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25. September 2013

Vom Überangebot und vom Begehren

Wer kennt dieses Gefühl nicht: Die Haare sind fettig, die Shampooflasche leer, schnell hechtet man in den nächsten Supermarkt. Und da ist zwar das Lieblingsshampoo gerade ausverkauft, aber dafür schreien einem gefühlt 1001 andere Sorten ihre Werbebotschaften entgegen. Es gibt Shampoo für fettiges Langhaar mit Fruchtgeschmack oder Shampoo für fettiges Kurzhaar mit Rottönung ohne Schuppen. Andere Flaschen versprechen gar ein Ende mit Fett; biologisch abbaubaren, garantiert veganen Fruchtgeschmack und Seidenpartikel für die Halbglatze. Welches nehmen? Die Mittagspause ist gleich zu Ende. Das Überangebot macht blind, macht müde und frustriert. Wie einfach wäre der Einkauf, hätte der Laden nur drei Sorten auf Lager!

Was aussieht wie eine Collage von Alexandra Exter, ist der Liegeplatz eines verwöhnten Welpen

Inzwischen haben sich Forscher ernsthaft mit den Qualen aufgrund eines Überangebots beschäftigt. In einer Welt, in der fast alles käuflich zu erwerben ist, in der sogar ständig neue Produkte auf den Markt kommen für Bedürfnisse, die ich im Alptraum nicht ahnte ... da frohlockt der Konsument nicht nur. Er fühlt sich frustriert. Deprimiert. Es wird ihm einfach alles zu viel. Manchmal so zu viel, dass er sich dem Konsum sogar verweigert.

Vor Jahren hat der Focus dazu eine Titelstory geschrieben und u.a. mich dafür interviewt - als Beispiel für eine, die "reduziert" hatte. Ich war ziemlich frisch aus der Millionenstadt Warschau, diesem hypermodernen wimmelnden Zentrum des Neokonsums, zurückgegekehrt ins Landleben Frankreichs. Für den Redakteur war es damals schon eine Sensation, dass jemand nicht täglich in einer Stadt war und erst vorsätzlich mit dem Auto hinfahren musste. Dass jemand kein Interesse an 1001 Shampoosorten hatte, dafür aber noch Zeit fand, Marmelade einzukochen und Küchenkräuter zu ziehen. Der Fotograf kam mit einer alten Klapperschreibmaschine, um mich am Tisch mit Naturkulisse hinterm offenen Fenster abzulichten. Mit Espressotasse und Blumenvase, das machte sich passender als das neueste Modell des Computers, an dem ich tatsächlich arbeitete - in einem sehr schattigen Büro übrigens. "Die Leser sehnen sich nach dieser Einfachheit", meinte der Redakteur. Damals jubelte man noch einem Guru zu, wenn er "simplify your life" rief ...

Kürzlich machte ich eine Beobachtung in Sachen Überangebot: Welpe Bilbo hat in wenigen Wochen einen wahren Reichtum an Spielzeug angesammelt. Das wird gern an die unterschiedlichen Liegeplätze in der Wohnung geschleppt. Mal ist der gefundene Apfel dran, dann der Markknochen, den der Vorgänger in meiner Bibliothek versteckt hatte; da gibt es ein Knautscheschwein und einen toten Volleyball und ein Geschirrtuch zum Tauziehen. Die Menschin dachte, sie sollte mal aufräumen und platzierte das alles an einem einzigen Liegeplatz. Prompt stellte der Hund jegliches Spielen ein! Gelangweilt schaute er sich die Sachen an, fand seinen Liegeplatz nun gar nicht mehr reizvoll und schlappte missgelaunt in den Garten. Dort grub er einen älteren Wirbelknochen aus und platzierte ihn fast trotzig in der Mitte. Das ist Spielzeug, das will ich, nicht deinen ganzen wohlfeilen Krempel, schien mir sein Blick zu sagen.

