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9. November 2014

Lesen: vertieft oder sprunghaft?

Die Wissenschaft streitet sich, ob wir mit digitalen Medien noch genauso lesen wie von Papier. Der Artikel "Your paper brain ..." befasst sich mit Untersuchungen, die annehmen, wir hätten zwei Modi des Lesens - einen für Reader, einen für Papier. Nur Papiermedien könnten wir im Modus des Deep Reading lesen. Beim Reader seien wir zu abgelenkt, läsen nicht mehr "linear" - eine Art "sprunghaftes Lesen". Wir könnten aber beide Methoden durchaus trainieren.


Ich habe unlängst genau gegenteilige Aussagen von Forschern gelesen (finde den Link nicht), die sehr viel feiner differenzieren und sagen, dass es einen großen Unterschied gebe zwischen Bildschirmlesen am Computer oder E-Ink-Lesen (wo es nicht nur Kindles gibt). Und beim Reader sei es eben kein "Screen-Reading", zumal der Computer oder das Smartphone zum Surfen nebenher animieren - der Reader ja nicht. Da kann man sich also die Studien aussuchen, wie man möchte! Neugierig habe ich mich gefragt, wie das bei mir läuft. 

Der These in "Your paper brain" kann ich nicht ganz folgen (aber ich weiß auch, dass man persönliche Einzelerfahrungen nicht hochrechnen und verallgemeinern darf).
Ich lese beruflich täglich gefühlt Tonnen von Texten in allen Formen. Da ich sehr viel historisch recherchiere, muss ich die meisten Texte am großen Bildschirm des Computers lesen, wobei ich extrem schnell und viel surfe und querlese. Einige Archive haben nun auch tw. Dienste, wo ich mir die Texte auf den Reader holen kann. Dazu kommt, dass ich die wichtigsten Zeitungen rund um den Globus online lese, aus Mangel an Möglichkeiten, auf dem Land überhaupt an ordentliche Papierzeitungen zu kommen.

Dieses Lesen am Computer ist das beste Beispiel für das Gegenteil von Deep Reading. Ich genieße selten ein ganzes aufgerufenes Buch, sondern suche mir im Affenzahn die relevanten Stellen. Ich surfe zwischen einem Ausschnitt aus dem 18. und einem Forschungsbericht aus dem 21. Jahrhundert. Das habe ich früher in Fachbibliotheken allerdings auch getan und die entsprechenden Seiten schnell auf den Kopierer gelegt ... Nun surfe ich allerdings auch noch quer durchs Internet, schaue mir Fotos an, schlage in Wikipedia nach, zwinge Google zu mehr Tiefe. Aber auch das habe ich früher gemacht: Mit unendlich höheren Stapeln von Büchern, mit Enzyklopädien, die in einer langsameren Welt noch nicht so schnell veralteten. Der einzige Unterschied: Damals erlangte ich nicht so viel Wissen und hatte einen ungleich höheren Zeitaufwand, musste sogar noch reisen und viel Geld bezahlen. Heute lese ich kostenlos an einem Tag in der Nationalbibliothek von Paris oder der Library of Congress in Washington - ohne mich aus meinem 800-Seelen-Dorf bewegen zu müssen. Beruflich kann ich mir langsamere Arten der Recherche kaum noch leisten, denn ein Sachbuch schreibt man heutzutage nicht mehr in zehn Jahren - dann ist es veraltet.

