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26. Februar 2019

Darf ich mich bitte freuen?!

Gestern hat sich kurz mein Kreislauf ins Bett verabschiedet. Als der Hund und ich vom Waldgang heimkamen, konnten wir am Hügel die Wettergrenze spüren wie eine Linie. Ich hatte mich nach einer Stunde endlich warmgelaufen und mich an den schneidenden und eisigen Wind gewöhnt, der mir in die Nase zwickte. Keine Frage, der Himmel war strahlend blau, aber diese "Brise" war so steif, dass sie einem ins Gebein zu fahren schien. Auf halber Höhe des Hügels dann dieses eigenartige Gefühl: als würde ich in einen geheizten Swimmingpool steigen. Der Eiswind war plötzlich verstummt, die Sonne lachte. Und ich lachte auch. Schlief mir zwei Stündchen lang den Kreislauf wieder hoch und grinste die Sonne an, weil ich ihre Energie so wohltuend auf meiner Haut spürte. Halt!!! Stop! Alles rückspulen auf Anfang. - Ich darf mich ja gar nicht freuen. Freuen ist verboten. Jedenfalls heutzutage.

Wenn mir der Winter zu lang wird und ich vor Kälte schlottere, träume ich mich in solche Bilder hinein. Ich spüre die Sonne auf der Haut, rieche den süßen, fruchthonigartigen Duft der Blüten, werde süchtig nach diesen Farben, nach dem Licht, dem Summen der Insekten. Ich halte den Winter aus, weil ich weiß, dass der Kreislauf des Lebens nicht unterbrochen ist: All dieses Keimen und Wachsen und Blühen kommt wieder nach der Kältepause. (Das Foto wurde Ende April vor zwei Jahren aufgenommen).

Hat mir kürzlich eine gesagt, die ich Sandrine nennen will. Sandrine ist eine engagierte junge Frau, die sich aktiv im Klimaschutz engagiert und Zero-Waste-Konzepte ausprobiert. Im Garten beherbergt sie drei Bienenstöcke, die ein Imker dort absetzt, und auf Facebook teilt sie sämtliche Katastrophenmeldungen zum Klimawandel, die sie finden kann. Das sind dann täglich schon mal fünf Stück und mehr. Und weil ich heute grinse und recht leicht bekleidet mit dem Hund in die Natur laufen werde, schmollt Sandrine mit mir. Ich sei zu leichtfertig, nicht empathisch genug, würde mir einen schönen Lenz auf künftigen Leichen ... Halt!!! Stop! Alles rückspulen auf Anfang. Nicht so, Sandrine!

Nicht, dass es Missverständnisse gibt - das Thema ist ein sensibles und im Netz wird dazu sofort nur polarisiert anstatt zugehört. Darum muss ich erst einmal deutlich feststellen: Sandrine und ich sind uns eigentlich sehr ähnlich. Wir wissen beide, dass wir uns bereits mitten im Klimawandel befinden, mit all seinen Folgen und Herausforderungen.

Zugegeben, ich laufe selten bei Demos mit, weil ich ein Problem mit aufgeheizten Menschenmassen habe. Dafür habe ich 2018 ganze 6 kg Restmüll gehabt - im gesamten Jahr. Ich würde gern Bienen züchten, wenn ich den Platz hätte, und ich lese die gleichen wissenschaftlichen Artikel über den Klimawandel wie Sandrine. Vielleicht sogar ein paar mehr. Ich teile sie nur nicht alle. Ich wähle aus, weil ich denke, wenn ich Menschen mit immer den gleichen Inhalten bombardiere, entstehen Überdruss und Gewöhnung. Damit erreiche ich gar nichts.

Da unterscheide ich mich also von Sandrine. Trotzdem blutet mir das Herz im Wald, wenn ich die Trockenschäden vom vergangenen Jahr sehe und wie darum im Winter die Schädlinge und Pilze in den geschwächten Bäumen gewütetet haben. Ich sehe an jedem einzelnen Baum, ob er weniger und schwächer Knospen gebildet hat - und welche aufgehen werden, wenn der Frühling dann wirklich kommt. Ich weiß um die im Elsass nicht genügend aufgefüllten Grundwasserspeicher, um den viel zu trockenen Winter, der sich doch für die meisten feucht anfühlte. Und ich dürste genauso nach dem Regen, der angesagt ist, wie der Winterroggen, der viel zu klein ist, viel zu viele bereits vertrocknende Blättchen hat. Ich bin Realistin genug, um zu erkennen, dass wir längst mittendrin in Umwälzungen sind, die für viele Lebensbereiche katastrophal sein können.

Trotzdem freue ich mich. Juble. Tanze und raufe mit dem Hund. Der explodiert nämlich auch fast vor Lebensfreude. Früh morgens verlässt er mich, um draußen auf der Sonnenbank zu liegen und sich die Sonne auf den Pelz brennen zu lassen.

Sein Ritual hilft ihm, den Winterpelz zu einer Zeit abzuwerfen, wo Vögel mit Frühlingsgefühlen nach den Haaren gieren. Kein Nest im Umkreis, das nicht irgendwie dank Bilbo weich gepolstert ist. Selbst die Türkentaube oben in Nachbars Baum gurrt und lugt neugierig auf ihn herunter. Sie, die so einsam war im Winter, hat offenbar jemanden gefunden - es gurrt im Duo.

Im Wald tönt und riecht es überwältigend nach einem Fest aller Wesen, nach einer Vorfreude auf den Frühling, einem Feiern des Vorfrühlings, nach Wachsen und Vermehren. Die ersten winzigen, grünen Blättchen schieben sich vorwitzig durchs tote Laub, die Frischlinge sind schon tüchtig gewachsen. Tieren und Pflanzen ist es egal, was ein menschengemachter Kalender sagt, sie reagieren auf Lichtverhältnisse und Temperaturen. Kommt im März noch einmal Schnee, ist das bitter, aber auch das ist Natur: das Vergehen und Sterben. Vögel brüten danach noch einmal, Pflanzen treiben nach. Tiere leben im Hier und Jetzt. Außer den Schatten- und Nachtgestalten dürsten sie nach Sonne. Die neugeborenen Ziegen unten auf der Wiese liegen im Knäuel direkt an der Holzwand des Stalls, um jedes Fitzelchen Wärme auszunutzen, das die Vorfrühlingssonne spenden kann. Dazwischen vollführen sie Bocksprünge, spielen mit sichtlichem Spaß.

