Ich bin vorhin bei meinem Leib- und Magenbuchhändler in den Laden gestürzt und habe gemeint: "Ich brauche jetzt dringend einen Ort der Intelligenz!" Fragt er mich natürlich, woher ich denn käme. Aus dem Museum Frieder Burda - Ausstellung Der blaue Reiter. Nein, der Blaue Reiter ist nicht schuld, ich erzähle mal der Reihe nach...
Aus dunkelgrauen 15 Vogesengrad habe ich mich heute aufgerafft und bin in einem toskanaheißen sonnigen Baden-Baden gelandet, um den Mann zu besuchen, den ich so liebe. Vielmehr das, was von ihm noch übrig ist. Wenn Bilder von Wassilij Kandinsky irgendwo in erreichbarer Nähe ausgestellt werden, bin ich ganz sicher dort zu finden. Sie sind ein ganz besonderes synästhesistisches Vergnügen, sehhörfühlbar für mich. Und nach all den Monaten mit den Ballets Russes war ich natürlich besonders neugierig darauf, vor Bildern zu stehen, die zu genau dieser Zeit noch feucht waren...
Ich hätte heute etwas darum gegeben, hundert Jahre zurückzudrehen und mit Kandinsky im Russenhaus eine zu rauchen, obwohl ich nicht rauche. Denn im Museum bekam ich einen leichten Kulturschock. Den letzten Kandinsky genoss ich noch im Straßburger Musée de l'Art Moderne, in wunderbaren Rauminstallationen, in denen seine Bilder mit denen von anderen Künstlern zu sprechen begannen und kleine Kinder am Computer mit Eigenbasteleien aus Formenkompositionen Musik schufen. (Ich muss gestehen, dass ich mich in französischen Museen immer in den Kinderbereich verirre, weil ich so gern mitmachen würde beim Sinnen-Rauschen-Lassen.)
Das Museum Frieder Burda habe ich bisher nur recht leer erlebt - und dafür scheint der architektonisch sicher reizvolle Bau geschaffen zu sein: Für ein Museum ohne Menschen. Das klingt böse, aber bei einer Ausstellung mit diesem Andrang werden die ellenlangen engen Qualrampen zum Nadelöhr für menschliche Boxautos. Rollstuhlfahrer, an die man dabei besonders dachte, sollten Kuhfänger tragen. Überhaupt sollte man nicht allzu invalide sein. Da ich mit einer verletzten Hand immer noch etwas einarmig bin, griff ich natürlich zum kleinen Stadtrucksack. Mindestens drei Damen stürzten sich sofort auf mich, den müsse ich abgeben oder auf dem Bauch tragen. Aha. Brav gab ich ihn ab und bekam dafür mindestens zehn Guccis und Hermèstaschen in die Seite gerammt, die man nicht wie ein Känguruh tragen muss. Lesebrille ging auch nicht. Die eingezeichneten Abstandslinien liegen außerhalb des Lesebereichs. Für die Normalbrille hätte ich eigentlich hinter den Menschentrauben stehen müssen.
Hier wird das Labyrinthische, das Kleinräumige im Großen zum architektonischen Handicap. Jeder steht jedem im Weg, für manches Großformat reicht der Abstand nicht mehr, die vergrößerten Fotos im Treppenhausbereich sind nur im Rückenkontakt mit anderen zu betrachten. Wenn dann noch jemand die Treppe für das benutzen will, wozu sie da ist, geht nichts mehr. Noch ein Spaß für Brillenträger ist die Beleuchtung. Ich trage ja nun schon superentspiegelte Gläser, damit mich auch Autoscheinwerfer bei nächtlichem Regen nicht stören. Aber es wollte mir bei einigen mit Spiegelglas geschützten Bildern selbst auf Zehenspitzen kaum gelingen, statt der Scheinwerfer und mir das Gemälde im Ganzen zu betrachten. Schade schade schade...
Vielleicht bin ich besonders krittelig, ich weiß es nicht. Ich war auch ziemlich die einzige, die nicht mit diesen kreischenden Bildungskopfhörern herumlief, die knochentrocken ihre Träger anwiesen, was sie sich jetzt wie anzuschauen hätten und wann in welchem Quartal der Pinselstrich gesetzt wurde. Ich war auch nicht bei den Gruppenführungen dabei, wo einer fragte, wie alt denn Kandinsky geworden sei und die Führerin sagte, sie müsse erst mal nachschauen, wann der gelebt habe. Der Rest klang wie das, was man aus alten Burgen, Tropfsteinhöhlen und Heimatmuseen kennt. Aber das Schulmeisterliche, das verstaubt Verkopfte passte zur braven Art, in der man die Gemälde gehängt hat. Fein nach Jahreszahlen geordnet in Etagen, fein nach den Personen des Blauen Reiters sortiert und dann noch mal irgendwie nach Häuschen und Blumen und Abstrakt und so...
In diesem Umfeld fühlt man die Wucht von Schönheit umso mehr. Die Bilder sind umwerfend. Und nach Kandinskys Blau könnte ich süchtig werden, diesem Die-Welt-ist-Tief-Blau, Die-Welt-klingt-Blau. Solche Farbsymphonien und Formenrhythmen kann kein Besserwisserkopfhörer übertönen, zum Glück. Dass ich auch die Ballets Russes Farben tanzen sah, will ich lieber still genießen. Ich werde wieder hingehen, vielleicht nicht nur einmal, trunken werden von Bildschätzen und Farbenklang, der die Schwätzer-Welt ausblendet, das Wesen hinter den Dingen zeigt.
Und sicher werde ich wieder traurig werden, wie man eine solch sinnenfreudige Kunst derart sinnenlos und bildungsgrau und verkopft in Datenlinien und Auswendigkram darbringen kann (und ich habe Kandinsky auch in Deutschland schon wahrhaft anders präsentiert gesehen). Auf Anhieb fallen mir wieder zehn Buchprojekte ein, wie man Menschen Kunst näher bringen könnte - aber die kauft dann wieder kein Verlag, weil Kunst ja nicht gefragt sei. Das Durchschnittsalter in diesem Museum lag heute bei 60 Jahren. Sicher, junge Menschen arbeiten um die Zeit, aber nach Feierabend (18 Uhr) schließt das Museum auch. Und doch - in einem französischen Museum sind an Werktagen Schüler- und Jugendgruppen unterwegs. Wo sind all die jungen Kunstliebhaber?
Dann das Erschreckendste: Die Menschen in diesen Hallen waren so hilflos. Da war so viel Durst nach Zugang, nach fühlbarem Zugang. Angst vor der Kunst war spürbar, Schwellenangst, Angst beim großen Wissensquiz zu versagen, oder nicht die richtigen Flecken im Bild zu loben, nicht die richtige Miene an der richtigen Stelle zu machen. Welch unendliche Welten lagen zwischen diesen Zagenden und den Kindern in Strasbourg, die in respektloser Lust Kandinsky'sche Formen montierten.
Der echte Kulturschock kam aber noch. Natürlich war ich im Museumsshop, sah mich schon mit Stapeln von Kunstpostkarten herauskommen. Von wegen. Schweigen wir das Kapitel besser tot. Ramsch, Tinnef, Andenkenkrempel und immerhin der Ausstellungskatalog (der lohnt sich unbedingt). Vor Gunther Sachsens Riesenfotos im Untergeschoss musste ich dann wegblinzeln, das war Clash of Cultures, der alternde nackte Reiter zum ewig jungen Blauen Reiter. Mir blieb die Flucht zum Buchhändler.
Meine Empfehlung: Die größere Postkartensammlung, die bessere Buchauswahl zum Blauen Reiter (inklusive Katalog) und obendrein antiquarische Bücher zum Thema findet man bei der Buchhandlung Strass in der Altstadt neben dem Löwenbräu - der zehnminütige Umweg lohnt sich. Ein zauberhaftes Mitbringsel für Freunde ist "Der Blaue Reiter" von Prestel im Miniformat. Auch als Kunstinhalator für die Handtasche geeignet! Und dann fiel ich noch über ein antiquarisches Buch aus dem gleichen Verlag, mit dem ich mich belohnt habe: Franz Marc - Else Lasker-Schüler: "Der Blaue Reiter präsentiert Eurer Hoheit sein Blaues Pferd. Karten und Briefe." Diese geschriebene und gezeichnete Austausch zwischen den beiden Künstlern ist ein Genuss für Liebhaber.
Kurzum: Ausstellung unbedingt ansehen (bis zum 8. November verlängert) und nicht zu sehr auf das Umfeld achten. Und natürlich gibt's nicht nur Kandinsky zu sehen, sondern auch Bilder von Münter, Jawlensky, Klee, Marc, Macke und Werefkin.
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30. September 2009
29. September 2009
Nijinsky: Tagebücher
Henry Millers Buch für die Insel
Um ein Buch zu schreiben, kann man selten alles verfügbare Material recherchieren. Und manchmal kommt es sogar vor, dass man sich ein Werk absichtlich versagt. In meinem Fall war dies ein Film, den ich mir während der Arbeit am Nijinsky-Hörbuch verboten hatte: The Diaries of Vaslav Nijinsky. Der Australier Pau Cox hat den abendfüllenden "Dokumentarfilm" der besonderen Art 2001 gedreht (engl. Einführung). Ich habe ihn deshalb nicht angeschaut, weil Paul Cox versucht, Nijinskys psychische Krankheit künstlerisch zu erfassen, und dessen Originalzitate damit unweigerlich interpretiert. Davon wollte ich frei bleiben.
Ich habe mindestens neun Monate mit dem Original gelebt. Gelebt ist der bessere Ausdruck, so ein Buch kann ich nicht "nur" lesen. Es ist ein Text, der mich verändert, den ich nicht mehr abstreifen kann. "Nijinsky: Tagebücher" (Übersetzung von Alfred Frank) lautet der bescheidene Titel dieses Buchs, das Zeitgeschichte schrieb und in deutscher Sprache leider allenfalls antiquarisch zu haben ist. Henry Miller zählte es zu seinen berühmten "Büchern für die Insel", empfahl es zur mehrmaligen Lektüre.
Die Tagebücher waren eigentlich ein paar Schulhefte, die Nijinsky in einem regelrechten Schreibrausch 1919 füllte, in einer Zeit, in der ihm unter dem jahrelangen Grauen des Ersten Weltkriegs und der Isolation von Kunst und Tanz die Alltagswelt entglitt. Sein Schreiben beendete er offensichtlich kurz bevor er auf Betreiben seiner Familie in die psychiatrische Klinik Burghölzli bei Zürich zwangseingewiesen wurde. Geahnt hat er, dass er krank wurde; nicht ahnen konnte er, was er die nächsten dreißig Jahre seines Lebens durchmachen musste.
Zensur und Vorurteile
Nijinskys Tagebücher wurden zu seinem Vermächtnis, nicht nur, weil er sie als solches konzipiert hatte, klarsichtig über seine Probleme schreibend. Seine Frau brachte zunächst eine extrem zensierte Fassung heraus, die jahrzehntelang für ein falsches Bild von Nijinsky und für zuweilen abenteuerliche psychiatrische Deutungen sorgte. Recherchematerial über Nijinskys Krankheit und Kunst ist deshalb mit äußerster Vorsicht zu genießen, weil Generationen von Autoren jenem unvollständigen Bild folgten. Noch heute werden unhinterfragt die Behauptungen einer Psychiatrie wiederholt, die von der Geschichte längst überholt sein sollte.
Selbst in den Medien las man noch 2009 vom "schrecklichen Wahnsinn", von "schwerer Schizophrenie" und dem kaum ausrottbaren Volksglauben, Schizophrenie sei eine "Aufspaltung in Persönlichkeiten". Und das alles, obwohl Eugen Bleuler, Nijinskys erster behandelnder Psychiater, sich später für seine Fehldiagnose entschuldigt hatte. Obwohl der Psychiatrieprofessor Peter F. Ostwald aus Nijinskys Krankenakten und Geprächen mit Zeitzeugen und Familienangehörigen ein sehr viel glaubhafteres und moderneres Bild gezeichnet hat.
All dies mag für medial willkommenen Grusel sorgen und Nijinskys Schicksal bietet in der Tat tiefste menschliche Tragik. Aber leider wird durch die Überbewertung einer psychiatrischen Diagnose des frühen 20. Jhdts. der Blick auf den Menschen und seine Kunst oft verstellt. Beim Ballett sind sich alle noch einig: Tanzen, das kann doch nur ein Gesunder? Dass aber einer, der sein Leben dem Ballett verschrieben hat, plötzlich auch noch Bilder malt und schreibt - das wollte man seiner Künstlerpersönlichkeit lange nicht zubilligen. Das Etikett "Wahn" macht es leicht, die unbequemen Seiten abzutun oder womöglich Erschütterungen des eigenen Weltbildes durch die Originale zu vermeiden.
Ein Multitalent
Sind Nijinskys in Zyklen einteilbare Bilder wirklich nur "Kritzeleien eines Verrückten", wie selbst von Zeitgenossen behauptet? Der Tänzer hatte Zeichenunterricht bei Marc Chagall genossen. Sind es "Bildnereien" im Sinne Prinzhorns oder ist da ein Künstler im Dialog mit seiner Zeit am Werk, wie es die Ausstellung 2009 in der Hamburger Kunsthalle zu ermitteln versuchte? Solche Fragen haben sich bei seinen Texten, den einzigen authentischen Aussagen Nijinskys, kaum Forscher gestellt. Literaten und Denker waren eher bereit, ihm einen ernsthaften schriftstellerischen Versuch zuzubilligen.
Nijinskys Tagebücher sind von einer anrührenden Weisheit und Schönheit, die neue deutsche Übersetzung vermittelt den Sog, den Rhythmus seines Erzählens. Da schreibt ein Getriebener, aber er weiß seine Worte wie Schritte exakt zu setzen, steigert Tempi und verlangsamt wieder in seine Traurigkeit hinein. "Tiefinnerlich" sitzt sie ihm, so dass er äußerlich nicht weinen kann; ein Abgrund wie der Tod, der ihn anzieht, den er fürchtet und den er ein letztes Mal zum Entsetzen der Zuschauer tanzt: "Ich will ihnen die Qual der Schöpfung zeigen, die Agonie des schaffenden Künstlers ...", schreibt er. Und Nijinsky schafft es, mit seinen einfachen und klaren Worten die Leser in seinen Kopf hineinzuziehen, er schlägt sie mit seinem Leiden, mit seinen mystischen Erfahrungen und seiner Sinnsuche. Unbequem, fordernd, poetisch.
Wer versuchen will, die Welt zu sehen, die Nijinsky vielleicht sah, muss sich vom Vor-Urteilen frei machen, muss sich einlassen auf das, was er selbst zu sagen hat - mit den Farben seiner Bilder, in deren Komposition man die Ideale seiner Choreografien wiederfindet; mit den Worten, die sich bewegen wie einst der Tänzer, bevor man ihm die Bewegungsfreiheit nahm. "Der Gott des Tanzes" bleibt unvergessen, weil sein Charisma und Können schier unmenschlich gewesen sein sollen. Der Mensch Nijinsky, der an der Idolverehrung zerbrach, ist nach wie vor in seinen Bildern und Worten ungeheuer intensiv. Und er ist erschütternd, weil wir selten die Möglichkeit haben, derart unvermittelt von der Seele eines Menschen selbst über hundert Jahre hinweg berührt zu werden.
