Letzte Woche mal wieder elegant aus der Tiefgarage Augustaplatz zur edlen Lichtenthaler Straße gestöckelt. Noch tragen die Frauen in der mediterran wirkenden Stadt Baden-Baden keine Pelze. Aber eindeutig ein Pelztier war das, was zutraulich um den großen Springbrunnen trippelte, sein Schwänzchen kurz auf die andere Seite schlug, mich mit Knopfaugen groß ansah - und nach einem kurzen Streichen der Barthaare ziemlich gemütlich im Straßengebüsch verschwand.
In Baden-Baden flanieren nicht nur Promis, Reiche und Schöne. Sogar die wohlgenährten Ratten haben diesen gewissen nonchalanten Schritt...
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4. Oktober 2006
Autoren wie Schafe
Ich habe nun schon den siebten Hund in meinem Leben. Allen meinen Hunden habe ich im frühesten Welpenalter beigebracht, dass sich ein intelligentes Tier von Elektrozäunen fernhält, wie man sie hier um Schafherden und Pferdekoppeln findet. Zwei meiner Huskies waren sogar so intelligent, dass sie auf die Pause zwischen den Stromschlägen horchten, um genau in der stromfreien Sekunde durch den Zaun zu brechen. Keiner war so blöde, sich den Schmerz freiwillig anzutun.
Was würde mein Hirtenhund zu der Aktion sagen, mit der ausgerechnet eine "Intelligenzagentur" Autoren von Lesern mit Stromschlägen quälen ließ?
Nicht mal Schafe machen so etwas mit.
Aber Autoren und Journalisten...
Ich schlage als nächste Intelligenzaktion eine Hommage an Kreisler vor: "geh'n wir Autoren vergiften im Park"...
Was würde mein Hirtenhund zu der Aktion sagen, mit der ausgerechnet eine "Intelligenzagentur" Autoren von Lesern mit Stromschlägen quälen ließ?
Nicht mal Schafe machen so etwas mit.
Aber Autoren und Journalisten...
Ich schlage als nächste Intelligenzaktion eine Hommage an Kreisler vor: "geh'n wir Autoren vergiften im Park"...
22. September 2006
Dummdreiste Bücherkategorien
Seit heute weiß ich wieder genau, warum ich Juckreiz bekomme, wenn man mich lebenslänglich und ausschließlich als Frauenroman-Autorin abstempeln will. Seit heute weiß ich auch, warum ich um entsprechende Regale einen riesigen Bogen mache... ja sogar eine Buchhandlung gefunden habe, die "sowas" gar nicht führt. Wie erholsam.
Ich hatte ja schon lange den Verdacht, dass gewisse Genres gar nicht von Frauen für Frauen erfunden wurden. Die Brigitte-Kolumnistin Julia Karnick spricht es in Bezug auf ein Untergenre des Frauenromans aus: Solange es in Buchläden "Freche Frauen" gibt, verlange ich ein weiteres Regal: "Ungezogene Männer".
Spinnen wir aber den Gedanken weiter... was wäre, wenn ttsächlich Frauen diese ungezogene Männeridee gehabt hätten?
Ich bin für die Einführung des Regals Menschenromane. Für Bücher, in denen nicht die Auswahl des Geschlechts die Hauptrolle spielt, sondern die Geschichte, die ein Mensch über Menschen zu erzählen hat. Eine gute, starke Geschichte, die vielen etwas zu sagen hat, weil sie nicht von vornherein die Hälfte der Menschheit aussperrt.
Ich hatte ja schon lange den Verdacht, dass gewisse Genres gar nicht von Frauen für Frauen erfunden wurden. Die Brigitte-Kolumnistin Julia Karnick spricht es in Bezug auf ein Untergenre des Frauenromans aus: Solange es in Buchläden "Freche Frauen" gibt, verlange ich ein weiteres Regal: "Ungezogene Männer".
Spinnen wir aber den Gedanken weiter... was wäre, wenn ttsächlich Frauen diese ungezogene Männeridee gehabt hätten?
Ich bin für die Einführung des Regals Menschenromane. Für Bücher, in denen nicht die Auswahl des Geschlechts die Hauptrolle spielt, sondern die Geschichte, die ein Mensch über Menschen zu erzählen hat. Eine gute, starke Geschichte, die vielen etwas zu sagen hat, weil sie nicht von vornherein die Hälfte der Menschheit aussperrt.
2. September 2006
CD: Chansons fürs Tanzbein
„Sidi Ifni“, ein Ort am Rande der marokkanischen Sahara. Sein Herz, ein riesiges Missverständnis in Form eines leblosen Flughafens – mitten in der Stadt“, so beschreiben die 17 HIPPIES den Namensgeber für die 2004 produzierte CD „IFNI“. Meine dritte nach „WER IST DAS?“ (1999) und „SIRBA FROM TUVA“ (2002), eine gewöhnungsbedürftige zudem.
Denn sie kommt leiser daher, näher an Chanson und zivilisierter Tanzmusik, ideal verschmolzen in „Die Frau von Ungefähr“ mit poetischem Text und der Stimme Kiki Sauers, die schon Marlène zum Ohrwurm gemacht hat. Marlène gibt es dafür auch gleich zweimal: als Chanson und als Video.
Ich mag es, wenn Künstler ihre eigenen Stücke unterschiedlich interpretieren, womöglich mit neuen Musikern. Man kennt das von Goran Brégovic, bei dem kein identisches Stück gleich klingt. Die 17 Hippies verärgern mich fast, wenn sie immer wieder alte Songs aufnehmen. Marlène empfehle ich in der Aufnahme auf „SIRBA“. Hier fehlt der Nachtschwärmerin das Verruchte, die Leidenschaft, die Klezmerklarinette passt nicht zum halbseidenen Text. Auch gefällt mir der Sprachmix mitten im Satz auf der anderen CD besser. Und natürlich ist „eine Sirba“ als Stück auch nur Wiederholung von der gleichnamigen CD.
Ruhig, melancholisch, in einem Mix aus Akkordeon, Klarinette und Gitarre erklingt „Paso Doble“, aufgereizt nur von einer Ukulele. Ohrwurmqualität erreicht der Titelsong „Ifni“ von der französischen Kultband „Les Hurlements d’Léo“. Ein Maultrommel-Intro lässt aufhorchen, arabische Tonalität und rhythmischer Gesang zeigen: das ist Marlène in Marokko, Europa in Afrika, Französisch im Wüstenstaub.
Der türkische Neuner „Karsilamas“ bringt endlich wieder die gewohnte Hippies-Tanzfreude, aber verhaltener. Wunderschöner Text in „Was bleibt“, zu akkordenbetontem Chanson mit Bouzoukiklängen über das, was bleibt, wenn man verliebt Ja sagt. Die singende Säge verrät es...
„Cube“ ist Klezmer fürs Tanzbein, Besho erinnert an moderne Balkanproduktionen und nennt sich nicht umsonst „mazedonischer Turbo“. Dafür gibt es dann mit „Saint behind the Glass“ den totalen Bruch Richtung Folksänger der Siebziger, der nicht so ganz ins Gesamtkonzept passt, und ein träumerisch-bukolisches Idyll aus Zupf- und Streichinstrumenten und Klarinette in „Walser nel Bosco“. „Hotel Cazane“ knüpft an die typischen Hippies-Chansons an, mit ihren Frauen zwischen Alkohol und einsamen Nächten.
Schon ist hier der Sumpf spürbar, der in der dreiteiligen „Hoyaka-Suite“ losgelassen wird, wie die „Soy em Gadde“, die das Sauerkraut wegfrisst. Hessische Mundart meets heißen Zydeco aus dem feuchten Louisiana, Dialekt wird zum Fremdklang aus Blueswelten, die man einfach aus sich heraustanzen muss. Hoyaka ist ganz sicher eins der Highlights, um die ungewöhnlich verrückte Mischung der Hippies lieben zu lernen. Überhaupt ist die CD der ideale Einstieg für Hippies-Anfänger, die sich noch nicht ganz herantrauen an das manchmal clowneske Chaos zwischen Bluegrass, Bauerntänzen und chassidischer Ausgelassenheit.
und natürlich:
+
Denn sie kommt leiser daher, näher an Chanson und zivilisierter Tanzmusik, ideal verschmolzen in „Die Frau von Ungefähr“ mit poetischem Text und der Stimme Kiki Sauers, die schon Marlène zum Ohrwurm gemacht hat. Marlène gibt es dafür auch gleich zweimal: als Chanson und als Video.
Ich mag es, wenn Künstler ihre eigenen Stücke unterschiedlich interpretieren, womöglich mit neuen Musikern. Man kennt das von Goran Brégovic, bei dem kein identisches Stück gleich klingt. Die 17 Hippies verärgern mich fast, wenn sie immer wieder alte Songs aufnehmen. Marlène empfehle ich in der Aufnahme auf „SIRBA“. Hier fehlt der Nachtschwärmerin das Verruchte, die Leidenschaft, die Klezmerklarinette passt nicht zum halbseidenen Text. Auch gefällt mir der Sprachmix mitten im Satz auf der anderen CD besser. Und natürlich ist „eine Sirba“ als Stück auch nur Wiederholung von der gleichnamigen CD.
