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30. August 2018

Vergangenheit in einem Päckchen

Als ich heute ein Päckchen aus Tschechien geöffnet habe, hat es mich erst einmal hingesetzt. Nicht, dass ich nicht gewusst hätte, dass es käme: Ich hatte bei Facebook bei einem der Glasperlenhersteller, dessen Perlen ich neben vielen anderen auch im Atelier Tetebrec nutze, ein Überraschungspäckchen gewonnen. Nebst Einladung, mich an einem Schmuckwettbewerb zu beteiligen. So weit, so "normal". Natürlich habe ich vor Freude gejuchzt, ausgerechnet Lieblingsfarben von mir vorzufinden, die mich an südliche Lavendelfelder erinnern. Auch normal. Aber plötzlich ist es passiert. Und das konnte ich nicht ahnen!

Der Schmuckwettbewerb stellt mich vor Herausforderungen - solch feine Seed Beads verwende ich normalerweise nicht mit Papierperlen, weil sie in deren Löchern verschwinden würden und selbst nur extrem feine Löcher haben. Da muss ich mir echt etwas einfallen lassen. Zum Glück sind es meine Lieblingsfarben - ich denke an Sonne über Lavendelfeldern.
Plötzlich habe ich diesen Geruch in der Nase. Als ich die Perlen fürs Foto zurechtlege, kann ich ihn nicht orten: Die Papiertüte riecht nach Papier, die Flyer duften nach frischen Druckfarben. Ich schnüffle zur Straße hin aus dem Fenster, dort sind Bauarbeiter zugange. Aber auch sie produzieren diesen Duft nicht, den ich jetzt ganz stark in der Nase habe, zusammen mit einer Farbe. Ich denke an Haifischzähne und verblassendes Himmelblau und bin plötzlich wieder ein ganz kleines Kind, das an Haifischzähne denkt.

Und da steht "Uncle Tony", der eigentlich einmal Anton hieß, und der auf seinem letzten Deutschlandbesuch ever auch bei uns vorbeikommt, denn meine Mutter ist die Tochter seines Schwagers. Es sind die frühen 1960er, Uncle Tony ist bereits 1923 in die USA emigriert - aus Böhmen, denn er ist Tscheche, wie der ganze Zweig der Familie. Ich denke, das müssen Haifischzähne sein, weil der Onkel doch über einen großen Teich gekommen sein soll, und als er sie in meine Hände gibt, rieche ich diesen Geruch. Es ist eine himmelblaue Perlenkette, die er mir mitgebracht hat, aus Glas, aus Bohemian Glass Beads from Cleveland, wie er womöglich meinen Eltern erklärt haben mag. Himmelblau und Haifischmeeresblau. Die Farben duften. Sie nehmen mir die Kette sofort weg, als der Onkel wieder weg ist, und eine andere auch, weil solcher Schmuck nichts für Kinder sei und weil die blauen Perlen gefährlich scharf seien.

Wer meine Texte kennt, kennt Uncle Tony. Seinem Besuch habe ich ein Denkmal gesetzt in der Kurzgeschichtendammlung "Blaue Fluchten". Ich erzähle, wie er mir die Wunder der Kurzwelle gezeigt hat und ich im Radio fortan Drähte sah, auf denen Vögel sitzen. In meinem Sketchbookproject ist er der "John" - und darin findet sich meine Geschichte von Familiengeheimnissen und versuchter Künstlerverhinderung - man kann sich das online in der Brooklyn Art Library ansehen.

Rechts oben die "Haifischzähne" von Uncle Tonys Kette. Das Himmelblau in wunderschönen Abtönungen ist nach über 50 Jahren verblasst. Aber das Finish ist genau das Gleiche wie bei den Two-Cut-Beads von Preciosa Ornela! Dieser seltsam rauhe Glanz ...

Plötzlich bin ich wieder ein kleines Kind und habe die "Haifischzähne" in der Nase, ein Duft von altem Glas und Dachboden und den Farben, die sie hat. Und ich weiß, wo sie liegen. Die ursprüngliche Kette ist längst mürbe geworden, ich habe die Perlen zur Aufbewahrung auf Nylon gefädelt.