Die Verfilmung des Unmöglichen
Diese Tagebücher in Film umzusetzen, ist eine Herausforderung, die Paul Cox gelungen ist. Wer von Nijinsky noch nie etwas gehört hat, wird sich in den Film zuerst einfühlen müssen und eher von Assoziationen und der wunderbaren Musik getragen werden. Das verwendete Originalmaterial ist selbst für jemanden erstaunlich, der glaubt, die gängigen Fotos bereits gesehen zu haben. Wer die Geschichte kennt, wird staunen, mit welcher Liebe und Detailgenauigkeit Cox bildnerische Metaphern und Beziehungen zu Nijinskys Ballettrollen verknüpft. Sein Film wurde zu Recht ein Tanz genannt, er folgt den Tagebüchern nicht linear, kreist um bestimmte Aussagen, springt, setzt zurück. Seine Bildsprache erinnert manchmal an den russischen Regisseur Andrej Tarkowskij (Wasser und tanzende Bäume) und steigert sich mit der Musik eindrucksvoll in der Szene zweier sterbender Vogel-Tänzer, die fast unsichtbar Nijinskys Zeichnungen auf den Gesichtern tragen.
Wer Nijinskys Tagebücher nicht platt nacherzählt, sondern als eigene Kunstform sehen möchte, sollte sich unbedingt auf diesen Film einlassen. Ich bin im Nachhinein froh, dass ich ihn während des Schreibens nicht angeschaut habe, dass ich unbeeinflusst geblieben bin. Denn Paul Cox haben offenbar die gleichen Sätze Nijinskys berührt wie mich - wie etwa: "Meine Geisteskrankheit ist Menschenliebe."
(C) by Petra van Cronenburg
Zum Vertiefen:
Um ein Buch zu schreiben, kann man selten alles verfügbare Material recherchieren. Und manchmal kommt es sogar vor, dass man sich ein Werk absichtlich versagt. In meinem Fall war dies ein Film, den ich mir während der Arbeit am Nijinsky-Hörbuch verboten hatte: The Diaries of Vaslav Nijinsky. Der Australier Pau Cox hat den abendfüllenden "Dokumentarfilm" der besonderen Art 2001 gedreht (engl. Einführung). Ich habe ihn deshalb nicht angeschaut, weil Paul Cox versucht, Nijinskys psychische Krankheit künstlerisch zu erfassen, und dessen Originalzitate damit unweigerlich interpretiert. Davon wollte ich frei bleiben.
Ich habe mindestens neun Monate mit dem Original gelebt. Gelebt ist der bessere Ausdruck, so ein Buch kann ich nicht "nur" lesen. Es ist ein Text, der mich verändert, den ich nicht mehr abstreifen kann. "Nijinsky: Tagebücher" (Übersetzung von Alfred Frank) lautet der bescheidene Titel dieses Buchs, das Zeitgeschichte schrieb und in deutscher Sprache leider allenfalls antiquarisch zu haben ist. Henry Miller zählte es zu seinen berühmten "Büchern für die Insel", empfahl es zur mehrmaligen Lektüre.
Die Tagebücher waren eigentlich ein paar Schulhefte, die Nijinsky in einem regelrechten Schreibrausch 1919 füllte, in einer Zeit, in der ihm unter dem jahrelangen Grauen des Ersten Weltkriegs und der Isolation von Kunst und Tanz die Alltagswelt entglitt. Sein Schreiben beendete er offensichtlich kurz bevor er auf Betreiben seiner Familie in die psychiatrische Klinik Burghölzli bei Zürich zwangseingewiesen wurde. Geahnt hat er, dass er krank wurde; nicht ahnen konnte er, was er die nächsten dreißig Jahre seines Lebens durchmachen musste.
Zensur und Vorurteile
Nijinskys Tagebücher wurden zu seinem Vermächtnis, nicht nur, weil er sie als solches konzipiert hatte, klarsichtig über seine Probleme schreibend. Seine Frau brachte zunächst eine extrem zensierte Fassung heraus, die jahrzehntelang für ein falsches Bild von Nijinsky und für zuweilen abenteuerliche psychiatrische Deutungen sorgte. Recherchematerial über Nijinskys Krankheit und Kunst ist deshalb mit äußerster Vorsicht zu genießen, weil Generationen von Autoren jenem unvollständigen Bild folgten. Noch heute werden unhinterfragt die Behauptungen einer Psychiatrie wiederholt, die von der Geschichte längst überholt sein sollte.
Selbst in den Medien las man noch 2009 vom "schrecklichen Wahnsinn", von "schwerer Schizophrenie" und dem kaum ausrottbaren Volksglauben, Schizophrenie sei eine "Aufspaltung in Persönlichkeiten". Und das alles, obwohl Eugen Bleuler, Nijinskys erster behandelnder Psychiater, sich später für seine Fehldiagnose entschuldigt hatte. Obwohl der Psychiatrieprofessor Peter F. Ostwald aus Nijinskys Krankenakten und Geprächen mit Zeitzeugen und Familienangehörigen ein sehr viel glaubhafteres und moderneres Bild gezeichnet hat.
All dies mag für medial willkommenen Grusel sorgen und Nijinskys Schicksal bietet in der Tat tiefste menschliche Tragik. Aber leider wird durch die Überbewertung einer psychiatrischen Diagnose des frühen 20. Jhdts. der Blick auf den Menschen und seine Kunst oft verstellt. Beim Ballett sind sich alle noch einig: Tanzen, das kann doch nur ein Gesunder? Dass aber einer, der sein Leben dem Ballett verschrieben hat, plötzlich auch noch Bilder malt und schreibt - das wollte man seiner Künstlerpersönlichkeit lange nicht zubilligen. Das Etikett "Wahn" macht es leicht, die unbequemen Seiten abzutun oder womöglich Erschütterungen des eigenen Weltbildes durch die Originale zu vermeiden.
Ein Multitalent
Sind Nijinskys in Zyklen einteilbare Bilder wirklich nur "Kritzeleien eines Verrückten", wie selbst von Zeitgenossen behauptet? Der Tänzer hatte Zeichenunterricht bei Marc Chagall genossen. Sind es "Bildnereien" im Sinne Prinzhorns oder ist da ein Künstler im Dialog mit seiner Zeit am Werk, wie es die Ausstellung 2009 in der Hamburger Kunsthalle zu ermitteln versuchte? Solche Fragen haben sich bei seinen Texten, den einzigen authentischen Aussagen Nijinskys, kaum Forscher gestellt. Literaten und Denker waren eher bereit, ihm einen ernsthaften schriftstellerischen Versuch zuzubilligen.
Nijinskys Tagebücher sind von einer anrührenden Weisheit und Schönheit, die neue deutsche Übersetzung vermittelt den Sog, den Rhythmus seines Erzählens. Da schreibt ein Getriebener, aber er weiß seine Worte wie Schritte exakt zu setzen, steigert Tempi und verlangsamt wieder in seine Traurigkeit hinein. "Tiefinnerlich" sitzt sie ihm, so dass er äußerlich nicht weinen kann; ein Abgrund wie der Tod, der ihn anzieht, den er fürchtet und den er ein letztes Mal zum Entsetzen der Zuschauer tanzt: "Ich will ihnen die Qual der Schöpfung zeigen, die Agonie des schaffenden Künstlers ...", schreibt er. Und Nijinsky schafft es, mit seinen einfachen und klaren Worten die Leser in seinen Kopf hineinzuziehen, er schlägt sie mit seinem Leiden, mit seinen mystischen Erfahrungen und seiner Sinnsuche. Unbequem, fordernd, poetisch.
Wer versuchen will, die Welt zu sehen, die Nijinsky vielleicht sah, muss sich vom Vor-Urteilen frei machen, muss sich einlassen auf das, was er selbst zu sagen hat - mit den Farben seiner Bilder, in deren Komposition man die Ideale seiner Choreografien wiederfindet; mit den Worten, die sich bewegen wie einst der Tänzer, bevor man ihm die Bewegungsfreiheit nahm. "Der Gott des Tanzes" bleibt unvergessen, weil sein Charisma und Können schier unmenschlich gewesen sein sollen. Der Mensch Nijinsky, der an der Idolverehrung zerbrach, ist nach wie vor in seinen Bildern und Worten ungeheuer intensiv. Und er ist erschütternd, weil wir selten die Möglichkeit haben, derart unvermittelt von der Seele eines Menschen selbst über hundert Jahre hinweg berührt zu werden.
Die Verfilmung des Unmöglichen
Diese Tagebücher in Film umzusetzen, ist eine Herausforderung, die Paul Cox gelungen ist. Wer von Nijinsky noch nie etwas gehört hat, wird sich in den Film zuerst einfühlen müssen und eher von Assoziationen und der wunderbaren Musik getragen werden. Das verwendete Originalmaterial ist selbst für jemanden erstaunlich, der glaubt, die gängigen Fotos bereits gesehen zu haben. Wer die Geschichte kennt, wird staunen, mit welcher Liebe und Detailgenauigkeit Cox bildnerische Metaphern und Beziehungen zu Nijinskys Ballettrollen verknüpft. Sein Film wurde zu Recht ein Tanz genannt, er folgt den Tagebüchern nicht linear, kreist um bestimmte Aussagen, springt, setzt zurück. Seine Bildsprache erinnert manchmal an den russischen Regisseur Andrej Tarkowskij (Wasser und tanzende Bäume) und steigert sich mit der Musik eindrucksvoll in der Szene zweier sterbender Vogel-Tänzer, die fast unsichtbar Nijinskys Zeichnungen auf den Gesichtern tragen.
Wer Nijinskys Tagebücher nicht platt nacherzählt, sondern als eigene Kunstform sehen möchte, sollte sich unbedingt auf diesen Film einlassen. Ich bin im Nachhinein froh, dass ich ihn während des Schreibens nicht angeschaut habe, dass ich unbeeinflusst geblieben bin. Denn Paul Cox haben offenbar die gleichen Sätze Nijinskys berührt wie mich - wie etwa: "Meine Geisteskrankheit ist Menschenliebe."
(C) by Petra van Cronenburg
Zum Vertiefen:
- Paul Cox: The Diaries of Vaslav Nijinsky, Australien 2001, Film (lief zuletzt im ZDF Theaterkanal)
- Nijinsky: Tagebücher (Übersetzung aus dem Russischen von Alfred Frank, unzensierte Ausgabe), Insel Verlag 1998 (folgt der 1996 im Berlin Verlag veröffentlichten Ausgabe "Ich bin ein Philosoph, der fühlt"), beide vergriffen
- Peter F. Ostwald: Vaslav Nijinsky. A Leap into Madness, London 1991
- Artikel "Art Brut - Eruptive Kunst" Hintergründe zur Prinzhorn-Ausstellung in Österreich
- Sammlung Prinzhorn, Heidelberg
- Ausstellungskatalog "Nijinskys Auge und die Abstraktion" Hamburger Kunsthalle
- Petra van Cronenburg: Ich will eine Liebesschlange. Eine Annäherung an Vaslav Nijinsky. Hörbuchverlag Der Diwan (noch nicht erschienen - 2009)
28. September 2009
Anybody out there?
Es war einmal eine Zeit, da interessierte sich die Welt noch für die Demonstranten im Iran. Zu jener Zeit zog auch Rotkäppchen in den Twitterwald und siehe, alles war so schön grün. Grün war auch Rotkäppchen, hinter den Ohren nämlich, lernte aber schnell, wie man eine 140-Zeichen-Maximum-Schwafelmaschine bedienen kann. Aufregend war das. Als hätte jemand einen überhitzten Redaktionsticker, eine Betonwand von Tschernobyl und die Großmutter mit dem riesigen Maul gekreuzt und in eine Zwangsjacke gesteckt.
Im schönen Twitterwald gibt es nämlich Gummiwände. Man spricht nicht mit jedem. Erst wenn zwei Menschen sich gegenseitig für Verfolger halten, wird das Privat-Büchsentelefon freigeschaltet. 140 Zeichen, brüllt der Pfleger. Also ganz einfach: Leuten, die einen verfolgen und die einen interessieren, muss man gezielt nachstellen. Rotkäppchen, kindlich naiv, hat natürlich ein paar vermeintliche Menschen (oft sind es ja nur Roboter) angesprochen. Da sind aber welche heftig erschrocken!
Manche so nachhaltig, dass sie wie aus heiterem Himmel von ihrem Verfolgungstrip geheilt waren. Plötzlich waren sie weg. Einer bellte, man möge ihn nicht ansprechen, dann müsse er ja alles lesen. Jemand wollte Rotkäppchens Telefonnummer und verschwand im Schmollwinkel, als sie zuerst einen Mailaustausch vorschlug. Und dann sprachen welche Rotkäppchen an, gegen die war der böse Wolf aber ein Förster! Was die nicht alles verkaufen wollten: Glücksmaschinen, Erleuchtungsmaschinen, Tupperware, sogar Gesinnungen und Nagellack gab es frei Haus.
Viele Leute sprechen deshalb lieber öffentlich auf dem Holzumschlagsplatz Menschen an. Das hat den Vorteil, dass sämtliche Waldarbeiter mithören können, aber der Betreffende, falls länger als eine Stunde abwesend, die Botschaft im Dickicht nie findet. Und wer kann eigentlich die Beiträge von mehr als 200 Leuten bewusst wahrnehmen? Manche brüllen ins Leere, unverfolgt. Andere sammeln Verfolger, dass es einem Angst werden könnte, und sabbeln auch nur in den Spiegel. So viele Stimmen im Twitterwald. Wie kann man da noch die Spinne weben hören?
Rotkäppchen wurde irgendwann langweilig. Als Kinder hatten sie mit Funkgeräten herumgespielt, das war so ähnlich. Irgendein Brummifahrer beklagte sich über Schweißfüße, eine Frau in der Stadt setzte auf Kanal Dingens ihrem Mann Hörner auf und um 16 Uhr belegten die nervigen Drei den Kanal, indem sie sich seitenweise aus Gebrauchsanweisungen vorlasen. Immerhin konnte man sich damals ins Gespräch einklinken, konnte Kanäle wechseln und vor allem so lange reden, bis einen der nächste Schweißfuß aus dem Kanal kippte. Der Twitterwald hat das Problem mit der dauersabbelnden Überbevölkerung schlau gelöst: Jeder kann schwafeln, so viel er will, es hört eh keiner zu.
Halt, falsch. Gugl hört zu. Wenn der hübsche Twitterwald mal wieder nicht grünen will und ewig an seinem Chlorophyll saugt, dann zeigt der Browser, wie sich Gugls Analyticus zwischenschaltet, jedoch nicht nachkommt. Da wird abgehört und angehört, gespeichert und verknüpft, berechnet und geordnet. Rotkäppchen hat gesehen, wie über den Mündern von Menschen riesige Rohre angebracht wurden, die Kommunikation absaugten und im Bauch eines Monsters zu Statistiken vergärten. Eine faszinierende Maschinerie: Vorne gehen bunte Menschen hinein, hinten kommen einfarbige Zackenlinien heraus. Ob das Wesen mit dem dicken Gärmagen heimlich lernt?
Rotkäppchen bekam unendliches Mitleid mit dem Wolf und dachte nach, wie man ihn verstecken könnte. Nicht auszudenken, wenn eines Tages Hundertschaften von Jägern vom Fließband kämen, die sich über Schweißfüße beklagten und Gebrauchsanweisungen Hörner aufsetzten, grün wie ein Twitterwald, menschenähnlich - und alle mit Seriennamen Brittney.
Man müsste doch irgendwie heimlich einen Blick in die Innereien des Systems werfen können, dachte sich Rotkäppchen und begab sich hinter die feindlichen Statistiklinien. Neben ihr spielte der Wolf, lebendig wie in besten alten Zeiten. Da kam ihr die Idee: "Wolf, gib eines deiner Lieblingswörter ein! Eines von denen, die dich so lebendig machen." Er tat es. Und Rotkäppchen blickte hinter die schnatternden Fassaden und sah die Zukunft.