Aber Sandrine ist böse mit mir. Sie sagt, ich dürfe mich nicht freuen. Weil der Mensch einen Verstand habe und weil es heutzutage, mit all diesen Bedrohungen, unmoralisch sei. Weil Menschen wie ich ein Hohn seien all denjenigen gegenüber, die ein Bewusstsein entwickelt hätten.

Mein Bewusstsein entwickelt sich bei solchen Worten nicht, es schweift ab. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als wir mit dem Fasching den Winter austreiben wollten, nach Sonnenlicht dürstend. Was für eine Lust war das, wenn die Erwachsenen um Mitternacht zum Aschermittwoch den Fasching als Strohpuppe anzündeten und in den Fluss warfen! Der archaische Fruchtbarkeitszauber, der die Nacht erhellte und das Wasser fürs Wachstum und genügend Regen segnen sollte, wirkte auch im 20. Jahrhundert. Selbst die Pfarrer machten mit. Es gab Jahre, wo der allzu frühe Fasching noch eine lange Warterei nach sich zog, und andere, wo der Frühling der Strohpuppe bereits eine Nase drehte. Die Osterriten mit den Weidekätzchen funktionierten dagegen nur in Ostpolen - in Frankreich mussten wir sie lange vorher trocknen, um an Ostern noch welche zu haben.

Vollsaftig und vollmundig - ohne es ellenlang zu belegen - möchte ich behaupten, dass es eins der archaischsten Gefühle von Menschen ist, das sich verstärkende Licht und die Wärme nach einer dunkleren Phase zu feiern. Auch wenn der Mensch keine Fotosynthese betreibt, ist er nicht so wirklich für Kälte gemacht. Während der Eiszeiten rotteten sich kleine, überlebende Stämme in Höhlen zusammen, zogen mit dem Rand der Gletscher weiter. Den ersten enormen Zivilisationsschub gab es mit der Entdeckung des Feuers, das man nicht umsonst als vom Himmel gefallen verehrte. Die ersten Entdecker beobachteten wahrscheinlich, wie ein Blitz in einen Baum fuhr und ihn sonnenhell lodern ließ. Unsere Zellen brauchen Licht, rein biologisch gesehen. Menschen, die am Polarkreis leben, wissen das.

Ich lebe in einer absolut bäuerlichen Gegend. Obwohl der Kalender in immerwährende Jahreskreisfeste eingeteilt war, standen die wirklichen Übergangsrituale nicht darin. Es sind Naturerscheinungen, nicht feste Zeiten, die den Bauern zeigten, wann zu säen und zu ernten war. Diejenigen, die sich sklavisch an den Kalender halten, sind meist auch diejenigen, bei denen nichts so recht wachsen will.

Hasen- oder Kaninchenwolle an Grashalmen auf der Wiese zu finden, ist so ein früher Vorfrühlingsbote. Jäger sagen Rammelwolle dazu, die Büschel verlieren die Männchen, wenn sie sich um ein paarungsbereites Weibchen streiten. Ein anderes, typisch französisches Ritual habe ich früher im Wettstreit mit meinen Huskies gemacht. Wenn die Tage noch im Winter länger und sonniger wurden, begannen sie systematisch mit dem Ausbuddeln von Löwenzahnwurzeln, die sie als Frühjahrskur fraßen. Ob der Mensch sich das mal von den Wölfen abgeschaut hat? Jedenfalls gab es früher einen Wettstreit auf den Dörfern, wer zuerst im Jahr frischen Löwenzahn stechen konnte. Sobald es für einen Salat reichte, lud man dazu Freunde ein, schnippelte frische Zwiebelchen und Knoblauch dazu, ließ Speck aus und röstete Croutons. Heute kaufen die Leute gebleichten, überlangen Löwenzahn aus dem Treibhaus und manche fragen sich dämlich, was da so gelb und "störend" im Rasen blüht.

In meinen alten Kalendern sind weitere Feiertage vermerkt: "Ameisentag" - das ist der erste Sonntag im Jahr, an dem plötzlich gefühlt Unmassen von Menschen auf dem Feldsträßchen spazierengehen, die man seit Monaten nicht gesehen hat. Wie Ameisen krabbeln sie aus ihrem Bau. Am Ameisentag erklingen plötzlich Kinderlachen und Hundegebell; Gequatsche und Quieken liegen in der Luft. Es gibt auch "Im Märzen der Bauer": wie er nicht die Rösslein, aber den Trecker einspannt. Schlagartig wird es irre laut auf dem Land, aus allen Richtungen kommen sie gescheppert, gebrummt, getuckert und arbeiten manchmal sogar die Nacht durch. Erst mit der Maismonokultur kommen sie viel, viel später, wenn man schon schier verzweifelt, wie lange der Boden brach liegt und leer. Früher, als sie noch Sonnenblumen und Korn anbauten, waren sie wie die Bienen. Sie arbeiteten, wenn es warm genug war, und legten dann auch mal eine Zwangspause ein, wenn der Schnee sich wieder meldete.

Ich frage Sandrine, ob sie bemerkt hat, dass bald der erste Löwenzahn gestochen werden könne, zumindest an geschützten Südhanglagen. Warum sie das tun solle, fragt sie mich. Als ich ihr meinen selbstgemachten Löwenzahnlikör zeige, der aus Blüten entsteht, verzieht sie das Gesicht. Sauferei sei nicht ihr Ding, meint sie moralinsauer. Ich erkläre ihr, dass man den kostbaren Likör teelöffelweise nimmt, als Medizin, zur Frühjahrskur als Durchputzer, zur Anregung des Stoffwechsels und für alles Mögliche in Sachen Innereien. Aber der würde ja auch immer früher blühen, das könne doch nicht gesund sein, sagt sie! Was, um Himmels Willen soll daran nicht gesund sein - das ist die Natur? Steht irgendwo geschrieben, wann ich mit einer Frühjahrskur beginnen muss?