Ruhig, melancholisch, in einem Mix aus Akkordeon, Klarinette und Gitarre erklingt „Paso Doble“, aufgereizt nur von einer Ukulele. Ohrwurmqualität erreicht der Titelsong „Ifni“ von der französischen Kultband „Les Hurlements d’Léo“. Ein Maultrommel-Intro lässt aufhorchen, arabische Tonalität und rhythmischer Gesang zeigen: das ist Marlène in Marokko, Europa in Afrika, Französisch im Wüstenstaub.
Der türkische Neuner „Karsilamas“ bringt endlich wieder die gewohnte Hippies-Tanzfreude, aber verhaltener. Wunderschöner Text in „Was bleibt“, zu akkordenbetontem Chanson mit Bouzoukiklängen über das, was bleibt, wenn man verliebt Ja sagt. Die singende Säge verrät es...
„Cube“ ist Klezmer fürs Tanzbein, Besho erinnert an moderne Balkanproduktionen und nennt sich nicht umsonst „mazedonischer Turbo“. Dafür gibt es dann mit „Saint behind the Glass“ den totalen Bruch Richtung Folksänger der Siebziger, der nicht so ganz ins Gesamtkonzept passt, und ein träumerisch-bukolisches Idyll aus Zupf- und Streichinstrumenten und Klarinette in „Walser nel Bosco“. „Hotel Cazane“ knüpft an die typischen Hippies-Chansons an, mit ihren Frauen zwischen Alkohol und einsamen Nächten.
Schon ist hier der Sumpf spürbar, der in der dreiteiligen „Hoyaka-Suite“ losgelassen wird, wie die „Soy em Gadde“, die das Sauerkraut wegfrisst. Hessische Mundart meets heißen Zydeco aus dem feuchten Louisiana, Dialekt wird zum Fremdklang aus Blueswelten, die man einfach aus sich heraustanzen muss. Hoyaka ist ganz sicher eins der Highlights, um die ungewöhnlich verrückte Mischung der Hippies lieben zu lernen. Überhaupt ist die CD der ideale Einstieg für Hippies-Anfänger, die sich noch nicht ganz herantrauen an das manchmal clowneske Chaos zwischen Bluegrass, Bauerntänzen und chassidischer Ausgelassenheit.
und natürlich:
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11. August 2006
Sommerdreieck: MARC CHAGALL
Andere Leute machen dort Urlaub, wo ich wohne, ich wohne in einem Dreiländereck, das eine Reise wert ist. Deshalb gibt es jetzt in loser Abfolge das "Sommerdreieck" mit Impressionen aus meinen arbeitsfreien Zeiten. Gleich zu Beginn eine Empfehlung, die in Frankreich bereits Geheimtipp ist und in ihrer europäischen Gesamtauswahl wohl einzigartig.
Das Museum Frieder Burda in Baden-Baden hat es geschafft, das Hauptwerk Marc Chagalls in seinen hundert größten Werken zu vereinen - aus Moskau, Petersburg, Paris, Nizza, Madrid, Düsseldorf, Frankfurt u.a. Städten kommen die Originale. Der Betrachter hat nicht nur einen umfassenden Überblick über ein Schaffen, das zwei Weltkriege überstand und etwa von 1917 bis 1975 gezeigt wird. Es gibt auch zwei bisher so noch nie ausgestellte Schwerpunkte, die die europäische Geschichte ebenfalls beleuchten. Da sind Chagalls Arbeiten als Buchillustrator - hier sieht man zu den Bildern auch einige Originalbücher. Und im Mittelpunkt steht die von der Tretjakov-Galerie in Moskau geliehene Sammlung von acht Monumentalpaneelen, die 1920 für das Jüdische Theater in Moskau gemalt wurden.
Spannend sind die Zusatzveranstaltungen, so liest etwa am 8.9. Chagalls Enkelin Meret Meyer aus seinem Spätwerk, es gibt Bilder mit Musik, mit Literatur und für Kinder. Das Museum selbst ist eine architektonische Attraktion (Richard Meier) in der Stadt, kunstvoll in den Park neben die Staatliche Kunsthalle gesetzt. Es liegt zentral - Parken in den Tiefgaragen Kurhaus oder Kongresshaus - und dann einfach ein paar Minuten zu Fuß durch den opulenten Park am Ufer der Oos. Dabei schlendert man an den Rückfassaden der traditionsreichen Grandhotels entlang und kann ein wenig von der alten Grandezza der Stadt spüren oder einen Kaffee unter Palmen und baumgroßen Oleandern trinken.
Chagall in neuem Licht: Museum Frieder Burda, Baden-Baden, vom 7.7.06 bis 29.10.06.
Lichtentaler Allee 8 b
Tel +49 / (0)7221 - 3 98 98-0
Führungen vorbestellen: fuehrungen@museum-frieder-burda.de
Und natürlich gibt's hier zu gegebener Zeit auch meine Eindrücke "von innen"!
Das Museum Frieder Burda in Baden-Baden hat es geschafft, das Hauptwerk Marc Chagalls in seinen hundert größten Werken zu vereinen - aus Moskau, Petersburg, Paris, Nizza, Madrid, Düsseldorf, Frankfurt u.a. Städten kommen die Originale. Der Betrachter hat nicht nur einen umfassenden Überblick über ein Schaffen, das zwei Weltkriege überstand und etwa von 1917 bis 1975 gezeigt wird. Es gibt auch zwei bisher so noch nie ausgestellte Schwerpunkte, die die europäische Geschichte ebenfalls beleuchten. Da sind Chagalls Arbeiten als Buchillustrator - hier sieht man zu den Bildern auch einige Originalbücher. Und im Mittelpunkt steht die von der Tretjakov-Galerie in Moskau geliehene Sammlung von acht Monumentalpaneelen, die 1920 für das Jüdische Theater in Moskau gemalt wurden.
Spannend sind die Zusatzveranstaltungen, so liest etwa am 8.9. Chagalls Enkelin Meret Meyer aus seinem Spätwerk, es gibt Bilder mit Musik, mit Literatur und für Kinder. Das Museum selbst ist eine architektonische Attraktion (Richard Meier) in der Stadt, kunstvoll in den Park neben die Staatliche Kunsthalle gesetzt. Es liegt zentral - Parken in den Tiefgaragen Kurhaus oder Kongresshaus - und dann einfach ein paar Minuten zu Fuß durch den opulenten Park am Ufer der Oos. Dabei schlendert man an den Rückfassaden der traditionsreichen Grandhotels entlang und kann ein wenig von der alten Grandezza der Stadt spüren oder einen Kaffee unter Palmen und baumgroßen Oleandern trinken.
Chagall in neuem Licht: Museum Frieder Burda, Baden-Baden, vom 7.7.06 bis 29.10.06.
Lichtentaler Allee 8 b
Tel +49 / (0)7221 - 3 98 98-0
Führungen vorbestellen: fuehrungen@museum-frieder-burda.de
Und natürlich gibt's hier zu gegebener Zeit auch meine Eindrücke "von innen"!
10. August 2006
Teure Tropfen
Der Raum liegt zentral. Und ist vielleicht deshalb so perfekt gesichert wie eine Bank. Nur auserwählte Besucher, die bereit sind, für einen guten Tropfen angemessene Preise zu bezahlen, finden überhaupt Einlass. Einlass hinter das verstärkte Drahtnetz, das zusätzlich durch ein übermannsgroßes Drehkreuz gesichert ist. Die armdicken Stangen sind arretiert, werden nur freigegeben, wenn sich der Gast als würdig erweist. Noch im Drehkreuz überlege ich, ob ich hier je wieder herauskomme. Vor mir eine kleine unscheinbare Tür, die zum Schutzaufwand draußen einen fast lächerlichen Kontrapunkt setzt. Hinter mir wird das Drehkreuz sofort wieder automatisch arretiert. Ich werde einen Knopf drücken müssen, um wieder Freiheit schmecken zu können.
Wesentlich weniger furchterregend präsentiert sich die zweite Stätte. Keine Gitter, keine Gefangennahme, nur die üblichen Videoüberwachungen in der Vorhalle. Bedrückt fühlt sich der Besucher hier allenfalls, wenn es ihm an angemessener Garderobe mangelt, am nonchalanten Benehmen, das gleich dem perfekten Haarschnitt wirkt wie angeboren. Ebenso selbstverständlich und alltäglich prunken hier die Räume. Krawatten- und Jackenzwang gibt es erst dort, wo der Speckstein durch Marmor ersetzt wird, wo die Lüster im Gold hängen und man auf rotem Samt sitzt. Hier, in diesem Ambiente ohne Gitter, braucht es noch das Design abwaschbarer Werte.
Apropos Werte... ich empfehle dringend denen, die in Baden-Baden ein dringendes Bedürfnis haben, sich direkt das Kurhaus zu gönnen. Zwar ahnt man von dort aus nur den Glamour eines der schönsten alten Casinos der Welt, aber man befindet sich bereits in den Vorhallen, unter den Reichen und Schönen und unter Touristen, die eben dieses dringende Bedürfnis... Ich rate zum Kurhaus, weil Sie hier für ihre Tropfen auch nur 50 Cent bezahlen müssen. Nur? Nun ja, in der edlen Stadt nimmt man für Ihre edlen Hinterlassenschaften überall die gleichen Preise. Und die öffentliche Bedürfnisanstalt am Augustaplatz mit dem Drahtverhau gegen Junkies ist für diesen Eintrittspreis nun doch nicht das wahre...