Im schönen Twitterwald gibt es nämlich Gummiwände. Man spricht nicht mit jedem. Erst wenn zwei Menschen sich gegenseitig für Verfolger halten, wird das Privat-Büchsentelefon freigeschaltet. 140 Zeichen, brüllt der Pfleger. Also ganz einfach: Leuten, die einen verfolgen und die einen interessieren, muss man gezielt nachstellen. Rotkäppchen, kindlich naiv, hat natürlich ein paar vermeintliche Menschen (oft sind es ja nur Roboter) angesprochen. Da sind aber welche heftig erschrocken!
Manche so nachhaltig, dass sie wie aus heiterem Himmel von ihrem Verfolgungstrip geheilt waren. Plötzlich waren sie weg. Einer bellte, man möge ihn nicht ansprechen, dann müsse er ja alles lesen. Jemand wollte Rotkäppchens Telefonnummer und verschwand im Schmollwinkel, als sie zuerst einen Mailaustausch vorschlug. Und dann sprachen welche Rotkäppchen an, gegen die war der böse Wolf aber ein Förster! Was die nicht alles verkaufen wollten: Glücksmaschinen, Erleuchtungsmaschinen, Tupperware, sogar Gesinnungen und Nagellack gab es frei Haus.
Viele Leute sprechen deshalb lieber öffentlich auf dem Holzumschlagsplatz Menschen an. Das hat den Vorteil, dass sämtliche Waldarbeiter mithören können, aber der Betreffende, falls länger als eine Stunde abwesend, die Botschaft im Dickicht nie findet. Und wer kann eigentlich die Beiträge von mehr als 200 Leuten bewusst wahrnehmen? Manche brüllen ins Leere, unverfolgt. Andere sammeln Verfolger, dass es einem Angst werden könnte, und sabbeln auch nur in den Spiegel. So viele Stimmen im Twitterwald. Wie kann man da noch die Spinne weben hören?
Rotkäppchen wurde irgendwann langweilig. Als Kinder hatten sie mit Funkgeräten herumgespielt, das war so ähnlich. Irgendein Brummifahrer beklagte sich über Schweißfüße, eine Frau in der Stadt setzte auf Kanal Dingens ihrem Mann Hörner auf und um 16 Uhr belegten die nervigen Drei den Kanal, indem sie sich seitenweise aus Gebrauchsanweisungen vorlasen. Immerhin konnte man sich damals ins Gespräch einklinken, konnte Kanäle wechseln und vor allem so lange reden, bis einen der nächste Schweißfuß aus dem Kanal kippte. Der Twitterwald hat das Problem mit der dauersabbelnden Überbevölkerung schlau gelöst: Jeder kann schwafeln, so viel er will, es hört eh keiner zu.
Halt, falsch. Gugl hört zu. Wenn der hübsche Twitterwald mal wieder nicht grünen will und ewig an seinem Chlorophyll saugt, dann zeigt der Browser, wie sich Gugls Analyticus zwischenschaltet, jedoch nicht nachkommt. Da wird abgehört und angehört, gespeichert und verknüpft, berechnet und geordnet. Rotkäppchen hat gesehen, wie über den Mündern von Menschen riesige Rohre angebracht wurden, die Kommunikation absaugten und im Bauch eines Monsters zu Statistiken vergärten. Eine faszinierende Maschinerie: Vorne gehen bunte Menschen hinein, hinten kommen einfarbige Zackenlinien heraus. Ob das Wesen mit dem dicken Gärmagen heimlich lernt?
Rotkäppchen bekam unendliches Mitleid mit dem Wolf und dachte nach, wie man ihn verstecken könnte. Nicht auszudenken, wenn eines Tages Hundertschaften von Jägern vom Fließband kämen, die sich über Schweißfüße beklagten und Gebrauchsanweisungen Hörner aufsetzten, grün wie ein Twitterwald, menschenähnlich - und alle mit Seriennamen Brittney.
Man müsste doch irgendwie heimlich einen Blick in die Innereien des Systems werfen können, dachte sich Rotkäppchen und begab sich hinter die feindlichen Statistiklinien. Neben ihr spielte der Wolf, lebendig wie in besten alten Zeiten. Da kam ihr die Idee: "Wolf, gib eines deiner Lieblingswörter ein! Eines von denen, die dich so lebendig machen." Er tat es. Und Rotkäppchen blickte hinter die schnatternden Fassaden und sah die Zukunft.
27. September 2009
Hilfe, ich bin berühmt!
Welcher Teufel hat die französische Maternelle geritten, die deutschsprachige Begleitpuppe fürs Lernen ausgerechnet Petra zu nennen? Plötzlich stapfen überall Dreijährige herum, die sich aufgeregt um Petras Gunst bemühen. Mit der lernen sie Blätter von Bäumen sammeln und unterscheiden, mit Zahnbürsten moderne Kunst malen und allerhand andere spannende Dinge. Und der Wochenbeste darf dann Petra übers Wochenende mit nach Hause nehmen. Das ist eine große Knuddelpuppe in pinkfarbenem Schlabberkleid mit hellen gelben Zöpfen. Das Besondere an Petra: Sie spricht Deutsch!
Und so hat sie sich mir heute mit "Guten Tag" aus der Hand eines stolzen Jungen vorgestellt, der heftig nickte, als ich auf Französisch zu ihr sagte, sie sei ja viel schöner als ich. Mit blonden Zöpfen konnte ich noch nie punkten. Aber ich kann etwas, was viele andere nicht können: Ich kann mit der Puppe in ihrer Sprache sprechen. Das ist die Sensation. In der Maternelle erzählten aufgeregt einige Knirpse, dass im Dorf die echte Lernpuppe herumlaufe und auch "Guten Tag" sagen könne. Die Puppe gibt's wirklich! So wird aus den Aufgaben im Buch mit der Lernfigur plötzlich etwas aus dem Leben.
Herrlich für die Petra ohne Zöpfe. Jetzt kann ich mit den Kindern spielerisch Sprachen üben, ohne dass es sie nervt. Ich bin nicht mehr die Ausländerin, sondern Vorbild für eine Knuddelpuppe, um die alle wetteifern (so einfach kann Integration sein). Und ein wenig komisch ist das schon - die eine Petra kommt in Büchern und Heften vor, die andere schreibt Bücher. Und diese erzählt den Kindern, dass sie eines Tages solche Bücher lesen können, wenn sie fein mit Puppen-Petra lernen.
Und so hat sie sich mir heute mit "Guten Tag" aus der Hand eines stolzen Jungen vorgestellt, der heftig nickte, als ich auf Französisch zu ihr sagte, sie sei ja viel schöner als ich. Mit blonden Zöpfen konnte ich noch nie punkten. Aber ich kann etwas, was viele andere nicht können: Ich kann mit der Puppe in ihrer Sprache sprechen. Das ist die Sensation. In der Maternelle erzählten aufgeregt einige Knirpse, dass im Dorf die echte Lernpuppe herumlaufe und auch "Guten Tag" sagen könne. Die Puppe gibt's wirklich! So wird aus den Aufgaben im Buch mit der Lernfigur plötzlich etwas aus dem Leben.
Herrlich für die Petra ohne Zöpfe. Jetzt kann ich mit den Kindern spielerisch Sprachen üben, ohne dass es sie nervt. Ich bin nicht mehr die Ausländerin, sondern Vorbild für eine Knuddelpuppe, um die alle wetteifern (so einfach kann Integration sein). Und ein wenig komisch ist das schon - die eine Petra kommt in Büchern und Heften vor, die andere schreibt Bücher. Und diese erzählt den Kindern, dass sie eines Tages solche Bücher lesen können, wenn sie fein mit Puppen-Petra lernen.
25. September 2009
Schönhören : Musica
Heute Kontrastprogramm Großstadt: Europahauptstadt Strasbourg. Nach den gestrigen Bergstraßen Boxauto fahren, sich in nicht existente Spuren einfädeln und bei den Trambaustellen wie Dagobert Duck intensiv "Heu-wä-gel-chen" sprechen, nur nicht dem dicken Touristenbenz folgen. Denn der landet - wie alle - IN der Baustelle, weil er brav uralten Markierungen folgt. Überall am Bahnhof grüßen die "Musica"-Plakate, die jungen Leute reden in allen möglichen Sprachen über Komponisten und über ihre Dirigenten. Wenn man sie denn hört.
Bahnhof, Großbaustelle und Verkehr bilden das, was Provinzmusikkritiker gern einen Klangteppich nennen. Ein Flokati ist nichts dagegen. Für Lärmjunkies habe ich auch gleich eine Empfehlung der besonderen Art, Klaustrophobe sollten sich aber wohlweislich fernhalten. Das Spassvergnügen auf den Ohren, das den ganzen Körper mitnimmt, kostet 50 Cent Eintritt, dann öffnet sich eine Zaubertür und man, pardon, frau nimmt Platz in der Loge der Damentoilette im Hauptbahnhof, am besten in der Rush Hour (für die Logen in der Herrentoilette kann ich nicht bürgen). Zuerst hört man nur die Züge anfahren. Das ist normal, wenn man sich unter den Gleisen befindet. Dann aber kommt der TGV, immerhin in extrem verminderter Kraft - und die Musik geht los.
Pattapong, pattapamm, pattapuff. Schöne Dröhnung auf den Ohren. Die Bässe erfassen die Schultern, den Oberkörper, ein tiefes, erdbebenartiges Röhren gesellt sich dazu. Manche Töne hat man bei Fernsehberichten vom 11. September schon gehört. Das ist aber nur die Ouvertüre. Molto vivace fangen die Wände an zu schwingen, dann setzt die Decke mit Paukenpochen und tiefen Streichertönen ein. War da nicht ein Tritonus in den tragenden Pfeilern? Egal, das Tutti kann man nicht nur hören, man spürt es bis in die Zehenspitzen - und zumindest ich ertappe mich bei einem Blick zur Decke und einem geflüsterten "bleib bitte oben". Wer je diese Erlebnissymphonie für lumpige 50 Cents präsentiert bekam, wird beim Verlassen des Theaters nicht "Heu-wä-gel-chen" murmeln, sondern die nächste Fachzeitschrift für Baustatiker erstehen.
Nach solchem Genuss wollte ich dann einmal wie all die anderen meinen Walkman ausprobieren. Sämtliche Nijinsky-Ballette sind noch gespeichert. Rimsky-Korsakoff gegen Großstadtstress? Keine Chance. Und wenn sich Strawinskys Jungfrau in Le Sacre zu Tode tanzte? Normalerweise hilft jener letzte Akt als wirksame Therapie gegen laute Nachbarn. Tötet selbst Trash Metal. Und in Strasbourg? Nichts zu hören, auch nicht bei voller Lautstärke, die einem die Ohren wegpustet.
Also weitersuchen. Irgendwo gab es krachendere Musik auf der Festplatte. Zufallsklicken, etwas müsste doch durchkommen. Ungefähr am Faubourg National war es dann soweit. Alles wie leergefegt, nicht einmal die Tageshure, die sonst immer am Kondomautomat des türkischen Reisebüros (Badeferien im Schleier) steht, war zu sehen. Drei Schwarze stritten sich um Körbe mit Minze. Das machen sie immer, wenn ich vorbeikomme. Manchmal fehlt einer, manchmal kommt einer dazu und lacht, aber immer wird die Minze unter ihrem Streit schlapp. Ich frage mich, ob es eine Minzzeit gibt in dieser Straße. Und in meinem Walkman geht's los, unüberhörbar.
Zbigniew Preisners Musik zum Kieslowski-Film "Das doppelte Leben der Veronika". Plötzlich wirkt der Staub auf den Fassaden polnisch, Bilder vom geschwärzten Jugenstil in Lodz kommen mir in den Sinn, der kreolische Laden hat verblasste Waren wie vom Russenmarkt im Fenster und die polnische Weronika singt sich in ihren Sterbeton, hält, hält... neben mir hält ein Bus aus Oppole, ungelogen - die Stadt kippt in ihr Spiegelbild, in ihr heimliches Doppelwesen und dann kommt die Musik für die französische Veronique und der Straßenlärm verblasst wie die uralten Werbeplakate und die Stadt atmet ihr heimliches, ihr uraltes Ich, aus Kellerlöchern unter zerborstenen Treppen.
Das Festival Musica ist noch bis zum 3. Oktober zu erleben.
Bahnhof, Großbaustelle und Verkehr bilden das, was Provinzmusikkritiker gern einen Klangteppich nennen. Ein Flokati ist nichts dagegen. Für Lärmjunkies habe ich auch gleich eine Empfehlung der besonderen Art, Klaustrophobe sollten sich aber wohlweislich fernhalten. Das Spassvergnügen auf den Ohren, das den ganzen Körper mitnimmt, kostet 50 Cent Eintritt, dann öffnet sich eine Zaubertür und man, pardon, frau nimmt Platz in der Loge der Damentoilette im Hauptbahnhof, am besten in der Rush Hour (für die Logen in der Herrentoilette kann ich nicht bürgen). Zuerst hört man nur die Züge anfahren. Das ist normal, wenn man sich unter den Gleisen befindet. Dann aber kommt der TGV, immerhin in extrem verminderter Kraft - und die Musik geht los.
Pattapong, pattapamm, pattapuff. Schöne Dröhnung auf den Ohren. Die Bässe erfassen die Schultern, den Oberkörper, ein tiefes, erdbebenartiges Röhren gesellt sich dazu. Manche Töne hat man bei Fernsehberichten vom 11. September schon gehört. Das ist aber nur die Ouvertüre. Molto vivace fangen die Wände an zu schwingen, dann setzt die Decke mit Paukenpochen und tiefen Streichertönen ein. War da nicht ein Tritonus in den tragenden Pfeilern? Egal, das Tutti kann man nicht nur hören, man spürt es bis in die Zehenspitzen - und zumindest ich ertappe mich bei einem Blick zur Decke und einem geflüsterten "bleib bitte oben". Wer je diese Erlebnissymphonie für lumpige 50 Cents präsentiert bekam, wird beim Verlassen des Theaters nicht "Heu-wä-gel-chen" murmeln, sondern die nächste Fachzeitschrift für Baustatiker erstehen.
Nach solchem Genuss wollte ich dann einmal wie all die anderen meinen Walkman ausprobieren. Sämtliche Nijinsky-Ballette sind noch gespeichert. Rimsky-Korsakoff gegen Großstadtstress? Keine Chance. Und wenn sich Strawinskys Jungfrau in Le Sacre zu Tode tanzte? Normalerweise hilft jener letzte Akt als wirksame Therapie gegen laute Nachbarn. Tötet selbst Trash Metal. Und in Strasbourg? Nichts zu hören, auch nicht bei voller Lautstärke, die einem die Ohren wegpustet.
Also weitersuchen. Irgendwo gab es krachendere Musik auf der Festplatte. Zufallsklicken, etwas müsste doch durchkommen. Ungefähr am Faubourg National war es dann soweit. Alles wie leergefegt, nicht einmal die Tageshure, die sonst immer am Kondomautomat des türkischen Reisebüros (Badeferien im Schleier) steht, war zu sehen. Drei Schwarze stritten sich um Körbe mit Minze. Das machen sie immer, wenn ich vorbeikomme. Manchmal fehlt einer, manchmal kommt einer dazu und lacht, aber immer wird die Minze unter ihrem Streit schlapp. Ich frage mich, ob es eine Minzzeit gibt in dieser Straße. Und in meinem Walkman geht's los, unüberhörbar.
Zbigniew Preisners Musik zum Kieslowski-Film "Das doppelte Leben der Veronika". Plötzlich wirkt der Staub auf den Fassaden polnisch, Bilder vom geschwärzten Jugenstil in Lodz kommen mir in den Sinn, der kreolische Laden hat verblasste Waren wie vom Russenmarkt im Fenster und die polnische Weronika singt sich in ihren Sterbeton, hält, hält... neben mir hält ein Bus aus Oppole, ungelogen - die Stadt kippt in ihr Spiegelbild, in ihr heimliches Doppelwesen und dann kommt die Musik für die französische Veronique und der Straßenlärm verblasst wie die uralten Werbeplakate und die Stadt atmet ihr heimliches, ihr uraltes Ich, aus Kellerlöchern unter zerborstenen Treppen.
