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27. Januar 2019

Von der Kornmutter zum Billigbenzin

In loser Reihenfolge möchte ich Inspirierendes teilen, das mich persönlich berührt hat und von dem ich glaube, dass es uns beim Nachdenken über die Zukunft weiter bringt als alles Jammern und Kritikastern. Grundsätzlich möchte ich schon einmal die Plattform empfehlen, von der die heutige Folge kommt: The Emergence Magazine mit einer Reihe von Podcasts, die man auch lesen kann. Ich habe den Newsletter abonniert, um keine Folge zu verpassen. Es geht - nicht nur - um Mais.

Ich selbst lebe in einem Landstrich mit viel Maismonokultur. Idyllisch sieht so etwas nur von weitem aus, von nah betrachtet zerstört der Maisanbau dieser Art Böden, ökologisches Gleichgewicht, die Artenvielfalt bei Wildpflanzen, Insekten, Vögeln, Tieren - und die Strukturen bäuerlichen Lebens.


"Corn Tastes Better on The Honor System" von Robin Wall Kimmerer klingt zunächst fremd, ungewohnt - ein Titel, der uns nicht mit billigem Clickbait hineinzieht. Und der sich erst gegen Ende im ganzen Umfang erschließt.
Man sollte sich - beim Zuhören - eine knappe Stunde Zeit und Ruhe nehmen. Ruhe vor allem, denn der Text ist so poetisch wie dicht zugleich, vorgetragen von einer Stimme, die alle Hektik wegwischt.

In diesem Podcast zum Genießen und Nachdenken erzählt die Autorin Robin Wall Kimmerer einfach Geschichten vom Mais. Der Lesetext ist illustriert mit Papierkunst von Suus Hessling. Nature Writing at its Best. Denn aus diesen scheinbar zufällig wirkenden Anekdoten vom leckeren Essen, guten Ernten und archäologischem Popcorn entwickelt sich im Kontext ein Nachdenken über Natur und Technologie, Kulturtechniken und Industrialisierung. Wohltuend: Nichts wird gegeneinander ausgespielt, es gibt kein Schwarzweiß. Was der Mensch heute versucht, hat er in grauen Vorzeiten mit weniger Mitteln schon gemacht. Der Mensch strebt nach Besserem und hat damit manch Unheil gebracht, aber vieles tatsächlich verbessert. Wo also ist die Grenze, wann kippt ein System?

Es entwickelt sich langsam im Text. Robin Wall Kimmerer ist nicht irgendwer - sie weiß genau, wovon sie redet. Als Wissenschaftlerin und Professorin für Umweltbiologie kennt sie sich mit allen Entwicklungen und Folgen des Maisanbaus aus. Als Mitglied der Potawatomi Nation hat sie den Zugang zu alten Mythen und indigenem Wissen, kennt einen völlig anderen Umgang mit Landwirtschaft.

Und darum erzählt sie uns genauso selbstverständlich vom Glauben an die Kornmutter, die alle nährt, wie von Gentechnologie, von historischer Pflanzenzucht und traditionellem Ackerbau genauso wie von den Folgen Monsantos. Sie schafft es, Perspektiven zu verrücken.

Wenn wir uns von diesem sehr eigenen Text tragen lassen aus einer Zeit, die viele von uns noch als vermeintliche Idylle kannten - bis hin zur kompletten Industrialisierung der Landwirtschaft, dann werden wir uns plötzlich der Zusammenhänge klar, die wir bei diesem Thema nicht vermuteten: Das Industrielle heute hat mit Kolonialisierung zu tun. Mit Abspaltung, Entfremdung, einer immensen Blindheit gegenüber Zusammenhängen. Die "Kornmutter" lässt uns aber auch schmerzlich fühlen, dass unsere moderne Gesellschaft mit dem Boden, mit der Erde eigentlich nicht anders umgeht als mit Frauen ... Wenn wir so weitermachen, wird intakter Boden das Schicksal menschlicher Minderheiten teilen.

