptop, weil man mit dem gleichzeitig arbeiten und Notizen machen kann.
  • Drei völlig verrückte Leseratten legten sich für Weihnachten das Geld für den zu dieser Zeit teuersten Reader beiseite und kauften dafür Papierbücher.
  • Ausgerechnet die Computer-Nerds, die ständig online sind und alle Neuheiten kennen, verweigern sich dem Ebook. Auch noch am Bildschirm lesen - bloß nicht. Man habe schließlich nur zwei Augen in diesem Leben.
  • Ein paar lassen sich von den Apokalypsen ums gedruckte Buch derart beeindrucken, dass sie Stammkunden im Antiquariat geworden sind. Einer von denen glaubt sogar, jetzt mit bald aussterbender Ware zocken zu können. Zwei andere sammeln vorwiegend Bücher mit handschriftlichen Notizen und Widmungen, weil diese "Leben und Geschichte" atmeten.
  • Auffallend ist neuerdings auch der Griff zu Notizbuchpreziosen. Neben den digitalen Planern und I-Phones fällt immer häufiger Opulentes oder Künstlerisches aus der Tasche. Das "ich brauch einfach mal wieder was Haptisches" lassen sich die Herrschaften etwas kosten.
Und ich selbst? Ich bin ebenfalls vom Antiquariatsvirus befallen, weil ich da endlich all die Preziosen lesen und besitzen kann, die Verlage und Buchhändler des Verkaufs nicht mehr für wert erachten. Und ich gestehe, ähnlich wie beim Auktionsfieber so manchem Wunschtitel monatelang um die Welt nachzujagen und dann auch einmal das Budget zu überanstrengen. Die bahnbrechendste technische Neuerung war für mich die Webseite der französischen Bouquinisten, wobei hier auch die ganz winzigen Händler des ganzen Landes erfasst sind, bei denen man noch mit Scheckheft und Vertrauen bezahlt. Was für Geschichten! Ein rarer Ausstellungskatalog über die Ballets Russes stinkt auch nach über einem Jahr Lüften immer noch derart nach Zigarettenrauch, dass ich mir um den Bouquinisten ernsthaft Sorgen mache. Andere schickten persönliche, handgeschriebene Ansichtskarten aus bretonischen Hinterkäffern oder einem Bergdorf in den Pyrenäen. Mit einigen entspann sich um einen Fleck auf dem Umschlag ein netter Mailwechsel über die Liebe zum Buch. Das sind noch Bücher, die leben!

Und was macht Madame, wenn - wie in Frankreich öfter mal - der Strom wegbleibt? Genau, lesen! Seit Orkan Lothar uns für zwei Wochen den Saft abdrehte, weiß ich genau, bei wie vielen Kerzen man bequem ein Buch lesen kann und inzwischen auch, wo die Gaslampe mit den Kartuschen steht. Was hat mich das Frieren ohne Heizung damals vergessen lassen? Gute Bücher. Bücher, die warm und weich in der Hand lagen, in einer von Bücherwänden gut isolierten Bibliothek.

Das war kürzlich unsere Diskussion: Wie abhängig sind wir eigentlich schon von den elektronischen Medien - so segensreich sie sind? Wie gingen wir mit einem neuerlichen Sturm dieser Art um? Eigentlich müssten auch nur zwei Kernkraftwerke in Frankreich ausfallen. Oder die Regierung dreht einem den Saft ab, wie jetzt gesetzlich verankert. Wie würden wir unser Leben organisieren, wie unsere Arbeit, wie unser Lesen? Ganz ehrlich: allein bei dem Gedanken wurde mir schon schlecht. Ich wäre arbeitsunfähig und müsste auf äußerst wertvolle Kommunikation verzichten (das Telefon braucht ja auch Strom). Allerdings nicht auf gute Bücher.

PS: Mir kommt es so vor, als hätte ich obige Umfrage schon einmal gebracht. Dies ist dann der Tatsache geschuldet, dass in diesem Blog die Putzfrau den Chefredakteur gibt und Gugl in den verstaubten digitalen Untiefen mal wieder nichts findet.

update:
Während unsereins im Antiquariat einkauft, wagt es ein Antiquar doch tatsächlich, Bücher im Klobürsten-Küchenschürzen-Supermarkt zu bestellen. Sein Erfahrungsbericht mit Elfenblut in Amazonien ist ein höllisches Vergnügen!

22. Januar 2010

Stimmen hören

Mein Hörbuch tritt in die nächste spannende Phase: Während ich noch die letzten Korrekturen anbringe, macht sich die Verlegerin bereits Gedanken um die Stimme, die das Ganze sprechen wird. Sicher ist bis jetzt nur eines - es muss ein Mann sein bei einer Geschichte über zwei Männer. Unsicher ist wie immer bei solchen Produktionen: Wer hat Termine frei? So träume ich nun also vor mich hin, während meine Verlegerin hart arbeitet.

Hat jemand von den MitleserInnen hier schon einmal ein Hörbuch gehört? Worauf kommt es bei der Stimme an? Hebt ein bekannter Mensch den Kaufwillen? Oder erregen manche Berühmtheiten vielleicht sogar schon Widerwillen? Gibt es das wie bei einem meiner früheren Huskies, dass Sopranstimmen gar nicht gut kommen und überdramatisierende Redner auch nicht? Schadet es einem ernsthaften Hörbuch, wenn der Sprecher schon mal in der Zahnpastareklame war? Was sollte er können, was besser unterlassen?

Ich wäre gespannt auf zahlreiche Kommentare und Eindrücke von Zuhörerinnen und Zuhörern!

Ich selbst muss zugeben: Ja, ich achte auf Namen. Weil ich mir bei denen die Stimme vorstellen kann, sie bereits kenne. Wenn Otto Noname spricht, weiß ich nicht, ob ich die Stimme mag. Und die falsche kann mir das Vergnügen zerstören. Mein allererstes Hörbuch habe ich sofort verschenkt. Da wurde ein Krimi mit einer Kommissarin, die ich mir dunkel-rauchig-südlich vorstellte, von einer wahren Schepperstimme im Sopran gesprochen. Die auch noch jedes einzelne Wort eines Unterhaltungsromans dramatisierte. Ich konnte nicht...
Andererseits habe ich mich auch schon von Stimmen überraschen lassen, die ich nicht kannte. Und eine Stimme, die ich im Theater wie im Fernsehen gehört hatte, klang beim Hörbuch wieder völlig anders.

Komisch, plötzlich achte ich auf Stimmen - habe ich sonst viel zu wenig gemacht. Und dauernd denke ich - könnte der das Nijinsky-Buch sprechen? Oder der? Noch kann ich herumträumen...
Irgendwelche Traumtipps?

