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26. Januar 2014

Anna Orlando auf Klamottensuche

Anna Orlando hat viel mit dem geheimnisvollen Grafen von Saint Germain gemeinsam: Sie hat einen ausgeprägten Hang zur Hochstapelei, eine schier überbordende Fantasie, die oft die Grenzen zur Wirklichkeit verwischt ... und sie lebt schon viel zu lange, um wahr zu sein. Aber wie der echte Graf läuft auch sie im wirklichen Leben herum ... heute noch. Sie hat nur ein ganz schlimmes Problem, das der Graf nie hatte: Sie hat nichts anzuziehen!

Anna Orlando in Sepia, Ende 19. Jhdt.
Anna Orlando will in Baden-Baden gelebt haben, als es die badische Prinzessin Louise Richtung Zarenhof verlassen hat, und behauptet, noch den weltberühmten Opernsänger Schaljapin in einer Kneipe singen gehört zu haben. Macht nach Adam Riese ein heutiges Alter von genau 200 Jahren. Dafür hat sie sich recht gut gehalten. Zumal sie sich als Salondame schon mindestens 150 Jahre lang viele Nächte um die Ohren schlägt. Sie will  in den Salons von Turgenjew / Viardot genauso gesessen haben wie bei Fanny Leland oder Rachel von Varnhagen-Ense, hat die Pawlowa tanzen gesehen und Nijinsky erwischt, wie er sich heimlich aus dem Grandhotel stahl. Sie kennt den Tratsch jener Gesellschaft, die intimen Briefe und die Tratschpresse von damals obendrein.

Unter den Reichen und Schönen und Mondänen fällt sie kaum auf, wenn sie bei Monsieur Ritz ihren Tee nimmt. Sie ist gut zu Fuß, promeniert vom Kurhaus, wo die Herren Blankwaffen kaufen und die Kokotten in Negligés zwischen den Verkaufsbuden warten, entlang der Lichtentaler Allee bis hin zu Dostojewskijs lächerlicher Absteige. Aber was bitte zieht man dazu an? Anna Orlando kann eines nicht wirklich ab: Die einzwängende, unmenschlich knechtende Frauenmode des 19. Jahrhunderts. Sie hätte sich wie die Petersburger Salondamen eher in Männerkleidung geworfen. Sie schafft den Modesprung nicht vom Jugendstil um 1900 zu den Lieblingskleidern aus den frühen Jahren des Ersten Weltkriegs. Ist einfach alles irgendwie schön!

Jemand, der so lange lebt wie sie, findet: Das kann man doch sicher irgendwie in einem Zauberkleiderschrank mixen? Vielleicht muss man den Schrank nur mit einer ausgeklügelten Steam-Punk-Maschine in Oszillation versetzen? Her mit dem Fummel zwischen viktorianischem Adelsprunk, Fin-de-siècle und 1910ern, auf Straßen des 21. Jahrhunderts getragen! Das muss doch zu machen sein?

Anmerkung: Anna Orlando ist eine Kunstfigur, die ab Juni live auf Zeitreise geht ... sprich, ihre Hochstapeleien vor Publikum des Jahres 2014 ablässt.

15. Januar 2014

Das Ringen um den Text

Der Moloch wirft seine Tentakel aufs Papier. Er ist zu groß, drum taucht mal hier ein Kopf der Hydra auf und mal dort. Nichts will wirklich zusammenwachsen, dazwischen stehe ich mit Schwert und Feder, angetreten, um das Ungetüm zu bändigen. Stapel, ganze Türme von Büchern und Papieren, das fotografische Gedächtnis als Orientierungshilfe im Bauch der Recherche. Da, etwa zwanzig Zentimerter tief im Unverdauten, auf einer rechten Seite in Blau jener Hinweis, der dringend bearbeitet werden müsste. Habe ich die Liste der Abrechnungen und Schulden Diaghilews noch einmal angeschaut? Mir ist sein Grauen vertraut, plötzlich mit Nichts dazustehen, weil jener Traum auf die Bühne muss. Jene Szene, als die Mäzenin im letzten Moment hinter der Bühne eine große Francs-Note überreicht, mit der er die Gläubiger noch einmal davon abhalten kann, den Vorhang kurz vor der Premiere für immer zu schließen. Was für ein innerer Druck muss das gewesen sein! Daneben "sein" Nijinsky, der nicht mehr Eigentum sein möchte, der flügge wird, künstlerisch und privat. Anspruchsvoll, der Kleine. Will "reinen" Tanz statt Prunk für die Sponsoren ... was nun: Kunst oder Gefälligkeit?