Der Text macht nicht hoffnungslos. Er zeigt uns: Wonach wir uns insgeheim sehnen, das zeigt uns Lösungswege. Wir können aus einer komplett industrialisierten Landwirtschaft aussteigen und trotzdem mit hilfreichen Technologien und modernem wissenschaftlichen Wissen arbeiten. Wir müssen nicht zurück in heile Welten aus Märchen - denn die hat es nie gegeben. Der Mensch züchtete und veränderte, strebte nach Wissen und Verbesserungen in diesem Bereich seit der neolithischen Revolution. Es ist auch nicht alles so "böse", wie wir manchmal glauben. Hier räumt sie z.B. mit dem Vorurteil auf, es werde so viel Mais als Tierfutter und Menschennahrung gebraucht. Die Wirklichkeit ist noch viel haarsträubender: Es wird für Billigbenzin mehr Mais verwendet als für Tier- und Menschenfutter zusammen! Die Autos der reichen Welt fressen die Ressourcen, die Böden, die Luft ... Für Mensch und Vieh wäre mehr als genug da, auf viel weniger Fläche, in viel geringeren Mengen!

Wer einmal nicht die üblichen Aufregerartikel lesen möchte, wer genug hat von alarmistischen Facebooksprüchen - diese Podcastfolge geht poetisch und wohltuend in die Tiefe und gibt einem das Gefühl, hinterher innerlich reicher zu sein. Er gibt einem das Gefühl, mit der nötigen inneren Ruhe in sich selbst nachzuforschen zu können, wie diese zukünftige Welt aushaltbar verändert werden könnte und wo wir heute sofort damit anfangen könnten. Dazu macht solches Denken Mut.

15. Januar 2019

Challenge mich mal!

Ich war heute morgen relativ unfrisch - das schwankende Wetter schlägt mir auf den Kreislauf. Sagt mir eine Bekannte, ich solle es doch mal statt meines ewigen Kaffees mit einer "Challenge" versuchen. Ich habe nicht gleich kapiert, was sie will, denn heutzutage nennt man alles so: gute Vorsätze fürs Neujahr, ungeliebte Hausaufgaben, das Ankreuzen von Terminen im "Bullet Journal" und diese komischen Wettbewerbe unserer Konkurrenzwelt, in der möglichst viele Menschen das Gleiche machen. Vor meinem heißgeliebten Morgenkaffee sehe ich darin nur Gleichschaltung und frage mich, was Gewehrkugeln in einem Tagebuch zu suchen haben. Ohne Kaffee könnte ich mir doch gleich die Kugel geben.

Challenges - Herausforderungen. (Foto: pixabay)
Und ohne Kaffee bin ich ungnädig. Ich habe sie deshalb gleich abgewürgt, als sie mir zum Wachwerden und für mehr "Strapazierfähigkeit" seltsame Körner mit unaussprechlichen Namen und irgendetwas absolut eklig Gemixtes empfahl, das schon beim Aussprechen klingt, als müsse man es schnell wieder aus dem Mund nach draußen befördern: Smoothie. Mein Hund frisst Gras ja nur, wenn er Verdauungsbeschwerden hat.

In einer solchen Morgenlaune sollte man Facebook auch nicht aufklappen. In einer Gruppe färben sie wie die Berserkerinnen Stoffe mit Pflanzen und "challengen" sich gegenseitig mit dem noch teureren Spezialkocher, der noch edleren Seide, den exotischsten Pflanzenresten, die sie per Post rund um die Welt schicken, obwohl das aus ökologischen Gründen in den meisten Ländern verboten ist. Irgendwo greint eine, dass in ihrem US-Städtchen jetzt alle Bäume kahl sind, da hat jemand eine Krankheit aus Asien eingeschleppt. Volle Punktzahl für die Challenge: Stoff bunt, Wald tot.

Immerhin bekomme ich keine von diesen Spammails, die an meinem Gewicht, meiner Nase, der Größe meiner Füße oder meiner Haarfarbe herummäkeln. Aber ich mache doch Kunst. Geht das ohne Challenge?