Eine Sache ist beim Computerlesen dieser Art anders: Ich benutze zwischendurch Twitter, Facebook oder Blog ... um mich zu entspannen. Habe ich etwa einen besonders komplizierten wissenschaftlichen Text in einer Fremdsprache gelesen oder mich durch einen Atikel gequält, dessen Sprache ich eigentlich kaum beherrsche, dann tut es mir gut, ein Weilchen bei FB "runterzukommen". Schnell mal etwas Witziges in der Muttersprache loszuwerden oder mit Menschen ein paar Worte zu wechseln. Das ist für mich ein wenig der Ersatz zur früheren Kantine, zum Schwätzchen im Großraumbüro. Ich empfinde es nicht als schädlich oder als Zeitverlust, weil ich als Freiberuflerin allein im Büro sitze. Ich kommuniziere wieder mehr. Und natürlich hängt dann im Nacken die Versuchung, wenn ein Text besonders dröge ist: Schnell mal zu FB surfen ...
Deshalb ein eindeutiges Ja. Bei dieser Art des eklektischen Lesens am Computerbildschirm mit Internetanschluss bin ich sprunghafter, sicher auch mal weniger aufmerksam.

Aber das liegt nicht am Computer als Medium, sondern am Internetanschluss. Es ist die offene Welt, die verführt. Als eine, die absolut selbstverständlich zwischen unterschiedlichen Formen des Lesens wechselt, schreibe ich deshalb meine Bücher grundsätzlich an einem Laptop ohne Internetanschluss. Dort glätte ich auch Übersetzungen. Aber die Übersetzungen selbst fertige ich im Rohtext nur noch an, wenn ich dauerhaft online bin. Ich könnte den Arbeits- und Zeitdruck von heute nicht durchhalten, ohne jederzeit in den wichigsten Spezialwörterbüchern nachschlagen zu können, die sich kein Privatmensch auf Papier leisten könnte - die es teilweise sogar nur online gibt. Oder sich mit KollegInnen zu beraten.

Nun habe ich persönlich ein fotografisches Gedächtnis. Ich wusste früher genau, in welchem Papierstapel auf welcher Höhe welches Zitat zu finden war. Ich finde auf meinem Chaos-Schreibtisch oder in meiner Bibliothek sofort, was ich suche - vorausgesetzt, niemand hat aufgeräumt. Das konnte ich in Anfangszeiten beim papierlosen Lesen und Abspeichern in Dateien auf der Festplatte nicht. Aber recht schnell hat sich durch Übung spürbar etwas im Hirn verändert - schnell lernte ich, virtuell in einer Art "Landkarte" zu denken. Es ist ähnlich wie bei Computerspielen: Websites sind für mich unterschiedliche Räume und Level. Soo kann ich während einer Recherche irgendwann spontan genau sagen, in welchem "Raum", auf welchem "Level" ein gesuchtes Zitat liegt. Ich brauche die History meines Browsers nie - ich kann genau sagen, wie viele Schritte in welche Richtung ich gehen muss, um zum Zitat zu kommen. Am nächsten Morgen weiß ich z.B., dass ich noch bestimmte Bilder suchen wollte, die in Japan auf Level drei achtzehn Browser-Schritte zurück liegen. So, wie ich früher in dreidimensionalen Stapeln dachte, denke ich heute in virtuell dreidimensionalen vernetzten Räumen.
Als Verlust begreife ich das nicht, im Gegenteil: Mein Hirn hat Neues gelernt.

Und jetzt kommt der Witz, der Widerspruch zu obigem Artikel: Auf dem E-Ink-Reader versinke ich völlig und habe das gute alte Deep Reading ohne Abstriche. Nein, da surfe ich nicht herum, wie auch? Ich lese seit Monaten am Gesamtwerk der Strugazki-Brüder - ich lese lediglich ein wenig schneller als auf Papier, weil ich keine Lesebrille brauche und weniger ermüde. Aber ich bin von der ersten Seite an hin und weg und vergesse die Welt, vergesse, was ich in der Hand halte. Es trägt mich nur noch die Geschichte, in die ich abtauche.

Das erste Mal habe ich Deep Reading auf dem Reader mit Thomas Wolfes "Schau heimwärts, Engel" getestet. Ein Brocken von Buch, wenn man es als Papierausgabe kauft, hat man ein Brikett von 720 Seiten. Wolfe hat eine Sprache, die man langsam und genüsslich schlürft - es ist Literatur, die Aufmerksamkeit verlangt. Und ich bemerkte: Das geht auf dem Reader ganz genauso wie beim Papierbuch - ich war drin, ich genoss - ich konnte nur wieder mehr am Stück lesen, weil die Augen nicht ermüdeten, weil ich die Lesebrille nicht brauchte. Ich blieb also sehr viel länger in der Geschichte drin. Alles also eine Frage des Trainings und Wollens?