Salatkopf, Mimosen

Es gibt diese Tage, an denen man sich beim Aufstehen fragt, ob Rheuma, Gicht und Arthritis gemeinsam in den Schultern Kniebeugen machen. An denen auch die üblichen Drogen nichts helfen, weder Espresso, noch Schwarztee, noch beides doppelstöckig kurz hintereinander. Man öffnet kurz das Fenster in ein Land namens Grau & Diesig und plötzlich zieht es in der Herzgegend. Ein Ziehen, das erschreckt, weil es so selten vorkommt. Und das sich doch so vertraut anfühlt, wenn es sich anschließend bis in den Magen verlagert. Irgendetwas wollte man arbeiten, aber da oben über den Schultern wuschelt ein Salatkopf auf dem Hals herum, Frisée, schon zu schlapp, um noch für eine Vinaigrette zu taugen.

In meinem Freundeskreis nennt man diesen Zustand spaßhaft den winterlichen "Bergkoller". Man möchte in der Tat über der nächsten Schlucht ganz laut schreien: "Es reicht jetzt!" Aber bis zu nächsten Schlucht ist es schon zu weit, schließlich sind die niedlichen 400er und 500er keine echten Berge, sondern Outre Foret, Hinterwald. Die Lautäußerung nehmen einem plötzlich die Vögel ab. Irgendwas klingt anders. Fröhlicher. Fast befreit vom Schnee, der nur noch in gelben und grauen Rudimenten in den Gräben und an den Hängen liegt. Es riecht auch anders. Feuchter, grüner, nach Wasser auf Sandstein. Das verblichene Gras sieht grüner aus, Moospolster leuchten aus dem Dunst. Und der Hund spürt es auch.

Es passiert immer an einem ganz bestimmten Tag, wie aus heiterem Himmel. Alles in der Natur verkündet, dass der Winter nun die volle Kraft nicht mehr haben kann - und wenn er sich noch so wehren wird mit Eis und Schnee. Heimlich schwellen die Knospen, an einer sonnigen Stelle schaut ein Weidenkätzchen heraus zwischen den Würstchen der Haseln. Und plötzlich scheinen die weißen Birken tanzen zu wollen. Irgendwann in denkbarer, vorstellbarer Zukunft werden sich all die ängstlichen Städter endlich wieder hertrauen und wird man selbst wieder unbeschwert über die Straßen düsen können. Endlich wieder hinaus. Die Lust zum Ausbrechen zieht im Herzen, eine Lust nach Sonne und Süden.

Noch ist es nur ein Traum, der nach Wasser auf Felsen duftet und nach getauter Erde. Noch spinnt man nur herum wie die wild buddelnden Maulwürfe und Wühlmäuse. Morgen ist dort, wo ich zur Konferenz hin muss, Eisregen und Schnee angesagt. Morgen sollte ich doch noch ein wenig Heizöl bestellen. Wenn aber nächste Woche die Straßen frei sein werden, dann will ich tun, was alle Franzosen fast zwanghaft tun in dieser Jahreszeit: Ein Zweiglein Mimosen kaufen.

Immer wenn im Süden des Landes die Mimosen blühen, hat der Norden eine Chance auf mehr Licht und Sonne. Und so holen wir uns im Januar im Norden die Mimosen in die Vase, inhalieren diesen unverwechselbaren, honigsüßen, pudrigen, warmen Duft. Unter einem Mimosenzweig zu liegen - da kann man träumen, es sei ein Baum, in der Nähe rauscht das Meer, die Sonne scheint. Und am liebsten würde man in diesem Duft baden.

20. Januar 2010

Menschen, die von innen leuchten

Ein kleiner Junge überlebt die Hölle stalinistischer Kinderheime mit ihren folterähnlichen Methoden, bricht aus einem "Kinderknast" in Sibirien aus und schlägt sich zu Fuß durch nach Leningrad. Zwei Drähte retten ihn immer wieder vor dem Hungertod, zwei genau abgemessene Drähte, aus denen er in Windeseile die Silhouetten der Genossen Stalin und Lenin biegen kann. Sein erstes Handwerk für einen Kanten Brot, ein paar Schluck Suppe. Schon hat er den Blick des Malers, des Künstlers - aber das weiß er zu dieser Zeit noch nicht, und gegen das Verrecken auf der Straße bleiben erst einmal nur die Diebe und ihre Organisationen.

Eine Straßennutte aus dem Petrograder Elend stirbt auf tragische Weise, die anderen Huren ziehen ihre kleine Waise auf. Nicht was logisch sein könnte, folgt. Eines Tages ist der gesamte zweite Rang des Kirow-Theaters mit den selbsternannten Adoptivmüttern besetzt, die so bildreiche Namen tragen wie Tätowierte Muska oder Verdorbene Arischka und die Theatergäste mit ihrem Jargon in Verlegenheiten bringen. Sie machen sich über "Naphtalinschnepfen" lustig oder herrschen sich an: "...musst du die Glupschen so ausfahren und die Knutschritze aufreißen?"

Skurrile Gestalten sind es manchmal, öfter noch einfachste Menschen von tragischer Größe, Traurige, die von innen zu leuchten scheinen, Verzweifelte und Verschmitzte, Unbekümmerte und Durchbeißertypen - eine Versammlung von Menschen, die man von russischen Klassikern her zu kennen meint, weil so dichtes Menschsein selbst in Büchern gern vermieden wird. So schnell man das Buch "Die Engelspuppe" aus dem persona verlag für einen Ausbund schillernder Phantasie und hervorragend komponierter Fiktion halten möchte, weil es dann vielleicht erträglicher wäre - sein Autor ist eben dieser Junge mit den Drähten. Eduard Kotschergin, international ausgezeichneter Bühnenbildner und heute Leiter am Towstonogow-Theater in Sankt Petersburg, hat mit seiner Erzählsammlung Ungewöhnliches vorgelegt: Die Erzählungen bilden eigentlich einen Roman, den Roman eines fast unvorstellbaren Lebens.

Anders als viele andere Geschichten über schwere menschliche Schicksale erzählt Kotschergin in einer fast leicht zu nennenden Distanz und lebendigen Sprache, so dass die scheinbar fiktiven Menschen, die doch echt waren, über sich hinauswachsen. Für die Übersetzer Renate und Thomas Reschke und Ganna-Maria Braungart muss die Übertragung eine Hochleistungsarbeit gewesen sein. Ob Verbrecher oder Folterer, ob gütige Menschen am Wegesrand, Straßenhuren oder Kinderdiebe - sie alle werden zu etwas, was der Roman als Genre sonst nur im Idealfall schafft - zu Platzhaltern des Menschseins. Und das ist im Falle dieses Buches trotz des Themas nicht trist, sondern knallbunt. Beschrieben in einer von Lebendigsein und genauer Beobachtungsgabe sprühenden Sprache zwischen Poesie und Jargon, zwischen spannendem Erzählton und kindlichem Staunen, das der Autor zum Glück in keinem Alter zu verlieren scheint. Überhaupt - er hat diesen Blick für Menschen, der eine Gabe ist.

