Als ich über die Feiertage relativ abstinent in Sachen
Facebook lebte, glaubte ich zuerst an einen Effekt des Algorithmus, dass mir trotz einer relativ hohen Zahl von "Freunden" nur die Beiträge immer wieder der gleichen Handvoll Leute vorgenudelt wurde. Als ich wieder aktiv wurde und sich das nicht änderte, begriff ich: So viele Leute bei FB waren einfach verstummt! Ich hatte den Verdacht schon länger, als ich reihum bei Kolleginnen und Kollegen von Facebook-Müdigkeit las. Aber ich wollte es genau wissen.
Schaute eigens in den Profilen nach, die mich besonders interessierten: Sendepause. Alle Monate vielleicht ein Posting. Bei manchen war mir sogar der Abschied entgangen - das waren Karteileichen wie ich selbst bei Google+. Und dann erzählten mir andere, sie seien inzwischen nicht mehr in den üblichen Social Media unterwegs - wegen zunehmend nerviger Werbung, wegen der NSA-Abgreifereien - vor allem aber wegen des unsäglich zunehmenden Mülls. Man trifft sich wieder privat und elitär im engeren Kreise ... beispielsweise via
What's App. So richtig aufgewacht bin ich, als einige maßgebliche Denker, die mit Social Media bekannt wurden, plötzlich laut nachdachten:
Social Media 2.0 tot - was kommt jetzt? (z.B.
Patrick Breitenbach bei FB).
Richtig entsetzt war ich erst, als ich den Blogbeitrag der Kollegin Nikola Hotel entdeckte: "
Verstummt". Ein absolutes Must zum Lesen und Nachdenken! Nikola beschreibt sehr eindrücklich, wie der regelmäßige Gebrauch von Social Media bei ihr nicht nur das Kommunikationsverhalten veränderte, sondern schließlich sogar ihre eigene innere Stimme verschüttete. Ich hatte diesen Beitrag übrigens durch ein anderes Blog entdeckt,
nicht durch FB, Twitter oder G+. Gleichzeitig erschien in der FAZ ein Artikel darüber, warum "echte Literatur" Menschen befähige, ihre Mitmenschen empathischer wahrzunehmen: "
Theory of Mind: Bücher helfen Gedanken lesen". Beides zusammen bestätigt mir die Verdachtsfrage, über die ich in meiner Facebook-Pause gegrübelt habe:
Könnte es sein, dass der tägliche Konsum der "schnellen" Social-Media-Kanäle Denkstrukturen verändert? Kann FB entfremden und wovon eigentlich? Was bleibt auf der Strecke?
Nicht, dass ich in diesem Beitrag erschöpfend über das Thema nachdenken könnte - das möge jeder einmal für sich versuchen.
Ich möchte dazu eine sehr subjektive Geschichte erzählen, die keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erhebt.
Seit geraumer Zeit fällt mir auf, dass ich bei FB immer mehr Menschen blockiere, weil ich ihren Unflat oder andere nervige Eigenschaften nicht mehr ertrage. Vor allem Gruppen werden immer wieder in Wellen von solchen Zeitgenossen überspült. Ich habe "Freunde" auf stumm geschaltet, die mir zum Frühstück zerstückelte Hunde oder gefolterte Menschen servieren, aber auch diejenigen, die mir dreimal täglich ihren großen Zeh und die angebrannten Bratkartoffeln aufhalsen wollen. Ich ertappe mich, kompletten Blödsinn zu teilen, nur weil ich eine Zehntelsekunde darüber lachen konnte - und frage mich anschließend, wie viel Zeit ich damit vertan habe, auf dieses Bildchen zu kommen, damit andere Menschen ebenso viel wertvolle Zeit damit vertun können. Keine Frage: Manchmal muss man einfach kindisch und deppert und sinnfrei handeln. Aber so? Und dort?
Mir geht es ähnlich wie Nikola Hotel mit ihrer inneren Stimme. Ich höre die meine allerdings noch sehr gut und erkenne darum, was wirklich bei mir leidet. Als Synästhesistin nehme ich das Internet mit seinen flachen Websites dreidimensional in Räumen wahr, die ich verknüpft wie durch Landkarten sehe und erinnere. Wenn ich an einem Tag extrem schnell und intensiv recherchiere, fühlt sich das an wie ein Computerspiel: Ich weiß genau, auf welchem "Level" die Library of Congress lag und wann ich jenen Fachartikel auf Französisch las, ich sehe als Farbe jenes wichtige Zitat, das ich überblättert habe und sofort wiederfinden muss. An solchen Tagen verändert sich aber auch mein Denken. Sie sind ideal, um die Dramaturgie eines Manuskripts zu überarbeiten, weil auch dessen Kapitel dreidimensionale Räume sind, die ich durchschreiten kann, um zu prüfen, ob sie genügend Fenster und Türen haben und in den richtigen Farben gestrichen sind.
Ich kann an solchen Tagen jedoch keine literarischen Texte schaffen. Diese Texte, die zwischen den Zeilen funktionieren müssen. Die dem Leser unterschiedliche Ebenen durch eine einzige Aussage, eine einzige Situation anbieten - und seine eigene denkerische Freiheit dazu. Ich vergleiche beide Arbeitsweisen gern mit dem Malen: Die erste Art zu denken ist wie Malen nach Zahlen. Die zweite Art zu denken hat etwas mit dem schöpferischen Akt zu tun, mit dem z.B. die Kubisten eine nackte Frau plötzlich in geometrischen Formen wahrnahmen. Für dieses Denken muss ich frei und sehr wild assoziieren können.