Und zwischen den Titanen ich. Es ist der reine Kampf. Der eine entzieht sich meinem Gefühl. Im anderen bin ich noch nicht in der Sprache. Ich zucke zurück vor einer Emotion, in die ich mich fallen lassen muss. Düster wird es im Innern - wollte ich dorthin? Ich muss dorthin, den einen abholen und den anderen noch glaubhafter wütend machen. Muss ihn reizen bis zur Weißglut, damit er mir endlich sein wahres Vorhaben verrät.

Immer dieses Telefon. Es reißt mich aus den Kunstbetrachtungen Nijinskys. Bei Diagjhilew klingelt ständig das Telefon. Er hat sich einen dieser ganz neuen Tisch-Fernsprecher auf die Suite kommen lassen. Er kann nicht frei sprechen. Viele wollen nur etwas von ihm. Aber da ist jener Gesichtslose, jener Unbekannte, der alles von ihm will.´Der am Telefon nur zögerlich Druck aufbauen kann. Nijinsky schnappt nur Brocken auf ... wie wirken sie auf ihn? Was haben die beiden vor?

Der Stoff wird flach und dehnt sich zum Horizont, entwindet sich mir, ich kann ihn nicht greifen. Nur ein Eckchen, gebt mir nur ein Eckchen in die Hand, an dem ich mich festhalten kann mit Sätzen und Punkten! Wieder ist alles zu groß, die Epoche am Vorabend des Ersten Weltkriegs, die Titanen, höre ich da eine Intrige? Ich muss ans Heute denken, ans Publikum, ein Publikum ist ein Publikum ist ein Publikum. Kunst oder Gefälligkeit? Schock oder Säuseln? Und immer wieder die beiden Titanen, deren Stimmen ich mich unterordnen muss. Ich bin nur das schreibende Werkzeug. Längst inszenieren die beiden mich ... schwitzend am Computer, manchmal ängstlich und klein im Angsicht dessen, was ich mit dem ersten Satz losgetreten habe. Im Anfang war das Wort. Und es schöpft immer eine Welt, die man nicht mehr zurückbekommt in den Sack - den man doch einfach nur zubinden müsste, damit Ruhe einkehrt.

Die Versuchung ist groß: So ein virtueller Mülleimer schnell bestückt. Aber was ist damit gewonnen, wenn ich mir sage, dass jeder Satz schräg sein darf, schwach sein darf, schlecht. Ich kann ihn entsorgen! Doch ich darf nicht alle Sätze entsorgen. Die Zeit wiegt schwer im Nacken. Schneller! Mehr! Besser! Überhaupt ... ich muss mich steigern. Steigern worin? Ich habe solches noch nie geschrieben im Leben. Aber ich habe alle meine Texte vorher noch nie geschrieben im Leben. Es ist wie immer das erste Mal, die große Liebe und dann wird der Abschied kommen, das Loslassen müssen mit der großen Leere nach Abgabe, die nach neuer Textfüllung schreit. Diesmal nur abgelenkt durch ein kommendes Lampenfieber.

Ich möchte schlafen, mir die Decke über den Kopf ziehen, endlich einmal wieder ein gutes Buch lesen, mit Freunden ausgehen, den Tag vertrödeln, all die wichtigen anstehenden Dinge und Arbeiten erledigen und diesen Druck nicht spüren: Zeitdruck, Erwartungsdruck von mir ... und diesmal auch ein immenser Erwartungsdruck von außen, den Veranstaltern, dem Publikum ... Ich möchte schreiben schreiben schreiben ... koche schon den zweiten Kaffee, ringe, knete, verwerfe und stelle um. Glitschig sind die beiden, gleiten mir immer wieder durch die Finger. Aber jetzt bin ich wütend, ich spieße ihnen die Satzzeichen in den Körper, nagle sie fest, ermahne den Einen, mehr auf seine Logik zu achten und den anderen, ja nicht aus dem Fluß zu kommen mit diesem wunderbar klaren Rhythmus.