Sein Blick überträgt sich vor allem bei den Brüchen in jenen Menschen und in tragikkomischen Situationen auf den Leser. Da schreibt einer, der seine Figuren nicht um jeden Preis durch eine an Höhepunkten grell beleuchtete Handlung jagen will. Da schreibt einer, der Schauen gelernt hat, Innehalten - und der trotz allem oder vielleicht deshalb noch staunen kann. Jenseits seiner Geschichten fangen die Figuren gleichsam zu wispern an: Was ist der Mensch, was will der Mensch? Der verwöhnte westliche Leser im weichen Lesesessel, falls vom Wohlstand noch nicht völlig betäubt, fragt sich mit Überraschung, warum ihm die "Polypenarschlecker" und "Höllenhyänen", das "Himpelchen-Pimpelchen", die "Matrosenpritsche" oder die "Leninpark-Motten" so unheimlich nahe stehen. Jene haben vielleicht noch fester und deutlicher im Blick, was er nie zu verlieren wünscht: Menschliche Würde und Freiheit. Bewahrt im zähen Überlebenskampf, in fortwährender Improvisation. Und selbst im offensichtlichen Verlust wenigstens als Traum vorhanden. Zum Russland der Jetztzeit, in dem das Buch schließlich ankommt, schreibt Eduard Kotschergin einen letzten Satz: "Ja, Russland, dein Leben findet am Morgen statt - ein Leben der Erwartung."

So sprachgewaltig und schlicht, seelentief und leicht das alles beschrieben ist - mir ging in diesem Buch etwas ganz anderes an die Nieren, gesehen mit Autorenblick. Gerade durch die Lektüre russischer Klassiker frage ich mich seit langem, wie man Figuren schöpfen kann, die einem so lebendig vor Augen stehen, als seien sie berührbar, als würden sie gleich mit einem in ein Zwiegespräch treten. Figuren, denen man nachtrauert, wenn man ein Buch ausgelesen zuschlägt, und die einen über Jahre begleiten können - bis man das Buch unbedingt noch einmal lesen muss. Eduard Kotschergin ist ein Meister darin.

Nun könnte man entgegnen, er habe es leichter als andere, schließlich müsse er nichts erfinden, schreibe nach eigenen Erlebnissen. Doch wie viele wahre Menschen und reale Vorbilder geraten in Büchern zu Pappfiguren, zu Zerrbildern ihrer selbst, zu leeren Schablonen? Als würde jener kleine Junge seine lachhaften, machtaufgeblasenen Genossen mit Draht zu leeren Silhouetten biegen... Als verkämen Menschen in der Effekthascherei um einen größeren Kanten Brot in manchen Büchern zu marktgenehmen, nicht mehr berührenden Typen.

Nach der Lektüre von Eduard Kotschergins "Die Engelspuppe" habe ich das Gefühl, meiner Suche ein Stückchen näher gekommen zu sein. Ich habe seither das Gefühl, "Schreibenkönnen" beginne überhaupt nicht beim Schreiben und schon gar nicht beim Erlernen irgendwelcher Kniffe. Wenn ich es richtig lese, beginnt "Schreibenkönnen" da, wo man lernt, Menschen zu lieben, in ihrem So-Sein zu lieben. Jedenfalls atmet mir das aus jeder Seite dieses wunderbaren Buchs entgegen.

Achtung Termin! Berliner können morgen Eduard Kotschergin bei einer deutsch-russischen Lesung persönlich kennenlernen. (Anklicken)


PS: Weil es mir leider nicht vergönnt ist, nach Berlin zu kommen, ich aber weiß, dass meine Rezension dorthin fliegen wird - ich möchte dem Autor ganz schlicht DANKE sagen, спасибо. Für all das, was ich lernen durfte.


PPS: Einen Wermutstropfen bei der deutschen Übersetzung gab es allerdings. Ich habe erfahren, dass noch nicht alle Texte übersetzt wurden (was natürlich verständlich ist bei einem so aufwändigen Projekt). Ich würde in Zukunft aber gern mehr von Eduard Kotschergin lesen!

Eduard Kotschergin: Die Engelspuppe (Erzählungen), persona verlag Mannheim

Alles selbstgestrickt

Heute zwei Tipps zum Selbermachen:

Was bringen Blogs? Was unterscheidet sie von Webseiten? Wie betreut man sie am besten, baut Kontakte auf, macht sich deren Wirkung für die Arbeit zunutze? Auf der Seite der Startconference gibt es Anleitungen für Anfänger aus dem Kunst- und Kulturbereich. Und nicht nur für Anfänger, so mancher, der schon monatelang ohne sichtbares Ergebnis laienhaft vor sich hin bloggt, kann hier lernen, was er womöglich falsch macht.

Und der Börsenverein spricht es gelassen und laut aus: Man muss nicht jede Idee in ein Buch pressen. Marcus Albers hat das anders und doch nicht anders gemacht, denn ein "Buch" geschrieben hat er schon. Selbst verlegt, elektronisch und auf allen modernen Wegen abrufbar. Sein Artikel ist eine Anstiftung zur Ideenfindung, zum Produkt ohne Verlag, zum Selbermachen. Wenn ich allerdings sehe, wie nonchalant über die Summen hinweggegangen wird, die das einen Autor kostet - und Wege und Methoden auch nicht andeutungsweise erklärt werden, dann frage ich mich, ob es nicht nur Eigen-PR war. Die müssen Selbermacher nämlich bis ins Extrem beherrschen.

19. Januar 2010

Wider das Vergessen

Manchmal bildet man sich nach zwölfjährigem Autorenleben ein, doch so ziemlich alle interessanten Verlage wenigstens beim Namen zu kennen, zumindest diejenigen, die das eigene Leseinteresse abdecken. Aber vor wenigen Wochen habe ich mit Entsetzen festgestellt, wie auch ich, trotz all meiner Kritik daran, von dem, was im Buchhandel ausliegt, beeinflusst werde. Es hat mich erschreckt, wie viele "unsichtbare Bücher" und manchmal auch viel zu wenig sichtbare Verlage es gibt. Und es werden durch die Marktkonzentration immer mehr. Doppelt erschreckt hat es mich insofern, als ich der Meinung bin, wir deutschsprachigen Autoren (und Leser) kranken ohnehin an einem noch ganz anderen schwarzen Loch, was Literatur betrifft: den zuerst verbotenen, dann verbrannten und schließlich vergessenen Büchern.