Menschen sind lernfähig. Deshalb gibt es seinen Lieblingsknochen, ein eklig knatschiges Ding, an dem noch die Fetzen hängen, nur auf Zuteilung. Menschin verbuddelt das Ding bildhaft in der Küche und rückt es nur manchmal heraus. Wenn der Hund sich etwas ganz Besonderes verdient hat. Und siehe da, es passiert Interessantes: Alles Spielzeug dieser Welt verliert sofort jeglichen Reiz. Da kann das Quietscheschwein noch so teuer gewesen sein, das Wurfding noch so ergonomisch wertvoll, Welpe Bilbo vergnügt sich Stunden an seinem wertvollen Aasknochen, den Zweibeiner am liebsten im Müll sähen. Und dann fängt er an, sein Spielzeug wieder auf die Wohnung zu verteilen, nach einem geheimen Muster, das nur er kennt. So viel steht fest: Er hat nie mehr als drei Teile gleichzeitig im Blick. Fängt an zu wandern. Sucht aus. Und apportiert, was er haben möchte. Trotzdem kommt nichts, aber auch gar nichts an den Status seines ekligen alten Knochens heran.

Ich habe viel nachgedacht über die Langeweile eines Hundes angesichts der Überfülle - und sein Begehren nach dem Einfachsten aller Dinge. Das doch so authentisch ist, so klar dieses Ding selbst. Das man nicht mal so gleich und überall hundertfach und austauschbar kaufen kann. Das in seinem Geruch unverwechselbar geworden ist.

Verhält es sich nicht genauso mit dem Buchmarkt?!

Wenn plötzlich immer mehr Cover sich derart ähneln, dass sie austauschbar werden, wenn plötzlich 1001 Vampirromane zu haben sind - entwertet das nicht das Produkt? Könnte mir dann als Leserin im Laden nicht plötzlich genauso übel werden wie im Supermarkt? Weil meine Mittagspause bald vorbei ist, ich auf die Schnelle nicht mehr finde, was mich wirklich befriedigen würde? Empfinde ich noch Leselust oder schon Lesefrust? Zu viel Kram und zu wenig das, was ich wirklich liebe?

Mein Hund hat mich etwas gelehrt und ich denke darüber nach: Was, wenn ich statt der ständigen Verfügbarkeit von all diesen genormten Selbstverständlichkeiten genau das bieten könnte, was jenes Begehren weckt? Es muss manchmal nur ein einfacher Knochen sein. Aber auch Leser haben ihre Lieblingsknochen, auch sie kauen manchmal jahrelang immer wieder auf dem gleichen Buch herum. Was aber macht dieses Buch für sie so einzigartig?

Mein Hund wählt nicht nach Verfügbarkeit. Er wählt nicht nach dem Preis. Die Stapelware von der Kasse, der absolute Hundebeststeller, das Quietscheschwein liegt seit Tagen unbeachtet in der Ecke. Er begehrt diesen einen Knochen, den er nur manchmal haben kann. Er hat Lust auf diesen Knochen. Und ganz gewiss ist da auch ein Bedürfnis (das Zahnen), das ihn wertvoller macht als den toten Volleyball.
Bilbo, erzähl mir mehr über das Vermarkten von Büchern!

13. September 2013

Hollywoodhunde

Weil ich seit Mitte der 1980er immer mit Hunden lebte, habe ich natürlich eine entsprechende Regalabteilung in der Bibliothek: Hundebücher. Besondere mussten es sein, neben jeder Menge Fachliteratur über Schlittenhunde in drei Sprachen steht da ein durchkopiertes Kompendium über Homöopathie für Hunde neben einer wissenschaftlichen Untersuchung über Hundeernährung, es gibt Eberhard Trumlers "Hunde ernst genommen", der über die Zusammenhänge des Verhaltens von Wolf und Hund spricht, Desmond Morris' Dogwatching-Buch "Warum wedeln Hunde mit dem Schwanz?" aber auch mein Lieblingsbuch "Das geheime Leben der Hunde " von der Verhaltensforscherin und Schriftstellerin Elizabeth Marshall Thomas, die heimlich ihre gemischte Meute auf Streifzügen beobachtet hat und sich dabei fragte, was die "Parallelwelt der Hunde" ausmachen mag. Ein Buch suchte ich vergeblich bis heute, ich wusste nur noch, dass es mich besonders berührt hatte. Es war aber auch eines der ersten Bücher auf Französisch, die ich las, als ich Französisch kaum beherrschte - da liest man in Bücher auch schon einmal hinein, was nicht drinsteht! Es war von einem geschrieben, der einen Hollywoodstar auf vier Pfoten betreut hatte - von dem er etwas Seltsames lernte: Kommunikation ohne Worte.