Was mich beim Reader ablenkt, sind Dinge, die nicht der Reader zu verantworten hat, sondern unzulängliche Programmierung seitens der Verlage oder unausgereifte Technik, die sich schnell entwickeln wird. So nervte mich bei Wolfes Mammuterk, dass die Endnoten nicht als Link ansteuerbar waren. Ich konnte sie nur am Stück nachlesen, obwohl sie viel Text hätten erhellen können. Versagen des Verlags. Etwas anderes werden viele auch schon bemerkt haben: Von Büchern, die ich auf dem Reader lese, kann ich mir nur schwer Titel und Autor merken. Früher hat man ein Papierbuch zugeschlagen und hatte immer das Cover vor Augen. Das prägte sich ein und verknüpfte sich im Kopf fest mit dem Buch. Auf dem Reader schaltet sich dagegen ein Bildschirmschoner ein. Aber das sind technische Kinderkrankheiten. Irgendwann wird vielleicht das jeweilige Cover Bildschirmschoner werden.

Es gibt dann noch einen weiteren Nachteil beim Lesen auf dem Reader, der mit motorischen Abläufen zu tun hat und sogar noch schlechter läuft als beim Lesen am Computerbildschirm. Habe ich ein Buch, bei dem ich öfter zurückblättern muss oder spontan mitten im Buch etwas nachlesen will, so funktioniert das - motorisch gesehen - recht einfach beim Papierbuch: Ich habe meinen Finger zwischen den Seiten oder klappe ein Eselsohr um, lege Papier ein und kritzle sogar Notizen ins Buch. Das alles kann ich beim Reader auch machen! Aber von den Abläufen her ist es komplizierter, es funktioniert nach "Computerdenke" und ist oft sehr umständlich. Ich habe schneller eine Notiz auf Papier gekritzelt als in eine virtuelle Tastatur getippt, wo ich dann die Anmerkung außerdem erst über ein Menu suchen muss und aufrufen. Kurzum: Solche Bücher lese ich schlicht auf Papier, um mir diese Mühe zu sparen. Jedem Buch sein passendes Medium! Ich will jetzt gar nicht weiter auf die üblichen Argumente von Besitz oder Haptik und Schönheit der Gestaltung eingehen, weil das weniger mit Hirnfunktionen als mit Geschmack zu tun hat und natürlich auch über das Medium entscheiden kann.
 
Als Autorin umarme ich den Reader noch bei einem anderen Vorgang: dem Eigenlektorat, jenen Stadien des Feilens am Text, bevor man ihn ans eigentliche Lektorat gibt. Jeder, der selbst viel schreibt, kennt das Problem: Liest man seine eigenen Texte am Computerbildschirm oder in der eigenen Handschrift, ergänzt das Gehirn automatisch "richtig". Wir übersehen Schwächen und Fehler, weil unser Gehirn ja mehr weiß, als da geschrieben steht. Früher hat man den Trick angewandt, den Text "fremd" aussehen zu lassen. Ich habe die Datei einfach in eine andere Schrift und Breite gesetzt - schon musste ich aufmerksamer lesen. Heute gehe ich einen Schritt weiter. In der Endphase konvertiere ich mein Manuskript ohne viel Aufhebens auf meinen Reader. Plötzlich wirkt es wie ein fertiges Buch. Mein Leseverhalten ist völlig anders. Jetzt springen mir die Schwächen plakativ ins Auge. Ich finde sofort schwache Ausdrücke, Logikfehler, Redundanzen. Wenn das kein Deep Reading ist!