Eine Kollegin im fernen Australien zeigt ihre Fingerübungen in Sachen Papierkunst bei Instagram. Challenge: Jeden Tag das gleiche kleine "Kunststück", nur in anderen Farben. Es sieht ungefähr so aus, als würde sich ein Konzertpianist jeden Tag beim Üben fotografieren. Und jeden Tag würde ich allzu gern fragen, woher sie den Mut nimmt, sich mit dem zu brüsten, was wir alle still und heimlich in den Papierkorb werfen, weil Übungen misslingen dürfen, sollen, können. Aber doch nicht bei Instagram! Da plant man die Fingerübung nach dem Fotowert. Selbstoptimierung, Babe! Es gibt Challenges zum Falten und welche zum Falzen, welche mit und ohne Kleber und welche mit hoffentlich genau den richtigen Stiften von der irre tollen Firma Dingenskritzel. Weil die Frau, die diese Challenge begründet hat, von Dingenskritzel dafür bezahlt wird, auf dass weltweit alle Kritzler sich schlecht fühlen, wenn sie mit etwas anderem kritzeln.

In einer anderen Gruppe gelte ich als Außenseiterin, weil ich bei keiner Challenge mitmache. Weil ich sogar einmal vorsichtig anmerkte, dass dieses serielle und lineare Denken die Wildheit unterbreche, das Spielerische und Experimentelle, das Unverhoffte und Überraschende. Kurzum, diesen Zustand, der sich anfühlt, wie wenn mein Hund mit Schmackes in eine Schlammpfütze springt und Spaß hat, während alle anderen Hunde brav auf dem Asphalt Leinenyoga machen. Pfui, macht man nicht. Ganz arges Pfui. Sowas sagt man nicht laut!

Ich weiß, man sollte in einer solchen Kaffeeentzugslaune nicht über ehrenwerte Menschen herziehen, die nur das Beste versuchen. Die sich täglich über oft lange Zeiträume mühen, brav ihre Hausaufgaben zu machen, durchzuhalten, sich Ziele zu setzen. Habe ich auch nichts dagegen. Es kann auch Wunderschönes dabei entstehen. Was mich aufregt - das merkt man hoffentlich - das sind diese Challenge-Missionare und Jüngerinnen! Ich brauche wirklich keine Ersatzreligion und werde auch nicht zum besseren Menschen dadurch.

Manchmal prasselt es einfach zu schlimm auf einen ein: Eine Challenge will meine Beauty und meine grauen Schwabbelzellen in die Fitnesszelle stecken, damit ich als High Performer brainfriendly Marketing betreiben kann! Nach so einer Buzzword-Challenge kann ich mir sicher anschließend die neueste Brigitte-Diät besser merken und singe mit meiner Schwabbelmasse im Duett "Eideidei"! Irgendwo sehe ich einen Spezialcoach für Listen (wo studiert man so etwas?), der verspricht, wenn ich mein Leben in effektivere Listen reihe und diese intelligent verknüpfte, würde ich an der Ordnung genesen. Schon wieder einer, der auf mein Gehirn anspielt. Der macht mich renitent. Ordnung. Gleichschaltung. Anpassung. Und wir alle schwingen mit und summen Smoothie!

Ich brauchte Gegenprogramm.

Mit genügend Kaffee im Bauch bin ich mit dem Hund in Richtung Wald gelaufen. Ich beschloss einen dieser Trödeltage, wo ich zum Hund sage: "Mach du mal dein Ding" und ich trotte ihm brav hinterher und lasse mich überraschen. Bilbo trödelte auch, verfolgte leckere Spuren, beroch jeden noch so kleinen Ast, an dem ein Tier vorbeigestreift war, leckte sich genüsslich die Geruchspartikel ein zum Abspeichern. Irgendwann nahm er einen Smoothie zu sich: Schleckerte jeden Grashalm ab und soff Schlammwasser nach. Wildschweingeschmack - ich konnte die Tiere riechen. Ein Duft von fruchtiger Fleischbrühe.