Das Festival Musica ist noch bis zum 3. Oktober zu erleben.
23. September 2009
Blaue Berge II.




Bei der Landschaft handelt es sich um den Naturpark Nordvogesen, der zusammen mit dem angrenzenden Pfälzer Wald Biosphärenschutzgebiet der UNESCO ist. Inhaltlich geht es ums Thema Grenzen in allen Wortbedeutungen. Die Knipserei dient mir als Notizbuch für den Winter, wenn die Computerarbeit beginnt. So kann ich mir die Schneeketten sparen. Außerdem erwandere ich mir meine Ideen und ein Gefühl für all die Dinge, die mir nachher auf den Schreibtisch flattern. So lässt es sich leben, pardon ... arbeiten!
Blaue Berge



21. September 2009
Woher Werbung nehmen?
Frau Zappadong stellt immer so spannende Fragen, dass mir für eine Antwort das Kommentarfeld zu klein wird. Diesmal fragt sie sich, wie Künstler ihre Werke, ob Musik oder Bücher, werbetechnisch auf eine höhere Ebene hieven können als nur ins Lokalblatt. Nun ist PR zufällig einer meiner vielen Brotberufe. Ich mache zwar (noch?) keine PR für Verlage, aber in Sachen Kunst und Kultur. Gleich vorweg: Es gibt regionale und nationale Unterschiede, es gibt gravierende Unterschiede bezüglich des zu bewerbenden Produkts. Ich möchte deshalb absolut subjektiv (!) aus meiner neueren Grenzlanderfahrung Antworten suchen. Die ein oder andere Provokation ist beabsichtigt.
Etwas ist anders
Als ich Mitte der Achtziger mein erstes Presse- und PR-Büro gründete, war das Leben noch einfach. Man versandte genormte Pressemitteilungen, trank sich mit Redaktionsleitern durch die Kaffeesorten der Redaktionen und hatte eine enorme nationale Trefferquote selbst mit regionalen Themen. Der Kulturteil der Zeitungen füllte mehrere Seiten, jede Buchrezension wurde mit Handkuss gedruckt, gute Literaturkritiker waren sogar gefragt. Klar, dass man bei Erscheinen des Werks gleich noch eine Pressekonferenz veranstaltete, die überregional Wirkung zeigte. Kunst und Kultur hatten aber vor allem gesellschaftliche Relevanz.
Die Zeiten sind vorbei. Wir stehen im Moment im Umbruch:
1. Herkömmliche Medien haben verfügbaren Platz radikal zusammengestrichen und Journalisten "outgesourct". Aufgrund von Buy-out-Verträgen und grottenschlechten Honoraren wandern erfahrene freie Journalisten ab (z.B. in die PR). Zu wenig Redakteure müssen zu viel Arbeit stemmen. Folge: Die Generation Praktikum füllt billig das Blatt und hat gerade noch Zeit, Werbetexte der Verlage einzukürzen.
Folge: Künstler können kaum noch "Pressestimmen" zitieren, selbst wenn sie zehn "Kritiken" bekommen haben. Denn es handelt sich oft bei allen um den Werbetext des Verlags. Der sollte also wenigstens top sein!
2. Das überregionale und große Feuilleton verstand sich früher als Perlensucher, wagte Neuentdeckungen und leistete sich Kritiker, die gegen den Strom schwammen. Auch hier sind es schlicht Sparmaßnahmen, mangelnde Risikofreude und ab und zu auch mal ein weiches Rückgrat, die das große Feuilleton inzwischen funktionieren lassen wie eine Lokalzeitung: Es werden die üblichen Verdächtigen besprochen, man geht auf Nummer Sicher und hievt ins Blatt, wen die anderen auch haben. Das sind dann die großen Namen, die Hypes oder gepowerte Massenware.
3. Die Halbwertszeit eines Buches wird immer kürzer. Ich nenne das "Littell-Syndrom". Erinnert sich noch jemand daran, wie sich die Medien an diesem Autor abarbeiteten, bis kaum noch Platz für anderes war? Richtig, wer sehr viel unbekannter als Littell war, hatte keine Chance. Und als dann endlich wieder Seiten frei waren, waren jene Bücher schon "zu alt", um sie noch zu empfehlen. Stichwort Kehlmann-Spiegel-Streit: Der Hype geht so weit, dass Presseaktionen schon lange vor Erscheinen anlaufen. Ein vier Wochen altes Buch ist in Augen von Medienmachern ein alter Schinken - vor allem, wenn die Gefahr besteht, dass es der Verlag in drei Monaten eh verramscht.
Fazit:
Wenn Redakteure nur beachten, was schon beachtet wurde, liefert man Pressestimmen aus dem Ärmel. Ich berichtete bereits über Blurb-Fälschungen und die Bedeutung von Blurbs, auch Auflagenzahlen werden geschönt und neuerdings gefällt man sich im Erfinden abstruser hinteririscher und vorderindischer Lokalblättchen, die so klein seien, dass man sie nicht ergoogeln kann. Hauptsache, der Newcomer wurde schon zig mal besprochen - die Presse fällt immer wieder darauf ein.
Kürzlich klagte ein regionaler Veranstalter, er könne sich die Pressekonferenzen nicht mehr leisten, die in wahre Bestechungsorgien ausarteten würden. Ich habe ihm übrigens von der Pressekonferenz abgeraten. Wo Menschen sich nur auf hohem Niveau satt essen wollen, wird nicht an Kultur gearbeitet. Persönliche Kontakte sind auch heute noch das A und O - und die wollen mühsam und langfristig erarbeitet sein.
Und was macht man, wenn man all die Tricks verabscheut und trotzdem ein Buch auf Landesebene bekannt machen will, sagen wir einmal mit dem Titel "Gummibärchens Badnerland"?
Meine Tipps:
Was tun?
Stichwort: Neue Medien.
Wenn die alten versagen oder weniger in Frage kommen, wird es Zeit, neue Wege zu gehen. Ob sich der Autor als Person oder nur mit einem Buch präsentiert, kommt auf das Projekt an. Auch sonst lässt sich kaum pauschal raten, ob Communities, Twittern oder Facebook etwas bringen - und wie sie alle heißen. Es ist wie mit den alten Medien: Erfolgreich ist auf Dauer der richtige Mix und eine gute Strategie. Und immer wieder der richtige Kontakt zum richtigen Zeitpunkt. Ebenfalls wichtig: USP. Unique Selling Point. Was unterscheidet mich von der Flut all der anderen, was ist besonders, was reizt die Leser?
Öffentlichkeit lässt sich deshalb auf unterschiedlichste Arten erzeugen. Für Nischen und Genres aller Art gibt es inzwischen Communities oder Vereinigungen, die für Mundpropaganda sorgen (übrigens die immer noch wirksamste Werbung für Bücher). Es gibt Blogs mit Multiplikationseffekt, die inzwischen sogar von Verlagen ernst genommen werden. Aber warum immer beim Thema Buch abgrasen? Dieses Blog z.B., obwohl zum Thema Buch und Schriftstellerei, wird selten von meinen LeserInnen gelesen, sondern vorwiegend von KollegInnen und Leuten aus der Branche. Wenn ich mein Rosenbuch bewerben will, ist meine Person uninteressant - dann erzähle ich besser etwas über Rosenkrankheiten. Und das funktioniert in neuen Medien auch nachhaltig und langfristig - sofern der Verlag eine gute Backlist pflegt!
Im Internet also Themenverknüpfungen suchen. "Die Blumenmörderin" (meine Titel sind hoffentlich alle fiktiv) könnte man z.B. bei Floristen oder in botanischen Gärten lesen, ein Event daraus machen - und schon ist eher Presseaufmerksamkeit da. Und drei Gartenzeitschriften bringen dann mehr als ein Feuilletonartikel, denn dort sind die LeserInnen abzuholen. Ein Autor, der gut erzählen kann und eine hochinteressante Persönlichkeit besitzt, ließe sich in you-tube-Videos darstellen, die natürlich findbar gemacht werden müssen. Eines der gelungendsten Beispiele im Sektor "Geschenkbuch" ist ein Herr namens Haekelschwein in seiner Kombination aus Webseite und Twitter. Ich finde ihn auch deshalb so gelungen, weil er beweist, dass Marketing allein nicht alles ist - es braucht eine Persönlichkeit dahinter, einen gewissen Charme. Und Werben von annodunnemals ist out in den neuen Medien - hier gewinnt der Dialog, das Mitmachen.
Ja, es ist unendlich viel schwerer geworden, einem Buch öffentliche Aufmerksamkeit zu geben. Alte Formen sind weggebrochen, neue noch nicht ganz entwickelt. Auf der anderen Seite hat man hier die Chancen eines Pioniers - und wenn es einen Kanal zum Publikum noch nicht gibt, erfindet man vielleicht einen? Nicht ganz unwichtig ist dabei übrigens immer noch die Wahl des Verlags. Es gibt da einfach welche, die kümmern sich und können es...
Etwas ist anders
Als ich Mitte der Achtziger mein erstes Presse- und PR-Büro gründete, war das Leben noch einfach. Man versandte genormte Pressemitteilungen, trank sich mit Redaktionsleitern durch die Kaffeesorten der Redaktionen und hatte eine enorme nationale Trefferquote selbst mit regionalen Themen. Der Kulturteil der Zeitungen füllte mehrere Seiten, jede Buchrezension wurde mit Handkuss gedruckt, gute Literaturkritiker waren sogar gefragt. Klar, dass man bei Erscheinen des Werks gleich noch eine Pressekonferenz veranstaltete, die überregional Wirkung zeigte. Kunst und Kultur hatten aber vor allem gesellschaftliche Relevanz.
Die Zeiten sind vorbei. Wir stehen im Moment im Umbruch:
1. Herkömmliche Medien haben verfügbaren Platz radikal zusammengestrichen und Journalisten "outgesourct". Aufgrund von Buy-out-Verträgen und grottenschlechten Honoraren wandern erfahrene freie Journalisten ab (z.B. in die PR). Zu wenig Redakteure müssen zu viel Arbeit stemmen. Folge: Die Generation Praktikum füllt billig das Blatt und hat gerade noch Zeit, Werbetexte der Verlage einzukürzen.
Folge: Künstler können kaum noch "Pressestimmen" zitieren, selbst wenn sie zehn "Kritiken" bekommen haben. Denn es handelt sich oft bei allen um den Werbetext des Verlags. Der sollte also wenigstens top sein!
2. Das überregionale und große Feuilleton verstand sich früher als Perlensucher, wagte Neuentdeckungen und leistete sich Kritiker, die gegen den Strom schwammen. Auch hier sind es schlicht Sparmaßnahmen, mangelnde Risikofreude und ab und zu auch mal ein weiches Rückgrat, die das große Feuilleton inzwischen funktionieren lassen wie eine Lokalzeitung: Es werden die üblichen Verdächtigen besprochen, man geht auf Nummer Sicher und hievt ins Blatt, wen die anderen auch haben. Das sind dann die großen Namen, die Hypes oder gepowerte Massenware.
3. Die Halbwertszeit eines Buches wird immer kürzer. Ich nenne das "Littell-Syndrom". Erinnert sich noch jemand daran, wie sich die Medien an diesem Autor abarbeiteten, bis kaum noch Platz für anderes war? Richtig, wer sehr viel unbekannter als Littell war, hatte keine Chance. Und als dann endlich wieder Seiten frei waren, waren jene Bücher schon "zu alt", um sie noch zu empfehlen. Stichwort Kehlmann-Spiegel-Streit: Der Hype geht so weit, dass Presseaktionen schon lange vor Erscheinen anlaufen. Ein vier Wochen altes Buch ist in Augen von Medienmachern ein alter Schinken - vor allem, wenn die Gefahr besteht, dass es der Verlag in drei Monaten eh verramscht.
Fazit:
- Für unbekanntere Künstler und alles, was gegen den Trend schwimmt (ob Genre oder Literatur), versagen die herkömmlichen Medien aus unterschiedlichsten Gründen zunehmend.
- Es versagen auch PR-Treibende, die neuere Fehlentwicklungen und Chancen nicht zu nutzen wissen. Oder es wird gar nicht erst investiert in Werbung. Eine Presseaussendung mit der Gießkanne, womöglich als Einzeiler mit 100 anderen Titeln kurz vor Erscheinen eines Buchs, funktioniert nicht mehr. Eine Aktion nach Erscheinen erst recht nicht. Der Vorlauf für größere Zeitungen und Zeitschriften beträgt rund zwei Monate. Und PR will gelernt sein - es reicht nicht, den billigen Studenten ans Telefon zu setzen.
Wenn Redakteure nur beachten, was schon beachtet wurde, liefert man Pressestimmen aus dem Ärmel. Ich berichtete bereits über Blurb-Fälschungen und die Bedeutung von Blurbs, auch Auflagenzahlen werden geschönt und neuerdings gefällt man sich im Erfinden abstruser hinteririscher und vorderindischer Lokalblättchen, die so klein seien, dass man sie nicht ergoogeln kann. Hauptsache, der Newcomer wurde schon zig mal besprochen - die Presse fällt immer wieder darauf ein.
Kürzlich klagte ein regionaler Veranstalter, er könne sich die Pressekonferenzen nicht mehr leisten, die in wahre Bestechungsorgien ausarteten würden. Ich habe ihm übrigens von der Pressekonferenz abgeraten. Wo Menschen sich nur auf hohem Niveau satt essen wollen, wird nicht an Kultur gearbeitet. Persönliche Kontakte sind auch heute noch das A und O - und die wollen mühsam und langfristig erarbeitet sein.
Und was macht man, wenn man all die Tricks verabscheut und trotzdem ein Buch auf Landesebene bekannt machen will, sagen wir einmal mit dem Titel "Gummibärchens Badnerland"?
Meine Tipps:
- Die Strategie sehr frühzeitig ausarbeiten und die Presseunterlagen zum rechten Moment verwenden.
- Mit dem Verlag kooperieren. Die Stärken eines Verlags liegen im Adresspool, in Kontakten und einer besseren Durchschlagskraft durch den Namen. Die Stärken von Externen (z.B. Autoren oder PR-Freelancern) liegen in projektbezogener, persönlicher Arbeit auch über längere Zeit hinweg. Gleichzeitig lässt sich so leichter die Marke Autor aufbauen. Und man selbst hat vielleicht passende Adressaten oder Ideen. Viele Kollegen arbeiten so ihren Verlagen zu: Miteinander statt gegeneinander oder aneinander vorbei!
- Sich fragen: Kann ich den Wünschen des größeren Feuilletons entsprechen? Man sollte sich nicht zu schade sein, zuerst "kleinere" Pressestimmen zu sammeln. Dreimal Käsblatt zählt immer noch mehr als nie besprochen. Vielleicht sagt irgendein Multiplikator oder sogar Promi etwas privat über das Buch und genehmigt den Abdruck? Was hat der Autor als Person zu bieten (Human interest)? Was hebt ihn aus der Masse seiner Kollegen heraus, die gerade die gleiche Zeitung beknien?
- Was an dem Buch ist wirklich von überregionalem, aktuellem Interesse? (Als Autor überschätzt man gern seine eigene Bedeutung und die des Buchs). Verkaufe ich in Berlin Gummibärchens Zahnschmerzen oder seinen Urlaub im Badischen besser? Kann ich mich an bestehende Themen anhängen, an Trenddiskussionen? Vielleicht passt Gummibärchens erster Flug zur Sicherheitsdebatte und bringt einen erfrischenden neuen Aspekt?
Was tun?
Stichwort: Neue Medien.