Es ist alles ganz normal. Wie immer. Wie immer ringe ich mit einem Text. Und weil ich so schlimm ringe, weiß ich, dass es einer werden wird. So muss es sein.

13. Januar 2014

Das Gefühl für Bedeutung

"Jobs als Fernfahrerbeifahrer, Leichenwäscherhelfer, Literaturpreismanuskriptesortierer, Siebdruckfarbanrührer und Tanzboy."
So beschreibt sich Kollege Dan Rocco in seinem Lebenslauf. Als ich sein "Rouge & Revolver" auf dem Schreibtisch hatte, musste ich schmunzeln: Genau so liest sich gefühlt jede dritte Autorenbiografie. Was haben wir hauptberuflich Schreibenden nicht schon alles gemacht, um irgendwie die Haushaltskasse aufzustocken! Man könnte fast meinen, den Platz bei mir habe er aus Sympathie bekommen - auch ich habe nämlich einmal Siebdruckfarbe angerührt ... um damit am Fließband Plastikflaschen zu bedrucken. Ich hatte in meinen jungen Jahren aber auch einen sehr spannenden und außergewöhnlichen Job: Ich zählte zu den Auserwählten, die im erlesenen Brenners Parkhotel einen Job als Hilfszimmermädchen bekamen. Das war nicht einfach nur ein Job. Es war die Eintrittskarte in eine völlig eigene Welt - eine Zeit von Erfahrungen, die ich mein ganzes Leben lang nicht mehr missen möchte.

Und dann war es aber auch nur ein Studentenjob. Relativ schnell vorbei. Auch extrem anstrengend. Was blieb, war dieses komische Gefühl von ... Bedeutung. Ich kann es nicht besser beschreiben. Man macht etwas scheinbar Notwendiges, vielleicht Zufälliges, auch mal Nebensächliches im Leben und hat das Gefühl: Vergiss das nicht. Das wird irgendwann in deinem Leben wieder eine Rolle spielen. Das könnte ein Zeichen sein. Ein Zeichen wofür? Was für eine Bedeutung? Wo ich doch über so viele Jahre nicht einmal mehr vorhatte, nach Baden-Baden zurückzukehren!

Durch Fenster kann man in zwei Richtungen schauen
Und jetzt sitze ich an diesem Stück über Nijinsky und Diaghilew, das in genau diesem Hotel spielen soll, im Jahr 1913. Weil ich nach Jahren der Beschäftigung mit diesem Stoff zufällig (?) herausfand, dass bei einem Aufenthalt damals das berühmte "missing link" liegen könnte, das womöglich die ganz große Tragik zwischen den beiden erklären könnte, die auf der einen Seite bis in Nijinskys Wahn und auf der anderen zum Niedergang der Ballets Russes geführt hatte. Wissenschaftlich ist das nicht. Aber literarisch ist es erlaubt zu mutmaßen, was die beiden im Grandhotel besprochen haben könnten.

Seltsame Kreise dreht das Leben manchmal. Ich wusste nicht, dass die beiden je in Baden-Baden waren. Ich ahnte früher nicht, dass ich die Stadt einmal so lieben könnte. Ich wusste nicht einmal, wie mir der Einstieg in das Stück gelänge.

Und dann gibt es diese Kreise, die sich schließen, was man natürlich psychologisch und wissenschaftlich erklären kann, mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen, mit Fokusierung und Unbewusstem und allen dämlichen Zufällen dazu.

Da ist ein Zimmermädchen, das 1913 im Brenners arbeitete und jenen beiden Berühmtheiten den Dreck wegputzte. Sie hat sie kennengelernt, wie kaum jemand in der Außenwelt große Stars erleben kann: In ihren Hinterlassenschaften in den Räumen, in ihren Gewohnheiten und Marotten. Sie wird sich Jahrzehnte danach im Radio erinnern, das Schweigegebot brechen und Schlaglichter auf eine völlig unbekannte Geschichte werfen.