Wenn wir heute staunend oder auch neidisch auf die Innovationsfreudigkeit oder Erzählkunst anderer Länder schauen, spüren wir noch etwas von der Wunde, die sich die Deutschen mit der versuchten Ausrottung der jüdischen Literatur geschlagen haben. Wer es damals geschafft hatte zu emigrieren, nahm Erzählkunst und Traditionen des Schreibens mit, verband diese mit der neuen Kultur. Die nachfolgenden Generationen, vor allem in den USA, bauten nahtlos auf diesen europäischen Traditionen ihre moderne Literatur auf.

Auch heute ist es nicht einfach, viele der damals prägenden und wichtigen, ja oft weltbekannten Autoren in deutscher Sprache zu lesen - sie werden oft gar nicht bewusst nicht mehr verlegt, sondern schlicht vergessen. In einer Zeit, wo alles nur noch dem nächsten neuen Hype hinterherhechelt, verschwinden diese Bücher im Dunst der Vergangenheit. Gleichzeitig verschwinden immer mehr reichhaltige Facetten von Literatur, erzählerische Herausforderungen und besondere Bücher aus den Buchläden - und damit irgendwann aus unseren Köpfen. Was der Kunde nicht sofort greifen, nicht anschauen kann, existiert für ihn nicht mehr. Profitdenken führt zu einer neuen Beseitigung von Büchern, die sich sanft anfühlt und eines Tages kulturell bitter rächen wird.

Wenn es nicht immer wieder Idealisten gäbe, die sich gegen die allgemein verordneten Moden stemmen würden! Die sich engagieren, weil sie von ihrer Sache überzeugt sind. Eine von ihnen, die Verlegerin Lisette Buchholz, macht das seit 1983 mit Erfolg - und dass es ihre damalige Gründung, den persona verlag in Mannheim, immer noch gibt, ist in heutigen Zeiten etwas ganz besonderes. Wie sie selbst schreibt, wollte sie vergessene und verschollene Exilliteratur aus den Jahren 1933 bis 1945 wieder zugänglich machen. Im Lauf der Jahre kam israelische, nordeuropäische und russische Literatur dazu - und auch der Kriegs- und Nachkriegszeit in Europa widmet sie einen Schwerpunkt.

Die Erzählungen der Brecht-Freundin Ruth Berlau "Jedes Tier kann es" wurden zum Bestseller, bekannt wurden Anna Gmeyners "Manja" und Lili Körbers "Die Ehe der Ruth Gompertz". Lisette Buchholz hat in ihrem persona verlag Namen herausgebracht wie Pierre Assouline, Alexander Sacher-Masoch oder Clara Grunwald. Und dabei scheint sie alles anders zu machen, als "man" das so macht: Das Geschäft mit dem Buch hat sie sich selbst beigebracht, mutig ist sie nach vorn gestürmt - hat sich aber auch beschränkt, auf die eigene Arbeitskraft und die Bücher. Die stehen nach wie vor - auch nach bald dreißig Jahren - in der Backlist. Das heißt, keines dieser Bücher wurde je verramscht oder aufgegeben, jedes einzelne ist nach wie vor bestellbar - und das ist in heutigen Zeiten schon fast ein kleines Wunder, dass ein Verlag seine Backlist derart liebevoll pflegt.

2001 erhielt der persona verlag den baden-württembergischen Landespreis für literarisch ambitionierte kleinere Verlage. Sein Programm verdient noch mehr Leserinnen und Leser, die sich wie ich an den Kopf schlagen: "wie konnte ich diese Bücher bisher übersehen" - und beim nächsten Besuch in der Buchhandlung explizit danach fragen werden. Nicht ganz zufällig habe ich diesen Verlag entdeckt, denn morgen werde ich die neueste Perle aus seinem Programm besprechen.

Und wer in Berlin wohnt, kann übermorgen die Verlegerin Lisette Buchholz zusammen mit dem russischen Autor und Theatermann Eduard Kotschergin nebst seinen drei Übersetzern persönlich kennenlernen.

Übersetzungs-Kunst

Der Mann, mit dem sie einen Großteil ihres Lebens verbracht hat, obwohl er längst tot ist, wurde weltberühmt: Fjodor Dostojewskij (1821-1881). Und wer in deutscher Sprache liest, kommt an seiner brillanten Übersetzerin Swetlana Geier nicht vorbei. Sie hat die "fünf Elefanten", wie sie Dostojewskijs Romane nennt, in einem wirklichen Lebenswerk neu ins Deutsche übertragen. Im vergangenen Jahr erschien der letzte Roman im Ammann Verlag: "Der Spieler"; im Moment übersetzt sie "einen kleinen Anhang" zu den Elefanten: "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus". Gleichzeitig lehrt die 87jährige Grande Dame der russischen Übersetzung noch an der Universität (Karlsruhe und Freiburg).

Die lange Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit Dostojewskij und der russischen Literatur, aber auch das eigene, von zwei Unterdrückungssystemen und Migration geprägte Leben, noch dazu ihr ihr Umgang mit dem Übersetzen wären eigentlich einen ganzen Film wert. Und genau der kommt gerade jetzt in die Kinos - und danach hoffentlich auf DVD.

Die Frau mit den fünf Elefanten
Film von Vadim Jendreyko
über Swetlana Geier

Leider ist die Premiere in Freiburg bereits gelaufen, übermorgen gibt es noch einmal eine mit dem Regisseur in Hamburg. Alle Termine und Kinos sowie mehr über Inhalt und Film (inklusive Trailer) gibt es außerdem hier.
Der Kollege, der mir den Link gab, schrieb dazu treffend: "Noch ist nicht alle Hoffnung verloren, wenn es noch Leute gibt, die solche Filme zu drehen wagen."

18. Januar 2010

Nie wieder!

Disclaimer: Menschen, die Menschen nicht mögen, die keine historischen Romane mehr mögen, sollten aus psychohygienischen Gründen nicht weiterlesen.

Menschen, die mich länger kennen, wissen dagegen, dass ich einmal mit Begeisterung historische Romane gelesen habe - kein Wunder bei einer, die Geschichte schon im Studium als Schwerpunkt hatte und häufig historisch arbeitet und recherchiert. Dass ich historische Romane sogar gesammelt habe, sieht man meiner Bibliothek an, etwa bei Leo Perutz oder Lion Feuchtwanger. Der letzte historische Roman, der es mir angetan hatte und vor meiner Kritik bestehen konnte, war Irving Stone's Michelangelo, aber schon damals gingen die Fans von "HiRos" auf mich los, das sei gar keiner, das sei eine Romanbiografie. Nun gut. Die Zeit der Genre-Erbsenzählerei in den Verlagen begann. Ich lernte schnell und mit Entsetzen, dass ich für alles, was danach kam, nicht gemacht war. Dafür aber aus einer anderen Romanbiografie, Colum McCann's "Der Tänzer" (Nurejew) mit Donnerschlag lernen konnte, was literarisch aus Historie machbar wäre...