Speziell der übermäßige Konsum von FB zerstört genau diese Schöpferkraft. Wie der Pawlow'sche Hund werde ich zum passiven Gebrauch bestimmter, immer wiederkehrender Instrumentarien regelrecht abgerichtet: Heute schon ein Bild geteilt? Einen Link gesetzt? Kommentare abgelassen? Du musst mehr liken! Wenn du nicht likst, bestraft dich der heilige Algorithmus! Ich bin die dressierte Ratte im Labyrinth, die einem maschinellen Demiurgen gehorcht - wie soll ich da zur Schöpferin literarischer Universen werden? Ich kann es nicht belegen. Aber ja, ich glaube mittlerweile daran, dass diese Art von Social Media zuerst unser Kommunikationsverhalten und dann das Denken und schließlich vielleicht sogar Gehirnstrukturen verändern kann.
Und dann ist da das andere. Ich nenne es die "RTLisierung" von Social Media. Ähnlich wie sich RTL im Laufe der Zeit vom modernen Format zum menschen- und lebensverachtenden Müllfernsehen gewandelt hat, sind auch FB, Twitter & Co. nicht mehr, was sie noch vor einem Jahr waren. Der
Waschtrommler schreibt in seinem
Rückblick auf RTL etwas, das man auch für FB lesen könnte:
"Aus Inhalten wurden Einschaltquoten, aus Einschaltquoten Werbeeinnahmen
und aus Werbeeinahmen neben dem Experimentieren das dümmliche
Rausschmeißen von Geld an ab nun selbsternannte und erschaffene Stars."
Es gab einmal eine Zeit, da fanden wichtige Denker und spannende Leute zu Social Media. Seit jedoch jede noch so dümmliche Fernsehsendung mit Twitter- und Facebookeinblendungen arbeitet, werden Social Media von Krethi und Plethi und Tante Erna überrannt. Die wirklich spannenden Leute ziehen weiter. Der Großteil verzieht sich wieder in die Blogs, weil hier Tiefe und "langsames" Gespräch möglich sind. Andere ziehen ... ja wohin eigentlich?
In meiner abstinenten Zeit war ich Gast bei einem privaten literarischen Salon ... wie im 19. Jahrhundert. Der Großteil geladene Gäste, ein überschaubarer, recht privater Rahmen zum gegenseitigen Kennenlernen. Alles vom Feinsten: Die Literatur, die Musik und die Musiker, die Dekoration, der Wein, das Buffett, die Menschen. Ein Abend in absoluter Schönheit. Gleichgesinnte auf ähnlichem Niveau. Völliges Abschalten vom Alltag durch das Hineinfallen in eine wunderbare Welt der Künste. Genuss für alle Sinne, fühlbarer, erlebbarer Genuss. Gespräche auf Niveau, mit Benimm, in gegenseitiger Wertschätzung, mit viel Zuhören.
Ich zehre von einem solchen Abend eine Woche lang, stehe förmlich kreativ unter Strom und kann danach arbeiten wie besessen. Und ich habe an diesem einzigen Abend mehr wichtige Leute wirklich kennengelernt als in Social Media in mehreren Monaten. Ich komme auf meine Arbeit bezogen sehr viel weiter (denn nebenbei: All das Social Media Gedöns verkauft in der Tat nicht mehr Bücher).
Mein Fazit ist nicht ganz so schlimm wie das der KollegInnen, aber ähnlich:
Ich werde meinen absoluten Schwerpunkt der Internetarbeit in meine drei Blogs setzen - und in meine Autorenseite bei FB / Twitter eher als Verteiler derselben. Mein privates Profil zurückfahren. Tiefe statt Rattentanz im Labyrinth.
Ich werde demnächst alle wirklich Interessierten und Fans extern bündeln - via Newsletter, der frei Haus und direkt darüber informiert, wenn es Neuerscheinungen oder spannende Veranstaltungen gibt. Selbstverständlich werde ich das rechtzeitig hier im Blog bekannt geben.
Alles andere wird radikal zurückgefahren. Zugunsten der Salonkultur, die nicht zuletzt dank Social Media wieder aufblüht: Denn die Menschen da draußen dürstet es danach, realiter zusammen zu finden und ihre Sinne zu stimulieren. Vor allem aber, Kunst und Kultur wieder ohne all die billigen Jakobs und Tante Ernas genießen zu können. Vielleicht ist die Ära langsam vorbei, wo man glaubte, eine Minderheit könne eine Mehrheit erreichen oder beeinflussen, indem man einfach in den offenen Raum hinein schwätzte ... bis hin zum egomanen Selbstgespräch. Vielleicht kommt jetzt eine Zeit der kleinen Inseln im Strom des Daten- und Werbemülls, der Selbstdarsteller und unflätigen Trolle?
Update: Ich bin aktueller, als die Polizei erlaubt. Eben bringt die FAZ einen Artikel aus der neuronalen Forschung, dass es offensichtlich eine Rolle spielt,
was wir lesen - und dass es die Verknüpfungen im Hirn womöglich stärker beeinflusst, als ich mir das bisher vorstellte:
Gravuren des Lesens - die Romanverschaltung.