Meiner Meinung nach sollte man völlig entspannt mit allen verfügbaren Medien umgehen. Je selbstverständlicher man sie zu nutzen weiß, desto eher erkennt man ihre Schwächen und Stärken und kann nach Bedarf einfach umspringen ... von Papier auf Bildschirm, vom Bildschirm auf den Reader, ja, man kann sich sogar Papiernotizen zum Reader-Buch machen oder Dateien zum Papierbuch sammeln. Angst um mein Gehirn habe ich nicht. Im Gegenteil - ich habe den Eindruck, dass es dazulernt, dass ich mein Gedächtnis trainiere und mir heute noch viel mehr merken kann als früher. Ich möchte sogar so weit gehen und vermuten, dass ich durch das viele Online-Quer-Lesen auch Sprachen schneller lerne. Seit ich einen Reader habe, lese ich regelmäßig englische Bücher - dank des integrierten Wörterbuchs. Das trainiert meinen Wortschatz ungemein. Es trainiert sogar so gut, dass ich manchmal gar nicht mehr sagen kann, in welcher Sprache ich ein Buch gelesen habe.

Inzwischen kann ich auch online am Computer in Deep Reading Modus geraten. Wenn mich etwas ablenkt, dann ist es nicht das Lesemedium, sondern der Internetanschluss und eine möglicherweise vorhandene Disziplinlosigkeit meinerseits. Letztere könnte man positiv aber auch als Neugier und Forscherdrang begreifen ...

6. November 2014

Das Gartenbuch kaufen

Ich habe kürzlich von meinem fertiggestellten Coffee-Table-Band "Der Garten der Malerin BiKo" berichtet - einem Farbband mit Fotos und Genusstext über den herrlichen Skulpturengarten und die Gemälde der Malerin Heiderose Birkenstock-Kotalla in Leichlingen an der Wupper (bei Solingen): hier Teil 1 und hier Teil 2 lesen (mit Fotos).


 Zwar war die Produktion ein Privatauftrag - das Buch wird vorwiegend von der Malerin selbst bei Ausstellungen und Events vertrieben. Aber weil doch auch Menschen das Buch kaufen möchten, die nicht in der Region leben, hat nun die Buchhandlung Kiekenap den Vertrieb des Buchs übernommen. Selbstverständlich können gern weitere Buchhandlungen das Buch in ihr Sortiment aufnehmen.

Wie kommt man an den schönen Fotoband?

Vor Ort in der Buchhandlung Kiekenap in Solingen
Online bei der Buchhandlung Kiekenap bestellen (und wer wie ich in diesem Shop kein Suchformuar und auch das Buch nicht findet: Einfach eine Mail schicken oder anrufen)
Facebookseite der Buchhandlung

Nur für Buchhändler:
Das Buch ist nicht im Barsortiment gelistet und muss direkt über die Künstlerin bezogen werden.

Und ich verspreche demnächst bessere Fotos auf meiner Website!

2. November 2014

Die Langsamen

Vor einiger Zeit tauchte ich in eine seltsame Welt - eine Welt, die mir längst entschwunden schien. Sie berührte mich tief, aber ich fühlte mich wie auf einem anderen Planeten gelandet. Dabei hatte alles so harmlos begonnen: Mit einer Ritterrüstung an einem Hoftor, wegen der ich ziemlich auf die Bremse trat. Sie zog mich in den Bann, weil an diesem Bild sichtlich etwas nicht stimmte. Da musste etwas Außergewöhnliches los sein? Dieser Ritter zog mich in den Bann: der Körper eine womöglich alte Rüstung wie aus dem Film, an den Armen Stulpen vom Kettenhemd, allerlei Verdrahtungen ... und dann dieser alte rostige Eimer als Kampfhaube, mit jenem etwas dilettantisch wirkenden, blutroten Kreuz. Erst, als ich zu Fuß eintrat, bemerkte ich die Schaufensterpuppe in der Rüstung. Aber da war der Ritter schon ins Hintere einer Scheune verbannt.