Wenn die alten versagen oder weniger in Frage kommen, wird es Zeit, neue Wege zu gehen. Ob sich der Autor als Person oder nur mit einem Buch präsentiert, kommt auf das Projekt an. Auch sonst lässt sich kaum pauschal raten, ob Communities, Twittern oder Facebook etwas bringen - und wie sie alle heißen. Es ist wie mit den alten Medien: Erfolgreich ist auf Dauer der richtige Mix und eine gute Strategie. Und immer wieder der richtige Kontakt zum richtigen Zeitpunkt. Ebenfalls wichtig: USP. Unique Selling Point. Was unterscheidet mich von der Flut all der anderen, was ist besonders, was reizt die Leser?
Öffentlichkeit lässt sich deshalb auf unterschiedlichste Arten erzeugen. Für Nischen und Genres aller Art gibt es inzwischen Communities oder Vereinigungen, die für Mundpropaganda sorgen (übrigens die immer noch wirksamste Werbung für Bücher). Es gibt Blogs mit Multiplikationseffekt, die inzwischen sogar von Verlagen ernst genommen werden. Aber warum immer beim Thema Buch abgrasen? Dieses Blog z.B., obwohl zum Thema Buch und Schriftstellerei, wird selten von meinen LeserInnen gelesen, sondern vorwiegend von KollegInnen und Leuten aus der Branche. Wenn ich mein Rosenbuch bewerben will, ist meine Person uninteressant - dann erzähle ich besser etwas über Rosenkrankheiten. Und das funktioniert in neuen Medien auch nachhaltig und langfristig - sofern der Verlag eine gute Backlist pflegt!
Im Internet also Themenverknüpfungen suchen. "Die Blumenmörderin" (meine Titel sind hoffentlich alle fiktiv) könnte man z.B. bei Floristen oder in botanischen Gärten lesen, ein Event daraus machen - und schon ist eher Presseaufmerksamkeit da. Und drei Gartenzeitschriften bringen dann mehr als ein Feuilletonartikel, denn dort sind die LeserInnen abzuholen. Ein Autor, der gut erzählen kann und eine hochinteressante Persönlichkeit besitzt, ließe sich in you-tube-Videos darstellen, die natürlich findbar gemacht werden müssen. Eines der gelungendsten Beispiele im Sektor "Geschenkbuch" ist ein Herr namens Haekelschwein in seiner Kombination aus Webseite und Twitter. Ich finde ihn auch deshalb so gelungen, weil er beweist, dass Marketing allein nicht alles ist - es braucht eine Persönlichkeit dahinter, einen gewissen Charme. Und Werben von annodunnemals ist out in den neuen Medien - hier gewinnt der Dialog, das Mitmachen.
Ja, es ist unendlich viel schwerer geworden, einem Buch öffentliche Aufmerksamkeit zu geben. Alte Formen sind weggebrochen, neue noch nicht ganz entwickelt. Auf der anderen Seite hat man hier die Chancen eines Pioniers - und wenn es einen Kanal zum Publikum noch nicht gibt, erfindet man vielleicht einen? Nicht ganz unwichtig ist dabei übrigens immer noch die Wahl des Verlags. Es gibt da einfach welche, die kümmern sich und können es...
18. September 2009
Kaffee für Cocteau
Erwachsene sind doof. Wie die Bekloppten kaufen sie Harry Potter und All-Ager-Fantasy, aber kindliche Fantasie geht ihnen völlig ab. Schlimmer noch. Anstatt sich über die erweiterten Fähigkeiten ihrer Kinder zu freuen und von ihnen zu lernen, schleppen sie sie zum Arzt. "Herr Doktor, mein Kind ist kaputt, es sieht etwas, was ich nicht sehe, können Sie es reparieren?" Im besten Fall gibt der Doktor dann Trost: "Das wächst sich aus, das ist nur eine Phase, das vergeht wieder, Ihr Kind wird eines Tages vernünftig werden." Manchmal wird es das aber nicht.
Mir so geschehen als Kind und sicher Millionen anderen auch. Meine Mutter schleppte mich ziemlich oft zum Kinderarzt, weil sie befürchtete, mit mir könne irgend etwas nicht ganz richtig sein. Beim ersten Mal war ich noch so klein, dass ich nicht schreiben konnte. Also musste ich reden. Und das tat ich denn auch ausgiebig und vorzugsweise, wenn ich auf ein gewisses Örtchen ging. Dort saß nämlich der lustige Seppl auf dem Badewannenrand und wir waren ungestört von den Erwachsenen. Ich muss wohl nicht verraten, dass ich auch ins Bad ging, ohne das zu müssen. Ich konnte Seppele ja nicht warten lassen.
Seppl war besser als jeder Teddybär - er antwortete einem nämlich und hatte jede Menge zu erzählen. Man konnte herrlich mit ihm tratschen, vor allem, wenn die Freunde gerade keine Zeit hatten. Nur einen Nachteil hatte Seppl - man konnte ihn nicht anfassen, dann verschwamm er mit dem Badewannenweiß und löste sich auf in seine eigene Dimension. Also wartete ich, bis er sich gemütlich auf seinem Sitzplatz eingerichtet hatte und sich langsam bunt färbte. Hach, was zogen wir herrlich über die Erwachsenen her, was erzählten wir uns für Geschichten!
Klar, Erwachsene konnten Seppl nicht sehen. Aber Maxi. Maxi war ein junger Star, den wir mit der Hand aufgezogen hatten, weil er aus dem Nest gefallen war. Als er flügge wurde und in die Freiheit kam, folgte er mir überallhin im Garten. So fand Seppl aus seinem Bad hinaus. Ich machte die beiden miteinander bekannt. Und als ich den Erwachsenen noch ein Jahr später erzählte, dass Maxi komme, wenn ich ihn rufe, und wir mit Seppl einen riesigen Spaß hätten - da brachten sie mich zum Kinderarzt. Obwohl sogar ein Erwachsener, so ein Franzl oder so ähnlich, auch mit Vögeln und Tieren hat reden können.
Ich hatte verdammt viel Glück mit meinem Kinderarzt. Der erklärte nämlich den Erwachsenen, dass sie das als Kinder auch noch konnten und nur verlernt hätten. Die meisten Kinder hätten mindestens einen "imaginären Freund". Und der sei irgendwie gesund für die Entwicklung. Und dann verliere der sich wieder. Denkste, jetzt, wo ich das schreibe, kann ich Seppele wieder sehen. Er sitzt auf dem Druckertisch und feixt.
Ich musste später, so ungefähr mit fünf Jahren, noch einmal zum Arzt. Weil ich partout nicht wie andere Kinder funktionieren wollte. Gab man mir nämlich Papier und Buntstifte in die Hand, fing ich nicht an zu malen, sondern schrieb Geschichten. Und weil ich ja noch nicht lesen und schreiben konnte, erfand ich eine eigene Geheimschrift, ein schriftähnliches Krikelkrakel. Seite um Seite schrieb ich voll mit all dem, was mir Schmetterlinge und kleine Elfen erzählten. "Um Himmels Willen, mein Kind arbeitet nach Elfendiktat!", müssen meine Eltern geklagt haben. Und wie standen sie vor anderen Leuten da, wenn die reihum die bunten Bilder ihrer Sprösslinge herumzeigten und damit angaben? Zwar malte auch ich, aber Schreiben war mir wichtiger. In bunter Krikelkrakelschrift.
Wieder hatte ich Glück, nicht auf Gedeih und Verderb meinen Eltern ausgeliefert zu sein. Mein Arzt verschrieb mir Tapetenrollen. Das sei billiger und halte länger vor. Weiser Mann. Künftig musste ich nur etwas häufiger meine Wachsmalkreiden und Buntstifte anspitzen. Denn auf der Rückseite einer Tapetenrolle bekommt man jede Menge Geschichten unter. Wenn man so will, war mein erstes Buch eine Schriftrolle in Sechziger-Jahre-Design. Leider lesbar nur von mir, Seppele und Maxi. Ein Grund für mich, ein Jahr später fleißig in der Schule Schreiben und Lesen zu lernen. Ein Vogel und ein Luftikus aus einer anderen Dimension waren eindeutig zu wenig Publikum.
Tja, und jetzt, wo ich selbst fast Großmutter sein könnte, kommen die Wissenschaftler endlich auf etwas, nach dem sie längst Kinder hätten fragen können. Seppele hätte ihnen das auch erzählen können: Imaginäre Freunde im Kindesalter fördern Erzähl- und Lesefertigkeiten.
Ich grinse mir eins. Von wegen Kindesalter. Als Schriftsteller bekommt man das nie los. Man lernt im Gegenteil, Eier zu legen, aus denen immer wieder frische imaginäre Freunde schlüpfen. Die nennt man dann Romanfiguren. Kaum einer ahnt, dass sich sogar Sachbuchfiguren frech zum Frühstück einladen können. Da kaut man nichtsahnend an einem Honigbrötchen und einem Problem im dritten Kapitel, plötzlich setzt sich Cocteau an den Tisch, grapscht sich meinen Milchkaffee und sticht mit spitzem Finger aufs Manuskript. "Ma chère, so will ich nicht enden! Denk nach, der Aga Khan war da, das Essen war vorzüglich, traust du mir da solch eine Gemeinheit zu?" Ich denke nach...
Und nein, natürlich erzähle ich jetzt nicht von Schriftsteller-Eingemachtem im Beisein angeblich imaginärer Buchfiguren. Ich verrate auch nicht, dass die nie sterben, sondern immer mehr werden, von Buch zu Buch. Sonst kommt womöglich jemand und schleppt mich ein drittes Mal zum Arzt. Und dann muss ich wieder 40 Jahre warten, bis ein Wissenschaftler herausfindet, welche Vorteile es bringt, wenn man Cocteau einen Milchkaffee kocht.
Link zum Fachartikel via @Sprachwelt
Mir so geschehen als Kind und sicher Millionen anderen auch. Meine Mutter schleppte mich ziemlich oft zum Kinderarzt, weil sie befürchtete, mit mir könne irgend etwas nicht ganz richtig sein. Beim ersten Mal war ich noch so klein, dass ich nicht schreiben konnte. Also musste ich reden. Und das tat ich denn auch ausgiebig und vorzugsweise, wenn ich auf ein gewisses Örtchen ging. Dort saß nämlich der lustige Seppl auf dem Badewannenrand und wir waren ungestört von den Erwachsenen. Ich muss wohl nicht verraten, dass ich auch ins Bad ging, ohne das zu müssen. Ich konnte Seppele ja nicht warten lassen.
Seppl war besser als jeder Teddybär - er antwortete einem nämlich und hatte jede Menge zu erzählen. Man konnte herrlich mit ihm tratschen, vor allem, wenn die Freunde gerade keine Zeit hatten. Nur einen Nachteil hatte Seppl - man konnte ihn nicht anfassen, dann verschwamm er mit dem Badewannenweiß und löste sich auf in seine eigene Dimension. Also wartete ich, bis er sich gemütlich auf seinem Sitzplatz eingerichtet hatte und sich langsam bunt färbte. Hach, was zogen wir herrlich über die Erwachsenen her, was erzählten wir uns für Geschichten!
Klar, Erwachsene konnten Seppl nicht sehen. Aber Maxi. Maxi war ein junger Star, den wir mit der Hand aufgezogen hatten, weil er aus dem Nest gefallen war. Als er flügge wurde und in die Freiheit kam, folgte er mir überallhin im Garten. So fand Seppl aus seinem Bad hinaus. Ich machte die beiden miteinander bekannt. Und als ich den Erwachsenen noch ein Jahr später erzählte, dass Maxi komme, wenn ich ihn rufe, und wir mit Seppl einen riesigen Spaß hätten - da brachten sie mich zum Kinderarzt. Obwohl sogar ein Erwachsener, so ein Franzl oder so ähnlich, auch mit Vögeln und Tieren hat reden können.
Ich hatte verdammt viel Glück mit meinem Kinderarzt. Der erklärte nämlich den Erwachsenen, dass sie das als Kinder auch noch konnten und nur verlernt hätten. Die meisten Kinder hätten mindestens einen "imaginären Freund". Und der sei irgendwie gesund für die Entwicklung. Und dann verliere der sich wieder. Denkste, jetzt, wo ich das schreibe, kann ich Seppele wieder sehen. Er sitzt auf dem Druckertisch und feixt.
Ich musste später, so ungefähr mit fünf Jahren, noch einmal zum Arzt. Weil ich partout nicht wie andere Kinder funktionieren wollte. Gab man mir nämlich Papier und Buntstifte in die Hand, fing ich nicht an zu malen, sondern schrieb Geschichten. Und weil ich ja noch nicht lesen und schreiben konnte, erfand ich eine eigene Geheimschrift, ein schriftähnliches Krikelkrakel. Seite um Seite schrieb ich voll mit all dem, was mir Schmetterlinge und kleine Elfen erzählten. "Um Himmels Willen, mein Kind arbeitet nach Elfendiktat!", müssen meine Eltern geklagt haben. Und wie standen sie vor anderen Leuten da, wenn die reihum die bunten Bilder ihrer Sprösslinge herumzeigten und damit angaben? Zwar malte auch ich, aber Schreiben war mir wichtiger. In bunter Krikelkrakelschrift.
Wieder hatte ich Glück, nicht auf Gedeih und Verderb meinen Eltern ausgeliefert zu sein. Mein Arzt verschrieb mir Tapetenrollen. Das sei billiger und halte länger vor. Weiser Mann. Künftig musste ich nur etwas häufiger meine Wachsmalkreiden und Buntstifte anspitzen. Denn auf der Rückseite einer Tapetenrolle bekommt man jede Menge Geschichten unter. Wenn man so will, war mein erstes Buch eine Schriftrolle in Sechziger-Jahre-Design. Leider lesbar nur von mir, Seppele und Maxi. Ein Grund für mich, ein Jahr später fleißig in der Schule Schreiben und Lesen zu lernen. Ein Vogel und ein Luftikus aus einer anderen Dimension waren eindeutig zu wenig Publikum.
Tja, und jetzt, wo ich selbst fast Großmutter sein könnte, kommen die Wissenschaftler endlich auf etwas, nach dem sie längst Kinder hätten fragen können. Seppele hätte ihnen das auch erzählen können: Imaginäre Freunde im Kindesalter fördern Erzähl- und Lesefertigkeiten.
Ich grinse mir eins. Von wegen Kindesalter. Als Schriftsteller bekommt man das nie los. Man lernt im Gegenteil, Eier zu legen, aus denen immer wieder frische imaginäre Freunde schlüpfen. Die nennt man dann Romanfiguren. Kaum einer ahnt, dass sich sogar Sachbuchfiguren frech zum Frühstück einladen können. Da kaut man nichtsahnend an einem Honigbrötchen und einem Problem im dritten Kapitel, plötzlich setzt sich Cocteau an den Tisch, grapscht sich meinen Milchkaffee und sticht mit spitzem Finger aufs Manuskript. "Ma chère, so will ich nicht enden! Denk nach, der Aga Khan war da, das Essen war vorzüglich, traust du mir da solch eine Gemeinheit zu?" Ich denke nach...
Und nein, natürlich erzähle ich jetzt nicht von Schriftsteller-Eingemachtem im Beisein angeblich imaginärer Buchfiguren. Ich verrate auch nicht, dass die nie sterben, sondern immer mehr werden, von Buch zu Buch. Sonst kommt womöglich jemand und schleppt mich ein drittes Mal zum Arzt. Und dann muss ich wieder 40 Jahre warten, bis ein Wissenschaftler herausfindet, welche Vorteile es bringt, wenn man Cocteau einen Milchkaffee kocht.