Die Dame ist natürlich eine literarische Erfindung. Aber sie, die nicht ich ist, blickt nun wie durch einen Spiegel auf mein Ich damals und beginnt einen Dialog. Dieses Ich damals hatte das Gefühl: Du musst dir diese Erinnerungen bewahren. Sie werden einmal eine wichtige Rolle spielen. Was, wenn ich zu jener Zeit wie durch ein Fenster auf jene Figur hätte blicken können? Wenn ich geahnt hätte, was jenes Ich in der Zukunft mit einer fiktiven Abwandlung des Ich der Vergangenheit ... Ach, jetzt habe ich doch tatsächlich einen Knoten im Kopf! Wer guckt jetzt wen an und wer steht draußen, wer drinnen? Wer war und wer wird sein? Und wenn sich Kreise schließen, dann ist doch alles gleichzeitig?

Schreiben ist ein gefährlicher Beruf. Man begegnet sich irgendwann immer selbst. Kaum auszuhalten ;-)
Aber das mit dem Kreisen kann ich jedem empfehlen. Als kleine Gymnastik zwischendurch nicht zu verachten.

7. Januar 2014

Die Karawane zieht weiter

Als ich über die Feiertage relativ abstinent in Sachen Facebook lebte, glaubte ich zuerst an einen Effekt des Algorithmus, dass mir trotz einer relativ hohen Zahl von "Freunden" nur die Beiträge immer wieder der gleichen Handvoll Leute vorgenudelt wurde. Als ich wieder aktiv wurde und sich das nicht änderte, begriff ich: So viele Leute bei FB waren einfach verstummt! Ich hatte den Verdacht schon länger, als ich reihum bei Kolleginnen und Kollegen von Facebook-Müdigkeit las. Aber ich wollte es genau wissen.

Schaute eigens in den Profilen nach, die mich besonders interessierten: Sendepause. Alle Monate vielleicht ein Posting. Bei manchen war mir sogar der Abschied entgangen - das waren Karteileichen wie ich selbst bei Google+. Und dann erzählten mir andere, sie seien inzwischen nicht mehr in den üblichen Social Media unterwegs - wegen zunehmend nerviger Werbung, wegen der NSA-Abgreifereien - vor allem aber wegen des unsäglich zunehmenden Mülls. Man trifft sich wieder privat und elitär im engeren Kreise ... beispielsweise via What's App. So richtig aufgewacht bin ich, als einige maßgebliche Denker, die mit Social Media bekannt wurden, plötzlich laut nachdachten: Social Media 2.0 tot - was kommt jetzt? (z.B. Patrick Breitenbach bei FB).

Richtig entsetzt war ich erst, als ich den Blogbeitrag der Kollegin Nikola Hotel entdeckte: "Verstummt". Ein absolutes Must zum Lesen und Nachdenken! Nikola beschreibt sehr eindrücklich, wie der regelmäßige Gebrauch von Social Media bei ihr nicht nur das Kommunikationsverhalten veränderte, sondern schließlich sogar ihre eigene innere Stimme verschüttete. Ich hatte diesen Beitrag übrigens durch ein anderes Blog entdeckt, nicht durch FB, Twitter oder G+. Gleichzeitig erschien in der FAZ ein Artikel darüber, warum "echte Literatur" Menschen befähige, ihre Mitmenschen empathischer wahrzunehmen: "Theory of Mind: Bücher helfen Gedanken lesen". Beides zusammen bestätigt mir die Verdachtsfrage, über die ich in meiner Facebook-Pause gegrübelt habe:
Könnte es sein, dass der tägliche Konsum der "schnellen" Social-Media-Kanäle Denkstrukturen verändert? Kann FB entfremden und wovon eigentlich? Was bleibt auf der Strecke?
Nicht, dass ich in diesem Beitrag erschöpfend über das Thema nachdenken könnte - das möge jeder einmal für sich versuchen.
Ich möchte dazu eine sehr subjektive Geschichte erzählen, die keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erhebt.