Clash of Cultures? Und welche Seite hat den Tunnelblick?
Es gab an diesem sonnigen Nachmittag eine ernste "Ritterdebatte". Er könne die Veranstaltung womöglich stören, vielleicht auch nicht adäquat zum Niveau passen. Vielleicht würde er die Leute fehlleiten. Am Anfang, so erzählte man mir, sei er leer gewesen. Das habe noch dümmer gewirkt. Aber man habe doch nie damit gerechnet, dass man ihn so befüllen würde!

Ich befand mich bei einem Tag der offenen Ateliers im Elsass anlässlich des Kreuzstichfestivals. Das ist eine Veranstaltung, die Mehrzweckhallen, Vereinsräume und andere Orte nutzt, um eine Mischung aus historischen Fundstücken und Handarbeiten zwischen Profi- und Hobbyniveau zu präsentieren. Und natürlich kann man an diesen Tagen auch die heimischen Künstler besuchen, die dann zwischen Kunst und Kunsthandwerk jonglieren, um das typische Publikum zu befriedigen.

Aus einer Welt mit Social Media, virtueller Kunst-PR und sirrenden, quäkenden, nervenden Smartphones fiel ich in einen sonnenbeschienenen Hof der Ruhe, wo hinein die Menschen gemächlich flanierten, wo jeder jeden grüßte und die meisten ein paar Worte miteinander wechselten, wo man gemeinsam bei selbstgebackenem Kuchen und Kaffee saß. Alle Zeit der Welt blieb für die gemeinsame Ausstellung mehrerer Künstler - absolut liebevoll und mit Geschmack für Dekor und Inszenierung präsentiert. Und irgendwie für jeden Geschmack etwas dabei. Im Eingangsbereich stand ein Mann an der Drehbank, fertigte Obst aus Holz. Wo gebastelt wird, versammeln sich die Menschen, kommen die neugierigen Städter.

Während ich die rasende Reporterin spielte und in Ruhe Aufnahmen machte, hörte ich mit halbem Ohr zu. Keiner außer mir fotografierte, kein Smartphone wurde gezückt, kein Bild bei Facebook gepostet. Nicht etwa, dass die Menschen hier keine Smartphones hatten! Wer sich eine Adresse merken wollte, nahm sich papierene Visitenkarten mit und Flyer, die mit Word in "Comic Sans" gesetzt waren. Die Menschen an solchen Tagen verbinden die Bilder im Kopf mit Gesprächen und sie erzählen sich erstaunlich viel. So auch ein Tourist, der mit Familie an der Drehbank stehen geblieben war. Irgendwann ging es um Ahnenforschung, später um den Krieg und den Großvater ... man kam im wahrsten Sinne des Wortes von Hölzchen auf Stöckchen.

Der Mann klang aus mehrfachem Grunde beglückt. Fasziniert als deutscher Großstädter, weil er all die Hölzer betasten durfte, die weichen und die harten, die rohen Klötze und die polierten Endergebnisse. Fasziniert, weil er seine halbe Familiengeschichte erzählen durfte und ihm jemand zuhörte, weil ihm jemand weitere Details zur Geschichte lieferte. Froh womöglich, mit einem von den ehemaligen "Erzfeinden" so nett reden zu können, einem veritablen Franzosen. Vor allem aber erfüllte ihn ein Glück ganz unerwarteter Art: Er sah, wie aus einem rohen Stück Holz unter den Händen eines Kunsthandwerkers ein schönes Objekt wurde! Wir, die wir im Elsässer Wald ständig mit Holz umgehen, die wir solche Scheite in den Ofen schieben, konnten seine Reaktion zuerst gar nicht fassen: Der Mann bat darum, den Rest des Rohlings kaufen zu dürfen. Ein Stückchen Ast mit Rinde, wie es in jedem Wald zuhauf herumliegt, wenn die Waldarbeiter werkeln. Und er bestand drauf, zehn Euro dafür zu bezahlen.

