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26. Februar 2014

Armaggedon TV

Ich liebe ARTE. Als Grenzgängerin im französisch-deutschen Raum sowieso. Ohne ARTE und ein paar wenige andere Senderausnahmen müsste ich auf meinem Fernseher Videos anschauen - vor allem abends, wenn mir nach einem anstrengenden Tag mit Medienbeschuss und Schreiberei nach Entspannung zumute ist.

Ist der Mensch eine Zecke, die sich selbst anzeckt?
Ich schalte also gestern zum verspäteten Abendessen die Glotze ein und bekomme auf ARTE ein buntes Menu serviert: Giftgasreste im Meer bedrohen unsere Zukunft und eigentlich kann keiner wirklich was machen / macht wirklich was. Nach dieser mächtigen Vorspeise kämpft man im etwas leichteren Hauptgericht ein wenig in den Metropolen um menschenwürdiges Leben und steigert sich, quasi als Fleischgang, zum globalen Hunger. Ist auch diese Sau durch den Kanal getrieben, gibt's ein Dessert mit "Folter made in USA". Aber da ist dann schon fast Mitternacht ... wer so viel Weltuntergang in so wenig Stunden durchgehalten hat, muss besonders tough sein. Da macht ein bißchen Folter nicht mehr wirklich etwas aus.

Ich bin nicht tough. Ich habe schon vor der Vorspeise umgeschaltet. Ich habe es nämlich satt. Nicht, dass ich mich nicht für das Leid auf diesem Planeten interessieren würde oder kritische Dokus nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil! Aber ich mag mir die in Häppchen anschauen, weil sie als Eintopf serviert ihre Wirkung verlieren. Nach spätestens drei zukunftsbedrohenden Szenarien bin ich abgestumpft. Ich mag mir solche Dokus anschauen, wenn ich nicht gerade mein leckeres Abendmenu verspeise, denn so ein Körper braucht auch hingebungsvollen Genuss, wenn er denn die Zukunft erleben will. Ich lese mich den ganzen Tag über durch die Medien dieser Welt, bin fast live in der Ukraine bei der Revolution dabei oder wenn irgendwo Hunderte sterben. Irgendwann brauchen Körper, Seele und Geist eine Auszeit, um wieder zu sich zu kommen, um alles sacken zu lassen, um den nötigen Abstand zu gewinnen.

Ja, ich habe dieses geballte Armageddon-TV langsam gründlich satt! Was bleibt nach so einem Marathon, ist kaum nachwirkende Aufklärung. Wer bitte kann zwischen Giftgas-Zeitbomben, Metropolenkämpfen, weltweitem Hunger und Folter noch klar denken? Wer kann da echte Bewusstheit entwickeln für ein Thema, das allein schon fast zu groß ist, um es zu begreifen? Oder ist das alles nur noch Attitude: "Hab mir wieder drei Gruselzukunftsdokus reingezogen und bin echt noch gut drauf!" - "Alter Sack, verträgst wohl langsam nichts mehr, ich hab mir noch ne Doku bei youtube über Tierquälerei zusätzlich runtergeholt!" - "Geil. Und dazu die Show mit dem veganen Essen ... das muss man erst mal schaffen ..."

Dabei gibt es zwei Alternativen: Zurück zur Null-Bock-Bewegung. Die war in meinen jüngeren Jahren mal hip, als die Jugendlichen keinen Ausweg mehr aus der Misere sahen. ... Depressionen sind die neue Volkskrankheit, heißt es heute. Kein Wunder: So ein Fernsehabend haut einen effektiver runter als das Gesamtwerk von Chopin. So viele Baustellen: Die Welt ist schlecht, der Mensch noch schlechter, homo homini lupus und ich selbst bin ja auch so schlecht, weil ich bei dem Kram mitmache und schweige und nichts tue und immer noch nicht vegan lebe und dem Bauern vom Nachbardorf seinen Mais nicht kaputtmache. Er ist aber halt immer noch der Bauer von nebenan. Der Nestléboykott einer Freundin unlängst endete in Hungergeschrei. Zu viel gehört denen schon, wer boykottieren will, mus selbst anbauen und Kühe halten. Aber wenn der Boden doch auch verseucht ist und die Luft ... und das Leben überhaupt ... nicht mal in den Krankenhäusern ist man mehr sicher und so viele Bestatter hauen einen ums Ohr. Die Welt ist doch echt am Ende, oder?