Wesentlich weniger furchterregend präsentiert sich die zweite Stätte. Keine Gitter, keine Gefangennahme, nur die üblichen Videoüberwachungen in der Vorhalle. Bedrückt fühlt sich der Besucher hier allenfalls, wenn es ihm an angemessener Garderobe mangelt, am nonchalanten Benehmen, das gleich dem perfekten Haarschnitt wirkt wie angeboren. Ebenso selbstverständlich und alltäglich prunken hier die Räume. Krawatten- und Jackenzwang gibt es erst dort, wo der Speckstein durch Marmor ersetzt wird, wo die Lüster im Gold hängen und man auf rotem Samt sitzt. Hier, in diesem Ambiente ohne Gitter, braucht es noch das Design abwaschbarer Werte.
Apropos Werte... ich empfehle dringend denen, die in Baden-Baden ein dringendes Bedürfnis haben, sich direkt das Kurhaus zu gönnen. Zwar ahnt man von dort aus nur den Glamour eines der schönsten alten Casinos der Welt, aber man befindet sich bereits in den Vorhallen, unter den Reichen und Schönen und unter Touristen, die eben dieses dringende Bedürfnis... Ich rate zum Kurhaus, weil Sie hier für ihre Tropfen auch nur 50 Cent bezahlen müssen. Nur? Nun ja, in der edlen Stadt nimmt man für Ihre edlen Hinterlassenschaften überall die gleichen Preise. Und die öffentliche Bedürfnisanstalt am Augustaplatz mit dem Drahtverhau gegen Junkies ist für diesen Eintrittspreis nun doch nicht das wahre...
1. August 2006
Dichten statt Denken
Ich habe gestern einen Abfluss gereinigt. War gar nicht so einfach, als blutige Laiin den Syphon / Siphon / Sifon / Siff ??? aus Billigstmetall aufzuschrauben, den der Vorgänger vor zwanzig Jahren verkantet hatte. Und als ich dann den Pfusch zum Rohr an der Wand sah, hat es mich fast hingelegt. Hauptsache, es sieht aus wie eine Rohrverbindung. Hauptsache, man tut so, als habe man moderne Techniken verwendet. Ich will niemanden langweilen. Ich habe es gelernt. Gerade noch rechtzeitig. Ich kann jetzt nicht nur schreiben, ich kann auch dichten. Denn Dichten ist das A und O bei einem verpfuschten Rohrsystem, wenn die Übergänge nicht stimmen. Pünktlich zum Ersten fließt es wieder. Und wenn ich die Massen in deutschen Baumärkten sehe, die sich mit Gummiringen und Silikon, mit Hanftechnik und Teflon auskennen, dann weiß ich: Das ist wahrhaftig das Land der Dichter und Denker.
Trotzdem... seit heute haben die da über dem Rhein drüben mal wieder den Abfluss offen. Pfusch-am-Bau, fast ein deutsches Lehnwort, schwarze Arbeit und wieder hat der Meister es besser wissen wollen als sein Spracharbeiter, obwohl doch letzterer sich täglich den Ärger zwischen aufmüpfigen Kommata und Konsonanten um die Brille haut. Nein, ich setze kein Komma vor "und". Ein Komma verändert Sprachsinn und Atem eines Satzes. Verlag 1: Wir setzen das Komma auch nicht. Verlag 2: Du musst das Komma setzen, wenn du für uns arbeiten willst.
Zwischendurch jede Menge Erinnerung an Fanta Vier. Nicht "ABC, DAF und OMD" oder "ARD, ZDF, C & A"... nein, da kam noch der Dudendidummdibabbadamda-Rap aus Mannheim. ADR und NDR - ojemine / NDR 2 und MDR, oder war's RSR, tatütata?
Na egal. Jedenfalls habe ich brav alle von mir gehassten und als falsch empfundenen Kommata in meine Romane nachträglich hineingesetzt. Man gönnt sich ja sonst nichts. Heute morgen wache ich auf, mein Abfluss gurgelt und meine Bücher sind Makulatur. Alle falsch, die Kommata. Sprachkoma. Seit heute hätte ich damals Recht / recht gehabt / rechtgehabt. Und das, wo ich doch auch noch neuerdings dichten kann!
Also, schön einfach ist das ja nun. Ich singe NDR und MDR is nich ok, und "wir gehen drauf für ein Leben voller Schall und Rauch / bevor wir fallen, fallen wir lieber auf"...
Heute ist der 1. August. Ich bin weder Schüler noch Beamter (dem Himmel sei Dank). Ich schreib jetzt PvC. Und beharre auch wieder darauf, dass bei mir die Brennessel nicht so dämlich in Konsonanten breNNNeSSelt. Mein AlPtraum kommt wieder vom bösen Alp und nicht vom netten Feen-Alb. Mein Stengel wächst weiter vom althochdeutschen "stengil" / "stingil" und zeigt, dass ein e/i-Laut nicht leichtfertig in einen a-Laut mutiert, nur weil das Mannheimer Genforscher gern so hätten, wenn sie an den Stammzellen der Wörter manipulieren. Überhaupt bin ich bei all der Duderei für eine Wiedereinführung des Faches Etymologie bei den Sprachgesetzverordnern. Etymologie statt Willkür. Sprache hat gewachsene Wurzeln - und wenn wir die verlieren, schneiden wir uns die eigenen ab.
Ich wünsche mir eine Revolte der Spracharbeiter. Aus Liebe und Leidenschaft. Für den Reichtum und gewachsenen Sinn unseres Ausdrucks. Denn eins habe ich beim Dichten gelernt: Egal, was die mir über moderne Methoden mit Teflonbändern erzählen... damit machen nur die Geld, die die neuen Bände(r) verkaufen. Die alte Hanfwickelmethode dagegen - die hält auch nach zwanzig Jahren und sogar bei Pfusch am Bau, was sie verspricht. Free Hanf, oder wie das hieß. Free Deutsch. Legalize it!
Trotzdem... seit heute haben die da über dem Rhein drüben mal wieder den Abfluss offen. Pfusch-am-Bau, fast ein deutsches Lehnwort, schwarze Arbeit und wieder hat der Meister es besser wissen wollen als sein Spracharbeiter, obwohl doch letzterer sich täglich den Ärger zwischen aufmüpfigen Kommata und Konsonanten um die Brille haut. Nein, ich setze kein Komma vor "und". Ein Komma verändert Sprachsinn und Atem eines Satzes. Verlag 1: Wir setzen das Komma auch nicht. Verlag 2: Du musst das Komma setzen, wenn du für uns arbeiten willst.
Zwischendurch jede Menge Erinnerung an Fanta Vier. Nicht "ABC, DAF und OMD" oder "ARD, ZDF, C & A"... nein, da kam noch der Dudendidummdibabbadamda-Rap aus Mannheim. ADR und NDR - ojemine / NDR 2 und MDR, oder war's RSR, tatütata?
Na egal. Jedenfalls habe ich brav alle von mir gehassten und als falsch empfundenen Kommata in meine Romane nachträglich hineingesetzt. Man gönnt sich ja sonst nichts. Heute morgen wache ich auf, mein Abfluss gurgelt und meine Bücher sind Makulatur. Alle falsch, die Kommata. Sprachkoma. Seit heute hätte ich damals Recht / recht gehabt / rechtgehabt. Und das, wo ich doch auch noch neuerdings dichten kann!
Also, schön einfach ist das ja nun. Ich singe NDR und MDR is nich ok, und "wir gehen drauf für ein Leben voller Schall und Rauch / bevor wir fallen, fallen wir lieber auf"...
Heute ist der 1. August. Ich bin weder Schüler noch Beamter (dem Himmel sei Dank). Ich schreib jetzt PvC. Und beharre auch wieder darauf, dass bei mir die Brennessel nicht so dämlich in Konsonanten breNNNeSSelt. Mein AlPtraum kommt wieder vom bösen Alp und nicht vom netten Feen-Alb. Mein Stengel wächst weiter vom althochdeutschen "stengil" / "stingil" und zeigt, dass ein e/i-Laut nicht leichtfertig in einen a-Laut mutiert, nur weil das Mannheimer Genforscher gern so hätten, wenn sie an den Stammzellen der Wörter manipulieren. Überhaupt bin ich bei all der Duderei für eine Wiedereinführung des Faches Etymologie bei den Sprachgesetzverordnern. Etymologie statt Willkür. Sprache hat gewachsene Wurzeln - und wenn wir die verlieren, schneiden wir uns die eigenen ab.
Ich wünsche mir eine Revolte der Spracharbeiter. Aus Liebe und Leidenschaft. Für den Reichtum und gewachsenen Sinn unseres Ausdrucks. Denn eins habe ich beim Dichten gelernt: Egal, was die mir über moderne Methoden mit Teflonbändern erzählen... damit machen nur die Geld, die die neuen Bände(r) verkaufen. Die alte Hanfwickelmethode dagegen - die hält auch nach zwanzig Jahren und sogar bei Pfusch am Bau, was sie verspricht. Free Hanf, oder wie das hieß. Free Deutsch. Legalize it!
27. Juli 2006
Sortenkurse in Alteuropa
Es ist immer wieder ein ganz besonderes Vergnügen, als Ureinwohner Alteuropas mit einer amerikanischen Firma zu tun zu haben, die Deutsch spricht. Und ein noch größeres Vergnügen ist das, wenn ein Alteuropäer etwas auf Europa hält und in mehreren Ländern geschäftsfähig ist, weil ja bekanntlich freier Personen-, Waren-, Handelsverkehr...