So wird das nie was mit der Filmrolle ...
Zufällig habe ich vorhin dieses Buch in einer kuriosen Ecke wiedergefunden. Es ist von einem gewissen J. Allen Boone und hieß im Original "Kinship with all life", 1954 zuerst by Harper Row erschienen, später bei Harper Collins neu aufgelegt ... ein Dauerbrenner, ein absoluter Bestseller über die Jahrzehnte, zum Schluss sogar von Spiritisten und Esoterikern verhackstückt, pardon, benutzt. Eigentlich ist Boone wohl "nur" ein besonders sensibler Mensch gewesen, aber seine Idee der nonverbalen Kommunikation mit Tieren war damals einfach bahnbrechend. Boone war von Beruf ursprünglich Korrespondent für die Washington Post und produzierte später Filme. Über seine Freunde lernte er auch den damaligen Star Hollywoods und seines Buchs kennen: Strongheart. Er hat Strongheart immer wieder bertreut.

Bei diesem handelte es sich nicht etwa um einen Eingeborenen mit spirituellen Fähigkeiten, sondern um einen deutschen Schäferhund namens Etzel von Oeringen, der eine Polizeihundeausbildung hatte und von einem hundevernarrten Filmpaar in die USA gebracht worden war. Strongheart mit Filmnamen, jener vierpfotige Lehrer Boones, war Anfang der 1920er ein großer Stummfilmstar - und er ist übrigens auch schuld daran, dass plötzlich alle Filmfans in den USA deutsche Schäferhunde haben wollten.

Hunde waren im Stummfilm sehr beliebt - womöglich kam das daher, dass die ersten kinematographischen Aufnahmen noch nah am Zirkusmilieu gezeigt wurden und die Menschen gern Kunststücke sahen. Für spätere Spielfilmhandlungen hatten sie spezielle Trainer, die entweder viel von Hunden verstanden oder gleich aus der Familie kamen. Beim Film landete man als Hund nämlich meist durch Vetterleswirtschaft: Stronghearts Besitzer hatten ursprünglich selbst eine Filmfirma namens Vitagraph, die untrennbar verbunden war mit ihrem Star, dem sogenannten Vitagraph-Hund, einem Border Collie.

Viel berühmter wurde Rin Tin Tin, ebenfalls ein deutscher Schäferhund, der auch gleich die richtige Rührstory für die Presse mitbrachte: Ein Mann namens Lee Duncan hatte 1918 auf einem Schlachtfeld in Frankreich in einem zerstörten Hundezwinger deutscher Besatzer eine halbverhungerte Hündin mit Neugeborenen gefunden und schließlich zwei der Welpen nach Amerika gebracht. Rin Tin Tins Schwesterchen starb, er selbst blieb zunächst bei einem Züchter, der Polizeihunde ausbildete. Und landete dann mitsamt Herrchen wieder in Kalifornien. Herrchen war ein wenig wunderlich. Zuerst rechnete sich Duncan nur aus, sein Hund, der so gelehrig mit Kunststückchen war, könne auf Shows viele Preise abräumen und damit wäre ein Einkommen durch Nachzucht gesichert. Das ging zunächst reichlich schief, bis ein anderer Freund den Hund zufällig beim Agility-Training filmte. Duncan träumte fortan von einem Filmstar auf vier Pfoten, dem zweiten Strongheart, der so reich würde, dass er in Hollywood ganz allein eine eigene Villa bewohnen würde. Armer Hund ... Die restliche Story liest sich ein wenig wie die von Müttern, die ihr Kleinkind auf den Laufsteg schicken und bei jedem Casting vorsprechen. Egal, Rin Tin Tin wurde tatsächlich einer der größten Hollywoodstars auf vier Pfoten!

Wäre noch der drolligste Hundestar meiner Kindheit. Erinnert sich noch jemand an die Stummfilmserie "Die kleinen Strolche"? Da war dieser verrückte weiße Hund mit dem dunklen Fleck ums rechte Auge und dem schwarzen Kreis ums linke - was habe ich den als Kind geliebt! Und nun bin ich durch jenes Buch auf ihn gestoßen: Pete the Pup. In Stummfilmzeiten waren Hunde noch echte Dauerstars - das änderte sich jedoch mit dem berühmtesten Hund aller Zeiten. Ist aber auch kein Wunder, wenn man über Jahrzehnte vor der Kamera stehen muss, so lange hält kein Hundeleben. Deshalb wurde Lassie immer wieder ersetzt - und es ist ein offenes Geheimnis: Meistens war Lassie ein Männchen. Die Schönheitsindustrie hatte ihre Spuren hinterlassen, die Filmemacher waren der Meinung, Männchen machten sich einfach besser wegen des dichteren Fells ...