Seit geraumer Zeit fällt mir auf, dass ich bei FB immer mehr Menschen blockiere, weil ich ihren Unflat oder andere nervige Eigenschaften nicht mehr ertrage. Vor allem Gruppen werden immer wieder in Wellen von solchen Zeitgenossen überspült. Ich habe "Freunde" auf stumm geschaltet, die mir zum Frühstück zerstückelte Hunde oder gefolterte Menschen servieren, aber auch diejenigen, die mir dreimal täglich ihren großen Zeh und die angebrannten Bratkartoffeln aufhalsen wollen. Ich ertappe mich, kompletten Blödsinn zu teilen, nur weil ich eine Zehntelsekunde darüber lachen konnte - und frage mich anschließend, wie viel Zeit ich damit vertan habe, auf dieses Bildchen zu kommen, damit andere Menschen ebenso viel wertvolle Zeit damit vertun können. Keine Frage: Manchmal muss man einfach kindisch und deppert und sinnfrei handeln. Aber so? Und dort?

Mir geht es ähnlich wie Nikola Hotel mit ihrer inneren Stimme. Ich höre die meine allerdings noch sehr gut und erkenne darum, was wirklich bei mir leidet. Als Synästhesistin nehme ich das Internet mit seinen flachen Websites dreidimensional in Räumen wahr, die ich verknüpft wie durch Landkarten sehe und erinnere. Wenn ich an einem Tag extrem schnell und intensiv recherchiere, fühlt sich das an wie ein Computerspiel: Ich weiß genau, auf welchem "Level" die Library of Congress lag und wann ich jenen Fachartikel auf Französisch las, ich sehe als Farbe jenes wichtige Zitat, das ich überblättert habe und sofort wiederfinden muss. An solchen Tagen verändert sich aber auch mein Denken. Sie sind ideal, um die Dramaturgie eines Manuskripts zu überarbeiten, weil auch dessen Kapitel dreidimensionale Räume sind, die ich durchschreiten kann, um zu prüfen, ob sie genügend Fenster und Türen haben und in den richtigen Farben gestrichen sind.

Ich kann an solchen Tagen jedoch keine literarischen Texte schaffen. Diese Texte, die zwischen den Zeilen funktionieren müssen. Die dem Leser unterschiedliche Ebenen durch eine einzige Aussage, eine einzige Situation anbieten - und seine eigene denkerische Freiheit dazu. Ich vergleiche beide Arbeitsweisen gern mit dem Malen: Die erste Art zu denken ist wie Malen nach Zahlen. Die zweite Art zu denken hat etwas mit dem schöpferischen Akt zu tun, mit dem z.B. die Kubisten eine nackte Frau plötzlich in geometrischen Formen wahrnahmen. Für dieses Denken muss ich frei und sehr wild assoziieren können.

Speziell der übermäßige Konsum von FB zerstört genau diese Schöpferkraft. Wie der Pawlow'sche Hund werde ich zum passiven Gebrauch bestimmter, immer wiederkehrender Instrumentarien regelrecht abgerichtet: Heute schon ein Bild geteilt? Einen Link gesetzt? Kommentare abgelassen? Du musst mehr liken! Wenn du nicht likst, bestraft dich der heilige Algorithmus! Ich bin die dressierte Ratte im Labyrinth, die einem maschinellen Demiurgen gehorcht - wie soll ich da zur Schöpferin literarischer Universen werden? Ich kann es nicht belegen. Aber ja, ich glaube mittlerweile daran, dass diese Art von Social Media zuerst unser Kommunikationsverhalten und dann das Denken und schließlich vielleicht sogar Gehirnstrukturen verändern kann.