Nun verdamme ich nichts auf immer und wollte es einfach mal wieder ausprobieren. Inzwischen wird ja auch Allergikern gegen Mittelalter so einiges geboten, wenn auch die Faltenwürfe auf den Covern immer und immer wieder aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheinen. In eben diesem spielt mein neuerlicher Selbstversuch mit dem historischen Roman. Namen, Titel oder Verriss wird es nicht geben, obwohl mir letzterer vortrefflich gelingen würde, um in der Sprache des Romans zu bleiben. Mich interessieren vielmehr die Mechanismen solcher Romane und warum sie bei Leuten wie mir einfach nicht funktionieren können. Dabei bin ich mir im Klaren, dass sie trotzdem Tausende begeisterter Leserinnen finden, die nicht so dämlich sind wie ich. Das sei ihnen auch vollkommen gegönnt!

In Autorenkreisen wird häufig diskutiert, woher die Vorliebe für Mittelalter und alte Zeiten kommt und warum etwa Romane über das 19. Jahrhundert nicht so leicht in die Kassenstapel geraten. Von den Lektorinnen (überwiegend weiblich) wird das schnell auf die Leserinnen geschoben - es würde eben verlangt. Nach meiner Lektüre habe ich einen anderen Verdacht: Verlage schaffen diese Nachfrage womöglich künstlich, indem sie zeitnahe Romane vermeiden. Denn die sind brandgefährlich. Je mehr wir nämlich über eine Zeit wissen oder zu wissen glauben, desto eher prüfen wir nach, wie viel denn der Autor weiß und wie deckungsgleich sich sein Roman zu unseren Vorstellungen verhält. Als Sachbuchautor kennt man das, wenn man im Lektorat jede Aussage auf die Goldwaage legen muss. Solche spät spielenden Romane würden also nicht nur den Autoren sehr viel mehr Arbeit machen.

Nun hat mein Autor (Frau oder Mann ist egal) mich damit geködert, dass er eine Geschichte über real existiert habende Personen schreibt, wobei ihn vornehmlich das konstruierte Liebesdreieck interessiert und weniger die Historie. Da werden also real existiert habende Menschen in genau den gleichen Seitenabständen zum saftigen Liebesspiel getrieben, in dem sich sonst mittelalterliche Maiden auf vielfachen Wunsch vergewaltigen lassen müssen. Dem kundigen Leser wird das natürlich verdächtig, das klingt nach Hite-Report für Arme, nach wochenstatistischen Befriedigungen, die mit modern spießbürgerlichem Eheverhalten in Übereinstimmung gebracht werden. Und wie bei den meisten derart "eingebauten" Liebesszenen (ich weiß, wovon ich rede, ich musste im "Lavendelblues" auch auf Lektoratswunsch zum Höhepunkt kommen) - finde ich: Ohne Sex wäre das Buch sehr viel besser gewesen, denn nichts törnt mehr ab beim Lesen als handwerklich gebastelte Anti-Erotik, die sich als "pralles Leben" verkauft.

Das eigentliche Problem mit diesem Buch ist jedoch eines, das bei Mittelalterromanen so krass nicht auftauchen kann: Zufällig kenne ich zwei der Protagonisten aus zahlreichen Sachtexten und Essays, eine Figur sogar sehr gut. Von zumindest zwei Personen in dem Buch gibt es historisches Fotomaterial, mindestens das Portrait der einen Figur ist allgemein bekannt. Es gibt zig gute Beispiele, wo Autoren Menschen von Fotografien wirklich lebendig werden lassen, wo man merkt: der Autor hat mit diesen Fotos (oder Gemälden) gelebt, er hat diese Gabe wie ein Archäologe, aus zufälligen Fundstücken ein Bild zu schaffen. Wenn ich mich aber bei 80% der Personenbeschreibungen fragen muss, wie viel Wein ich bechern sollte, um von den realen Fotos auf diese Fantasietypen zu kommen, dann werde ich stutzig und überprüfe auch die Historie. Dann wird mir alles verdächtig.

Dabei begegne ich einem zweiten Problem solcher Romane. Mein Buchhändler meinte zu dem Buch lächelnd: "handwerklich solide gemacht". Er hat das vielleicht nicht so gemeint, aber für mich ist das inzwischen ein Schimpfwort. Alles, was den Beruf der Hauptfiguren betrifft (um den es auch gehen soll, wenn sie mal nicht im Bett... oder schmachtend...) ist entweder hölzern-auktorial "herunterberichtet", in jenem unverwechselbaren Stil, den Redakteure von Oberstudienräten kennen, die als freie Mitarbeiter über Kulturereignisse berichten. Oder es wird eine auskunftsfreudige, lehrerhafte Nebenfigur aus dem Hut gezaubert, die in einer aus dem Hut gezauberten Dialogszene alles erklärt, was der Autor unbedingt seinem Leser erklären möchte. Unsereins ruft dann in froher Erwartung zehn Seiten weiter: Trara, jetzt muss er wieder eine Nebenfigur einführen - klar, mit Pünktlichkeit, wird prompt geliefert. Und dementsprechend wimmelt es in solchen Büchern von handwerklich solide gemachten Dienerschaften, Handwerkern und sonstigen Zuträgern. Es wimmelt so sehr, dass der Autor auch schon einmal den Überblick über seinen Flohzirkus verliert.

Das fällt aber nicht weiter auf, weil alle Figuren im gleichen Ton sprechen. Auf gleichem Sprachniveau (dem des Autors), mit gleicher Wahrnehmung, gleichem Denken. Rutscht so schön rein, das ist es, was manche Menschen so schnell versinken lässt. Mag vielleicht sogar im Mittelalter funktionieren, weil wir keine Tonaufnahmen besitzen. Wenn aber der Tonfall und das Denken einer Figur einem aus deren eigenen historisch existenten Worten bekannt ist, dann hat man doch sehr daran zu knabbern, wenn aus ihr ebenfalls ein Oberlehrer wird. Da agieren Pappfiguren, die sich von realen Menschen die Namen ausgeliehen haben, um marketingtechnisch zu punkten; da wird Historie zwischen Spitzenunterröcken ins Bett gezerrt und werden reiche Charaktere voller Brüche und Faszinationen zu eindimensionalen Schreibratgeber-Klischees. Handwerklich solide gemachte Leichenfledderei.

Denn was in einer solchen Schmonzette außen vor bleiben muss, ist die wahre Geschichte, ist das, was man eben Historie nennt. Mehr als es ein schön bunter Kostümfilm im Vorabendprogramm verträgt, ist nicht erwünscht; sobald es an die damals wirklich brutalen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche tastet, ergeht sich der Autor in vagen Andeutungen oder schnappt handwerklich solide zum rettenden Spitzenunterrock. Die historisch vorgebildete Leserin, die genau weiß, dass mindestens eine der Figuren im wahren Leben einer der ganz großen Umsturz-Vorbereiter war, möchte dem Autor einfach nur noch zurufen: "Lass diese Figur um Himmels Willen endlich aus dem Bett und den Ballsälen und ihre Arbeit machen!" Dabei konnte der Autor nicht anders. Stark muss ja die Frau in der Hauptrolle sein, da muss man den Mann an ihrer Seite eben etwas zurechtbiegen.