So muss es sich wohl anfühlen, wenn man mit der Tardis durch die Zeiten wirbelt und plötzlich alles um einen kreist. Da sind die tschechischen Auswanderer wieder, die 1923 aufs Schiff gingen. Da ist ihr hart erarbeiteter Wohlstand in den 1950ern, als Cleveland und Detroit noch blühten. Sie haben zu Festen die Kinder und Kindeskinder beschenkt, mit Puppen und Spielzeug und mit Bohemian Glass Beads. In ihren Clubs waren Handwerk und Kunst aus der alten Heimat noch lebendig. Und dann steht Uncle Tony bei uns zuhause und meine Mutter weiß nicht, dass der Glanz des Rust Belts zu rosten beginnt. Sie ist nur neidisch auf die Amerikaner, die Häuser haben und Autos und kleinen Kindern Perlenketten schenken. Währenddessen entvölkert sich Cleveland zum ersten Mal in den Vorstädten, die Arbeitslosigkeit greift um sich. Und meine Verwandtschaft wird weiterziehen in den USA, immer der Arbeit nach ...

Und dann fällt mir Uncle Tony's Frau ein, ich komme zurück auf meine Urgroßmutter und diesen alten Familienmythos von deren Großmutter. Eine Glasfabrik in Böhmen hätten die gehabt und dann sei sie später aus unerfindlichen Gründen einfach nach Frankreich emigriert. Dort stehe ich im Zeitenwirbel, der aus einem Überraschungspäckchen aus Tschechien kam.


Anmerkung zwecks Transparenz:
Die Werbung für Preciosa Ornela ist unbezahlt, die Perlen habe ich nicht für diesen Blogbeitrag bekommen, sondern bei Facebook gewonnen. Ich mache sie aus Begeisterung, um meine Geschichte zu erzählen. Und sehe sie außerdem als Info für meine KundInnen an, die oft wissen wollen, ob ich Qualität verarbeite. Zudem verkauft die Firma nicht an EndkundInnen.

25. August 2018

Wimmelbilder - Wunderstücke

Das Internet beeinflusst unsere Wahrnehmung: eine Plattitüde. Dass es auch die Kunst beeinflusst, können sich die meisten ebenfalls vorstellen, denn schon frühzeitig beschäftigten sich KünstlerInnen mit den Möglichkeiten neuer Medien und Sehgewohnheiten. Ich möchte heute von einem Kunstphänomen erzählen, das im sogenannten "Kohlenstoffleben" stattfinden muss, weil es riesige Formate erreicht. Dennoch wird es inzwischen übers Internet organisiert und "lebt" dort in sehr eigener Weise. Die Künstlerinnen und Künstler sind nämlich oft ganz normale Menschen, die vielleicht nie zuvor "Kunst gemacht" haben. Und die arbeiten mit professionellen KünstlerInnen ganz selbstverständlich zusammen. Wie immer bei solch komplexen Beiträgen führen die Links auf erklärende und vertiefende Seiten oder zeigen die Bilder, die ich aus Urheberrechtsgründen nicht abbilden kann.

Names Project Aids Memorial Quilt auf der National Mall in Washington DC, 1987 gestartet, 1996 zum letzten Mal dort ausgelegt. (Foto: National Institutes of Health USA via National Park Service, public domain)

10. August 2018

Ich will nicht schnell berühmt werden!

Es ist schon wieder passiert: Jemand wollte mir selbstlos (*hüstel*) helfen, sehr schnell berühmt zu werden. Wer mit Büchern arbeitet, kennt das Geschäft, das so bezeichnend Vanity Press heißt und im Deutschen Druckkostenzuschussverlag oder kurz DKZV. Das Wort Vanity verrät, worum es geht: Im Geschäft um die eigene Eitelkeit sind Möchtegernberühmtheiten bereit, den Verstand noch vor der Kasse abzugeben und viel zu viel Geld zu investieren in windige Versprechen. Im Idealfall gelangen sie "nur" an einen überteuerten Dienstleister, der ihnen die Garage mit schwer gängiger Ware füllt, in vielen Fällen geht es ihnen jedoch wie einer Frau, über die ich früher mal einen Artikel schrieb: Ihr "Verlag" hatte pro Kopf 6000 Euro und mehr kassiert und die Bücher nie gedruckt, der Eigner verschwand dann nachts mit all der Knete über die Grenze. Was ich nicht wusste: Das System gibt es für Möchtegernberühmtheiten aller Berufe und durch und durch digital.