Und dann ertappe ich Sandrine, wie sie ihr Haus putzt und riesige Haufen in allen Zimmern auftürmt. Sie wolle mal so richtig aufräumen "nach Kondo". Mir rutscht ein Kichern heraus. Was für ein Stress, viel zu verfrüht für so einen Körper noch halb im Winterschlaf, witzle ich. Aber sie versteht auch hier keinen Spaß. Also erzähle ich ihr vom "Oschderputz", der in unseren Breiten noch heute ein festes Ritual ist. Der liegt in der Fastenzeit nicht unpraktisch, weil sich die innere und äußere Reinigung ergänzten und man sich dann mit dem Osterbraten endlich schadlos halten konnte für all die verbrannten Kalorien. Früher reichten zwei Reinigungszeiten: vor Ostern und Weihnachten, unabhängig von Instagram.

Heute feiere ich den Tag des ersten Zitronenfalters. Sandrine meint griesgrämig, der flattere viel zu früh, Klimawandel, ganz übel, dass jetzt schon die Zitronenfalter im Februar flögen! Fast böse schaut sie mich an, weil ich wie ein kleines Kind juchze.
Ob sie wirklich schon so der Natur entfremdet ist, dass sie nicht weiß, dass Zitronenfalter durchaus an ein paar warmen Wintertagen flattern können? Sie überwintern frei in der Vegetation, in trockenem Laub oder an Zweigen. Mit körpereigenem Glyzerin, Sorbit und Eiweißen können sie ihre Eigentemperatur so senken, dass sie bis minus 20 Grad aushalten, sogar unter Schnee. Kommt die Sonne für ein paar besonders warme Tage heraus, flattern sie herum und tanken Licht. Genauso schnell können sie wieder in Winterstarre fallen. Egal, wann man sie zum ersten Mal sieht - die Eier legen sie erst im April und sterben dann. Das ist der Moment, den Sandrine feiert, weil sie glaubt, dann sei es "normal", dass Zitronenfalter herumflattern.

Langer Rede kurzer Sinn, was ich eigentlich sagen will: Ja, ich darf mich freuen. Wir alle dürfen uns freuen!

Es ist absolut nichts Verwerfliches daran, jedes kleine bißchen Lumen von Sonnenlicht auf der nackten Haut zu spüren und sich die Winterjacken vom Leib zu reißen. Es ist zutiefst menschlich, nach Dunkelheit Licht zu tanken, nach Kälte Wärme. Und wie wollen wir uns für die Natur einsetzen, wenn wir uns nicht mit ihr vertraut machen? Wenn wir diese Lebenslust verneinen, die im Moment die Luft erfüllt: mit Zwitschern und Singen, Brummen und Gesumm, mit aufgeregten Dorfhunden und kleinen Kindern, die vor Freude quietschen? Es düfteln die Kreuzungen an den Wildwechseln, es stinkt seit Januar der Fuchs herum, während die Felsen in der Sonne zum ersten Mal diesen ganz besonderen Duft aus heißem Quarz und feuchter Erde haben. Auch das ist so ein Feiertag: Wenn ganz früh morgens die Erde diesen Duft annimmt, den sie nur hat, wenn der Winter keine Kraft mehr bekommt.

Könnte nicht jeder Tag ein Fest sein? Unsere Lebenszeit ist derart endlich. Um uns herum sterben Menschen, sterben ganze Galaxien. Ich frage mich, ob vielleicht hier Sandrines Problem liegt, das sie mit mir hat: Sie scheint mit einer Seite des Lebens genug zu haben. Mit den Katastrophen, den negativen Entwicklungen. Machmal frage ich mich, ob ihr Weg nicht der einfachere sein könnte. Denn mich zerreisst es manchmal schier, wenn ich die Ambivalenz auszuhalten versuche, die Leben ist: Es gibt kein Licht ohne Dunkel und keinen Tod ohne Leben.

Das wünsche ich mir mehr in Social Media und im "Kohlenstoffleben": Wir müssen nicht alles auf Teufel komm raus polarisieren und uns bei den kleinsten Themen in gegnerische Schubladen stecken. Der reine Dualismus wird fast zelebriert wie eine Ersatzreligion und hat doch noch nie durchweg funktioniert. Wir müssen lernen, die Ambivalenz des Menschen, des Lebens auszuhalten. Und die besteht aus unwahrscheinlich vielen Facetten und Farben!

Ich kann mir absolut bewusst sein, dass sich die Klimaextreme häufen, wir eine unsägliche Dürre hatten, es schon wieder zu trocken ist - und trotzdem kann ich gleichzeitig die Natur mit allen Poren genießen - und feiern, dass die Sonne so wunderschön scheint. Die Tiere machen das auch. Würden sie es nicht tun, würde es draußen nicht kälter werden. Würde ich es nicht tun, hätte ich keine Kraft, an die Zukunft zu glauben und mich zu engagieren.


Anmerkung: Sandrine ist ein schriftstellerischer Kunstgriff, eine Kunstfigur. Ich habe zwei echte Frauen und einen Mann verhackstückt, durch den Mixer gedreht und so benannt, um in einem kurzen Text schneller zur Essenz zu kommen. Im echten Leben brauchen solche Zitate Monate. Muss man leider auch heutzutage extra erklären. Aber umso schlimmer, dass es gleich drei von der Sorte sind ...

Madame Hoppla

Madame Hoppla hat Frühlingsgefühle. Und warum hat mich keiner gewarnt, dass ein Sauerteig mit Frühlingsgefühlen explodieren kann?! Ich hatte sie samt Teig in der Backform in den kalten Ofen gestellt, in der Vorfreude, diesen beim morgendlichen Kaffeekochen einfach einzuschalten. Aber das verrate ich jetzt: Füttert niemals, wirklich niemals, einen Sauerteig nach Mitternacht!!!

Irgendwie ist Madame Hoppla mit diesem Kerl verwandt. Sie ist nämlich eine Symbiose aus Milchsäurebakterien, die ganz wild sind auf Kohlehydrate - und einzelligen Pilzen, die auch Knospen und Hyphen bilden können. Pilze bilden ein eigenes Reich außerhalb der Pflanzen und Tiere, weil sie Eigenschaften von beiden haben, eigentlich eher von Tieren. Sie sind Lebewesen. Das Kerlchen auf dem Foto ist nur ein Fruchtkörper, den der unterirdische Pilz nach draußen geschickt hat. Vielleicht war es die Pilzseite von Madame Hoppla, die aus dem Backofen wollte? Ich muss an Ray Bradburys meisterhafte Kurzgeschichte denken: "Jungs, züchtet Riesenpilze in eurem Keller!"