Wir amüsierten uns natürlich, als wir uns ausrechneten, was für einen Ster Brennholz erwirtschaften könnten, wenn wir ihn in Stückchen an Großstädter in Deutschland verkaufen würden. Schnell war die Rechnung verdoppelt, als jemand auf die Idee kam, Holz von besonderen Kraftorten könne noch begehrter sein. Wir Landeier fanden das drollig und begriffen doch nichts. Wie weit hatten sich viele Menschen schon vom Handwerk entfernt! Wie viele Menschen wussten eigentlich noch, wie etwas in Handarbeit entstand? Denn hier mag einer der Zauber dieses Festivals liegen: Alle ausgestellten Stücke waren liebevoll und in Geduld in Handarbeit entstanden. Sie machten jemandem richtig Arbeit, lange Arbeit. Viel Arbeit. Arbeit, die wir in ihrem Sinn vielleicht gar nicht mehr verstehen können. Dieser Mann hatte ganz für sich den Wert von Arbeit entdeckt!

Liebe, Geduld, persönliche Geschichte: Handarbeit
So ein echtes Stück Kreuzstichtuch oder eine handgefertigte Patchworkdecke mit traditionellen Mustern einer Region, die eine Geschichte erzählen, könnte man einfach nicht adäquat aus China beziehen. Sie wäre erlogen. Holzbirnen mag es bei Ikea geben oder sonstwo im Ausverkauf. Man kann sie sicher im Internet bestellen. Aber es ist ein Unterschied, wenn man vorher das rohe Holz selbst befühlt hat. Wenn man den Menschen persönlich kennengelernt hat, der daraus die Birne drehte. Wenn man sich begegnete, Geschichte miteinander austauschte, Geschichten erzählte und den Duft des frisch gedrechselten Holzes roch. So eine Holzbirne ist fortan aufgeladen mit einem Ereignis und einer Begegnung. Der Ast ist nicht mehr irgendeiner - er erinnert einen an das Besondere. Jeder Ast, jeder Mensch wird wieder zu etwas Einzigartigem.

Ich bin an diesem Tag ohne Handy und Internet auf noch viel langsameres Leben gestoßen. Menschen, die eine Maschine entwickelt hatten, nur um etwas Bestimmtes basteln zu können. Menschen, die fast ein Jahrzehnt an einer Chronik recherchierten, um dann einen Aufsatz in einer Zeitschrift veröffentlichen zu können, die noch persönlich beim Herausgeber bestellt werden muss. Künstler, die Armut in Kauf nehmen, weil sie nicht anders können, als ihre Welteinsichten zu formen und ins Leben zu bringen. Menschen, die ohne Social Media bei einem Kaffee miteinander versumpfen, miteinander ein paar Stunden Leben teilen.

Dabei habe ich etwas gefunden, was jenem Touristen dieses Stück Ast war, weil es eigentlich unbezahlbar ist: Menschen, die von Herzen lieben, was sie als Hobby oder Beruf ausüben. Frauen und Männer, die mit Hingabe und Leidenschaft, Ausdauer und Kraft bei etwas sind - und die Schönheit in die Welt bringen. Ruhepunkte, Anker in jenem Weltenchaos, sonnige Stunden, in denen nur das Da-Sein zählt. Und nicht, was gerade am anderen Ende der Welt geschieht oder was ultrahip sein soll.

Soll der anachronistische Ritter mit dem Eimer auf dem Kopf besser leer sein oder gar verbannt werden? Was hat er bei dieser Veranstaltung zu suchen gehabt? Was sollte das blutige Kreuz, was die Plastikpuppe? - Ich stand wohl ziemlich alleine da, als ich das Ding so fasziniert fotografierte. Jener anachronistische Blechkerl, dessen Inneres ein Plastikkind ist, zeigte mir die Zerrissenheit unserer Gegenwart. Er ist ein bißchen wie wir. Drum hilft es nichts, wenn wir ihn nach hinten in die Scheune verbannen ... sein Geschepper wird dadurch nicht leiser. Wir sollten ihm vielleicht jetzt erst recht ins Gesicht schauen?