Ich habe noch nie solchen Hunger auf Sachbücher bekommen, auf Originalschriften. Ich fürchte, ich bin damit für immer von historischen Romanen geheilt. Trotzdem habe ich eine Menge gelernt dabei. Handwerk ist nicht alles, wenn man statt vielschichtiger und lebensechter Charaktere nur Pappkameraden zum Leben erweckt. Historie lässt sich nicht in Schablonen und Erwartungsmuster pressen, lässt sich nicht aufbauen wie ein solide gebastelter Ratgeberplot à la Hollywood-Betafilm. Akribisch geplanter Figurensex auf den üblichen Seiten hat etwas von einer gelangweilten Frau, die den Einkaufszettel herunterbetet und nur darauf wartet, dass der Alte endlich fertig ist. Vor allem aber wäre die reine Fiktion mit erfundenen Personen oft weniger schmerzvoll als ein ahistorisches Bemühen, bei dem die Figur zum Plot vergewaltigt wird und nicht die Geschichte der wahren Figur folgt.

Noch etwas habe ich gelernt: Unendlich viel Respekt vor historischen Personen und meiner Art der Annäherung. Mir wäre die Herausforderung, ihnen eine romanhafte Handlung anzudichten, ehrlich gesagt zu groß. Obwohl es wirklich viele gute Beispiele gibt, wo Autorinnen und Autoren das auf hohem Niveau gelingt. Aber das darf man dann nicht historische Romane nennen, habe ich mir sagen lassen.

Da ich mich für ein neues Projekt ebenfalls mit historisch echten Figuren beschäftige und kein reines Sachbuch schreiben will, bekomme ich regelrecht Angst. Ich muss auf der einen Seite eine ihnen adäquate, völlig andere Form finden. Und ich muss mich jetzt schon dagegen wappnen, falls Lektorinnen verlangen, ich sollte die doch bitte zusammen ins Bett legen...

Bei der Gelegenheit fällt mir auf, wie formal arm dran wir deutschsprachigen Autoren sind, was historische Dinge betrifft. Da ist einerseits das literarische Schreiben, das aber gekonnt sein will und das man sich nicht per Schreibratgeber aus dem Ärmel schüttelt. Und da sind Mischformen, neue Formen, die in allen funktionierenden Fällen, die ich kenne, ausschließlich aus anderen Sprachräumen kommen. Da bleibt viel zu lernen.

Und bevor jetzt alle auf die Kostverächterin losgehen: Morgen oder übermorgen gibt es eine "echte" Rezension, die zeigt, dass man über Geschichte auch ganz anders schreiben kann. Dann lade ich nach Sankt Petersburg ein...

16. Januar 2010

Życie jest piękne

...oder wie der Franzose sagt: La vie est belle, das Leben ist schön.
Als ich mich in meinen ersten Monaten in Polen wunderte, dass man sich dort unter wildfremden Leuten nach zehn Minuten Kennenlernen um den Hals fallen darf, wenn man sich sympathisch findet, erklärte mir ein polnischer Freund das so: Der Mensch, sofern noch nicht verbogen, erkennt sehr schnell, ob er einen anderen Menschen mag. Warum also Zeit damit vergeuden, eine kalte Fassade aufrechtzuerhalten? Zeit und Geduld brauche man noch genug, wenn das Leben die Freunde sonstwohin verschlage. Das war aus Erfahrung gesprochen, denn kaum eine Familie hat das nicht erlebt oder träumt davon: Emigration.

Wenn man dann aber plötzlich zufällig nach New York reise und den seit zwanzig Jahren vermissten Freund entdecke, dann würde man auch nicht die Zeit mit all dem Höflichkeitsbrimbamborium der steifen Deutschen verplempern. Dann stünde der eine eben vor der Tür und man feiere drei Tage, tüchtig und freudig, denn wer weiß, wie lang das Wiedersehen bis zum nächsten Mal halten muss.

Mir lag das sehr, vielleicht, weil meine Familie auch ein wildes Sammelsurium aller möglichen Emigrationen ist (und ich offensichtlich die Tradition fortführe). Und ich weiß, dass man manchmal um die halbe Welt reisen kann und plötzlich Menschen begegnet... Wie diesen Leuten damals in Warschau. Wochen trug ich eine Telefonnummer von wildfremden Menschen mit mir herum. Falls wir Starthilfe in Polen bräuchten. Doch die wohlerzogenen Westler trauten sich nicht, wildfremde Menschen anzurufen. Bis ich beim Faschingsfest meines Polnischkurses neben einem saß, der mir Sachen erzählte, die mir bekannt vorkamen. Bis ich fragte, ob ich etwa seit Wochen eben diese seine Telefonnummer mit mir herumschleppte.

Dann hat uns das Leben wie üblich hierhin und dahin verschleppt, zwischen die Freundschaft geriet Schweigen, manchmal das Leben. Und plötzlich klingelte das Telefon. Plötzlich war alles wieder da und nun freue ich mich auf das Treffen. Mit den Leuten, die mir die Telefonnummer gaben und denen, die das Telefon dazu hatten. Aber nicht genug. Noch ein Polen und die Ukraine haben auch wieder angeklopft, nein angerufen. Noch ein Fest. Alle wieder da irgendwie, und man muss sich kaum entschuldigen für die Fehlzeiten, das Leben eben, aber das Leben ist schön, la vie est belle, Życie jest piękne und das müssen wir nun gehörig feiern. Wenn es sein muss, drei Tage lang! Und noch viel länger und öfter, denn das Leben hat uns alle zusammen in einen Umkreis von hundert Kilometern verschlagen. Europa eben.

Blaue Stunde

Gerüche aus der Kindheit, Düfte aus dem Urlaub - solche Erinnerungen bleiben ein Leben lang, aber vor allem im Deutschen hat sich nie eine ausreichende Kultur gebildet, sie wirklich beschreiben zu können. Wie beim Wein hangeln wir uns an Krücken von Vergleichen entlang, selten wagen wir uns an Metaphern. Und genau da rebelliert in mir die Synästhesistin - ich möchte Texte so gern duften lassen können...

Gestern habe ich eine Duftzeitreise veranstaltet. Die Ballets Russes, 1909 gegründet, waren bekanntlich ein Gesamtkunstwerk. Anders als in vielen modernen Opernhäusern wurde hier dem Publikum ein Vollrausch geboten: Musik, Tanz, bildende Kunst, Kostüme, Farben - all das forderte in bisher unerhörter Weise alle Sinne heraus. Aber nicht nur das - für die Ballets Russes und von ihnen inspiriert schufen die angesagten Modeschöpfer eine neue orientalisierte Mode, die es den Frauen ermöglichte, die Korsetts der Belle Epoque wegzulegen und sogar bequeme Haremshosen à la Nijinsky zu tragen. Und was man heute kaum noch weiß: Die Ballets Russes inspirierten die besten Parfumeure Frankreichs; neue Düfte entstanden parallel zu den Ballettpremieren.