Wie also der Hund so trödelte, wurde auch ich langsamer, fand Rindenbast hier und ein wohlgeformtes Eichenblatt dort. Bemerkte, dass die Ahornblätter an einem Holzlagerplatz natürlich zu wunderschönen weißen Gerippen abgefault waren. Das Hainbuchenlaub dagegen zeigte noch bräunliche Adern. Wir beide wurden noch langsamer, noch trödeliger und die tiefen Taschen meiner Jägerjacke füllten sich mit Fundstücken. Ich vergaß den Hund, ich vergaß die weitere Umwelt, ich vergaß mich selbst - war ganz Augen, Nase, Ohren, Fühlen am Waldboden, lutschte an vom Frost süß gewordenen Weißdornbeeren, pfefferte Eicheln in kahlgeschlagenen Flächen und stellte mir vor, es würden dort neue Bäumchen wachsen. Manchmal blieb ich an einer Hainbuche stehen, streichelte die glatte Rinde und legte mein Ohr daran, hörte den Wind im Stamm knarzen und die helleren Töne der Äste im Wipfel. Ich fragte mich, ob sich vielleicht in achtzig Jahren das Baumwesen kratzen würde, weil so ein überaus hektisches, schnelllebiges Ungeziefer an seinem Stamm horchte und viel zu schnell wieder weiterging, um auch den Saft fließen zu hören, das Baumblut.

Einige Momente lang hatten wir Waldwesen alle Zeit der Welt und ich bemerkte, wie ganz nah neben mir ein Buntspecht zu hämmern anfing. Überhaupt kamen immer mehr Vögel, näherten sich zutraulich. Es raschelte im Unterholz und ein Reh sah mich an, sanft und wissend - der Wind stand günstig. Der Hund trödelte nämlich weiter, merkte nichts. Stille. Stille von Menschen. Nur die Töne von Leben, von der Lust am Leben und am Trödeln.

Bilbo und ich schlichen weiter - er erkundete inzwischen die Unterwelt, vermaß dreidimensional unterirdische Mausgänge und oberirdische Maulwurfshügel. Einmal rannten zwei winzige Mäuschen von ihm weg, als er ein Loch inspizierte. Fast sahen sie aus, als kicherten sie triumphierend - sie brauchten sich gar nicht zu beeilen, denn dieser Hund trödelte!

Womöglich habe ich da heute aus Versehen irgendeine Challenge geschafft: den leisesten Tritt, den man mit Gummistiefeln machen kann. Das wärmste Ohr an einem kalten Baum. Das Erriechen eines Wildschweinwechsels.

Was aber, wenn das alles nur passiert ist, weil ich gar nichts wollte? Weil ich nach nichts trachtete, noch nicht einmal ein Ziel hatte? Was, wenn mir dieses Reh nur begegnet ist, weil ich für einen kurzen Augenblick mein dummes streberhaftes Menschsein vergessen konnte und mich mit großer Lust winzig klein und unbedeutend fühlte? Mein Hund blickt mich jedenfalls an, als könne er das Geheimnis erklären.

3. Januar 2019

Macht euch nicht gemein!

Feiertage sind etwas Fantastisches. Wenn da nicht diese Zweibeiner wären ... vor allem diejenigen, die sich dann in Social Media herumtreiben. Ich habe eine Ausrede, ich war krank! Und da hangelt man sich schon mal aus Langeweile aus der Matratzengruft in die weite virtuelle Welt. Allerdings habe ich dann schnell bemerkt, dass es heilender ist, schnell wieder abzuschalten. Inzwischen bin ich sogar gnadenlos beim Blockieren.
 