Madame Hoppla war überall. Festgebacken (von selbst, ohne Hitze) auf dem Rand der Backform. Als kreisrunder Möchtegernbrotring auf dem Boden des Backofens. In lustigen kleinen Teigfitzelchen, die sich mit recht durchtrainierten Ärmchen in jeder Ecke des Kuchengitters festhielten. Wie Madame Hoppla jedoch auf eben gesammelten Steinen auf dem Fensterbrett gelandet war, möchte ich lieber nicht wissen. Irgendetwas hatte sie befähigt, den offenen Backofen zu verlassen und die Küche zu erkunden. Behandelte ich Madame Hoppla etwa nicht freundlich genug?

Da hat man nun so ein Tamagotchi, mit dem man sein Leben, Wasser und Mehl teilt. Kämpft sich hinaus in Eiswinde, weil das Mehl ausgegangen ist und Madame Hoppla wöchentlich ihr Appetitchen zeigt. Man fühlt vorher am Wasser, als würde man Babynahrung zubereiten: Nur nicht Madame Hoppla schaden, sie ist ja so sensibel! Füttert man sie nicht rechtzeitig, grantelt sie, zieht sich eingeschnappt zurück und schlägt Blasen in einer unschönen Farbe. Ich tue alles für sie - ist das der Dank?

Ich kann es mir nicht anders erklären: Sie hatte wohl mit dem Wetterwechsel Frühlingsgefühle bekommen. Wollte endlich auch einmal zum Fenster hinausschauen. Ich überlege, wie ich feuchte Teigfitzelchen entsorge. Nicht, dass ihnen Monsterärmchen wachsen und sie die Welt erobern! Derweil sitzt die Mutter aller Monsterchen unschuldig platt in der Form. Hat sie eben vor Lachen geblubbert? Plant sie Übles?

Zur Vorsicht habe ich sie im Büro neben mir auf der lauen Heizung. Die Explosion hat sie erschöpft, sie muss wieder aufgehen. Die Sache mit dem Ofen werde ich nachher höchstselbst überwachen. Wenn ich allerdings daran denke, wie viele Menschen bereits einen Sauerteig bei sich beherbergen, wird mir ganz schwummrig: Eigentlich haben die längst unsere Welt erobert! Von wegen, nicht nach Mitternacht füttern! Madame Hoppla frisst sich über meinen Magen ins Herz. Ich wäre traurig, wenn sie auf einen anderen Planeten wechselte. Dann mache ich ihr doch lieber noch das Küchenfenster auf.

Lese- und Filmtipps dazu:
Joe Dante: Gremlins (der Mann wusste, wie man Sauerteig mixt!)
Ray Bradbury: Jungs, züchtet Riesenpilze in eurem Keller! (auf youtube gucken)

22. Februar 2019

Ein Hund wird Händler

Mein Hund Bilbo ist zu moppelig. Ewiges Beagle-Problem: Diese Typen schlucken wie die Mülleimer und legen viel zu schnell an. Da hilft auch stundenlanges Waldwandern nicht, Bilbo ist auf Diät, sein Futter wird nun aufs Gramm genau abgewogen. Leckerli werden davon abgezogen, nicht addiert. Er kann das nicht merken, denke ich. Pardon, dachte ich. Denn heute morgen verschwand er gleich nach dem Frühstück nach draußen und kam mit einem Kieselstein im Maul wieder.


Jede Zivilisation hat ihre eigenen Zahlungsmittel. Wir kennen die sogenannten Trade Beads, Glasperlen. Menschen bezahlten im Lauf ihrer Geschichte mit seltsamen Dingen wie Kakaobohnen, Salz oder Muschelschalen, mit Zähnen oder Salz, mit Metallen oder Käsewürfeln, Bernstein, Waffen oder Zigaretten. Legendär ist das Steingeld auf der mikronesischen Insel Yap: Mehrere Tonnen kann so ein Stein wiegen. Bilbo hat sich für sehr viel praktischeres Steingeld entschieden.

Nicht, dass er den fressen wollte. Er bringt öfter mal Steine herein. So ein Kieselstein wird erst nach Befehl von mir hingelegt, manchmal braucht es mehrere Anläufe, während das Viech gnitz zu grinsen scheint. Normalerweise geht das ohne Probleme ab. Er hat das gelernt und ist mit einem "brav" zufrieden. Wie er heute aber so geschäftig hereinkam, mit dem Blick eines Börsenspekulanten, da wusste ich: Monsieur will mir etwas verkaufen. Der Kieselstein war allzu perfekt: schmeichelrund, schmiegeglatt. Der Spekulant schaffte es, gleichzeitig auf mich zu blicken ("Du wirst weich werden, du wirst jetzt weich werden!") - und gleichzeitig aufs Küchenregal, wo ganz oben harte Brotstücke als Belohnerle in einem Korb liegen ("Fallt herunter, ihr fallt jetzt herunter!"). Bilbo war also gekommen, um Handel zu treiben.

Er wusste ganz genau, dass ich in Sachen Diät nicht weich werden würde. Er saß ja täglich geduldig unter dem Tisch mit der Waage und beobachtete, wie ich selbst einzelne Kroketten wieder weg nahm, weil sie zwei Gramm zuviel ausmachten. Ich würde zu gern wissen, was er in solchen Momenten über sie Spezies Mensch denkt, die sich selbst eine Stunde später skrupellos Schokolade zwischen die Backen schiebt. Freiwillig würde ich nichts herausrücken, das wusste er. Aber in seinem Warenlager lagen derzeit nur nicht allzu leckere, weil säuerliche Äpfelchen. Die Karotten waren seit gestern aus, die Knochen hohl. Er würde also einkaufen müssen!