Promenadenmischung Bilbo hat dagegen ein fröhliches Leben. Er darf aussehen, wie er ist - eine natürliche Schönheit. Im Moment lernt er auch fleißig Kunststücke. Etwa Ball oder Apportiertes loszulassen und vor seine Füße zu legen. Eigentlich kein Hexenzauber, denn man muss nur geduldig abwarten, bis er das im Spiel von selbst macht ... möglichst in der gleichen Sekunde den dazugehörigen Befehl mit Handzeichen sagen und ihn dann derart loben, als habe er einem den Mond vom Himmel geholt. Das immer wieder. Und dann probiert man es mit Handzeichen und Befehl vor der Handlung. Inzwischen hat das sogar schon mehrfach mit Dingen funktioniert, die er verbotenerweise ins Maul nahm. Dann wird er gelobt, als sei er der beste aller Mondfahrer, der eine fremde Galaxie erreicht hat. Zum Film kommt er so nie, aber fremde Galaxien zu erkunden ist ja auch schon etwas!

8. September 2013

Der schmale Grat des Normalseins

Einen Vorteil hat es, wenn einen der Welpe auch nachts auf Trab hält: Man sieht ab und zu die Filmperlen des spätesten Spätprogramms. Ich war beeindruckt von dem Film Awakenings (dt. "Zeit des Erwachsens", 1990) und der grandiosen Schauspielleistung von Robin Williams, der einmal mehr den etwas wunderlichen Arzt gab, und Robert de Niro als Patient und "Versuchskaninchen". Der Plot hätte geradezu nach einem Roman geschrien, wenn er erfunden worden wäre. Aber der Film basiert auf der Wirklichkeit und jener Dr. Sayers war niemand anderes als der weltberühmte Neurologe, Bestsellerautor und Professor Oliver Sacks. Das ist der Mann, der Sachbücher so grandios und spannend erzählen kann, dass man dafür jeden Thriller wegwirft.

Der Film basiert auf einem seiner Bücher, worin er erzählt, wie er 1969 in einem Langzeitpflege-Krankenhaus in der Bronx mit Patienten in Berührung kam, die im Wachkoma zu sein schienen, völlig katatonisch waren und teilweise Parkinson-Symptome zeigten. Sie befanden sich seit 40 Jahren in diesem Zustand, von dem man nicht wusste, ob sie überhaupt etwas wahrnahmen - allesamt waren sie Opfer der bis heute geheimnisvollen Epidemie der Encephalitis lethargica, die zwischen 1915 und 1926 umging. Oliver Sacks hörte damals bei einem Parkinson-Kongress von einer neuen Droge namens L-Dopa, die zu Dopamin umgewandelt werden kann, und nahm Versuche mit den Patienten vor.


Das Wunder geschah: Die Patienten wachten wie aus einem Dornröschenschlaf auf, mussten 40 Jahre "Wegsein" verkraften und konnten berichten, dass sie Besuche der Angehörigen, die Pflege ... alles mitbekommen hatten. Der Schock, von der Zeit des Ersten Weltkriegs auf 1969 umzuschalten, erfüllte die meisten eher mit Lebensfreude - da war so viel Hoffnung, Lust am Leben, an anderen Menschen. Leider bildet der Körper jedoch Resistenzen gegen das Medikament und höchst unerwünschte Nebenwirkungen bis hin zu Psychosen, bevor der Patient irgendwann wieder in jenen "Schlaf" verfällt. Robert de Niro spielte das Wunder der "Menschwerdung", das "Aufwachen" in ein normales Leben und den kommenden Zerfall von Persönlichkeit und Körper absolut glaubhaft und authentisch. Mich hat der Film vor allem aus einem Grund beeindruckt: Dieser Arzt war kein eiskalter Forschertyp, für ihn stand der Mensch im Vordergrund. Das, was die Krankheit und die Genesung mit ihm und seinen Angehörigen machte. Jene Frage, was Normalsein sein könnte und die Theorie, dass Menschsein eben auch außerhalb der Normen möglich ist.