Es scheint nur noch Extreme zu geben, kein Dazwischen. Das Differenzieren bleibt auf der Strecke, das Zuhören. Entwickeln wir uns langsam zu selbstgerechten, selbstherrlichen Misanthropen? (Foto: thommas68 / pixabay)
An Weihnachten wurde ich vorwurfsvoll gefragt, ob ich doch hoffentlich kein Fleisch gegessen hätte. Wie kann man so etwas ausgerechnet an so einem Fest fragen? Hierzulande, in Frankreich, interessiert man sich für solche Sachen wie: "Na, war's lecker? / Was habt ihr denn so gekocht? / Fühlst du dich auch so schrecklich überfressen?" Oder man scherzt gemeinsam, wieviele Weihnachtskekse noch locker zwischen soundsoviele Verdauungsschnäpse passen, die wir edel Digéstif nennen. Wir denken an diesem Fest nicht in Fleisch-Fleischlos-Kategorien, sondern eher, ob wir uns das Weihnachtsessen für alle leisten können, was wir an die Restos-du-Coeur spenden und was wir in diesem Jahr für wen kochen werden.

Weihnachten ist ein Familienfest, ein Fest der Gastfreundschaft und des Überflusses. Da isst man Fleisch, wenn man sich das vielleicht sonst fast nie leisten kann; da säuft man mit Lust, auch wenn man sonst streckenweise nie Alkohol trinkt. Oder man isst eben kein Fleisch und bleibt trocken - aber tischt dafür den Gästen alles auf. Es wäre nämlich ungehörig und ein Verbrechen gegen die Gastfreundschaft, seinen Gästen auch nur irgendetwas vorzuenthalten. Und natürlich bekommen diejenigen, die etwas nicht essen oder trinken oder vertragen, Ersatz. Ist normal. Vorwürfe macht man niemandem. Jede/r gehört dazu. Alle sind eins.

Ich frage mich, wie solche Miesepeter bei Facebook oder Twitter das im Privatleben halten. Aber ich will es gar nicht genau wissen. Es wurde und wird ja weiter gemiesepetert. Da drischt nämlich die eine Seite auf die andere und umgekehrt. Selbst aufgeklärte Zeitgenossen finden immer mehr Themen, über die sie sich auskotzen möchten. Kann man mal machen. Vom Überdruss der Kotztütenverteiler habe ich auch schon zur Genüge geschrieben.

Es gibt da diesen schönen deutschen Ausdruck:
sich mit etwas / jemandem gemein machen
Das bedeutet: "sich auf die gleiche Stufe stellen mit etwas / jemandem", allerdings im abwertenden Sinn - dieses Etwas, dieser Jemand gilt als niedriger stehend, oder wie es der Duden formuliert: "sich mit jemandem, der als sozial oder moralisch tiefer stehend angesehen wird, in freundschaftlicher Verbindung auf die gleiche Stufe stellen." Ein ordentlicher Mensch tut sowas also nicht. Und ein ordentlicher Mensch in Social Media bleibe überhaupt am besten ewig auf dem hohen Ross sitzen, mache sich mit niemandem gemein und reite außerhalb der Gemeinschaft.

Dementsprechend stehen im Duden dann Nebenbegriffe der negativen Art wie Gemeinheit oder Gemeinkosten. Aber da gibt es auch den Gemeinnutzen und die Gemeinnützigkeit und immer wieder dieses seltsame Ding namens Gemeinschaft. Übrig bliebe von allem das "gemein" und das ist ein sehr gemeines Wort, weil es doppeldeutig sein kann. In altertümlicher Sprache heißt es nämlich soviel wie gemeinsam im Sinne von "herkömmlich". Der Gemeine Homo sapiens ist schlicht die herkömmliche Art, die allgemein verbreitete. Kennen wir von "der Gemeine Holzbock" oder "der Gemeine Stechapfel". Weder Holzbock noch Stechapfel wollen uns ans Leder, sie zählen lediglich zur überall vorkommenden Art, nicht zu den etwas selteneren Unterarten. Kann man daran erkennen, dass man das "Gemein" als Gattungsbegriff groß schreibt.

Im Gegensatz zu Holzbock und Stechapfel kann aber nun der Gemeine Homo sapiens tatsächlich richtig gemein sein. Also niederträchtig, übel ordinär oder "in empörender Weise" alles mögliche Schlimme. So wie diese Typen, die mich über die Festtage in Social Media so richtig genervt hätten, wenn es sich denn lohnen würde, sich mit diesen gemein zu machen. Aber ich will ja nicht gemein werden! Ich will mich nicht gemein machen - im doppelten Wortsinn.