Sollte es inzwischen vegane Hot Dogs geben, so wurden die ganz bestimmt nicht von Homo Sapiens erfunden. Ich bewundere das ironische Spiel eines Hundes mit den Begrifflichkeiten von "Hot Dog" und "Hot Sock" und - ähnlich wie in der Sterne-Küche - die Geruchsdimension dieses essbaren Kunstwerks. Selbst der Cheeseburger könnte hier seine Wurzeln haben.

Bilbo hatte schon als Welpe den Kapitalismus erfunden - womöglich durch Verhaltensforschung bei jenen komischen Wesen von Zweibeinern. Seither muss ich ständig an die "Kopfler" denken, welche die Brüder Strugatzki in ihren Science Fictions erfunden hatten. Die Kopfler sind Mutanten aus Mensch und Hund, die den Homo sapiens vollkommen durchschauen. In einer postapokalyptischen Zukunftswelt kommt es zur Freundschaft zwischen einem Menschen und dem hochintelligenten Kopfler Wepl. Und vielleicht war das mein Fehler: Ich nannte den Welpen Bilbo manchmal aus Spaß Wepl. Und der studierte mich ...

Es fing womöglich damit an, dass der Welpe Wepl alias Bilbo von Butterblum wie jeder ordentliche Beaglemix alles in sich stopfte, was nur erreichbar war. Wenig lustig war das mit Plastikteilen. Und wenn er anfing, auf Steine zu beißen. Natürlich musste die Menschin erzieherisch einschreiten, bevor es gefährlich wurde. Bilbo musste lernen, auf Befehl jeden Kram sofort aus dem Maul fallen zu lassen, egal wie lecker. Nur anfangs gab es mal Belohnerle, recht schnell wurden die durch Lob ersetzt. Was ich nicht bedachte: Ich hätte die Gegenstände nicht in seiner Gegenwart untersuchen dürfen!

Menschen wollen ja wissen, ob das gefährliche Zeug, das oben im Schlund verschwand, auch komplett hinten wieder herauskam. Ob überhaupt etwas im Schlund verschwunden war. Also betrieb ich Hundemaul-Archäologie und verriet mich. Hunde können ja so perfekt menschliche Mimik einschätzen! Wepl Bilbo beobachtete mich scharf. Setzte ich mein Igittpfuiteufelgefahrimverzug-Gesicht auf, schlenderte er möglichst unauffällig aus meinem Dunstkreis heraus nach draußen. Das war so gekonnt auf Unauffälligkeit getrimmt, dass ich mir manchmal Snoopy vorstellte, wie er vor sich hinpfiffelte.

Es gab jedoch auch ein Staunegesicht meinerseits. Ich war viel zu blöde, das gleich zu merken. Aber als Steinesammlerin staunte ich die glatten rundlichen Kieselsteine an, mit denen er noch kurz zuvor seine Zähne ruinieren wollte. Manche steckte ich sie weg, in ein Sammelglas. Sie waren perfekt geformt, schön wie Schmucksteine!

Ich hatte allen Grund zum Sammeln. Kleine Kiesel gibt es bei uns nicht von Natur aus. Es gab nur unter der Regentonne ein Kiesbett. Wühlmäuse scharrten manchmal einzelne Steine hoch, andere lagen tief in der Erde vergraben. Alles Zufall? Keineswegs! Mir fiel auf, dass Bilbo plötzlich seine Vorliebe für Plastik vergaß und nur noch kleine Steinchen brachte. Ausschließlich Kieselsteinchen. Nicht etwa zum Herumbeißen, wie anfangs; offenbar hatte er gelernt, dass sie dem Gebiss nicht gut tun.

Er gab sie auch nicht mehr ohne Handel her. Alles Mögliche bekam ich für ein Lob sofort vor die Füße gespuckt, Kieselsteine nicht. Mit wichtiger Miene ließ Bilbo so einen Stein von einer Seite des Gebisses auf die andere fallen, damit ich das Klappern ja hörte. Dabei schaute er zuerst auf mein Sammelglas und dann auf das Regal mit den Brotstückchen. Würde ich mich erweichen lassen? Dass es sich um eine Art Primitivgeld handelte, bemerkte ich an Nachforderungen. Knubbelige weiße Steinchen, die ich besonders gern sammelte, kosteten mehr Widerstand und im Ernstfall ein zweites Brotstückchen.

Mit dieser Installation hat es Bilbo geschafft, zum Inspirational Manager meines Ateliers zu werden. Er hat auf seinen "Lagerstätten" ein ausgeprägtes Gefühl für Farben und Kompositionen. Selbstverständlich wird bei dieser Arbeit im Atelier kein Tier gequält und Monsieur wird ordentlich in Naturalien bezahlt. Er braucht ja Nachschub für seine Kunst!

Bevor jemand fragt: Nein, Bilbo ist nicht deshalb zu dick geworden. Ich bin ja nun auch mit einem Hirn begabt und lasse mich auf solche Geschäftchen nicht ein. Zu schnell wäre die schöne Erziehung zunichte gemacht. Nichtsdestotrotz denke ich gern darüber nach, wie sehr wir Menschen Tiere unterschätzen - in ihrer Intelligenz, ihrer Beobachtungsgabe, ihrer Kommunikation. Bilbo hatte eine Art Wertesystem bei mir erkannt und unterschied inzwischen genau zwischen Steinchen, die ich zurück in den Garten warf - und solchen, die ins Glas wanderten. Er forderte Bezahlung, die mit dem Wert des Kiesels stieg.

Manchmal beobachte ich ihn heimlich, wie er auf die Suche geht. Er weiß, dass er den Garten nicht umgraben darf. Wie er dagegen heimlich an der Rückseite der Regentonne, versteckt unter Gestrüpp, das Kiesbett leicht untergraben hat, das bringt mich immer wieder zum Schmunzeln. Ob er weiß, dass ich es weiß? Genießerisch fördert er manchmal mit der Pfote ein paar Preziosen, untersucht sie genau, bis er sich eine davon schnappt. Wenn er dann mit Kennermiene sämtliche Wühlmauslöcher nicht nach Frischfleisch absucht, sondern nach geförderten Steinen, ist es endgültig um mich geschehen. Ich lache los. Nun ist der Kapitalist sogar unter die Mineneigner gegangen. Ein verschontes Wühlmausleben gegen geförderte Tiefenkiesel. Wenn das kein Kopfler ist!