Link zum Fachartikel via @Sprachwelt
15. September 2009
Sauberer Schnitt
Eben habe ich mich köstlich in Zoe Becks Blog über ihre Nachbarn amüsiert. Vor allem über die Dame mit dem bunten Bus und den Bongotrommeln. Ich habe den Eindruck, der Frau gestern begegnet zu sein. Zwar fuhr die meine irgendeine schnittige CO2-Schleuder, aber Habitus und Erleuchtungsgrad stimmen in etwa.
Ich muss dazu sagen, dass ich am Sonntag leider meinen Handballen mit einer Kartoffel verwechselt habe. Das Gemüsemesser war eins von der ultrascharfen Sorte, die man lebenslänglich nie nachschärfen muss. Also ein wenig "Urgences" gespielt. Das ist diese Erfolgsserie, die auf Amerikanisch so ähnlich heißen muss, und in der vor laufendem Abendessen Doktorspiele mit Patienten und Krankenschwestern die Zuschauer ergötzen.
Für mich war es die erste Begegnung mit einem französischen Krankenhaus, mit einer Notaufnahme außerdem. Schon komisch, dass sich plötzlich gleich drei Krankenschwestern um mich tummelten und mich umtuddelten. Die eine rückte die Kompressen zurecht, die andere klopfte mir das Tuch auf der Liege auf, die Dritte tröstete mich liebevoll. Bis ich begriff, dass es nicht an mir lag. Der junge türkische Arzt schien dem Casting der gleichnamigen Serie entsprungen, bildhübsch, nicht von der Krankenhausbettkante zu stoßen. Er musste sie wie Hühner zur Tür hinausscheuchen, um mir in Ruhe eine echt französische Haute-Couture-Naht zu vermachen. Schade, dass der schicke Faden wieder gezogen werden muss.
Jetzt habe ich den Faden verloren. Frauen ... ach ja Frauen. Frau in meinem Zustand, einhändig auf der einen, mit riesigem weißen Bollen statt Hand auf der anderen Seite, erregt natürlich diverses Mitleid. Und unwahrscheinlich schlaue Sprüche. Sei froh, du darfst nicht abwaschen. Sei froh, dass du die Sehnen nicht gekappt hast oder verblutet bist. Sei froh, kannste dich krankschreiben lassen. Mein Opa hat sich umgebracht, als er nur noch eine Hand benutzen konnte. Du hast ja ein Spracherkennungsprogramm.
Alles zu ertragen. Alles irgendwie logisch, weil diejenigen, die finden, ich könne froh sein, selbst froher sind, dass es sie nicht getroffen hat.
Aber dann traf ich diese Frau, die auch Zoe Beck kennen könnte. Statt Yoga sind es bei ihr irgendwelche garantiert drogenfreien Selbsterfahrungstrips, ohne Koffein, ohne Teein und ohne Tierversuche. Einmal die Woche trifft sie sich mit anderen Frauen zu irgendwelchen Omm-Kreisen, bei denen auch heftig viel Geld kursiert, weil Geld, das heftig kreist, viel viel neues Geld gebärt. Ich nenne die Dame im lila Businesskaftan heimlich Omm-Emma.
Omm-Emma also will mir verkaufen, dass ich mich absichtlich geschnitten habe. Und dass dieser Schnitt einen karmischen Sinn habe, mich sozusagen seit meiner vorletzten Reinkarnation unsichtbar begleitet hat und hinter jeder Kartoffel lauerte, bis er zustechen konnte. Ich sollte ein glückliches Omm singen, dass ich so tief geschnitten hätte, dass man hätte nähen müssen. In jener Tiefe lägen sozusagen meine Chancen oder so ähnlich. Jede Wunde wolle uns etwas sagen.
Meine brachte mich bis gestern eher zum Brüllen. Gehört habe ich nur ein dumpfes Wummern. Omm-Emma übersetzte also, dass ich insgeheim einfach eine Auszeit gesucht hätte. Ich hätte nicht gewagt, Urlaub zu nehmen, meinen Auftraggebern ein mutiges "Stopp" entgegen zu singen (Oberton), ich hätte einfach nicht auf meine Kräfte geachtet, die sich darum mit meiner Aura zusammen in die Karibik aufgemacht hätten.
Das kann sogar ich mir ausrechnen, was passiert, wenn meine Kräfte am Karibikstrand in leuchtender Aura bräunen. Das gibt Sonnenbrand und Kräftehautkrebs. Und dann sieht man bei runzligen Kartoffeln schon mal rot. Ich jedenfalls sah bei Omm-Emma ein zweites Mal rot. Wo kommen wir hin, wenn jeder Freiberufler sich erst verletzen muss, um wie ein glückliches Huhn frei laufen zu können? Schneide ich mir für einen vierwöchigen Urlaub ein Bein ab? Nehme ich mir mal schnell einen kleineren Krebs, um endlich den Mut aufzubringen, ins Schwimmbad zu gehen (was ich ständig verschiebe)? Was ist das für eine menschenverachtende Sinnhaftigkeitstheorie von Krankheit und Unfällen?
Zoe Becks Yoga-Bongo-Mutter bringt mich auf eine höchst karmische Idee. Ich schicke ihr Omm-Emma vorbei. Und wenn sie dann alle zusammen bis zur Erschöpfung trommeln, spendiere ich kalt lächelnd dauerschneidende Gemüsemesser. Man muss dem Karma schließlich zu einem sauberen Schnitt verhelfen.
PS: Die Autorin hört derweil auf ihren charmanten Arzt:
1. Auf keinen Fall Geschirr spülen!
2. Essen Sie lieber Reis oder Nudeln, an denen verletzt man sich nicht so leicht.
Und siehe da, man kann auch einhändig Bewerbungsunterlagen fertigtippen. Karma, alles Karma: Auszeit im Haushalt, gewusst wo.
Ich muss dazu sagen, dass ich am Sonntag leider meinen Handballen mit einer Kartoffel verwechselt habe. Das Gemüsemesser war eins von der ultrascharfen Sorte, die man lebenslänglich nie nachschärfen muss. Also ein wenig "Urgences" gespielt. Das ist diese Erfolgsserie, die auf Amerikanisch so ähnlich heißen muss, und in der vor laufendem Abendessen Doktorspiele mit Patienten und Krankenschwestern die Zuschauer ergötzen.
Für mich war es die erste Begegnung mit einem französischen Krankenhaus, mit einer Notaufnahme außerdem. Schon komisch, dass sich plötzlich gleich drei Krankenschwestern um mich tummelten und mich umtuddelten. Die eine rückte die Kompressen zurecht, die andere klopfte mir das Tuch auf der Liege auf, die Dritte tröstete mich liebevoll. Bis ich begriff, dass es nicht an mir lag. Der junge türkische Arzt schien dem Casting der gleichnamigen Serie entsprungen, bildhübsch, nicht von der Krankenhausbettkante zu stoßen. Er musste sie wie Hühner zur Tür hinausscheuchen, um mir in Ruhe eine echt französische Haute-Couture-Naht zu vermachen. Schade, dass der schicke Faden wieder gezogen werden muss.
Jetzt habe ich den Faden verloren. Frauen ... ach ja Frauen. Frau in meinem Zustand, einhändig auf der einen, mit riesigem weißen Bollen statt Hand auf der anderen Seite, erregt natürlich diverses Mitleid. Und unwahrscheinlich schlaue Sprüche. Sei froh, du darfst nicht abwaschen. Sei froh, dass du die Sehnen nicht gekappt hast oder verblutet bist. Sei froh, kannste dich krankschreiben lassen. Mein Opa hat sich umgebracht, als er nur noch eine Hand benutzen konnte. Du hast ja ein Spracherkennungsprogramm.
Alles zu ertragen. Alles irgendwie logisch, weil diejenigen, die finden, ich könne froh sein, selbst froher sind, dass es sie nicht getroffen hat.
Aber dann traf ich diese Frau, die auch Zoe Beck kennen könnte. Statt Yoga sind es bei ihr irgendwelche garantiert drogenfreien Selbsterfahrungstrips, ohne Koffein, ohne Teein und ohne Tierversuche. Einmal die Woche trifft sie sich mit anderen Frauen zu irgendwelchen Omm-Kreisen, bei denen auch heftig viel Geld kursiert, weil Geld, das heftig kreist, viel viel neues Geld gebärt. Ich nenne die Dame im lila Businesskaftan heimlich Omm-Emma.
Omm-Emma also will mir verkaufen, dass ich mich absichtlich geschnitten habe. Und dass dieser Schnitt einen karmischen Sinn habe, mich sozusagen seit meiner vorletzten Reinkarnation unsichtbar begleitet hat und hinter jeder Kartoffel lauerte, bis er zustechen konnte. Ich sollte ein glückliches Omm singen, dass ich so tief geschnitten hätte, dass man hätte nähen müssen. In jener Tiefe lägen sozusagen meine Chancen oder so ähnlich. Jede Wunde wolle uns etwas sagen.
Meine brachte mich bis gestern eher zum Brüllen. Gehört habe ich nur ein dumpfes Wummern. Omm-Emma übersetzte also, dass ich insgeheim einfach eine Auszeit gesucht hätte. Ich hätte nicht gewagt, Urlaub zu nehmen, meinen Auftraggebern ein mutiges "Stopp" entgegen zu singen (Oberton), ich hätte einfach nicht auf meine Kräfte geachtet, die sich darum mit meiner Aura zusammen in die Karibik aufgemacht hätten.
Das kann sogar ich mir ausrechnen, was passiert, wenn meine Kräfte am Karibikstrand in leuchtender Aura bräunen. Das gibt Sonnenbrand und Kräftehautkrebs. Und dann sieht man bei runzligen Kartoffeln schon mal rot. Ich jedenfalls sah bei Omm-Emma ein zweites Mal rot. Wo kommen wir hin, wenn jeder Freiberufler sich erst verletzen muss, um wie ein glückliches Huhn frei laufen zu können? Schneide ich mir für einen vierwöchigen Urlaub ein Bein ab? Nehme ich mir mal schnell einen kleineren Krebs, um endlich den Mut aufzubringen, ins Schwimmbad zu gehen (was ich ständig verschiebe)? Was ist das für eine menschenverachtende Sinnhaftigkeitstheorie von Krankheit und Unfällen?
Zoe Becks Yoga-Bongo-Mutter bringt mich auf eine höchst karmische Idee. Ich schicke ihr Omm-Emma vorbei. Und wenn sie dann alle zusammen bis zur Erschöpfung trommeln, spendiere ich kalt lächelnd dauerschneidende Gemüsemesser. Man muss dem Karma schließlich zu einem sauberen Schnitt verhelfen.
PS: Die Autorin hört derweil auf ihren charmanten Arzt:
1. Auf keinen Fall Geschirr spülen!
2. Essen Sie lieber Reis oder Nudeln, an denen verletzt man sich nicht so leicht.
Und siehe da, man kann auch einhändig Bewerbungsunterlagen fertigtippen. Karma, alles Karma: Auszeit im Haushalt, gewusst wo.
11. September 2009
Leben statt Urlaub
Als Freiberufler sollte man sich nie vornehmen, endlich einmal ein, zwei Wochen lang so zu tun, als täte man nichts. Es kommt immer anders und das ist eigentlich auch gut so. Am Wochenende will ich mir erstmals eine Liste schreiben, was ich im angeblichen Urlaubsmonat September der Reihe nach erledigen sollte.
Das Nijinsky-Manuskript ist fort, die Endfassung steht. Jetzt heißt es wie immer in einer Produktion: Warten auf Dritte. Das fängt beim Rechteeinholen ein und hört bei der Beschaffung von Fotos auf. Wer glaubt, Buchproduktionen seien ein langwieriges Geschäft, der irrt - eine französische Fotoagentur hat eine dringende Mail nach sage und schreibe zwei Monaten beantwortet.
Eigentlich hatte ich mir gemütliches Feiern und Faulenzen vorgenommen, um den typischen Autorenblues nach der Abgabe zu vermeiden, weil man sich dann plötzlich so nutzlos vorkommt. Stattdessen darf ich mich an einem wohl durchgeknallten Typ aus dem Dorf erfreuen, der mich bedroht hat - und wie ich erfuhr, seine Show offensichtlich nicht nur bei mir abzieht. Nun, ich wollte ja immer schon mal auf der Gendarmerie recherchieren, falls ich irgendwann einen Krimi schreiben sollte. Nur schade drum, dass solche Typen nie eindimensional genug handeln, sonst könnte man sie fürs Fernsehen verwursten.
Und nächste Woche steht dann außerdem ein neuer Brotjob an. Vor Jahren konnte man mit mehr als einem Buch pro Jahr noch fein als Autor leben, inzwischen empfiehlt sich rigoros der akut versterbende Erbonkel, der reiche Märchenprinz mit Ölfeldern oder Hotel Mama, falls man unter 60 ist. Ich war irgendwie zu allem zu blöd, jetzt schufte ich zweisprachig für Europa - und weil ich Dummerle nichts anderes gelernt habe, natürlich wieder in Sachen Text. Spannend wird es werden, absolutes Kontrastprogramm. Statt Alleingang in der Schriftstellerbude Teamwork mit Kreativen. Statt zaudernder Manuskripteinkäufer drängelnde Auftraggeber. Und die Themen sind der reine Spaß.
Genauso wenig, wie man sich als Freiberufler Urlaub nehmen sollte, sollte man niemals nie sagen (das war jetzt hoffentlich eine mindestens dreifache Verneinung). "Ich übersetz' das nicht, nein sowas kann ich nicht". Prompt habe ich auf meinem Schreibtisch einen Text, den ich zur Probe übersetzen soll. Dann wird geprüft, ob ich tauge. Gestern liefen mir die ersten sechs Seiten Rohübersetzung in die Tasten (das ist noch nicht das Endergebnis, sondern klingt wie Babelfish!) und ich stellte verblüfft fest, dass das viel mehr Spaß macht als Amtsfranzösisch in lesbares Deutsch zu bringen. Trotzdem nötigen mir Aufgabe und Umfang Respekt ab - ich werde mich anstrengen müssen und über mich hinauswachsen.
Falls es klappen sollte (drei mal auf Holz geklopft), kann ich im Winter am Schreibtisch sitzen und muss mich nicht bei Alli an der Kasse bewerben. Aber mit freien Tagen wird es wohl auch nichts. Am Monatsende darf ich mich nämlich außerdem auf verschiedenen Behörden einschließlich Künstlerberatung herumtreiben, um das Multitasking zu ordnen. Menschen, die gleichzeitig drei Berufe ausüben, sind auf dem platten Land noch nicht vorgesehen. Das regelt man dann in der Europahauptstadt. Dort leben all die anderen Künstler von der Hand in den Mund, von Alli an der Kasse, vom reichen Märchenpartner oder von drei Jobs. Tja, Kunst ist Reichtum, macht aber in den seltensten Fällen reich.
Das Nijinsky-Manuskript ist fort, die Endfassung steht. Jetzt heißt es wie immer in einer Produktion: Warten auf Dritte. Das fängt beim Rechteeinholen ein und hört bei der Beschaffung von Fotos auf. Wer glaubt, Buchproduktionen seien ein langwieriges Geschäft, der irrt - eine französische Fotoagentur hat eine dringende Mail nach sage und schreibe zwei Monaten beantwortet.
Eigentlich hatte ich mir gemütliches Feiern und Faulenzen vorgenommen, um den typischen Autorenblues nach der Abgabe zu vermeiden, weil man sich dann plötzlich so nutzlos vorkommt. Stattdessen darf ich mich an einem wohl durchgeknallten Typ aus dem Dorf erfreuen, der mich bedroht hat - und wie ich erfuhr, seine Show offensichtlich nicht nur bei mir abzieht. Nun, ich wollte ja immer schon mal auf der Gendarmerie recherchieren, falls ich irgendwann einen Krimi schreiben sollte. Nur schade drum, dass solche Typen nie eindimensional genug handeln, sonst könnte man sie fürs Fernsehen verwursten.