Kurzum, der Alteuropäer, der sich von amazon.de aus gesehen im Ausland befindet, nämlich in Frankreich, möchte Kontodaten fürs Partnerprogramm eintippen. Und weil man ja alles richtig machen will, liest man sich die Beschreibung vorher durch:
"Gibt es irgendwelche Einschränkungen?
Sollten Sie kein Bankkonto bei einer Bank in Deutschland haben, können Sie nicht per Banküberweisung ausbezahlt werden.
Warum muß sich das Bankinstitut in Deutschland befinden?
Auszahlungen erfolgen bei Amazon.de ausschließlich in Euro."
Aha.
Man beachte die logische Abfolge: Die Bank muss sich in Deutschland befinden, damit Auszahlungen in Euro erfolgen können. Logische Folgerung: Der Euro ist ein deutsches Zahlungsmittel. Muss ich meiner französischen Bankerin erzählen, die lacht gern.
Übrigens, dieser Text geht nicht in das geistige Eigentum von amazon über. Ich behalte meinen Geist, um in Zukunft solche Beschreibungen besser verstehen zu können!
Kurzum, der Alteuropäer, der sich von amazon.de aus gesehen im Ausland befindet, nämlich in Frankreich, möchte Kontodaten fürs Partnerprogramm eintippen. Und weil man ja alles richtig machen will, liest man sich die Beschreibung vorher durch:
"Gibt es irgendwelche Einschränkungen?
Sollten Sie kein Bankkonto bei einer Bank in Deutschland haben, können Sie nicht per Banküberweisung ausbezahlt werden.
Warum muß sich das Bankinstitut in Deutschland befinden?
Auszahlungen erfolgen bei Amazon.de ausschließlich in Euro."
Aha.
Man beachte die logische Abfolge: Die Bank muss sich in Deutschland befinden, damit Auszahlungen in Euro erfolgen können. Logische Folgerung: Der Euro ist ein deutsches Zahlungsmittel. Muss ich meiner französischen Bankerin erzählen, die lacht gern.
Übrigens, dieser Text geht nicht in das geistige Eigentum von amazon über. Ich behalte meinen Geist, um in Zukunft solche Beschreibungen besser verstehen zu können!
24. Juli 2006
Der Nase nach
Morgens losfahren, solange noch die Felsen nach Wasser riechen. Aber der Geruch hat sich gewandelt: Kondensfeuchtigkeit mit einem muffigen Stich von gebranntem Heu statt Quellfrische. Der Hund hat irgendwo im Auto getrockneten Pansen vergessen, bisher vergeblich danach gesucht, nun entwickelt das kleine Stückchen Elefantenstärke.
Haguenau riecht am Rond Point nach aufgeweichtem Asphalt und Rosen, dort, wo die Flics stehen, weht ein Hauch Rasierwasser in Abgasluft. Die Stadt geht auf die Nase. Weil sich alle fürchten, Menschengeruch zu verbreiten, wahrnehmbar zu werden. Manche drängen sich trotzdem in den Vordergrund, sauer und abgestanden besetzen sie die erste Reihe beim Bäcker und für Hefeduft ist kein Durchkommen mehr gegen die Schweißfront. Es gibt auch die Altschweißigen, die die Aufforderung zum Wassersparen ernst nehmen und sich eine Aura von Haltbarkeit verleihen wollen.
Dann, vor dem Schaufenster, diese Wolke von Maiglöckchen und Blumenwiese. Winterparfum, das völlig enthemmt zum Herbststurm wird und mich fast umfegt. Ich stelle mir eine dürre Blondine im Blümchenkleid vor, die den Duft nutzt, um sich zu etwas mehr körperlicher Präsenz aufzupumpen. Den Typ Frau, der ewig von Busenvergrößerung träumt und von einer lebensfrohen Laszivität, die ihre Magersucht nicht zulässt. Wie man sich in Menschen täuschen kann. Den Duft verweht ein muskelbepackter Sonnenbrillen-Macho in Schwarz. Einer, der mit seiner Haltung zeigen will: ich bin der schönste, schaut mich an, gegen mich sind alle anderen Männer Kanarienvögel. Er riecht wie eine vorzeitig gealterte Lebedame, die ihrem Kanarienvogel Küsschen gibt.
Die Fußgängerzone vor dem Monoprix schüttet ein Cocktail der Sonderangebote von Deos und Wässerchen sämtlicher Supermarktketten aus, während sich die Straße mit der Lingerie und die mit dem Juwelier in Markennamen badet. Abfahrt beim kratzenden Geruch von Betonstaub und glühenden Eisenrohren. Die Kreuzung riecht nach Roma Termini. Der Wald auf der Heimfahrt duftet nach Trockenlaub.
Es ist zu heiß, um genau hinzuschauen.
Haguenau riecht am Rond Point nach aufgeweichtem Asphalt und Rosen, dort, wo die Flics stehen, weht ein Hauch Rasierwasser in Abgasluft. Die Stadt geht auf die Nase. Weil sich alle fürchten, Menschengeruch zu verbreiten, wahrnehmbar zu werden. Manche drängen sich trotzdem in den Vordergrund, sauer und abgestanden besetzen sie die erste Reihe beim Bäcker und für Hefeduft ist kein Durchkommen mehr gegen die Schweißfront. Es gibt auch die Altschweißigen, die die Aufforderung zum Wassersparen ernst nehmen und sich eine Aura von Haltbarkeit verleihen wollen.
Dann, vor dem Schaufenster, diese Wolke von Maiglöckchen und Blumenwiese. Winterparfum, das völlig enthemmt zum Herbststurm wird und mich fast umfegt. Ich stelle mir eine dürre Blondine im Blümchenkleid vor, die den Duft nutzt, um sich zu etwas mehr körperlicher Präsenz aufzupumpen. Den Typ Frau, der ewig von Busenvergrößerung träumt und von einer lebensfrohen Laszivität, die ihre Magersucht nicht zulässt. Wie man sich in Menschen täuschen kann. Den Duft verweht ein muskelbepackter Sonnenbrillen-Macho in Schwarz. Einer, der mit seiner Haltung zeigen will: ich bin der schönste, schaut mich an, gegen mich sind alle anderen Männer Kanarienvögel. Er riecht wie eine vorzeitig gealterte Lebedame, die ihrem Kanarienvogel Küsschen gibt.
Die Fußgängerzone vor dem Monoprix schüttet ein Cocktail der Sonderangebote von Deos und Wässerchen sämtlicher Supermarktketten aus, während sich die Straße mit der Lingerie und die mit dem Juwelier in Markennamen badet. Abfahrt beim kratzenden Geruch von Betonstaub und glühenden Eisenrohren. Die Kreuzung riecht nach Roma Termini. Der Wald auf der Heimfahrt duftet nach Trockenlaub.
Es ist zu heiß, um genau hinzuschauen.
17. Juli 2006
Odyssee ins Ich
Die unterschiedlichen Kritiken, die das Buch bekommen hat, zeigen: man darf keine Scheuklappen beim Lesen haben und keine allzu festgefahrenen religiösen oder ideologischen Meinungen. Denn dieses Buch über die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften zum Bereich des Ich und der Identität kratzt an der Philosophie, bringt so manchen Psychotherapeuten zum Weinen und jede Menge von Pseudomythen aus der Wissenschaft zu Fall.
Die beiden Focus-Redakteure haben schlichtweg einen Wissenschaftsthriller geschrieben. Verständlich auch für Leute, die sich bisher mit den genannten Wissenschaften nie beschäftigt haben, absolut packend von der ersten Seite an. Schließlich können sich die beiden an einem riesigen Fundus aus ihrer Arbeit bedienen. Zugegeben... manches ist fast ein wenig zu spektakulär, viele Fälle scheinen so exotisch, dass man sie kaum glauben mag. Aber am Extrem lernt es sich bekanntlich am leichtesten, was den gesunden Zustand ausmacht.
Wer etwas länger über den Film "Matrix" nachgedacht hat, wer gerne über das Ich philosophiert und wissen will, wo die Grenzen zwischen Traum und Realität und inzwischen auch Virtualität verlaufen, ist bei diesem Buch genau richtig. Für Autoren, die wissen wollen, woraus das Ich geformt wird und wie eine Figur im wahren Leben entsteht, ist das Buch ein Must.
Auch wenn Siefer und Weber Hypothesen und Theorien darstellen - ihnen ist sehr bewusst, dass es nur solche sind. Das Fazit, dass der Mensch sich ständig neu selbst erfindet und damit auch frei ist, etwas anderes aus sich zu machen, ist so neu nicht. In seiner wissenschaftlichen Aufschlüsselung könnte es jedoch ganze Denkwelten zum Einstürzen bringen. So belegen die Autoren z.B. eindrücklich, welchen Irrtum man uns einimpfen will, wenn man behauptet, ältere Menschen könnten sich nicht vollkommen ändern, auch charakterlich.
Die Wissenschaft findet nun heraus... dass einfach die Wege, das zu tun, falsch waren. Therapeuten, die auf reine Gesprächstherapien und theoretisches Nachdenken bauen, werden morgen vielleicht zum Arbeitsamt gehen müssen. Oder rechtzeitig umlernen und sehen: neue Gehirnverbindungen bilden sich durch Handeln, durch Training, nicht auf der Couch.