Es mag für andere kindisch klingen und irgendwo gibt es sicherlich einen schlauen Artikel, der erklärt, warum ich mir nur eine Menge einbilde. Aber als Künstlerin muss und will ich die Welt öfter so sehen, dass ich meine eigene Position hinterfrage und mir vorstelle: Was wäre, wenn?

So kam es dann auch, dass Bilbo als Inspirational Manager für mich arbeitet. Ich liebe es, mit der ganzen Kraft meiner Fantasie zu versuchen, die Welt durch seine Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erleben. Dank seiner Spürnase weiß ich von der unterirdischen Welt in meiner Gegend, kenne ich die "Pee-Mail"-Stationen und Wildwechsel. Denn auch ich lese inzwischen Hundekommunikation. Er erzählt mir genau, wie groß der Hund war, der vor ihm an einen Baum gepinkelt hat. Und ob er sympathisch war oder einer, den man dominieren sollte, sehe ich auch - an Bilbos Körperhaltungen und Bewegungen.

Ich habe gelernt, dass Hunde Blau-Gelb-Kontraste besonders stark sehen und Duftpartikel wie Badner und Elsässer und Pfälzer wirklich schmecken können. Er nimmt sie zusätzlich durchs Maul auf, wenn sie interessant genug sind. Meine Sinne kommen mir begrenzt vor. Ich gäbe etwas darum zu erfahren, was an einer sockenbelegten Karotte besonders lecker sein mag. Am meisten aber gäbe ich darum zu wissen, wie Bilbo diese Geschichte hier über mich schreiben würde. Hunde schreiben nicht? Bei Beagles wäre ich mir da nicht so sicher. Warum hat Snoopy wohl eine Schreibmaschine?

16. Februar 2019

Storchenglück

Göttlicher Sonnenschein bei knallblauem Himmel gestern. Ich war "ibber d'r Granz" in der Pfalz, nach den noch nicht knospenden Mandelbäumen sehen und so. Vor allem und so. Die Weidenbäume leuchten knallorange, die Erlen in den Bruchtälern mit ihren Würstchen tiefrot. Überall in den Weinbergen "hiewe un driewe" wird fleißig geschafft.

Bei Nachbarn gibt es Ziegennachwuchs. Bilbo hätte sie beinahe adoptiert. Ich könnte stundenlang zusehen, wie sie in der Sonne spielen und vor Lebenslust Bockssprünge machen.

Bei der Heimfahrt war endlich wieder das schöne Wort "Sonnenglast" verwendbar, Pfälzer Wald und Nordvogesen badeten in mediterranem Licht, über der Rheinebene stand der violette Aufwärmdunst und der Schwarzwald verhieß mit einem milchigen Filter vor den teils schneebedeckten Höhen ein wundervolles Wochenende.

Auf einmal sind alle Farben bunter, leuchten die Gesichter der Menschen. Die Gärtner schafften schwer, in Wissembourg haben sie schon die uralten Alleeplatanen zurechtgestutzt. Im Park an der Stadtmauer flanierten Hunde, die ihre Menschen ausführen. Schon die Schönheit der Natur war kaum auszuhalten, da kam noch dieser Geruch dazu, wenn man das Fenster auf den Waldstraßen herunterkurbelte: Feuchter rosafarbener Fels und nasser Waldboden mit einem Hauch warmen Asphalts.

Als ich heimkam, bellte Bilbo erst mal den Mond an. Der hing dick und fett und weiß im azurblauen Himmel und ist in seinen Augen ein Heißluftballon. Heißluftballons wiederum sind offenbar eine Sorte besonders großer Enten, kurz: Futter. Und dann schaut er mich immer erwartungsvoll an, weil so ein Beagle doch eine echte Jägersfrau brauche, ob ich ihm das weißfahle Entenviech nicht herunterschießen könnte. Ich werde lieber eine Bohne pflanzen ...

Die Misteln blühen, die Haseln auch.

In Riedseltz saß eine Störchin im Nest, noch sitzt sie nur da und wartet auf die Rückkehr der anderen. In diesem Jahr kamen die Störche etwas später zurück, im Elsass geschieht das immer zwischen Mitte Januar und Mitte Februar. Die Dörfer sind wieder stolz, "ihre" Störche zu haben, so viele Mythen und Legenden werden wach, wenn man sie nur sieht. Allen gemeinsam ist: Sie verheißen Glück und die Rückkehr der Fruchtbarkeit in der Natur.

Heute schloss ich dann immer häufiger genießerisch die Augen. In der Mittagspause saß ich ein wenig instabil auf einem zu dünnen Fichtenscheit am Rande einer Schonung in der prallen Sonne und lauschte den Bauern mit ihren Kettensägen auf der anderen Seite einer Wiese. Sie fällten die vom Sturm entwurzelten Bäume vollends. Hinter mir summte eine dicke Schmeißfliege, ein fast nicht vernehmbares Hecheln meines Hundes verriet mir, dass er riechen konnte, was ich nur hörte. Um den Waldsaum legte sich ein schwingendes Band von Vogellauten. Eine Junggesellenmeute von Rabenkrähen schien Trampolin darauf zu spielen, um mit viel Gekrächze und sichtlich Spaß Türkentauben zu verschrecken.



Bald darauf tuckerte der Traktor der Holzfäller heim, von einem Berg in der Ferne klangen die Geräusche einer Treibjagd, ein paar Schüsse. Und schon wurde die Stille laut. Kein Ast bewegte sich, kein Blatt drehte sich, selbst der Hund war ganz Lauschen. Ob er hören kann, wie sich Haut fühlt, wenn sie in der Sonne brät? Längst hatte ich mir die Ärmel des Sweatshirts hochgerollt.

Als wir zurückstapften, raschelten die Schritte des Hundes im erfrorenen Wintergras, sie klangen samtig auf der feuchten Erde. Glückliches Schlabbern in einer Wildschweinkuhle - in wenigen Tagen würde diese Pfütze ausgesoffen sein. Kurz bevor Pelz auf Gras schabte, konnte ich Bilbo gerade noch beiseite nehmen - ich kenne inzwischen diesen Haufen Fuchskot am Wildwechsel und habe ihn ausgetrickst: Er nahm sein Duftbad in frischer Erde.