Und dann ist da das andere. Ich nenne es die "RTLisierung" von Social Media. Ähnlich wie sich RTL im Laufe der Zeit vom modernen Format zum menschen- und lebensverachtenden Müllfernsehen gewandelt hat, sind auch FB, Twitter & Co. nicht mehr, was sie noch vor einem Jahr waren. Der Waschtrommler schreibt in seinem Rückblick auf RTL etwas, das man auch für FB lesen könnte:
"Aus Inhalten wurden Einschaltquoten, aus Einschaltquoten Werbeeinnahmen und aus Werbeeinahmen neben dem Experimentieren das dümmliche Rausschmeißen von Geld an ab nun selbsternannte und erschaffene Stars."
Es gab einmal eine Zeit, da fanden wichtige Denker und spannende Leute zu Social Media. Seit jedoch jede noch so dümmliche Fernsehsendung mit Twitter- und Facebookeinblendungen arbeitet, werden Social Media von Krethi und Plethi und Tante Erna überrannt. Die wirklich spannenden Leute ziehen weiter. Der Großteil verzieht sich wieder in die Blogs, weil hier Tiefe und "langsames" Gespräch möglich sind. Andere ziehen ... ja wohin eigentlich?

In meiner abstinenten Zeit war ich Gast bei einem privaten literarischen Salon ... wie im 19. Jahrhundert. Der Großteil geladene Gäste, ein überschaubarer, recht privater Rahmen zum gegenseitigen Kennenlernen. Alles vom Feinsten: Die Literatur, die Musik und die Musiker, die Dekoration, der Wein, das Buffett, die Menschen. Ein Abend in absoluter Schönheit. Gleichgesinnte auf ähnlichem Niveau. Völliges Abschalten vom Alltag durch das Hineinfallen in eine wunderbare Welt der Künste. Genuss für alle Sinne, fühlbarer, erlebbarer Genuss. Gespräche auf Niveau, mit Benimm, in gegenseitiger Wertschätzung, mit viel Zuhören.

Ich zehre von einem solchen Abend eine Woche lang, stehe förmlich kreativ unter Strom und kann danach arbeiten wie besessen. Und ich habe an diesem einzigen Abend mehr wichtige Leute wirklich kennengelernt als in Social Media in mehreren Monaten. Ich komme auf meine Arbeit bezogen sehr viel weiter (denn nebenbei: All das Social Media Gedöns verkauft in der Tat nicht mehr Bücher).

Mein Fazit ist nicht ganz so schlimm wie das der KollegInnen, aber ähnlich:

Ich werde meinen absoluten Schwerpunkt der Internetarbeit in meine drei Blogs setzen - und in meine Autorenseite bei FB / Twitter eher als Verteiler derselben. Mein privates Profil zurückfahren. Tiefe statt Rattentanz im Labyrinth.

Ich werde demnächst alle wirklich Interessierten und Fans extern bündeln - via Newsletter, der frei Haus und direkt darüber informiert, wenn es Neuerscheinungen oder spannende Veranstaltungen gibt. Selbstverständlich werde ich das rechtzeitig hier im Blog bekannt geben.

Alles andere wird radikal zurückgefahren. Zugunsten der Salonkultur, die nicht zuletzt dank Social Media wieder aufblüht: Denn die Menschen da draußen dürstet es danach, realiter zusammen zu finden und ihre Sinne zu stimulieren. Vor allem aber, Kunst und Kultur wieder ohne all die billigen Jakobs und Tante Ernas genießen zu können. Vielleicht ist die Ära langsam vorbei, wo man glaubte, eine Minderheit könne eine Mehrheit erreichen oder beeinflussen, indem man einfach in den offenen Raum hinein schwätzte ... bis hin zum egomanen Selbstgespräch. Vielleicht kommt jetzt eine Zeit der kleinen Inseln im Strom des Daten- und Werbemülls, der Selbstdarsteller und unflätigen Trolle?

Update: Ich bin aktueller, als die Polizei erlaubt. Eben bringt die FAZ einen Artikel aus der neuronalen Forschung, dass es offensichtlich eine Rolle spielt, was wir lesen - und dass es die Verknüpfungen im Hirn womöglich stärker beeinflusst, als ich mir das bisher vorstellte: Gravuren des Lesens - die Romanverschaltung.