Und nächste Woche steht dann außerdem ein neuer Brotjob an. Vor Jahren konnte man mit mehr als einem Buch pro Jahr noch fein als Autor leben, inzwischen empfiehlt sich rigoros der akut versterbende Erbonkel, der reiche Märchenprinz mit Ölfeldern oder Hotel Mama, falls man unter 60 ist. Ich war irgendwie zu allem zu blöd, jetzt schufte ich zweisprachig für Europa - und weil ich Dummerle nichts anderes gelernt habe, natürlich wieder in Sachen Text. Spannend wird es werden, absolutes Kontrastprogramm. Statt Alleingang in der Schriftstellerbude Teamwork mit Kreativen. Statt zaudernder Manuskripteinkäufer drängelnde Auftraggeber. Und die Themen sind der reine Spaß.
Genauso wenig, wie man sich als Freiberufler Urlaub nehmen sollte, sollte man niemals nie sagen (das war jetzt hoffentlich eine mindestens dreifache Verneinung). "Ich übersetz' das nicht, nein sowas kann ich nicht". Prompt habe ich auf meinem Schreibtisch einen Text, den ich zur Probe übersetzen soll. Dann wird geprüft, ob ich tauge. Gestern liefen mir die ersten sechs Seiten Rohübersetzung in die Tasten (das ist noch nicht das Endergebnis, sondern klingt wie Babelfish!) und ich stellte verblüfft fest, dass das viel mehr Spaß macht als Amtsfranzösisch in lesbares Deutsch zu bringen. Trotzdem nötigen mir Aufgabe und Umfang Respekt ab - ich werde mich anstrengen müssen und über mich hinauswachsen.
Falls es klappen sollte (drei mal auf Holz geklopft), kann ich im Winter am Schreibtisch sitzen und muss mich nicht bei Alli an der Kasse bewerben. Aber mit freien Tagen wird es wohl auch nichts. Am Monatsende darf ich mich nämlich außerdem auf verschiedenen Behörden einschließlich Künstlerberatung herumtreiben, um das Multitasking zu ordnen. Menschen, die gleichzeitig drei Berufe ausüben, sind auf dem platten Land noch nicht vorgesehen. Das regelt man dann in der Europahauptstadt. Dort leben all die anderen Künstler von der Hand in den Mund, von Alli an der Kasse, vom reichen Märchenpartner oder von drei Jobs. Tja, Kunst ist Reichtum, macht aber in den seltensten Fällen reich.
8. September 2009
Social Media uffem Dorf
Wer mein Buch mit diesem Zander gelesen hat, der sich von einer Mahlzeit zur anderen am liebsten im Riesling ersäuft, fragt mich manchmal: "Ist es da wirklich so, wie Sie es beschreiben?" Ja, es ist, selbst nach der zweiten Auflage hat sich nichts verändert. Wer die Welten begreifen will, in denen die Autorin lebt, der verfrachtet am besten Miss Marple nach Frankreich. Winzige Dörfer - das meine hat 800 Einwohner - winzige Schtetl, idyllische Gärten, ein wenig Mord und Totschlag und tratschende alte Damen. Die letzten drei Dinge nennt man Sozialleben.
Das "soziale Netz" in Frankreich kann man weder aus der Telefonleitung beziehen noch abspeichern. Wer über keines verfügt, weil er vielleicht keine Familie hat, keine Freunde oder sich nicht integriert, wird nicht als Ausdrucker bezeichnet, sondern als Rumdrucker. Wie alle Naturvölker haben auch die Stämme hüben und drüben vom Rhein ihre über Jahrhunderte gewachsenen Rituale, um den Sozialverbund zu bekräftigen und aufrecht zu erhalten. Der kundige Ethnologe erkennt zunächst die Gemeinsamkeiten: Wer nicht dazu gehört, wir bei Elsässern wie Badnern gleichermaßen geschnitten, nur anders. Wer miteinander feiern kann, ist drin.
Schwieriger zu erkennen sind die Feinheiten der unterschiedlichen Peergroups, die heute nicht mehr zwingend vom Dorfarzt, Pfarrer, Apotheker und Bestatter angeführt werden müssen. Wer in Frankreich bei fremden Leuten nach dem Apéritif nicht geht, stinkt in etwa so wie dreitägiger Besuch bei einem Badner. Rastatter z.B. galten früher als faul, weil sie abends auf ihren Vortreppen saßen und Kautabak in die Gegend spuckten. Im Elsass macht man sich bereits verdächtig, wenn man eine von Steuergeldern finanzierte Parkbank benutzt. Dafür half man sich früher gegenseitig, tratschte beim Bäcker und erzählte Nachbarskindern Geschichten. Früher.
Jetzt erleben wir eine Sozialisierung, die selbst dem geübtesten Ethnologen die Sprache verschlägt. Sie kommt aus der Steckdose und ist über den Rhein hinweg kompatibel. Social Media verändern die Sümpfe der Auwälder, die Dauercampingplätze, Gemeinderatssitzungen und Gottesdienste - ach einfach alles. Denn Social Media, das prophezeien uns ihre Missionare, sind bald überall, wer jetzt nicht mitmacht, ist von vorgestern. Sozialverhalten misst sich künftig nicht mehr an Liebesdiensten in der Nachbarschaft, sondern an der Zahl der ... Media eben.
Heute morgen musste ich mich erst einmal zur Bäckerin durchkämpfen. Eine Traube von Hausfrauen blockierte den Eingang, um per sms Baguette und Croissants zu verlangen.
Als ich endlich an der Reihe bin, schaut mich die sonst so tratschfreudige Bäckerin mit stechendem Blick an und bellt: "Facebook oder Twitter?"
Ich stammle: "Zwei Éclairs, mit Vanille bitte."
Brüllt sie: "Machense endlich ihr Handy an, wie soll man sich denn mit Ihnen unterhalten! Wissense nicht, dass Éclairs mit Vanille out sind?"
Ich verstehe immer noch nicht, zeige auf die Auslage und bedeute ihr, dass da noch zehn Stück liegen.
"Ja LIEGEN, Madame. Aber der neueste Bäckerradar, der acht internationale Social Media Dienste abfragt, sagt, dass ein Mensch, der auf sich hält und heute noch wahrgenommen werden möchte, Éclairs mit Schoko isst. Und jetzt geh'n Sie endlich auf Twitter, verdammt noch mal, wie soll man denn sonst ungestört reden!"
Auf meinem Handy-Display erscheint eine 140-Zeichen-Tirade gegen den Bürgermeister. Gefolgt von 140 Zeichen Flüstermodus, ob ich schon gehört hätte, was Frau Dingens... Und dann: "Ich glaube, das bloggen wir lieber, hammwer mehr Platz und Kommentarfunktion für die da draußen". Als ich ihr real life antworten will, dass mich ihr Gezwitscher nicht interessiert, weil ich Tratsch nicht so mag, legt sie den Zeigefinger an die Lippen und zischt: "Loggense mal anonymisiert ein, man weiß ja nie, wer mithört."
Eine freundliche alte Dame betritt den Laden, mit der ich mich immer wieder gern unterhalte. Sie weiß viel über Kräuter und kennt wunderbare Kochrezepte. Die Bäckerin keift hinter vorgehaltener Hand: "Hartnäckige Offlinerin. Druckt nicht mal aus. Die ist bald völlig isoliert. Keine Fans, keine Follower." Sie würdigt die Frau keines Blicks, obwohl sie früher stundenlang mit ihr redete. Stattdessen empfange ich wieder eine Tweet-Flut: "Und die da vor der Tür, die Dicke, die geht jetzt 140 Zeichen verschlankt auf den Stri... na Sie wissen schon, nur männliche Follower! Wird jetzt noch dicker, weil sie sich nicht mehr bewegen muss."
Anscheinend wird ihr die Tipperei zu mühsam, denn sie beugt sich verschwörerisch über die Theke und flüstert: "Wenn Sie mir fünf Follower bringen, bekommen Sie drei Éclairs zum Preis von zweien. Aber nur Schoko."
Ich will wissen, was ich für Vanille tun muss.
"Da müssense schon mein Gewinnspiel ins Netz bringen, einen Sponsor herbeischaffen und mich fünfmal faven. Finden Sie das mal nicht zu teuer, die Bäckerei im Nachbardorf verlangt fünf Retweets obendrein!"
Ich verabschiede mich per sms und gehe nach Hause, um selbst etwas zu backen. Im Briefkasten liegt eine Verlagsabsage. Mein Manuskript sei zwar fantastisch, aber mir würden bei Facebook 300 Fans fehlen, um dem Ranking des Verlags auch nur annähernd zu entsprechen. Ja, wenn ich bereit wäre für ein Homevideo auf youtube, könne man noch einmal über diese wirklich fantastische Idee sprechen. Ich gebe online mein Manuskript an die Dicke im Dorf weiter.
Das "soziale Netz" in Frankreich kann man weder aus der Telefonleitung beziehen noch abspeichern. Wer über keines verfügt, weil er vielleicht keine Familie hat, keine Freunde oder sich nicht integriert, wird nicht als Ausdrucker bezeichnet, sondern als Rumdrucker. Wie alle Naturvölker haben auch die Stämme hüben und drüben vom Rhein ihre über Jahrhunderte gewachsenen Rituale, um den Sozialverbund zu bekräftigen und aufrecht zu erhalten. Der kundige Ethnologe erkennt zunächst die Gemeinsamkeiten: Wer nicht dazu gehört, wir bei Elsässern wie Badnern gleichermaßen geschnitten, nur anders. Wer miteinander feiern kann, ist drin.
Schwieriger zu erkennen sind die Feinheiten der unterschiedlichen Peergroups, die heute nicht mehr zwingend vom Dorfarzt, Pfarrer, Apotheker und Bestatter angeführt werden müssen. Wer in Frankreich bei fremden Leuten nach dem Apéritif nicht geht, stinkt in etwa so wie dreitägiger Besuch bei einem Badner. Rastatter z.B. galten früher als faul, weil sie abends auf ihren Vortreppen saßen und Kautabak in die Gegend spuckten. Im Elsass macht man sich bereits verdächtig, wenn man eine von Steuergeldern finanzierte Parkbank benutzt. Dafür half man sich früher gegenseitig, tratschte beim Bäcker und erzählte Nachbarskindern Geschichten. Früher.
Jetzt erleben wir eine Sozialisierung, die selbst dem geübtesten Ethnologen die Sprache verschlägt. Sie kommt aus der Steckdose und ist über den Rhein hinweg kompatibel. Social Media verändern die Sümpfe der Auwälder, die Dauercampingplätze, Gemeinderatssitzungen und Gottesdienste - ach einfach alles. Denn Social Media, das prophezeien uns ihre Missionare, sind bald überall, wer jetzt nicht mitmacht, ist von vorgestern. Sozialverhalten misst sich künftig nicht mehr an Liebesdiensten in der Nachbarschaft, sondern an der Zahl der ... Media eben.
Heute morgen musste ich mich erst einmal zur Bäckerin durchkämpfen. Eine Traube von Hausfrauen blockierte den Eingang, um per sms Baguette und Croissants zu verlangen.
Als ich endlich an der Reihe bin, schaut mich die sonst so tratschfreudige Bäckerin mit stechendem Blick an und bellt: "Facebook oder Twitter?"
Ich stammle: "Zwei Éclairs, mit Vanille bitte."
Brüllt sie: "Machense endlich ihr Handy an, wie soll man sich denn mit Ihnen unterhalten! Wissense nicht, dass Éclairs mit Vanille out sind?"
Ich verstehe immer noch nicht, zeige auf die Auslage und bedeute ihr, dass da noch zehn Stück liegen.
"Ja LIEGEN, Madame. Aber der neueste Bäckerradar, der acht internationale Social Media Dienste abfragt, sagt, dass ein Mensch, der auf sich hält und heute noch wahrgenommen werden möchte, Éclairs mit Schoko isst. Und jetzt geh'n Sie endlich auf Twitter, verdammt noch mal, wie soll man denn sonst ungestört reden!"
Auf meinem Handy-Display erscheint eine 140-Zeichen-Tirade gegen den Bürgermeister. Gefolgt von 140 Zeichen Flüstermodus, ob ich schon gehört hätte, was Frau Dingens... Und dann: "Ich glaube, das bloggen wir lieber, hammwer mehr Platz und Kommentarfunktion für die da draußen". Als ich ihr real life antworten will, dass mich ihr Gezwitscher nicht interessiert, weil ich Tratsch nicht so mag, legt sie den Zeigefinger an die Lippen und zischt: "Loggense mal anonymisiert ein, man weiß ja nie, wer mithört."
Eine freundliche alte Dame betritt den Laden, mit der ich mich immer wieder gern unterhalte. Sie weiß viel über Kräuter und kennt wunderbare Kochrezepte. Die Bäckerin keift hinter vorgehaltener Hand: "Hartnäckige Offlinerin. Druckt nicht mal aus. Die ist bald völlig isoliert. Keine Fans, keine Follower." Sie würdigt die Frau keines Blicks, obwohl sie früher stundenlang mit ihr redete. Stattdessen empfange ich wieder eine Tweet-Flut: "Und die da vor der Tür, die Dicke, die geht jetzt 140 Zeichen verschlankt auf den Stri... na Sie wissen schon, nur männliche Follower! Wird jetzt noch dicker, weil sie sich nicht mehr bewegen muss."
Anscheinend wird ihr die Tipperei zu mühsam, denn sie beugt sich verschwörerisch über die Theke und flüstert: "Wenn Sie mir fünf Follower bringen, bekommen Sie drei Éclairs zum Preis von zweien. Aber nur Schoko."
Ich will wissen, was ich für Vanille tun muss.
"Da müssense schon mein Gewinnspiel ins Netz bringen, einen Sponsor herbeischaffen und mich fünfmal faven. Finden Sie das mal nicht zu teuer, die Bäckerei im Nachbardorf verlangt fünf Retweets obendrein!"
Ich verabschiede mich per sms und gehe nach Hause, um selbst etwas zu backen. Im Briefkasten liegt eine Verlagsabsage. Mein Manuskript sei zwar fantastisch, aber mir würden bei Facebook 300 Fans fehlen, um dem Ranking des Verlags auch nur annähernd zu entsprechen. Ja, wenn ich bereit wäre für ein Homevideo auf youtube, könne man noch einmal über diese wirklich fantastische Idee sprechen. Ich gebe online mein Manuskript an die Dicke im Dorf weiter.
7. September 2009
Die Wirklichkeit biegen
Schriftsteller können Wirklichkeit verbiegen. Nein, nicht nur im Buch, nicht nur in der Fiktion. Am Samstag war so ein Tag. Buchstäblich in letzter Minute habe ich dem Nijinsky-Manuskript, das eigentlich längst fertig ist (und nun auch die Korrekturen hinter sich hat), einen neuen Schluss verpasst. Ist ja auch nicht einfach, ein Buch enden zu lassen, das einer tiefen Tragik der Realität folgt, wo doch angeblich alle Leute Happy Ends und Liebesschnulz lesen wollen. Also habe ich es mir vorsätzlich noch ein wenig mit "allen Leuten" verscherzt. Nijinsky ist tatsächlich 1950 gestorben, da gibt's keinen Ausweg. (Keine Angst, ich habe natürlich nicht ellenlang von der Beerdigung erzählt.)
Nach so viel Tod und Gänsehaut und Pathos braucht man als Autor hartes Kontrastprogramm zum Auftauchen. Fenster zu und Musik aufgedreht: "Perfect", polnischer Kultrock (schon zu kommunistischen Zeiten). Wenn ich das höre, sind die verrückten "Weißen Nächte" wieder im Kopf, die Zeit im Juni, wenn es in Warschau kaum noch dunkel wird, wenn die Sonne nachts um drei aufgeht und alle Wintergeplagten von einer Party in die andere schlittern. Damit man den ersten Frost Ende August vergisst, den Mond am nachmittäglichen Nachthimmel im Dezember. Genau das richtige nach Wahn und Tod.