Die Trecker kamen bald von allen Seiten über die Kuppen getuckert und gerattert - die Mittagspause war zu Ende. Am Dorfrand knisterte ein Feuerchen, jemand putzte seinen Garten. Im Dorf dann Kinder hinter verschlossenen Fensterscheiben vor dem Fernseher. Die Mutter kommt mit roten Gummihandschuhen und einem Eimer ins Zimmer, schaut nach draußen und schaut mich an und es bleibt ihr der Mund offen stehen. Gern würde ich jetzt wieder die Augen schließen, aber ich grüße und stelle fest: Sie ist dick eingepackt da drinnen - ich laufe kurzärmlig draußen herum.

PS
Weil es in Social Media ein Thema ist: Warum diese paar wunderschönen Tage noch keinen Frühling machen und ganz normal sind - und wie Bäume damit umgehen, erklärt Peter Wohlleben in einem kurzen Video hier. Das Video gibt es leider nur auf FB. Bei uns münden die 14 Grad am Tag übrigens in Minusgrade in der Nacht.

10. Februar 2019

Ansteckend, diese Jugend!

Seit Wochen steht die sechzehnjährige Greta Thunberg im Kreuzfeuer einer nicht mehr sachlichen Kritik, muss übelste Hassreden und Drohungen vor allem von Seiten populistischer Gruppen und Klimawandel-Leugner aushalten. Selbst der Generalsekretär der größten deutschen Partei ist sich nicht zu blöde, Häme mit Affen-Emoticons über sie heraus zu twittern. Ähnlich müssen es viele SchülerInnen aushalten, die für mehr Klimaschutz auf die Straße gehen. Mir geht es hier nicht um deren Themen, sondern um ein Phänomen, für das Greta Thunberg langsam zum Symbol wird: Gesellschaftsgruppen, die (leider altersunabhängig) ein typisches Denken sogenannter "angry old men" praktizieren, denunzieren gezielt die Jugend engagierter Menschen; erklären Jugendliche zu Menschen, die keine eigene Meinung haben könnten, die fremdgesteuert sein müssten, manipuliert. Ich möchte schreien: Wacht auf, ihr innerlich alten, verknöcherten, unbeweglichen Geister - das ist die Generation, die euer Versagen mal ausbaden muss (und euch eines Tages die Rente zahlt). Die Jugend ist anders!

Als Kind wollte ich "Wissenschaftlerin für Marien- und Pyjamakäfer" werden. Meine Eltern haben mich damals ausgelacht, nicht unterstützt. Nach einem halben Jahrhundert arbeite ich endlich wieder an diesem Fach.

So naiv und doof, wie manche Erwachsene das gern hätten, ist die Jugend nämlich nicht. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mit sechzehn, siebzehn Jahren Nachhilfe gab - also vor 1980. Da erschreckte mich ein knapp Zwölfjähriger, der mich fragte, wieso die Erwachsenen die Umwelt einfach so kaputt machen würden, wieso sie so viel Müll produzierten - ob denn keiner daran denken würde, wie die Welt mal aussehen würde, wenn er groß sei? Das war vor 1980! Erschreckt hatte mich sein tiefes Einblicken in diesem Alter. Der Junge, das Kind, war absolut nicht fremdgesteuert oder manipuliert, der schaute nur mit wachen Augen Fernsehen und hörte Nachrichten, passte im Biologieunterricht auf. Was er sah, machte ihm existenziell Angst. So sehr, dass er mir gestand, er habe noch nie mit Erwachsenen darüber reden können, auch nicht mit seinen Eltern. Er suchte nach einer Möglichkeit, sich aktiv für seine Vorstellung von Zukunft engagieren zu können.

Im Schnitt wissen Zehnjährige, was los ist. Und Jugend hat dieses wunderbare Privileg, voller Energie und Mut zu sein und neben Angst und anderen Emotionen eben auch idealistisch sein zu dürfen. Wenn wir sie lassen und ihnen die Möglichkeiten geben. Wann waren wir selbst das letzte Mal idealistisch und schmiedeten Pläne?

Ich erinnere mich noch gut (und ich habe mehr als ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel), wie ich mit 14 dafür kämpfen wollte, dass diese Welt eine bessere wird. Wir hatten weder Internet noch Smartphone, aber Sitzstreiks aus den 1960ern gelernt. Wir schrieben uns später auf alten Schreibmaschinen für Schülerzeitungen die Finger heiß und kassierten dafür Verweise, sogar Drohungen mit Schulausschluss. Niemals wären wir auf die Ideee gekommen, unsere Eltern zu fragen, ob wir das dürften, es brannte uns auf dem Herzen, zerriss uns fast. Wohl denen, die keinen Gegendruck oder Strafen von den Eltern bekamen, sondern unterstützt wurden und GesprächspartnerInnen fanden.

Wohl denen, die dank eines aufgeschlossenen, aufgeklärten Elternhauses Menschenbildung mitbekamen und darin bestärkt wurden, eine eigene Sicht auf die Welt haben zu dürfen. Natürlich prägt uns unsere Umwelt. Natürlich fördern Erwachsene auch junge Leute, fahren Eltern ihre Kinder zu Veranstaltungen. Aber wer so intelligent ist wie die Jugendlichen, die derzeit im Rampenlicht stehen, ist auch renitent genug, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Und jung genug, in dieser Perfektionistenwelt Fehler machen zu dürfen.

Mir fehlen in meiner eigenen Altersklasse oft sehr diese Frischheit, der Forscherdrang, die Neugier, das Herzblut, die herrliche Sturheit und das Engagement; der Mut, auch mal wortreich über die Stränge zu schlagen und sich nicht so zu verhalten, wie es alle erwarten. Ich lasse mich darum gern von jungen Leuten mitreißen und lerne gern von ihnen.

So stieß ich bei Twitter auf ein wunderbar eindrückliches Video von Lily MacFarlane, der Tochter des Nature Writing Schriftstellers Robert MacFarlane ("Die verlorenen Wörter" / "Karte der Wildnis"). Auch sie ist im Teenageralter. Und sie hat etwas, was man jedem jungen Menschen von Herzen wünschen möchte: ein inspirierendes und tragendes, unterstützendes Umfeld. Die Videotechnik stammt vom Großvater, aber Idee, Inhalt, Zeichnung - alles von dem Mädchen selbst. Sie engagiert sich in der Charity Gruppe Action for Conservation, die mit 12 bis 17jährigen arbeitet.