Ich war in meinen jungen Jahren unter der sogenannten Körnerfresserbewegung und in der Friedensbewegung. Wir sind auf die Straße gegangen und haben uns richtig praktisch, vor Ort, mit vollem Körpereinsatz engagiert. Vielleicht, weil man uns nicht fast täglich die gesammelte Merde der Menschheit im Fernsehen um die Ohren gehauen hat. Wir haben nämlich noch Hoffnung gehabt. Wir konnten ein winzig kleines Lichtlein am Ende des Tunnels erahnen. Wir spürten noch mit vollem Körpereinsatz, dass wir etwas bewirkten. Und wenn es lächerlich kleine Ergebnisse waren. Dafür haben wir gekämpft.

Natürlich klärten wir uns auf. Wir lasen eine Menge Bücher, Flugblätter, Spezialzeitschriften. Vor allem aber verschlangen wir alles, was Visionäre und Zukunftsdenker von sich gaben. Es reichte nicht, auf die Straße zu gehen, sich bei Körnerfraß als besserer Mensch zu fühlen oder besonders tough besonders gruselige Artikel auszuhalten! Wir waren damals verrückt auf unsere Fantasie und Kreativität: Gebt uns eine Scheiß-Welt und wir überlegen, wie wir sie ein kleines Stückchen besser machen können! Stellt uns vor Scheiß-Politiker und wir gehen selbst in die Politik und zeigen denen, was eine Harke ist! Und wählen gehen wir sowieso und zwar so, dass die Ultras keine Chance haben. Jammert euch einen ab und wir testen mal durch, ob es nicht auch anders geht ... ohne zu wissen, wie das perfekte Maximum aussehen könnte, ohne diesen Zwang, ein möglichst großer Moralapostel zu werden. Ganz tief da unten im menschlichen Dreck herumprobieren. Und dazu stehen, wenn's scheitert. Weiterwühlen. Als Mensch mit Fehlern.

Heute scheint kaum noch jemand für die wirklih wichtigen Themen auf die Straße zu gehen. Wir geben uns die tägliche Dosis Gerechtigkeitsschlaf in Gutmenschenmanier und diskutieren beim kurzzeitigen Aufwachen, ob man "Gutmensch" noch sagen darf oder nicht. Sobald wir einen politisch korrekteren Begriff gefunden haben, dösen wir weiter. "Die Hölle, das sind die anderen", hat schon Sartre gesagt. Auswege? Grundlegend neues Denken? Visionen wagen?

Wie bitte das denn, nach so einem Abend Lähmungs-TV? Ist einem da nicht eher nach Wortbombenabschmeißen? Brandreden legen? Man kann so herrlich solche Links teilen und sich aufregen dabei. Füße hoch, Pantoffel an, das neue Horror-Genre im Armageddon-TV. Da fühlt man sich beim Bier endlich wieder wie ein ganzer Kerl. Und denken muss man auch nicht mehr, das machen ja die Redakteure so vorbildlich für einen. Ändern kann man sowieso nichts. Nicht nach vier Gruselproblemen am Stück. Auch in einem dunklen Tunnel kann es bekanntlich heimelig und gemütlich sein.

Anmerkung der Redaktion: Die Fähigkeit, das selbst herauszufinden, soll laut neuesten Studien massiv verlorengehen. Denken Sie sich bitte darum in diesem Beitrag öfter einen Zynismusalarm, kleine lustige Ironieglöckchen und bitter schwarzen Humor.

PPS: Falls ich jetzt ARTE inhaltlich bzgl. der genannten Sendungen Unrecht getan habe und sie gaaaaanz anders waren, entschuldige ich mich. Ich habe sie dank der Katastrophenankündigungen ja nicht angeschaut.

PPPS: Ich ärgere mich über meine Rechtschreibung, aber Titel lassen sich nicht editieren. Man kann mit dem altgriechischen Harmagedon schon mal durcheinanderkommen, wenn man es mit Katastrophenfilmen kreuzt. Muss natürlich heißen: Armageddon!

15. Februar 2014

Tante Erna und die abben Haare

Einladung zum Essen bei Tante Erna. Überhaupt ein vollgestopfter Tag - ich schaffe es gerade noch, den längst fälligen Friseurtermin dazwischen zu schieben. Warum sich also nicht mal für Tante Erna schön machen? Die schaut mich bei der Begrüßung groß an, umarmt mich etwas vorsichtiger als sonst, hält mich dann mit ausgestreckten Armen weit von sich, glotzt und schüttelt ihre wasserwellenondulierte Dauerwelle.