Ich hatte gestern mein neues Buchprojekt im Kopf, das ich für mich BLAU nenne. Weil es so klingt, sich so anfühlt, so riecht, wie ein ganz bestimmtes Blau, das man aus einem reinen Ultramarin und Benois-Blau bekommt. Es müsste doch ein ähnlicher Duft auch in der Welt zu finden sein? Ich stellte mir das märchenhaft vor: einfach das passende Parfum auftragen und schon würden die Ideen in die Tastatur fließen. Manchmal muss man so herumspinnen, wenn die Muse Urlaub hat. Und natürlich fiel mir mein eigener Text über Nijinsky ein, da hatte ich ja all die parallel geschöpften Parfums beschrieben, von denen es noch heute einige gibt. War da nicht auch irgendetwas Blaues gewesen?

Natürlich. Einer der ganz großen Parfumeure (und dazu zählt die Firma noch heute), Guerlain, brachte 1912 ein Parfum auf den Markt, das laut Firmenmythos angeblich auf die Werke der Impressionisten zurückgeht. Der avantgardistisch-orientalische Duft kam in den Verkauf, nachdem Nijinsky den "Blauen Gott" getanzt hatte und schon längst zum Star geworden war, als alle Welt den orientalistischen Balletten der russischen Emigranten zujubelte und Modeschöpfer wie Juweliere in - Blau - schwelgten. Hatte ich da meinen Duft in L'Heure Bleue (die blaue Stunde), das noch in dem Flakon präsentiert wird, der von den Bühnen der Ballets Russes stammen könnte? Nicht jeder Duft, der blau heißt, riecht ja auch blau...

Dumm ist, dass man solche uralten wertvollen Düfte in fast keiner Drogerie mehr testen kann. Ketten, die auch bei Büchern hauptsächlich auf Schnelldreher setzen, verfahren mit Parfums ähnlich: Kurzlebiger Trend erschlägt irgendwann Qualität. In Deutschland sind die Trends wieder ganz andere als in Frankreich. Nur in manchen Edelkaufhäusern von Hauptstädten steht auch seltenere Ware. Also musste ich mich erst einmal über Worte annähern - und die versagen bekanntlich schnell, wenn es ums Riechen geht. So wurde meine Reise durch die Beschreibungen von L'Heure Bleue zu einer Entdeckungsreise menschlichen Riechverhaltens.

Schon bei so einfachen Dingen wie der Einordnung von Kopf-, Herz- und Basisnote (mehr dazu in "Das Buch der Rose") divergieren die Beschreibungen enorm. Laut Guerlain sind als Kopfnote Bergamotte und Anis zu riechen. Durchforstet man Erlebnisberichte im Internet, duften da jedoch je nach Gusto auch schon mal "alte Apotheken", manche wollen Estragon und Salbei riechen (verwandte Stoffe im Anisöl), andere haben Pralinen und Bonbons vor sich, wieder andere sind angeekelt von "Desinfektionsmittel". Weil letzteres vor allem Amerikanern passiert, steht die Vermutung nahe, alte Desinfektionsmittel dort seien vielleicht mit Anisöl parfumiert gewesen- und dann ruft ein Duft eine Assoziationskette ab. Wie aber beschreibt man einem Fremden zuverlässig einen Duft, den der eine als Bonbon und der andere als Apotheke wahrnimmt?

Wenn schon die einfachen Dufteinordnungen nicht mehr funktionieren, greifen manche Menschen gern zu Assoziationen und Vergleichen. Vordergründig werden diese von perfekten Werbetextern der Parfumbranche initiiert. Eine Parfumwerbung funktioniert dann, wenn sich möglichst viele Menschen mit diesem Mythos, diesem Image identifizieren können. Kein Wunder, dass sich so viele in die blaue Abenddämmerung versetzt fühlen, impressionistische Bilder von Wasser und womöglich noch Monets Seerosen sehen, das alles will der Firmenmythos so, der jedem Parfum einen ersten Bilderreigen zuordnet und manchmal auch nach neuen Moden verändert.

Aber dann gibt es wiederum Vergleiche von Laien, die sichtbar sensibel auf Düfte reagieren und Dinge "sehen", die sie gar nicht wissen können. Jemand schrieb, das Parfum dufte so, wie die Musik von Reynaldo Hahn klinge. Sicher wusste er um den Zeitgenossen dieser Schöpfung von 1912. Aber wusste er auch, dass eben dieser Reynaldo Hahn die Musik zu Nijinskys Ballett Le Dieu Bleu geschrieben hatte, nach dessen Premiere das Parfum L'Heure Bleue diesen Erfolg hatte?

Jemand anderes wollte den Bruch gerochen haben, zwischen der Avantgarde und der Belle Epoque - und viele Männer entdecken den Duft heute wieder für sich. Da las ich, was auch ich noch nicht wusste: Während sich heute vor allem Frauen an Männerdüften bedienen und die Industrie deshalb immer mehr Unisex-Produkte auf den Markt bringt, war das um die Jahrhundertwende genau andersherum. Viele dieser heute als "Frauendüfte" legendären ersten Aldehydparfums wurden damals auch von Männern getragen. Frauen wollten so zunächst nicht duften, zu hart schien die orientalisierte Moderne gegen die "erlaubten" reinen Blumenparfums. Und in einer Zeit, in der Nijinsky mit seiner legendären Androgynität Männern wie Frauen den Kopf verdrehte, waren Männer zudem mutiger als heute, was Düfte betraf.

Dann beschreibt eine Künstlerin das Parfum, wie sie es auftrug, wie es sie inspirierte und doch mit einer Art melancholischer Sehnsucht erfüllte. Sie verglich es mit Citizen Kanes "rosebud", diesem Symbol für die unerfüllte Suche nach etwas, das man nicht genau greifen kann. Da sprang in mir etwas an. Hatte ich nicht eben dieses rosebud in einem meiner Bücher verwendet und untersucht? Ich brauchte ziemlich lang, um mich zu erinnern, in welchem (Das Buch der Rose). Denn eigentlich habe ich ja schon wieder eine Rosenknospe vor mir, die ihr Inneres noch vor mir versteckt, die noch nicht duften will und von der ich nur eine Ahnung habe, wie sie vollerblüht schön sein könnte. Diesmal war ich auf der Suche nach Blau...