Nature's Vanishing Trick from Robert Macfarlane on Vimeo.

Ja, ihr Alten, Jugendliche können so etwas. Die von heute erleben unendlich viel direkter, was auf und mit diesem Planet geschieht und was wir Erwachsenen zwar labern, aber nicht tun. Sie erleben die Einschläge in Echtzeit durchs Internet und haben gelernt, die neuen Medien fürs eigene Engagement zu nutzen. Es kann gar nicht genug solcher junger Leute geben.

Ich lebe im Naturpark Nordvogesen in Ostfrankreich, wohin Touristen aus aller Welt pilgern, um die reichhaltige Natur zu genießen, sich an der Biodiversität der Arten zu erfreuen, die sie zuhause so vielleicht nicht mehr kennen. Viele sitzen einem Trugschluss auf: Auch dieser so wild wirkende Naturpark ist menschengemacht, kein Urwald mehr. Und er muss im täglichen Spannungsfeld mit seinen Bewohnern, mit der Industrie und der modernen Welt erhalten werden. Deshalb wird die Arbeit und Bildung mit der Natur im Parc Naturel régional de Vosges du Nord, der mit dem Pfälzerwald ein Biosphärenschutzgebiet bildet, groß geschrieben.

Sie fängt bei den Kleinsten in den Vorschulen an, ist eminent wichtig in den Schulen. Viele Freizeitgruppen gemischten Alters und von Jung bis Alt engagieren sich im Naturschutz und der Arbeit für den Naturpark. Niemand käme hier auf die Idee, solche jungen Leute als "fremdgesteuert" zu beschimpfen. Die Kinder haben eine Menge Spaß und machen alles, was kein Unterricht ist, vollkommen freiwillig. So ein deutscher Generalsekretär könnte hier gerade von den EU-Projekten für nachhaltige Entwicklung viel lernen: Die Menschen erleben am eigenen Leib, dass die intakte Natur nicht nur ihre eigene Lebensqualität verbessert, sondern völlig neue Arbeitsplätze schafft, wo früher Notstandsgebiet war. Wer hier lebt und gegen solches Engagement wettert, gehört zu den ewig Gestrigen.

Darum, liebe Jugend, wünsche ich mir, dass ihr die innerlich Alten gleich welchen Alters gehörig manipuliert: zu gewagten Zukunftsutopien und zum Mut für Veränderungen. Wenn wir weiter wider allen besseren Wissens so wirtschaften, ausbeuten und sehenden Auges zerstören, dann denkt euch bitte irgendetwas Heißes aus, um uns fremdzusteuern - hin zu mehr Vernunft, Solidarität, Teilen. Instrumentalisiert uns, diesen wunderbaren Planeten endlich tatkräftig zu bewahren. Und werdet bitte nie solche Erwachsenen wie diese komplett verknöcherten, dumpfen Populisten!

Update am 11.02.2019

Leider gibt es in Sachen Biodiversität eine traurige Aktualität: Die erste globale Studie zum Insektensterben wurde veröffentlicht und die Ergebnisse sind schockierend, vor allem, wenn man die ökologischen Zusammenhänge beachtet. Wir können nicht mehr wegsehen. Der Leiter der Studie im Guardian:
The 2.5% rate of annual loss over the last 25-30 years is “shocking”, Sánchez-Bayo told the Guardian: “It is very rapid. In 10 years you will have a quarter less, in 50 years only half left and in 100 years you will have none.”

4. Februar 2019

Odeur Dior(ama)

Die Haseln blühen. Weiden färben ihre Zweige orange, an sonnigen Stellen blinzeln vorwitzig Spitzen von Weidenkätzchen hervor. Hainbuchen duften nach Feuchtigkeit und sonnenwarmem Holz, es zwitschert plötzlich im Wald.



Zuerst wittert es nur der Hund, dann sehe ich die Spuren: Eine Horde Frischlinge ist wohl am Morgen mit der Wildschweinmama durch die Felder gefegt und hat Gründüngung gebuddelt. Wildschweinmäßig drauf ist auch der Edle Bilbo von Butterblum, ratzfatz, zackundbumm liegt er auf dem Rücken und wälzt sich, vor Wollust schnaufend - Odeur von Rehbockmerde, Jahrgang 2019, absolut frisch dekantiert, wie ich mit Kennerinnenblick feststelle. Den leicht abgelagerten Fuchs-Odeur kann ich gerade noch verhindern ... Bilbos Augen glänzen wie bei einer Verkostung.

Glücklich ist er jetzt, der so getarnte Vierbeiner, der wie ich zum Guck- und Trödelwesen wird. Ständig findet er etwas Spannendes oder stecke ich etwas in meine tiefen Jackentaschen. Die gemeinsame Ausbeute des Tages: Eine Elstern- und eine Rabenfeder, frisches Moos für einen Flaschengarten, jede Menge besonderer Steine, ein Totenschädel, noch mehr Steine, Rinde, ein Stück Holz.

Räbelchen schwebt hoch über uns, lässt eine halbe Walnussschale fallen und keckert - er streift jetzt mit einer Junggesellenbande am Waldrand herum. Dort im Bach linst der erste mutige Wasserläufer nach Beute, Mücken tanzen den Sonnentaumelreigen.

Im Wald schwellen die Knospen und nach dem Frost und Schnee brechen jetzt die Eicheln auf, senden Wurzeln aus. Ich hebe ein paar vom Weg auf und werfe sie in die Schonung. Ob ich erleben werde, wie kleine Eichenschößlinge dort wachsen, wo die Dürre alles abgetötet hat?

So viel ist durch Hitze und Dürre abgestorben im Wald und wird jetzt Raub von Schädlingen. So viel beginnt demnächst zu keimen. Die Erlenwürstchen glühen rot neben den hölzernen Zapfen. Und ich freue mich heimlich am Vergnügen, das der Hund mit den Düften im Wald hat und mit dem Odeur am eigenen Leib. Er träumt davon, ein Reh zu sein ...