Wie ich die Musik höre, komme ich drauf, dass ich mal Gedichte geschrieben habe. Nein, nicht das Teeniezeug, sondern viel härter: polnische Gedichte. Auf Polnisch. Und wie ich das alte, gut versteckte Heftchen hervorhole und schmökere, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es gibt deutsche Textversuche von mir, die mir so unbekannt vorkommen. Auch mein Nijinsky-Hörbuch hat einen Tonfall, bei dem ich mich ständig frage, wo ich den nur her habe. Daher. Ich schreibe endlich auf Deutsch so, wie ich auf Polnisch fühle. Verrückt...
Ich brauchte dann etwas Grenzdebiles zum Entspannen. Fiel mir als erstes natürlich der Fernseher ein. Angeknipst, ARTE erwischt. Plötzlich redet einer von Nijinsky. Irgendein Theater spielte irgendetwas aus dem Leben von Nijinsky. Es war dieser 24-Stunden-Berlin-Klopper, den ich nicht weiter angeschaut habe. Kochte mir lieber ein Menu, las ein gutes Buch. Dann in der Nacht, zweiter Versuch. 3-Sat erwischt: "Der Tod in Venedig", Viscontis legendäre Verfilmung der Novelle von Thomas Mann. Nicht schon wieder, dachte ich. Kommt nämlich ganz dick im Nijinsky-Hörbuch vor, Kapitel 3.
Was soll man machen, nach so viel wunderschönem, ganz großen Sterben im Bett, an Stränden, auf der Bühne und der Leinwand? Genau: endlich den Roman schreiben, den ich seit Jahren immer wieder abtöten will und der mir ständig neu nachrennt, lebendiger als zuvor. Dass der in Polen spielen wird, kann doch nur Zufall sein, oder?
Nach so viel Tod und Gänsehaut und Pathos braucht man als Autor hartes Kontrastprogramm zum Auftauchen. Fenster zu und Musik aufgedreht: "Perfect", polnischer Kultrock (schon zu kommunistischen Zeiten). Wenn ich das höre, sind die verrückten "Weißen Nächte" wieder im Kopf, die Zeit im Juni, wenn es in Warschau kaum noch dunkel wird, wenn die Sonne nachts um drei aufgeht und alle Wintergeplagten von einer Party in die andere schlittern. Damit man den ersten Frost Ende August vergisst, den Mond am nachmittäglichen Nachthimmel im Dezember. Genau das richtige nach Wahn und Tod.
Wie ich die Musik höre, komme ich drauf, dass ich mal Gedichte geschrieben habe. Nein, nicht das Teeniezeug, sondern viel härter: polnische Gedichte. Auf Polnisch. Und wie ich das alte, gut versteckte Heftchen hervorhole und schmökere, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es gibt deutsche Textversuche von mir, die mir so unbekannt vorkommen. Auch mein Nijinsky-Hörbuch hat einen Tonfall, bei dem ich mich ständig frage, wo ich den nur her habe. Daher. Ich schreibe endlich auf Deutsch so, wie ich auf Polnisch fühle. Verrückt...
Ich brauchte dann etwas Grenzdebiles zum Entspannen. Fiel mir als erstes natürlich der Fernseher ein. Angeknipst, ARTE erwischt. Plötzlich redet einer von Nijinsky. Irgendein Theater spielte irgendetwas aus dem Leben von Nijinsky. Es war dieser 24-Stunden-Berlin-Klopper, den ich nicht weiter angeschaut habe. Kochte mir lieber ein Menu, las ein gutes Buch. Dann in der Nacht, zweiter Versuch. 3-Sat erwischt: "Der Tod in Venedig", Viscontis legendäre Verfilmung der Novelle von Thomas Mann. Nicht schon wieder, dachte ich. Kommt nämlich ganz dick im Nijinsky-Hörbuch vor, Kapitel 3.
Was soll man machen, nach so viel wunderschönem, ganz großen Sterben im Bett, an Stränden, auf der Bühne und der Leinwand? Genau: endlich den Roman schreiben, den ich seit Jahren immer wieder abtöten will und der mir ständig neu nachrennt, lebendiger als zuvor. Dass der in Polen spielen wird, kann doch nur Zufall sein, oder?
4. September 2009
Vom Osten im Westen
Irgendwo habe ich kürzlich etwas von Russland und Abendland und Europa gemurmelt und jemand war erstaunt, dass ich das zusammenbringe. Wie viel Morgenland ist denn im Abendland Russland? Ist Russland kulturell kein Europa mehr? (Und damit ist das Kernland gemeint, das diesen Namen einbrachte, nicht die gesamte Russische Föderation!)
Dann gab es einen Plausch mit jemandem aus der Buchbranche. Ich erzählte von meinem Befremden, dass das hundertjährige Bestehen der Ballets Russes weltweit ganzjährig mit großem Aufwand und Medienecho gefeiert würde. Aber gäbe es John Neumeier mit seiner Nijinsky-Ausstellung in Hamburg nicht, die Öffentlichkeit in Deutschland hätte das Jubiläum womöglich vergessen. Ja, die Ballets Russes seien ja auch überall aufgetreten, in Paris, London, den USA, Monaco. - Und der deutschsprachige Raum? Die Ballets Russes haben in Berlin und Dresden Erfolge gefeiert, regelmäßig. Marie Rambert, die mit Nijinsky die schwierige Choreografie von Le Sacre du printemps einstudierte, war aus Hellerau bei Dresden engagiert worden. Dort gab es eine international bekannte Tanzschule eines Franzosen. Deutsche sammelten Zigarettenbildchen mit den Stars der Ballets Russes, u.a. Nijinsky! Die Ballets Russes gastierten auch in Wien und Nijinsky lebte lange in der Schweiz.
Und was hat das nun alles miteinander zu tun? Die Reaktionen von heute zeigen mir deutlich, welch tiefen Graben der Erste Weltkrieg durch die europäischen Kulturen gerissen hat. Als die Ballets Russes 1909 zum ersten Mal in Paris auftraten und ihre Tänzer damals noch zwischen Sankt Petersburg und Paris wechselten, gab es ein immens großes Europa der Kunst und Kultur ohne Grenzen im Kopf. Die Berühmtheiten des Westens ließen sich in Petersburg und Moskau inspirieren, in Paris und anderswo gab es wichtige russische Emigrantenzirkel, in denen Künstler und Intellektuelle aus und eingingen. Jemand nannte Sankt Petersburg sogar einmal "Laboratorium Europas".
Schließlich ging die Balletttruppe sogar so weit, den "Westlern" Morgenländisches ans Herz zu legen. Ihre sogenannten orientalischen Ballette wie Sheherazade oder Cleopatra wurden weltberühmt, die Frauen im Publikum kleideten sich plötzlich mit Turban und Glitzerstoffen. Auch in Deutschland spendete man diesem Orient rauschenden Applaus. Funktioniert hat er, weil er nicht echt war, sondern exotisch. Der Orientalismus jener Zeit war ein zutiefst europäisches Konglomerat aus russischer Folklore, russischen Farbgebungen und den Märchen aus 1001 Nacht. Künstler wie Matisse oder Cartier, Sonia Delaunay-Terk oder Wassilij Kandinsky nahmen Farben und Formen auf. Die Frage Ost oder West stellte sich damals nicht, man inspirierte sich gegenseitig, besuchte sich gegenseitig, arbeitete miteinander.
Der Erste Weltkrieg zerstörte dieses polyglotte vielgestaltige Europa. Und irgendwie herrschen immer noch die alten Grenzen im Kopf. Was wissen wir heute wirklich über Russland, seine Kultur, seine Kunst? Was in den Medien ist Klischee, worüber wird gar nicht berichtet? Rechts vom Rhein nehme ich oft eine Art Angst vor dem Osten wahr, die sicher geschichtlich bedingt ist, aber leider noch nicht überholt. Irgendwo "da hinten" sei alles fremd, seltsam, womöglich kein Abendland mehr...
Links vom Rhein schmunzle ich dagegen, wenn ich mir wieder einmal ein Hochglanzheft von "Coté Est" gönne, einer französischen Zeitschrift für Innenarchitektur und Deko, die sich ganz dem Charme des Ostens verschrieben hat. Da finde ich das alte Europa plötzlich wieder vereint: Französisch Sibirien etwa, das man gemeinhin Elsass nennt; Sankt Petersburg, in dem man mit Französisch immer noch prächtig durchkommt - und eine andere "Oststadt", die mit beiden in enger Verbindung lebt: Baden-Baden. Der Osten ist eine sehr relative Himmelsrichtung.
Und diesen Beitrag machen wir gleich zu unserem Rätsel Nr. 6
Wer aus allen Rätselteilen das Lösungswort bilden kann, nimmt an der Verlosung von fünf pressfrischen Ausgaben meines Hörbuchs (nach Erscheinen) teil:
Petra van Cronenburg: Ich will eine Liebesschlange. Eine Annäherung an Vaslav Nijinsky. Der Diwan Hörbuchverlag. Exklusiv fürs Hörbuch geschrieben mit Musik aus Nijinskys Balletten.
Alle bisherigen Rätselfragen auf einen Blick gibt es hier.
Die heutige Frage:
Wir suchen eine Himmelsrichtung. Der zweite Buchstabe der Himmelsrichtung ist der elfte Buchstabe des Lösungsworts.
Dann gab es einen Plausch mit jemandem aus der Buchbranche. Ich erzählte von meinem Befremden, dass das hundertjährige Bestehen der Ballets Russes weltweit ganzjährig mit großem Aufwand und Medienecho gefeiert würde. Aber gäbe es John Neumeier mit seiner Nijinsky-Ausstellung in Hamburg nicht, die Öffentlichkeit in Deutschland hätte das Jubiläum womöglich vergessen. Ja, die Ballets Russes seien ja auch überall aufgetreten, in Paris, London, den USA, Monaco. - Und der deutschsprachige Raum? Die Ballets Russes haben in Berlin und Dresden Erfolge gefeiert, regelmäßig. Marie Rambert, die mit Nijinsky die schwierige Choreografie von Le Sacre du printemps einstudierte, war aus Hellerau bei Dresden engagiert worden. Dort gab es eine international bekannte Tanzschule eines Franzosen. Deutsche sammelten Zigarettenbildchen mit den Stars der Ballets Russes, u.a. Nijinsky! Die Ballets Russes gastierten auch in Wien und Nijinsky lebte lange in der Schweiz.
Und was hat das nun alles miteinander zu tun? Die Reaktionen von heute zeigen mir deutlich, welch tiefen Graben der Erste Weltkrieg durch die europäischen Kulturen gerissen hat. Als die Ballets Russes 1909 zum ersten Mal in Paris auftraten und ihre Tänzer damals noch zwischen Sankt Petersburg und Paris wechselten, gab es ein immens großes Europa der Kunst und Kultur ohne Grenzen im Kopf. Die Berühmtheiten des Westens ließen sich in Petersburg und Moskau inspirieren, in Paris und anderswo gab es wichtige russische Emigrantenzirkel, in denen Künstler und Intellektuelle aus und eingingen. Jemand nannte Sankt Petersburg sogar einmal "Laboratorium Europas".
Schließlich ging die Balletttruppe sogar so weit, den "Westlern" Morgenländisches ans Herz zu legen. Ihre sogenannten orientalischen Ballette wie Sheherazade oder Cleopatra wurden weltberühmt, die Frauen im Publikum kleideten sich plötzlich mit Turban und Glitzerstoffen. Auch in Deutschland spendete man diesem Orient rauschenden Applaus. Funktioniert hat er, weil er nicht echt war, sondern exotisch. Der Orientalismus jener Zeit war ein zutiefst europäisches Konglomerat aus russischer Folklore, russischen Farbgebungen und den Märchen aus 1001 Nacht. Künstler wie Matisse oder Cartier, Sonia Delaunay-Terk oder Wassilij Kandinsky nahmen Farben und Formen auf. Die Frage Ost oder West stellte sich damals nicht, man inspirierte sich gegenseitig, besuchte sich gegenseitig, arbeitete miteinander.
Der Erste Weltkrieg zerstörte dieses polyglotte vielgestaltige Europa. Und irgendwie herrschen immer noch die alten Grenzen im Kopf. Was wissen wir heute wirklich über Russland, seine Kultur, seine Kunst? Was in den Medien ist Klischee, worüber wird gar nicht berichtet? Rechts vom Rhein nehme ich oft eine Art Angst vor dem Osten wahr, die sicher geschichtlich bedingt ist, aber leider noch nicht überholt. Irgendwo "da hinten" sei alles fremd, seltsam, womöglich kein Abendland mehr...
Links vom Rhein schmunzle ich dagegen, wenn ich mir wieder einmal ein Hochglanzheft von "Coté Est" gönne, einer französischen Zeitschrift für Innenarchitektur und Deko, die sich ganz dem Charme des Ostens verschrieben hat. Da finde ich das alte Europa plötzlich wieder vereint: Französisch Sibirien etwa, das man gemeinhin Elsass nennt; Sankt Petersburg, in dem man mit Französisch immer noch prächtig durchkommt - und eine andere "Oststadt", die mit beiden in enger Verbindung lebt: Baden-Baden. Der Osten ist eine sehr relative Himmelsrichtung.
Und diesen Beitrag machen wir gleich zu unserem Rätsel Nr. 6
Wer aus allen Rätselteilen das Lösungswort bilden kann, nimmt an der Verlosung von fünf pressfrischen Ausgaben meines Hörbuchs (nach Erscheinen) teil:
Petra van Cronenburg: Ich will eine Liebesschlange. Eine Annäherung an Vaslav Nijinsky. Der Diwan Hörbuchverlag. Exklusiv fürs Hörbuch geschrieben mit Musik aus Nijinskys Balletten.
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Wir suchen eine Himmelsrichtung. Der zweite Buchstabe der Himmelsrichtung ist der elfte Buchstabe des Lösungsworts.
2. September 2009
Frist endet!
AutorInnen aufgepasst! Die Widerspruchsfrist für Einzelautoren gegen das Google Book Settlement endet übermorgen. Inzwischen tut sich einiges, Gruppen, die sich bisher unschlüssig waren, gehen jetzt gegen den Vergleich vor - u.a. die Bundesregierung. Weil Twitter das schnellere und knappere Medium ist, werden dort aktuelle Presselinks und Infos verteilt. Ich empfehle jedem, in meine Tweets unter @buchfieber zu schauen - sie sind auch für Nichtmitglieder einsehbar. Wer bei Twitter angemeldet ist, bekommt die Infos direkt, wenn er mir folgt.
Für Nichttwitterer: Ein RT bedeutet, dass man jemand anderen zitiert. Dessen Account findet sich am @-Zeichen. "Follower" sind Abonennten eines bestimmten Accounts - im Prinzip funktioniert das wie der gute alte Ticker: Eine Redaktion abonniert XY und bekommt automatisch alle Meldungen von XY auf den Schreibtisch, aber nicht die von Z.
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1. September 2009
Technische Störungen
Ich überarbeite derzeit meine Website völlig neu. Deshalb kann es heute und morgen zu technischen Störungen kommen, einige Seiten werden fehlen und Links teilweise nicht funktionieren. Sollte dieser Zustand jedoch länger anhalten, habe ich etwas falsch gemacht und würde mich über Rückmeldungen freuen.
Sehr alte und überholte Inhalte werde ich ebenfalls kürzen. Mal sehen, ob ich mehr Übersicht in den Wildwuchs bekomme...
Sehr alte und überholte Inhalte werde ich ebenfalls kürzen. Mal sehen, ob ich mehr Übersicht in den Wildwuchs bekomme...