Was dieses Wortgeplänkel soll? Vielleicht wird dabei deutlich, dass wir dringend etwas ganz anderes brauchen. In manchen Kreisen sagt man dazu "Narrativ".
Es funktioniert einfach nicht, wenn wir mit den gleichen Waffen hochrüsten und zurückschlagen. Es bringt die Welt kein Stückchen weiter, wenn wir auf Vorwürfe mit Gegenvorwürfen antworten und auf Hohn mit Hass.

Was ich mir für dieses Jahr wünsche, sind mehr Versuche und mutige Experimente, den ewigen Provokationen und der Hysteriespirale etwas Unerwartetes entgegenzusetzen: weiterführende Fragen, Ermutigungen oder Lösungsansätze und Lösungen.

Man kann diesen ewigen Nörglern und Bruddlern und Misanthropen nämlich den Wind aus den Segeln nehmen, indem man einfach unerwartet reagiert, ihre Erwartungen absolut nicht erfüllt. Und bei denjenigen, wo alles zu spät ist, hilft ein sauberer Schnitt. Ich habe mich früher nicht neben den Krakeeler an den Stammtisch gesetzt, ich muss das auch virtuell nicht tun. Das fröhlich-eklige gegenseitige Draufhauen hat nämlich zwei Wirkungen, die wir uns und unserer Welt eigentlich nicht antun sollten: Irgendwann sind wir im Erregungsgestöber nämlich so außer uns, dass wir nicht mehr wissen, wie sich das anfühlt: bei sich sein.

Ich muss ganz bei mir sein, in mir ruhen können, um das Außen ruhig und gelassen anschauen zu können, ohne gleich ständig alles werten zu wollen. Dazu braucht man nicht einmal spirituelle Systeme oder Meditation. Jeder kennt das: Wenn ich wütend nach draußen dampfe, sehe ich den Baum am Straßenrand nicht mehr. Wenn ich meinen Adrenalinspiegel hochtreibe und wütend alles voller Probleme und Widrigkeiten wahrnehme, sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Menschen, die sich häufig in solchen Zuständen befinden, nehmen nicht nur sich selbst als Körper kaum noch wahr, sie nehmen auch Natur nicht mehr wahr - diese Erfahrung mache ich im Naturpark oft. Man muss solche Leute erst einmal wie einen Dampfkochtopf vorsichtig abschalten und ausdampfen lassen.

Nicht mehr bei sich sein zu können, hat außerdem eine fatale politische Dimension (lesenwerter Artikel dazu). Es ist der Grundzustand, der von autoritären Systemen ausgenutzt und gewünscht wird. Die machen nämlich genau das Gegenteil von den Leuten, die im Naturpark Nähe spüren lehren. Autoritäre und Extremisten kochen das Feuer unterm Dampfkochtopf extra hoch und kratzen langsam das Ventil kaputt. Sie wollen den Ausbruch, die Explosion unkontrollierter Wut - den Zustand, wo ein Mensch aus seiner Haut fährt und nur noch neben sich steht. Dann kann er sich nicht mehr fühlen und erlebt Gemeinschaft als Bedrohung, sobald sie "anders" ist. Dann braucht er die ach so Gleichgesinnten, Gleichgeschalteten als Hautersatz, als vermeintliche Schutzhaut. Das geht so lange gut, bis sie auch ihm die Haut abziehen.

Drum wünsche ich uns fürs neue Jahr mehr Gemeinsinn, weniger Gemeinheiten, mehr Bei-Sich-Sein als Aus-Der-Haut-Fahren. Machen wir uns nicht gemein und niederträchtig, überlegen wir lieber öfter, wie wir gemeinsam Lösungswege finden könnten. Ich wünsche uns weniger Überwältigung, sondern mehr Mut zu Bewältigungen. Vielleicht erkennen wir eines Tages, dass wir nicht der gemeine Homo sapiens sein müssen, sondern der Gemeine Homo Sapiens sind - diese Spezies, der wir alle angehören ...