Ebenso spannend die Odyssee ins Thema Verdrängungen und Aufarbeitungen. Von der neuesten Hirnforschung aus gesehen, sollte man sich seine persönlichen Krisen jedenfalls keineswegs schlechtreden lassen - sie können ein besserer Synapsencocktail sein als das leichte Leben.
Das Buch beschäftigt sich außerdem mit der Selbstinszenierung durch soziale Identität, mit erfundenen Erinnerungen zur eigenen Geschichte und mit der Suche nach dem Selbstbewusstsein, mit Sinnkrise und mystischen Antworten im Spiegel der Wissenschaft. Und so, wie das Buch aufräumt mit absoluten Glaubenssätzen der letzten Jahre, so unbequem lässt es den Leser zurück: auch diese Thesen sind nicht absolut, dürfen hinterfragt werden.
Am Ende steht nicht die Frage "wer bin ich?" - sondern die Frage "wer will ich sein, wer könnte ich werden"? Meiner Meinung nach ein Sachbuch mit echten Thrillerqualitäten!
Werner Siefer / Christian Weber: Ich. Wie wir uns selbst erfinden (campus)
Die beiden Focus-Redakteure haben schlichtweg einen Wissenschaftsthriller geschrieben. Verständlich auch für Leute, die sich bisher mit den genannten Wissenschaften nie beschäftigt haben, absolut packend von der ersten Seite an. Schließlich können sich die beiden an einem riesigen Fundus aus ihrer Arbeit bedienen. Zugegeben... manches ist fast ein wenig zu spektakulär, viele Fälle scheinen so exotisch, dass man sie kaum glauben mag. Aber am Extrem lernt es sich bekanntlich am leichtesten, was den gesunden Zustand ausmacht.
Wer etwas länger über den Film "Matrix" nachgedacht hat, wer gerne über das Ich philosophiert und wissen will, wo die Grenzen zwischen Traum und Realität und inzwischen auch Virtualität verlaufen, ist bei diesem Buch genau richtig. Für Autoren, die wissen wollen, woraus das Ich geformt wird und wie eine Figur im wahren Leben entsteht, ist das Buch ein Must.
Auch wenn Siefer und Weber Hypothesen und Theorien darstellen - ihnen ist sehr bewusst, dass es nur solche sind. Das Fazit, dass der Mensch sich ständig neu selbst erfindet und damit auch frei ist, etwas anderes aus sich zu machen, ist so neu nicht. In seiner wissenschaftlichen Aufschlüsselung könnte es jedoch ganze Denkwelten zum Einstürzen bringen. So belegen die Autoren z.B. eindrücklich, welchen Irrtum man uns einimpfen will, wenn man behauptet, ältere Menschen könnten sich nicht vollkommen ändern, auch charakterlich.
Die Wissenschaft findet nun heraus... dass einfach die Wege, das zu tun, falsch waren. Therapeuten, die auf reine Gesprächstherapien und theoretisches Nachdenken bauen, werden morgen vielleicht zum Arbeitsamt gehen müssen. Oder rechtzeitig umlernen und sehen: neue Gehirnverbindungen bilden sich durch Handeln, durch Training, nicht auf der Couch.
Ebenso spannend die Odyssee ins Thema Verdrängungen und Aufarbeitungen. Von der neuesten Hirnforschung aus gesehen, sollte man sich seine persönlichen Krisen jedenfalls keineswegs schlechtreden lassen - sie können ein besserer Synapsencocktail sein als das leichte Leben.
Das Buch beschäftigt sich außerdem mit der Selbstinszenierung durch soziale Identität, mit erfundenen Erinnerungen zur eigenen Geschichte und mit der Suche nach dem Selbstbewusstsein, mit Sinnkrise und mystischen Antworten im Spiegel der Wissenschaft. Und so, wie das Buch aufräumt mit absoluten Glaubenssätzen der letzten Jahre, so unbequem lässt es den Leser zurück: auch diese Thesen sind nicht absolut, dürfen hinterfragt werden.
Am Ende steht nicht die Frage "wer bin ich?" - sondern die Frage "wer will ich sein, wer könnte ich werden"? Meiner Meinung nach ein Sachbuch mit echten Thrillerqualitäten!
Werner Siefer / Christian Weber: Ich. Wie wir uns selbst erfinden (campus)
Schreiben lernen? / Buchtipp
Umberto Eco hat seine Nachschrift zum "Namen der Rose", einem 95seitigen Bändchen, eigentlich geschrieben, um zu erklären, wie es zu dem Bestseller kam. Was er erzählt, ist für Autoren von HRs besonders interessant, aber so allgemeingültig, dass jeder Belletrist etwas darin finden wird.
Man kann Mäuschen beim großen Kollegen spielen, etwa erfahren, wie er zum Titel und damit zur Romanidee kam, welche Gedanken ihm bei den Rezensionen kamen oder warum es ausreicht, einen Roman zu schreiben, nur weil man Lust auf ihn hat. Er erzählt von seinen Recherchen und wie er mit den Emotionen seiner Figuren kämpfte.
Darüberhinaus kann man das Buch tatsächlich als Schreibschule lesen. Was zeigt Eco darin?
- den Zusammenhang zwischen dem Sinn des Romans und dem eigenen Titel (der bei ihm idealerweise blieb)
- Neue Lesarten durch Rezeption, vor allem bei Rezensenten, und die Wirkung auf den Autor. (Köstliche Schlussfolgerung: "Der Autor müsste das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.")
- die Frage, ob ein Autor beim Schreiben interpretieren darf
- den Umgang mit Regeln und Problemstellungen ("Genie ist zehn Prozent Inpiration und neunzig Prozent Transpiration.")
- das Lustprinzip beim Erzählen und die Enstehung vom Ideenkeim zum Buch
- Einflüsse der Recherche auf den Inhalt
- das Finden der Erzählstimme, vor allem einer historischen
- den Umgang mit den eigenen Ängsten
- den kosmologischen Akt des Schreibens (und warum man sich Beschränkungen auferlegen muss, um frei zu erfinden)
- die Wahl von Zeit, Ort, Figuren, Stil etc.
- erzählerischen Atem und Rhythmus
- wie man sich einen Leser schafft (und damit ist er herrlich konträr zum Sicherheitsbedürfnis derer, die am liebsten vorher Marktanalysen machen)
- die Metaphysik des Kriminalromans
- wie man Unterhaltung schafft und was das eigentlich ist
- Ironie und Vergnügen
- und natürlich noch Gedanken zum historischen Roman an sich, die er ganz typisch einleitet: "Seit zwei Jahren weigere ich mich, auf sinnlose Fragen zu antworten."
Ein kurzweiliges dünnes Bändchen, in dem ich mehr Anregungen für mich gefunden habe als in jedem dicken Schreibratgeber - und in dem man sich als Hadernder und Strebender auch so herrlich verstanden fühlt.
Man kann Mäuschen beim großen Kollegen spielen, etwa erfahren, wie er zum Titel und damit zur Romanidee kam, welche Gedanken ihm bei den Rezensionen kamen oder warum es ausreicht, einen Roman zu schreiben, nur weil man Lust auf ihn hat. Er erzählt von seinen Recherchen und wie er mit den Emotionen seiner Figuren kämpfte.
Darüberhinaus kann man das Buch tatsächlich als Schreibschule lesen. Was zeigt Eco darin?
- den Zusammenhang zwischen dem Sinn des Romans und dem eigenen Titel (der bei ihm idealerweise blieb)
- Neue Lesarten durch Rezeption, vor allem bei Rezensenten, und die Wirkung auf den Autor. (Köstliche Schlussfolgerung: "Der Autor müsste das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.")
- die Frage, ob ein Autor beim Schreiben interpretieren darf
- den Umgang mit Regeln und Problemstellungen ("Genie ist zehn Prozent Inpiration und neunzig Prozent Transpiration.")
- das Lustprinzip beim Erzählen und die Enstehung vom Ideenkeim zum Buch
- Einflüsse der Recherche auf den Inhalt
- das Finden der Erzählstimme, vor allem einer historischen
- den Umgang mit den eigenen Ängsten
- den kosmologischen Akt des Schreibens (und warum man sich Beschränkungen auferlegen muss, um frei zu erfinden)
- die Wahl von Zeit, Ort, Figuren, Stil etc.
- erzählerischen Atem und Rhythmus
- wie man sich einen Leser schafft (und damit ist er herrlich konträr zum Sicherheitsbedürfnis derer, die am liebsten vorher Marktanalysen machen)
- die Metaphysik des Kriminalromans
- wie man Unterhaltung schafft und was das eigentlich ist
- Ironie und Vergnügen
- und natürlich noch Gedanken zum historischen Roman an sich, die er ganz typisch einleitet: "Seit zwei Jahren weigere ich mich, auf sinnlose Fragen zu antworten."
Ein kurzweiliges dünnes Bändchen, in dem ich mehr Anregungen für mich gefunden habe als in jedem dicken Schreibratgeber - und in dem man sich als Hadernder und Strebender auch so herrlich verstanden fühlt.
Kilometer Literatur
Ich weiß, das haptische Gefühl eines Buches ist unvergleichbar. Manchmal hat man als Autor, vor allem in rechercheintensiven Bereichen, jedoch andere Anforderungen an den Bücherschrank.
Mir geht es so, dass ich schnell mal alle Klassiker quer nach einem Sujet durchsuchen muss. Oder ich hätte gern einen Überblick, wie Autoren aus unterschiedlichen Jahrhunderten mit einem Thema umgegangen sind. Vielleicht möchte ich mir auch nur lernend eine Übersicht über Literatur verschaffen.