Tante Erna (im Folgenden kurz E genannt): Ja um Himmels willen, geht's dir denn soooo schlecht?
Ich (im Folgenden kurz I genannt): Mir geht's prächtig. Nun ja, ich bin ein wenig müde heute. Das Wetter...
E: Du bist aber nicht ernsthaft krank? Du würdest mir das sagen!?
I: Warum sollte ich krank sein?
E: Na, wie du aussiehst. Da steckt doch was Ernstes dahinter!
I: Tantchen, wie soll ich denn aussehen? Vorhin hatte ich jedenfalls noch keine Tränensäcke ...
E: Na die Haare!
I: Ich komme grade vom Friseur. Bin wahrscheinlich zu gut gekämmt. Wuschelt sich im Haarschopf.
E: Die fallen jetzt aus?
I: Nee, falls da was fällt, waren es Reste ...
E: Aber wenn du nicht krank bist, dann könntest du doch endlich mal wieder richtige Haare haben?
I: Tantchen, das sind meine richtigen Haare. Alle echt.
E: Das sind doch keine richtigen Haare, das sind abbe Haare! Willste dein ganzes Leben mit abben Haaren rumlaufen? Das kannste doch nicht machen als Frau.
I: Ähm, wie bitte?
E: Du willst doch sicher auch mal wieder richtige Haar haben, so lange halt. Also wie sich's gehört. Du kommst ja langsam in das Alter, wo die nicht mehr so gut wachsen ...
I: Keine Angst, Tante Erna. Die wachsen bei mir so schnell, dass ich alle sechs Wochen schneiden lassen muss. Ohne Rasiermesser wären die sogar viel zu dick.
E: Aber du kannst dir doch nicht mit nem Rasiermesser abbe Haare machen lassen, ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen!?
I: Wieso?
E: Das machen doch nur Männer! Also wenn du nicht krank bist, abbe Haare mit nem Rasiermesser ... Kindchen, das ist doch nicht normal. Du bist doch krank!
I: Tantchen, ich bin nicht ...
E: Quatsch nich. Gegen sowas hab ich nen Tee. Den trinkste jetzt. Das mit den abben Haaren kann man heilen, glaub mir. Du musst nur ordentlich den Tee trinken und gesund werden wollen. Wirst sehen, die wachsen wieder richtig.

8. Februar 2014

Das Buch der Absonderlichkeiten

Im Jahr 2003 hat der ganze Irrsinn begonnen. Korrektur: Hatte ich zum ersten Mal das unbedingte Gefühl, galoppierender Irrsinn erobere die Welt. Schriftsteller sind manchmal so. Überall wittern sie Plots in perfekter Dramaturgie und sehen Figuren von Cliffhangers stürzen.

Wer mich kennt, der weiß, dass ich für meine Autorenarbeit dicke Hefte benutze: Ich nenne sie "Denkhefte". Es gibt mindestens eins für jedes Buch, in dem ich Rechercheschnipsel, Artikel, Gedanken, Zitate etc. sammle, die mir für die Arbeit wichtig erscheinen. Und es gibt Denkhefte, die unabhängig von konkreten Projekten wachsen. Eines davon legte ich im Jahr 2003 an, giftgrün ist es schon aus programmatischen Gründen, denn es trägt den abstrusen Titel: "Buch der Absonderlichkeiten und kuriosen Wirklichkeiten".

Blick in die Glotze: Wer dreht schneller, die Realität oder der Betrachter? (Foto PvC)
 Ich kam nicht weit damit. Ganze drei Seiten sind beschriftet, dann raste der Irrsinn der Welt in den Medien davon, ich wäre gar nicht mehr nachgekommen. Jetzt, mit zeitlichem Abstand, ist der Irrsinn vertrauter Alltag: Ich regte mich damals über die neuen Wörter "Ich-AG" und "Ausreisezentrum" (=Abschiebelager für Asylanten) auf und dass man einerseits sich über die Sekte der Raelianer aufrege, die behaupten, zwei Klonbabies zur Welt gebracht zu haben - und andererseits Embryonen neuerdings als "Zellhaufen" benenne. Apropos ... was ist eigentlich aus den Klonen geworden? Die müssten doch langsam in die Pubertät kommen? Und wen bitte juckt heute noch ein gewisser Donald Rumsfeld, der es gleich mit zwei Zitaten in mein Heft geschafft hat? Nämlich mit seinem strunzdummen Danebenurteil von "old Europe" und mit der Aussage: "Deutschland ist wie Kuba und Lybien. Die sind auch gegen den Irakkrieg". Ja, das hat er gesagt, wenigstens ich habe mitgeschrieben. Dann war er da, der Irakkrieg und meinem Heft blieb die Spucke, pardon, die Tinte weg.

Und heute? Zehn Jahre später? Hätte ich längst einen Bookmark-Ordner anlegen sollen, denn der Wahnsinn treibt derart schnell Blüten, dass ich gar nicht nachkomme, die Meldungen dazu zu sammeln. Jede einzelne befeuert meine Synapsen, mir die schrägsten, skurrilsten, bedrohlichsten und einfach nur abgrundtief dämlichsten Plots für Dystopien auszudenken. Aber in dem Moment, in dem ich eine Idee niederschreiben würde, wird sie von der Wirklichkeit überholt sein! Die Realität macht uns Schriftsteller zuschanden - dagegen haben wir nur Langeweile zu bieten. Dabei meine ich noch nicht einmal den ganz großen Irrsinn des beginnenden 21. Jahrhunderts: das Ausspähen eines jeden Bürgers in all seinen Äußerungen per Internet, Telefon und Briefpost, und sei er noch so unschuldig - um angeblich eben jene Bürger vor den Bösen zu beschützen, die angeblich jene Bürger selbst sein könnten. Also, etcetera, und immer so fort. Oder so ähnlich.