2. Januar 2014

Mein "russisches Jahr" 2014

Seit gestern habe ich meinen letzten "großen" Termin unter Dach und Fach ... und gleich noch einen kleinen dazu bekommen. Ich versuche alles, um meinen Namenspatron milde zu stimmen, denn dafür kann ich weder Eis noch Schnee auf den Straßen brauchen! Obwohl es passen würde. Petrus hat schon mal 10 Grad plus versprochen - für mein erstes russisches Weihnachten mit Freunden und sicher neuen Bekannten. Und ausgerechnet ich Weihnachtsmuffel freue mich aufs Vorlesen von Gogol, selbstgemachte Piroggen und - aufs Wiedersehen.

Das neue Jahr scheint sich zu einem "russischen Jahr" zu mausern. Nicht nur, weil Vaslav Nijinsky 125 Jahre alt geworden wäre. Auf einmal bildet all meine Arbeit der vergangenen Jahre wieder Kreise, alles passt zu allem ... und noch besser: Ich arbeite für meine absoluten Lieblingsthemen!

Im Moment stehe ich mit meinem Stück über die Ballets Russes mächtig unter Druck. Denn am 27. Mai ist schließlich "schon" Premiere - in Baden-Baden werden bereits auch von der Deutsch-Russischen Kulturgesellschaft Einladungen verschickt.

Gleich am zweiten Dienstag im Juni stehe dann ich selbst auf der Bühne ... oder vielmehr auf der Straße. Ich werde nicht zum ersten Mal Stadtführungen der etwas anderen Art anbieten. Früher gab es solche Veranstaltungen von mir auf dem Odilienberg und letztes Jahr führte ich die Leser einer österreichischen Zeitschrift ins historische Baden-Baden. Aber ich bin nicht der Typ, der wie die üblichen Führer Wikipedia-Wissen herunterspult - ich selbst langweile mich tödlich bei allzu viel Faktenzahlenbromborium. Ich muss frei erzählen können ...

Als Dostojewski hier hauste, musste seine Frau Anna die letzten Kleider versetzen. (PvC)

 Um das auf die Spitze zu treiben, schlüpfe ich in die Haut von Anna Orlando, die behauptet, schon gelebt zu haben, als die badische Prinzessin heimwehkrank vom Zarenhof auf Heimaturlaub kam. Natürlich kennt sie jeden großen Tratsch aus den künstlerischen Salons der Stadt und liest auch schon mal Gerüchte aus alten Zeitungen. Mme Orlando weiß, wie sich ein deutscher Bestsellerautor und ein Verleger im 19. Jahrhundert durch russische Logiergäste eine goldene Nase verdienten; sie hat gesehen, wie man aus einer Anlage zum Schweineabbrühen ein Wellness-Center machte und Thermalwasser mit einem Pülverchen zu angeblichem „Carlsbader Wasser“ schönte. Sie stand mit den russischen Schriftstellergrößen am Spieltisch, faulenzte wie Oblomow mit Gontscharow und erwischte Gogols Muse bei einer Liebschaft.

Etwas ernsthafter geht es dann im November zu - für diesen Monat haben wir die Zusage für eine Ausstellung der Deutsch-Russischen Kulturgesellschaft über die großen russischen Klassiker - ich werde die Ausstellung mit einem Vortrag eröffnen. Und wer weiß, vielleicht wird auch dieser Vortrag anschließend zu einem kleinen Büchlein werden wie schon mein Essay über den großen Dichter und Übersetzer Wassili Schukowski.


Und das ist das größte Abenteuer der Verlegerin in mir, das ich in diesem Jahr mit noch ungewissem Ausgang, aber genügend Mut zu verrückten Ideen versuchen werde: Das Büchlein über Schukowski soll ins Russische übersetzt werden und außerdem in beiden Sprachen als Druckausgabe erscheinen. Einmal ein Buch von mir in Russland sehen ... ein Traum. Vielleicht geht dann auch der Wunsch einer lieben Russin in Erfüllung, die mir einmal aus Sankt Petersburg Stadtpläne und Prospekte geschickt hat: Sie wünscht mir eine Reise nach Osten - oder wie eine Freundin von mir immer sagt: Man muss dieses Land einmal direkt gespürt haben!