Bisher hieß das: Ungeheurer Zeitaufwand, Kosten, Fahrten... und privat war so eine Bibliothek nicht nur unerschwinglich, sondern in einer Wohnung auch gar nicht unterzubringen.
Mit den Ausgaben der Digitalen Bibliothek ist das ganz anders geworden.
Die digitale Bibliothek bietet im Großen und Ganzen folgende Fachbereiche:
Literatur, Kunst, Musik und Naturwissenschaften, wobei die Literaturausgaben im Vordergrund stehen. "Gedruckt" wird auf CD-ROM oder DVD. Es handelt sich um rechtefreie Werke oder eigene Ausgaben, die Lizenzen für den eigenen kommerziellen Gebrauch (etwa in Büchern) sind erstaunlich preiswert.
Am Beispiel "Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke" - was erwartet einen:
Eine in edler Buchaufmachung verpackte CD-ROM, kompatibel auch für alte Kisten, die zunächst das grundprogramm der digibib installiert. Das liegt allen Erzeugnissen zugrunde und bietet eine intuitiv sehr einfache Struktur, nicht nur zu blättern, vergrößern oder navigieren.
Hauptvorteile sind eine detaillierte Suchmaske. Man kann nach Zitaten, Schlagwörtern oder mit Pltzhaltern suchen, auch schreibweisentolerant. Die Fundstellen werden im Nu gelistet und sind als Datei abspeicherbar. Außerdem können Texte markiert werden, Markierungen in Listen verwaltet und sogar kommentiert werden - alles ebenfalls abspeicherbar.
Ebenfalls ein Vorteil, den Papier nicht hat: Beim Drucken von Textstellen oder beim copy&paste-Export ins eigene Textverarbeitungsprogramm setzt eine Konkordanz automatisch die genaue Quelle zum Zitat, genau bis zur Seitenzahl.
Die Gedichte selbst lassen sich nach Titeln oder Autoren sortieren. Zu jedem Autor gibt es eine Biografie und Einführung.
Der genannte 75. Band der digibib enthält 53.000 Gedichte von 207 Autoren aus 500 Gedichtsammlungen. Er beginnt mit den ersten neuhochdeutschen Dichtungen des 16. Jhdts. und reicht bis ins 20. Jhdt.
Die CD-Rom ist damit die größte Gedichtsammlung, die je im deutschen Sprachraum erschienen ist - und da nimmt sie im Vergleich erstaunlich wenig Platz in der Bibliothek weg!
Dargestellt werden die Texte übrigens als eingescannte Buchseiten, die sich auch vergrößern lassen - also mit "Papierfeeling".
Die Kunst-DVDs habe ich auch ausprobiert, unverzichtbar, wenn man mit Illustrtionen arbeiten will. Hier ist der einzige Wermutstropfen der, dass die Fotografien und Scans technisch nicht immer die Qualität haben, die wir von Star-Kunstfotografen her kennen. Die "schlechteren Exemplare" (es sind nur wenige) reichen allemal aus für Recherche und erste Eindrücke. Für einen Prachtband wird man wahrscheinlich eher die teure Lizenz einer Kunstagentur beorzugen. Für normalen Buchdruck und Kleinabbbildungen reicht die Qualität.
Dafür findet man hier Abbildungen, die in den meisten Katalogen fehlen oder recht unbekannt sind. Auf der DVD "Ikonenmalerei" hat man z.B. das vergnügen, Fotos von bisher unbekannten Fresken und Ikonen zu finden, die bisher unbekannt waren.
Ich kann die digibib uneingeschränkt empfehlen.
Mir geht es so, dass ich schnell mal alle Klassiker quer nach einem Sujet durchsuchen muss. Oder ich hätte gern einen Überblick, wie Autoren aus unterschiedlichen Jahrhunderten mit einem Thema umgegangen sind. Vielleicht möchte ich mir auch nur lernend eine Übersicht über Literatur verschaffen.
Bisher hieß das: Ungeheurer Zeitaufwand, Kosten, Fahrten... und privat war so eine Bibliothek nicht nur unerschwinglich, sondern in einer Wohnung auch gar nicht unterzubringen.
Mit den Ausgaben der Digitalen Bibliothek ist das ganz anders geworden.
Die digitale Bibliothek bietet im Großen und Ganzen folgende Fachbereiche:
Literatur, Kunst, Musik und Naturwissenschaften, wobei die Literaturausgaben im Vordergrund stehen. "Gedruckt" wird auf CD-ROM oder DVD. Es handelt sich um rechtefreie Werke oder eigene Ausgaben, die Lizenzen für den eigenen kommerziellen Gebrauch (etwa in Büchern) sind erstaunlich preiswert.
Am Beispiel "Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke" - was erwartet einen:
Eine in edler Buchaufmachung verpackte CD-ROM, kompatibel auch für alte Kisten, die zunächst das grundprogramm der digibib installiert. Das liegt allen Erzeugnissen zugrunde und bietet eine intuitiv sehr einfache Struktur, nicht nur zu blättern, vergrößern oder navigieren.
Hauptvorteile sind eine detaillierte Suchmaske. Man kann nach Zitaten, Schlagwörtern oder mit Pltzhaltern suchen, auch schreibweisentolerant. Die Fundstellen werden im Nu gelistet und sind als Datei abspeicherbar. Außerdem können Texte markiert werden, Markierungen in Listen verwaltet und sogar kommentiert werden - alles ebenfalls abspeicherbar.
Ebenfalls ein Vorteil, den Papier nicht hat: Beim Drucken von Textstellen oder beim copy&paste-Export ins eigene Textverarbeitungsprogramm setzt eine Konkordanz automatisch die genaue Quelle zum Zitat, genau bis zur Seitenzahl.
Die Gedichte selbst lassen sich nach Titeln oder Autoren sortieren. Zu jedem Autor gibt es eine Biografie und Einführung.
Der genannte 75. Band der digibib enthält 53.000 Gedichte von 207 Autoren aus 500 Gedichtsammlungen. Er beginnt mit den ersten neuhochdeutschen Dichtungen des 16. Jhdts. und reicht bis ins 20. Jhdt.
Die CD-Rom ist damit die größte Gedichtsammlung, die je im deutschen Sprachraum erschienen ist - und da nimmt sie im Vergleich erstaunlich wenig Platz in der Bibliothek weg!
Dargestellt werden die Texte übrigens als eingescannte Buchseiten, die sich auch vergrößern lassen - also mit "Papierfeeling".
Die Kunst-DVDs habe ich auch ausprobiert, unverzichtbar, wenn man mit Illustrtionen arbeiten will. Hier ist der einzige Wermutstropfen der, dass die Fotografien und Scans technisch nicht immer die Qualität haben, die wir von Star-Kunstfotografen her kennen. Die "schlechteren Exemplare" (es sind nur wenige) reichen allemal aus für Recherche und erste Eindrücke. Für einen Prachtband wird man wahrscheinlich eher die teure Lizenz einer Kunstagentur beorzugen. Für normalen Buchdruck und Kleinabbbildungen reicht die Qualität.
Dafür findet man hier Abbildungen, die in den meisten Katalogen fehlen oder recht unbekannt sind. Auf der DVD "Ikonenmalerei" hat man z.B. das vergnügen, Fotos von bisher unbekannten Fresken und Ikonen zu finden, die bisher unbekannt waren.
Ich kann die digibib uneingeschränkt empfehlen.
Kaya und Bregovic / Musik
Die Mischung ist außergewöhnlich. Die bekannte polnische Sängerin Kayah trifft auf Goran Bregovic, der im Westen durch seine wild-emotionale Musik zu Filmen von Emir Kusturica berühmt wurde. Dazu noch ein Goralenensemble, das selbst für polnische Ohren exotisch klingt. Die Goralen sind eine ethnische Minderheit in der Tatra, musikalisch etwa das, was Bayern für Deutsche bedeuten... aber gern mal mit Ausflügen in die Weltenmusik und den Jazz.
Was dabei herauskommt, ist ein eigenartiges Schweben zwischen Istanbul und Belgrad, Warschau und Athen, Polen und Serbien - das seine Feinheiten beim zweiten Hören besonders entfaltet.
Die polnische Iggy-Pop-Adaption von "sleep my dearest, sleep" schlängelt sich durch orientalische Bazare und quillt wie das Leben in Istanbuls Straßen. Anstatt zu schlafen, wird man eher zum Bauchtanz verführt.
"To nie ptak" kommt lyrisch daher, zart, besticht mit Kayas Stimme und russisch anmutendem Chor. Dafür schüttelt "sto lat" den ganzen Körper in Tanzlaune - diese Klänge kennen wir aus Kusturicas schrägen Filmen. Zwischen Zigeunerwehmut und jiddisch anmutendem Schmelz das mehrstimmige "a rose was I" - und Kayas nachdenkliche Stimme zu überraschenden Kontrabassklängen in "trudno kocha´c".
So viel wäre zu sagen... ein abwechslungsreiches Album mit vielen leisen Zwischentönen, nie ihre tanzende Beschwingtheit verlierend, aber auch mit vehementer Lebensfreude und einer Trauer, die im gleichen Augenblick in Glück umschlagen kann. Weltenmusik mit einem starken polnischen Stempel, der Ofra Hazas "Elo Ili" an die Weichsel zaubert und aus dem berühmten Zigeuner-Trauergesang "Ederlezi" eine erstaunlich lebenslustige Angelegenheit macht.