Strawinskys heidnisches "Frühlingsopfer" hätte Disney gefallen: Auferstehung von aufgeblasenen Kirchen und Teekännchen. Im Original tanzte sich die Jungfrau für die unberührte Erde tot ... (PvC)
Und dann war wieder so ein Tag. Viele Artikel hatte ich für meine dystopische Sammlung verpasst. Würde man morgen noch darüber lachen, dass Amazon sich mittels der Militärtechnik von Drohnen vorzeitige Buchabwürfe in Neubaugebieten ausdachte? Und das, während woanders durch Drohnen ganz andere Dinge Menschen fielen? Hat eigentlich irgendwer mitbekommen, dass wir künftig alle Hartz-IV-Empfänger als Versuchskaninchen auf eine Insel schicken könnten (und dort gleich lassen), um an ihnen z.B. das bedingungslose Grundeinkommen zu testen? (Aber wahrscheinlich gründet man da nur neue Steueroasen für Superreiche und Politiker). Dann hätten wir das Thema doch ein für alle Mal los!

Und während wir derweil in fair gehandelten, 100% veganen und garantiert kohlesäurefreien Klamotten auf der geothermierten Erde hocken und uns vorstellen, wie wir sanft aus einem Zeitalter des neoliberalen bis durchgedrehten Kapitalismus in ein menschenfreundlicheres System gleiten, uns gar Regularien und Kontrollmechanismen für den perfekt guten Menschen ausdenken (Demokratiebestrebungen), kommen frech zwei Typen daher ... einer Science-Fiction Autor, einer Aktivist ... und die wollen uns erzählen, dass fünf Megakonzerne längst die Übernahme der Weltherrschaft planen??? Ja geht's noch?!? Können die doch nicht machen! Wir jubelten doch gerade noch der Kurzweil von Google's Ray Kurzweil zu, der uns 200 Jahre alt machen will und die dämliche Wirklichkeit endlich durch Virtuelle Welten komplett ersetzen möchte. Wenn wir nicht schon vorher durch unsere Brillen zu debilem Gemüse geworden sind.

Kann bitte mal einer dieses Karussel anhalten? Was, Aussteigen geht nicht mehr? Da spioniert also nun diese eine Nation namens NSA ihre eigene Nation namens USA und ganz viele andere Nationen und befreundete Politiker und unschuldige Bürger aus, dass es kracht. Und dann kommt so eine f*cking oberdiplomatische Lady daher und spuckt laut auf die f*cking EU (was hat Rumsfeld 2003 gesagt! / Transscript) und dann sind plötzlich alle f*cking beömmelt, weil vielleicht die Russen auch dieses f*cking amerikanische youtube benutzen? Hey, guys, keep calm, solange euch nicht die GEMA eine Abmahnung schickt, weil ihr am Telefon Kinderlieder singt und euch gegenseitig einbettet, ist die Welt doch in Ordnung! F*cking obergeil ist das sogar, wenn ihr euch jetzt alle gegenseitig ins Netz stellt, statt f*cking elende Kollateralschäden tot zu bomben in Kriegen vom Joystick aus.

Hat eigentlich schon einer die Weltherrschaft für youtube gefordert? Würde Zeit. Putin ist nämlich inzwischen der bessere Disney und wir hätten dann endlich mehr schöne f*cking bunte Gucklöcher aus unseren Gummizellen heraus. Vorausgesetzt, jemand stopft endlich der GEMA das Maul. Wäre das nicht was für die UN ... ? Ich frag ja nur mal so ganz naiv. Solange die nicht mit dem Papst und dem anderen Weltgegrummel weiterkommen, wären da doch sicher Kapazitäten frei?

Soso, dieser Beitrag hier sei wirr, klinge verrückt und man könne Ironie vom Ernst nicht unterscheiden? Warum soll es anderen besser gehen als mir? Ich habe zumindest eine gute Ausrede: Ich schreibe mich hier warm, um ganz bald eine der skurrilsten, gruseligsten und herrlichsten Dystopien zu empfehlen, die ich seit langem gelesen habe. Vielleicht schreibe ich das aber auch nur, weil die letzte Lieferung der NSA-Gummitapete fehlerhaft war und mir bei Google Glass eine Dioptrie fehlt.