Ich fürchte, ich werde allenfalls in Straßburg fündig werden, um an L'Heure Bleue zu schnuppern - ein Parfum auf Verdacht zu kaufen, kann nämlich böse ins Auge gehen. Vor allem diese alten, sehr reinen Kompositionen verbinden sich mit Haut und Schweiß zu völlig individuellen Düften, die sogar je nach persönlicher Verfassung von Tag zu Tag wechseln können. Mancher kennt das vielleicht - so schön ein Parfum aus der Flasche oder auf Papier duftet, man selbst fühlt sich plötzlich in verbrannte Zwiebeln oder abgestandenen Urin gehüllt. Dann muss man entweder die Haut wechseln oder das Parfum.

Aber neugierig auf den blauen Duft von 1912 bin ich schon, Bergamotte und Anis, später Nelken, Rosen, Veilchen und Tuberrosen und schließlich Iriswurzel, Vanille und Benzoeharz... Der Duft spielt mit kalt und warm, mit berauscht und melancholisch, mit männlich und weiblich, mit scharf und pudrig. Gegensätze, wie sie Nijinsky vereinte, lebte, tanzte. Und dieses Parfum hatte er dabei in der Nase - denn es war damals der letzte Schrei in Paris. Die Zeitmaschine ist also längst erfunden - und der Zugang führt durch die Nase.

15. Januar 2010

Diese Bretter...

Meine Energiemanagerin hatte mir verboten, nach dem anstrengenden vergangenen Jahr und drei Jobs nebeneinander 2010 auch noch auf irgendwelche Bühnen zu klettern. Schwatzte irgendwas von Kräften und von inneren Sehnen, die reißen könnten, wenn man sich zu viel zumutet. Also habe ich brav auf sie gehört: keine Lesung, keine Veranstaltung, braves Arbeiten im Kämmerlein. Na ja, bis gestern...

Da haben mir meine Lieblingsveranstalter einen Floh ins Ohr gesetzt. Das sind die mit der hoch oben schwebenden Hängebühne im Tabakschuppen, wo man am Geländer vor dem Abgrund ins Publikum zum Lampenfieber noch einen Extra-Thrill Höhenfreuden dazu bekommt. Und wie reagierte ich? Ich habe eigentlich gar nicht überlegt. Das Thema muss ich ja nicht mal mehr proben. Und die Energiemanagerin soll an dem Tag den Hund hüten oder Däumchen drehen. Ich brauche diese Bretter.

Noch reift der Plan erst. Aber es wird wieder ein feines Menu passend zum Stöffchen geben und das heißt diesmal "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt". Damit kehre ich sozusagen an den Ort meiner früheren Verbrechen (Link: pdf) zurück, denn dort hatte ich vor Jahren schon einmal ein herrliches Publikum, das rundum das Elsassbuch und passende Speisen und Weine genoss. Dort traf ich damals die Verlegerin meines Elsass-Hörbuchs als Überraschungsgast und ahnte noch lange nicht, dass es zu einem weiteren Hörbuch kommen würde. Es ist der Ort, an den auch ich selbst als Gast komme, wenn ich kreativ auftanken muss... Das habe ich auch der Energiemanagerin gesagt. Und leise flüstere ich in die Runde: Wahrscheinlich wird es im blumenreichen, warmen Juni sein. "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt". Genauere Angaben folgen hier im Blog, ganz frisch und vor allen Veranstaltungskalendern.

14. Januar 2010

Hyperraumdesaster

Grenze. Begrenzungen. Frontière, limite, bornes, borniert, Grenzverlauf, Brett vor dem Kopf, Scheidewege, Wasserscheiden, Grenzpunkt. Zollgrenze, geologischer Abbruch, Grenzöffnung, Staatsgrenze, Grenzgänger, Brett vor dem Kopf. Grenzüberschreitend, Grenzwege, grenzenlose Wege, grüne Grenzen, grenzfrei, unbegrenzt, Grenzgängerei, Grenzüberschreitungen, Brett vor dem Kopf, Mauern im Kopf, Stacheldraht, les bornes, bornierte Köpfe, douane, Zoll, Grenzbezirk, ausbrechen, überschreiten, hinübergehen, emigrieren, immigrieren, bekämpfen, befrieden, begrenzen, Brett vor dem Kopf.

Die Autorin arbeitet heute für Europa. Brainstorming, das sich anfühlt, als müsse man aus Kaugummi einen Text kneten. Worte am Scheideweg. Bikulturelles Worthüpfen mit WARP-Geschwindigkeit wegen Deadline: Todeslinie. Grenzverlauf, grenzenlos, hin- und herleben, Schmuggelwege, Gedankenschmuggel...
(man hört leiser werdendes Gemurmel)

13. Januar 2010

Daisy und Gustav

Als bekennender Entenhausen-Fan hätte ich es mir denken können: Daisy als weiß-gesagte Schneesturmkatastrophe war eine Zeitungsente, so dick, wie nicht einmal gestopfte Weihnachtsenten sein können. Nur bin ich nicht Gustav, der Glückspilz. Was also macht man, wenn man am Rand der Nordvogesen heute schon zum vierten Mal den knubbeligen kleinen 313 freigeschaufelt hat und abends feiern gehen will? Obwohl der Schneepflug den ganzen Tag irgendwo geschlafen hat? Ganz genau: man hat in donaldscher Laune genug vom Umstand und kramt stattdessen nach der Fähnlein-Fieselschweif-Ausrüstung.

Was für den ostpolnischen Winter gut war, passt immer noch, und minus zehn Grad fühlen sich vergleichsweise warm an. Und die Gummistiefel mit dem riesigen Loch hat man zum Glück rechtzeitig ersetzt. Also beginnt die vertraute Aktion "Donald reist ins All", denn ungefähr so umständlich ist das Anlegen all dieser überflüssigen Ausrüstungsteile wie Stulpen oben und Stulpen unten und Handschuhe und Rucksack. Dann ein tiefes Atemholen auf dem Hügel, der plötzlich aussieht wie ein Berg, ein Anvisieren der ersten Lichter im Nachbardorf unten und schon kann es losgehen. Theoretisch fast Luftlinie, da müsste das Sträßlein verlaufen, das sie seit zwei Tage nicht ausgebuddelt haben.

Der Weg wird sicher eine Freude, denn am anderen Ende glüht nicht Dagoberts Geldspeicher, sondern ein schöner warmer Kachelofen. Und nein, ich denke natürlich überhaupt jetzt noch nicht an den mondlosen Rückweg, zu dem ich eben diesen Berg hochkeuchen muss, während mich mein Hund trocken und gemütlich schlafend im Warmen erwarten wird, wahrscheinlich erstaunt, was diese eisige Schneefrau ihn unbedingt wecken muss. Aber eins weiß ich, wenn die Panzerknacker danach mit dem Schneepflug kommen, dann schieße ich sie mit Klaas Klever auf Mondumlaufbahn, versprochen!