Mein absoluter Favorit "Tabakiera", ein Tango, der so leicht durch die Luft zu schweben scheint und doch alles hat: Melancholie, Sehnsucht, Erinnerung, Freude, Leichtigkeit. Suchtmusik.
Was dabei herauskommt, ist ein eigenartiges Schweben zwischen Istanbul und Belgrad, Warschau und Athen, Polen und Serbien - das seine Feinheiten beim zweiten Hören besonders entfaltet.
Die polnische Iggy-Pop-Adaption von "sleep my dearest, sleep" schlängelt sich durch orientalische Bazare und quillt wie das Leben in Istanbuls Straßen. Anstatt zu schlafen, wird man eher zum Bauchtanz verführt.
"To nie ptak" kommt lyrisch daher, zart, besticht mit Kayas Stimme und russisch anmutendem Chor. Dafür schüttelt "sto lat" den ganzen Körper in Tanzlaune - diese Klänge kennen wir aus Kusturicas schrägen Filmen. Zwischen Zigeunerwehmut und jiddisch anmutendem Schmelz das mehrstimmige "a rose was I" - und Kayas nachdenkliche Stimme zu überraschenden Kontrabassklängen in "trudno kocha´c".
So viel wäre zu sagen... ein abwechslungsreiches Album mit vielen leisen Zwischentönen, nie ihre tanzende Beschwingtheit verlierend, aber auch mit vehementer Lebensfreude und einer Trauer, die im gleichen Augenblick in Glück umschlagen kann. Weltenmusik mit einem starken polnischen Stempel, der Ofra Hazas "Elo Ili" an die Weichsel zaubert und aus dem berühmten Zigeuner-Trauergesang "Ederlezi" eine erstaunlich lebenslustige Angelegenheit macht.
Mein absoluter Favorit "Tabakiera", ein Tango, der so leicht durch die Luft zu schweben scheint und doch alles hat: Melancholie, Sehnsucht, Erinnerung, Freude, Leichtigkeit. Suchtmusik.
Kleine Ängste
Und beim Umstellen auf den neuen Blog, im alten blätternd, finde ich: War das noch schön, als wir uns nur vor der Vogelgrippe fürchten mussten!
Plot-Infarkt
Kolonialismus liegt im Trend. In Frankreich brennen die Folgen, in der Literatur werden die dunklen Kapitel aufgearbeitet und im deutschen Vorabendprogramm suhlt man sich in Melodramen kolonialer Herrlichkeit. Ob "Weites Land" oder "Unendliche Dünen", oder ob "Mein Herz gehört ihm" auf einen Missionar oder Farmer bezogen ist - die Tourismusindustrie Südafrikas jubelt über die zur besten Sendezeit platzierten Prospektaufnahmen.
Die Marketingabteilung der ARD empfand sich wahrscheinlich als oberschlau, nach dem Erfolg der "weißen Massai" jetzt "Der weiße Afrikaner" zu präsentieren. Zweiteiler. Teuer besetzt und noch teurer abgedreht. Das kommt vor, zumal um Weihnachten herum. Aber leider ging dann wohl das Geld aus und so hat man gegen Ende eben am Plot gespart. Man kann ja nicht alles können.
Dabei war der Plot so einfach. Abenteurer in Indiana-Jones-Pose trifft auf erbitterten Gegner, der dramatischerweise sein Halbbruder ist und von Dagobert Duck wirklich alles abgeschaut hat. Und weil der Kampf so bitter ist und sich über zwei Teile hinzieht, schenkt man den Guten ein treues Männerkleeblatt, gibt dem Bösen einen Bösen hinzu, den man aber wieder aus der Story entfernt, weil der Böse allein böse sein muss.
Ach, und weil das alles melodramatisch sein muss, wie jeder Kolonialfilm, mischen noch zwei Frauen mit. Sie ahnen es: die eine steht zwischen dem einen Bösen und dem anderen Bösen und dem Guten. Soviel Zwischenstehen muss einen ja zerreißen, also stirbt sie, melodramatisch natürlich, nachdem sie erst mal stundenlang in der sengenden Hitze mit dem Teil eines Automotoren im Bauch in der Geröllwüste herumgestakst ist.
Die andere ist schlauer, hält sich an den Bodenständigen und liebt leidend. Schließlich wächst sie sogar über ihre passive Frauenrolle hinaus, indem sie eine Tür streicht - in greller afrikanischer Mittagssonne.
Über Afrika muss man nicht viel sagen. Es kommt eigentlich im Film nicht vor. Der Film hätte in Australien spielen können, im Wilden Westen. Afrika ist Kulisse, ein paar Schwarze rennen ab und zu verschönernd als Kontrast durchs heftig kolorierte Bild. Mehr ist auch nicht nötig, denn der Film spielt unter Weißen. Apartheit eben. Das war damals so, als die Welt noch in Ordnung war für die Herren. Und im Film muss auch die Ordnung vorherrschen.
Also macht sich der Regisseur keine Gedanken, warum der schwarze Freund des weißen Afrikaners so selbstverständlich und unbehelligt in der weißen Welt herumlatschen darf und was die Weißen so mit den Schwarzen trieben, damals. Immerhin sponsert ja auch Südafrika den Film, dazu die beste Abendzeit, Kinderstunde. Nur keine Wirklichkeit einströmen lassen. Afrika ist das Mitleid um einen alten Löwen und die Verheißung eines Kontinents, den der Gute ausbeuten darf, im Wettrennen mit dem Bösen. Afrika legt sich hin für die Geologen und macht die Beine breit: Nehmt mich! Und die Weißen sind hin und weg und schürfen, was der Meißel hält...
Da hängt er dann endgültig, der arme Plot. Die Fernsehzuschauer, die sich in den aufregenden Glamour der Apartheidgesellschaft um den ersten Weltkrieg herum wünschen, kauen sich zwei Folgen lang verzweifelt die Fingernägel ab, weil Donald Duck eine Mine findet und Dagobert Duck sie ihm wieder wegnimmt. Donald findet eine neue Mine, Dagobert nimmt sie etc. pp. Dann kriegt der Bedauernswerte mit dem gepflegten Dreitagesbart auch noch Malaria und nicht die richtige Frau. Dammich nochmal. Wenigstens das letzte Mal muss es gelingen, unter Einsatz eines Stunts!
Nein. Es gelang ihm nicht. Der Böse war wieder schneller. Drei Minuten vor Schluss eines Zweiteilers! Was tun? Was macht man mit einem verfahrenen Drehbuch, dass integer an einer Echtlebenvorlage kleben will und das Timing verpasst hat? Für echtes Melodram und Katastrophenende sind die Deutschen nicht mutig genug.
Also blicken der Weiße und der Scharze über die unendlichen Weiten und der Weiße nuschelt einen unverständlichen Satz... oder war die Musik wieder zu laut? Nur noch zwei Minuten. Der Schwarze fragt etwas, in der Art: "Und wat nu?" Das fragt sich der Zuschauer schon lange. Noch eine Minute. Der Weiße will weiter. Unendliche Weite, unendliche Dünen, mein Herz gehört dir, oh Afrika. Nein, das hat er nicht gesagt, dazu blieb keine Zeit mehr. Der Film war aus.
Und weil der Drehbuchschreiber den Plot so schön abgesägt hat, durfte dann der Abspannschreiber die missratene Story retten. Wer fähig war, das Kleingeduckte des Films vor bunter Afrikafassade zu entziffern, erfuhr, dass der Gute doch noch irgenwann Diamanten gefunden hat und außerdem über 80 Jahre alt wurde. Wenn das kein Happy End ist! Er hätte außerdem nie geheiratet. So sagt man zur Kinderstunde, wenn einer mit drei Männern zusammenlebt.
Welch ein Leben. Welche Größe! Welche Güte! Welch ein Afrika! Welch ein Plot...
Die Marketingabteilung der ARD empfand sich wahrscheinlich als oberschlau, nach dem Erfolg der "weißen Massai" jetzt "Der weiße Afrikaner" zu präsentieren. Zweiteiler. Teuer besetzt und noch teurer abgedreht. Das kommt vor, zumal um Weihnachten herum. Aber leider ging dann wohl das Geld aus und so hat man gegen Ende eben am Plot gespart. Man kann ja nicht alles können.
Dabei war der Plot so einfach. Abenteurer in Indiana-Jones-Pose trifft auf erbitterten Gegner, der dramatischerweise sein Halbbruder ist und von Dagobert Duck wirklich alles abgeschaut hat. Und weil der Kampf so bitter ist und sich über zwei Teile hinzieht, schenkt man den Guten ein treues Männerkleeblatt, gibt dem Bösen einen Bösen hinzu, den man aber wieder aus der Story entfernt, weil der Böse allein böse sein muss.
Ach, und weil das alles melodramatisch sein muss, wie jeder Kolonialfilm, mischen noch zwei Frauen mit. Sie ahnen es: die eine steht zwischen dem einen Bösen und dem anderen Bösen und dem Guten. Soviel Zwischenstehen muss einen ja zerreißen, also stirbt sie, melodramatisch natürlich, nachdem sie erst mal stundenlang in der sengenden Hitze mit dem Teil eines Automotoren im Bauch in der Geröllwüste herumgestakst ist.
Die andere ist schlauer, hält sich an den Bodenständigen und liebt leidend. Schließlich wächst sie sogar über ihre passive Frauenrolle hinaus, indem sie eine Tür streicht - in greller afrikanischer Mittagssonne.
Über Afrika muss man nicht viel sagen. Es kommt eigentlich im Film nicht vor. Der Film hätte in Australien spielen können, im Wilden Westen. Afrika ist Kulisse, ein paar Schwarze rennen ab und zu verschönernd als Kontrast durchs heftig kolorierte Bild. Mehr ist auch nicht nötig, denn der Film spielt unter Weißen. Apartheit eben. Das war damals so, als die Welt noch in Ordnung war für die Herren. Und im Film muss auch die Ordnung vorherrschen.
Also macht sich der Regisseur keine Gedanken, warum der schwarze Freund des weißen Afrikaners so selbstverständlich und unbehelligt in der weißen Welt herumlatschen darf und was die Weißen so mit den Schwarzen trieben, damals. Immerhin sponsert ja auch Südafrika den Film, dazu die beste Abendzeit, Kinderstunde. Nur keine Wirklichkeit einströmen lassen. Afrika ist das Mitleid um einen alten Löwen und die Verheißung eines Kontinents, den der Gute ausbeuten darf, im Wettrennen mit dem Bösen. Afrika legt sich hin für die Geologen und macht die Beine breit: Nehmt mich! Und die Weißen sind hin und weg und schürfen, was der Meißel hält...
Da hängt er dann endgültig, der arme Plot. Die Fernsehzuschauer, die sich in den aufregenden Glamour der Apartheidgesellschaft um den ersten Weltkrieg herum wünschen, kauen sich zwei Folgen lang verzweifelt die Fingernägel ab, weil Donald Duck eine Mine findet und Dagobert Duck sie ihm wieder wegnimmt. Donald findet eine neue Mine, Dagobert nimmt sie etc. pp. Dann kriegt der Bedauernswerte mit dem gepflegten Dreitagesbart auch noch Malaria und nicht die richtige Frau. Dammich nochmal. Wenigstens das letzte Mal muss es gelingen, unter Einsatz eines Stunts!
Nein. Es gelang ihm nicht. Der Böse war wieder schneller. Drei Minuten vor Schluss eines Zweiteilers! Was tun? Was macht man mit einem verfahrenen Drehbuch, dass integer an einer Echtlebenvorlage kleben will und das Timing verpasst hat? Für echtes Melodram und Katastrophenende sind die Deutschen nicht mutig genug.
Also blicken der Weiße und der Scharze über die unendlichen Weiten und der Weiße nuschelt einen unverständlichen Satz... oder war die Musik wieder zu laut? Nur noch zwei Minuten. Der Schwarze fragt etwas, in der Art: "Und wat nu?" Das fragt sich der Zuschauer schon lange. Noch eine Minute. Der Weiße will weiter. Unendliche Weite, unendliche Dünen, mein Herz gehört dir, oh Afrika. Nein, das hat er nicht gesagt, dazu blieb keine Zeit mehr. Der Film war aus.
Und weil der Drehbuchschreiber den Plot so schön abgesägt hat, durfte dann der Abspannschreiber die missratene Story retten. Wer fähig war, das Kleingeduckte des Films vor bunter Afrikafassade zu entziffern, erfuhr, dass der Gute doch noch irgenwann Diamanten gefunden hat und außerdem über 80 Jahre alt wurde. Wenn das kein Happy End ist! Er hätte außerdem nie geheiratet. So sagt man zur Kinderstunde, wenn einer mit drei Männern zusammenlebt.
Welch ein Leben. Welche Größe! Welche Güte! Welch ein Afrika! Welch ein Plot...
Rasante Dialoge
Dialogschule am lebenden Objekt:
Es wird zu wenig getan für die Alten. Wirklich? Frank Schirrmacher hätte seine helle Freude an einer deutschen Krimiserie, deren Drehbuchautoren es fertigbringen, einen Ermittler kurz vor der Rente mit seinem Team so klingen zu lassen wie die Laienspielgruppe eines Demenzaltenheims. Und damit es auch jeder merkt, dass es in diesen Folgen gemächlicher zugeht als im echten Polizeileben, heißt die Serie folgerichtig "Der Alte".
Ich möchte hier einige wiederkehrende Dialogfetzen zitieren, mit denen man bausteinartig jeden beliebigen Krimi für jenen entschleunigten Vorabend basteln kann. Do it yourself!
"Ich geh dann mal." (Kommissar geht aus Bild)
"Also, in einer Stunde im Präsidium" (Überleitung für Schnitt auf Präsidium, eine Stunde später)
"Ich hab mir solche Sorgen gemacht." (Idealer Satz, weil man ihn dem Mörder, dem Opfer oder dem Kommissar in den Mund legen kann und er die Mimik erklärt)
"Wir kommen sofort" (Das muss man bei dieser Altersrasanz wirklich betonen!)
"Wann krieg ich den Obduktionsbericht?" (Darüber kann nicht mal der Pathologe mehr lachen).
"Ach ja, ich hab zwei Zeugen." (Diese Beiläufigkeit des Unerwarteten! Diese in Stein gehauene Überraschung! Diese Steigerung... gleich zwei! All die Worte zwischen den Zeilen... hören wir da nicht eine Anfrage um Gehaltserhöhung?)
"Heute noch?" - "Wenn's geht, ja" (Hier macht der Ältere dem Jüngeren Beine! Das ist Zukunft, das sind die grauen Panther mit Biß, zupackend, zielgerichtet, effektiv.)
"Nehmt ihr euch den heute noch vor?" (Aaaahh... diese fast nicht auszuhaltende innere Spannung zwischen der Radikalität des Vornehmens und der Relativität des Heute!)
"Na klar, wenn wir ihn kriegen?" (Suspense pur... die Steigerung der vorherigen Spannung... Wunschdenken trifft auf Zuschauererwartung und reibt sich am Alltag, nicht auszuhalten mit schwachen Nerven!)
"Aha, und warum?" (Mein Lieblingssatz. Allround. Griffig. Philosophisch.)
Aha, und warum darf der arme Alte nicht endlich in Rente gehen?
Es wird zu wenig getan für die Alten. Wirklich? Frank Schirrmacher hätte seine helle Freude an einer deutschen Krimiserie, deren Drehbuchautoren es fertigbringen, einen Ermittler kurz vor der Rente mit seinem Team so klingen zu lassen wie die Laienspielgruppe eines Demenzaltenheims. Und damit es auch jeder merkt, dass es in diesen Folgen gemächlicher zugeht als im echten Polizeileben, heißt die Serie folgerichtig "Der Alte".
Ich möchte hier einige wiederkehrende Dialogfetzen zitieren, mit denen man bausteinartig jeden beliebigen Krimi für jenen entschleunigten Vorabend basteln kann. Do it yourself!
"Ich geh dann mal." (Kommissar geht aus Bild)
"Also, in einer Stunde im Präsidium" (Überleitung für Schnitt auf Präsidium, eine Stunde später)
"Ich hab mir solche Sorgen gemacht." (Idealer Satz, weil man ihn dem Mörder, dem Opfer oder dem Kommissar in den Mund legen kann und er die Mimik erklärt)
"Wir kommen sofort" (Das muss man bei dieser Altersrasanz wirklich betonen!)
"Wann krieg ich den Obduktionsbericht?" (Darüber kann nicht mal der Pathologe mehr lachen).
"Ach ja, ich hab zwei Zeugen." (Diese Beiläufigkeit des Unerwarteten! Diese in Stein gehauene Überraschung! Diese Steigerung... gleich zwei! All die Worte zwischen den Zeilen... hören wir da nicht eine Anfrage um Gehaltserhöhung?)
"Heute noch?" - "Wenn's geht, ja" (Hier macht der Ältere dem Jüngeren Beine! Das ist Zukunft, das sind die grauen Panther mit Biß, zupackend, zielgerichtet, effektiv.)
"Nehmt ihr euch den heute noch vor?" (Aaaahh... diese fast nicht auszuhaltende innere Spannung zwischen der Radikalität des Vornehmens und der Relativität des Heute!)
"Na klar, wenn wir ihn kriegen?" (Suspense pur... die Steigerung der vorherigen Spannung... Wunschdenken trifft auf Zuschauererwartung und reibt sich am Alltag, nicht auszuhalten mit schwachen Nerven!)
"Aha, und warum?" (Mein Lieblingssatz. Allround. Griffig. Philosophisch.)
Aha, und warum darf der arme Alte nicht endlich in Rente gehen?
Spreizsprech
Wer weiß, was ein wibbeliges Bed-in ist? Wer hielt schon einmal einen Beschäftigungsgutschein in Händen, wohnt in Bimbesheim und leidet an einem Kopfcrash vom letzten Anklickzwang? Wie wär's mit einem Upside-down-Weihnachtsbaum und einem Menschautomat in der Küche?
Das Seminar für Sprachwissenschaft an der Uni Tübingen spürt im Netz neue und dampfgeplauderte Spreizsprechwörter auf.
Viel Spaß bei der Weiterbildung... äh Just-in-time-Bildung!
Das Seminar für Sprachwissenschaft an der Uni Tübingen spürt im Netz neue und dampfgeplauderte Spreizsprechwörter auf.
Viel Spaß bei der Weiterbildung... äh Just-in-time-Bildung!
Da war mal eine Wahl
Es ist noch gar nicht so lange her, da schrieb ich noch hoffnungsvoll über eine Wahl.