Erstaunlich aber war, dass der Film mir etwas über mich selbst erzählt hat. Woher es kommen mag, welche Buchthemen ich mir auswähle (oder wählen sie eher mich aus?). Ich erinnerte mich plötzlich an meine Jugendzeit. Als ich 14 war, bekam ich von einem Onkel ein Abonnement des Reader's Digest geschenkt. Damals in den 1970ern war die Zeitschrift noch etwas Besonderes und versammelte Literaten wie große Journalisten als Autoren. Aufgewachsen in einem recht buchfernen Haushalt, schmökerte ich mich jeden Monat durstig durch das dicke Heft und konnte die nächste Lieferung nicht erwarten. Es gab darin immer wieder Tatsachenberichte aus der Medizin, die mich total faszinierten. Menschen, die irgendwelche absolut unbekannten oder besonders seltsamen Krankheiten hatten, Menschen, die von den Medizinern aufgegeben worden waren. Und dann packte dieser Mensch oder sein Arzt und am besten beide zusammen das Problem auf eine höchst unkonventionelle Weise an ... und da war wieder Leben möglich und ein wenig Glück.

Man kann darüber schmunzeln: Natürlich war das teilweise der typisch amerikanische Wunderschmalz. Aber es gab darin eben auch Geschichten wie die von Oliver Sacks, hinter denen etwas von Tiefe und existentiellen Dingen hervorblitzte. Etwas von dieser Wahrheit, was das Menschsein ausmacht und dass Durchnormierung nicht das erstrebenswerte Ziel sein kann. Ich habe heute Nacht erst wirklich bemerkt, dass mich diese Lektüre derart geprägt hat, dass ich mir immer wieder Menschen auf dem schmalen Grat als Buchfiguren aussuche, auf diesem Grat, wo dem man auf die eine oder andere Seite wegkippen kann.

Ich war zu dumm und zu naiv, als ich meine ersten beiden Romane schrieb, um das zu erkennen. Aber insgeheim lehnte ich mich bereits gegen jene Verlagswünsche auf, nach denen ich doch eher heitere Frauenromane und Liebesgeschichten verfassen sollte. Stattdessen hat mich in "Alptraum mit Plüschbär" (alter Titel: "Stechapfel und Belladonna") meine Hauptfigur Karen auf der Kippe interessiert: Als sie nach langjähriger Ehe urplötzlich verlassen wird, bricht ihre gewohnte Welt zusammen, kommt ihr das Gefühl für Sicherheit abhanden. Zustände, wie sie viele Menschen ereilen, nicht nur nach Trennungen. Wie setzt man sich nach einer solchen Katastrophe wieder zusammen? Wie findet man seinen Platz wieder in der Welt, einer neuen, ungewohnten Welt? Das auszuloten war die Triebkraft, die mich schreiben ließ. Bei Dahlia im "Lavendelblues" war es dann ein ganz aktueller Anlass: Als ich das Buch schrieb, ging die erste wirtschaftliche Krise um, viele wurden arbeitslos, Firmen gingen bankrott. Wie würden sich drei Frauen unterschiedlichen Alters am Rande der Existenzangst bewähren? Könnten sie es schaffen, sich gegenseitig aus dem Sumpf zu ziehen? Was mussten sie leisten, um ihren Traum auch in einer Zeit zu verwirklichen, die gegen alle und alles zu sein schien?

Irgendwann hatte ich mich von Vorgaben und Verlagswünschen befreit. Es war ursprünglich ein Auftrag, etwas über Vaslav Nijinsky und die Ballets Russes zu schreiben - und natürlich siegte zuerst meine Faszination an der Avantgarde und der kulturellen Leistung dieser Compagnie. Wirklich "gebissen" war ich jedoch, als ich das Buch des Psychiaters Peter F. Ostwald, "A Leap into Madness", entdeckte, der minutiös Nijinskys Krankenakten durchforstet hatte. War der Mann wirklich schizophren gewesen, wie alle Welt heute noch behauptet? Woher kamen seine scheinbar psychotischen Attacken? Wie sehr sind "besessenes Künstlertum" und psychische Krankheit tatsächlich verbunden - oder besser gesagt, woher kommt eigentlich dieser Mythos, alle Künstler seien irgendwie verrückt? Sind vielleicht eher die "Normalen" verrückt, weil sie einfach manches nicht kapieren wollen? Wie drückt sich eine Seele aus, der man langsam alle Ausdrucksmittel nimmt? Inwieweit ist Nijinsky auch Opfer der Psychiatrie seiner Zeit geworden? Und dahinter die Frage aller Fragen: Kann es sein, dass manche psychischen Störungen gesellschaftlich und historisch verankert sind ... und also gar keine Krankheiten im eigentlichen Sinne wären? Diesen Menschen hinter der Fassade und dem Starkult wollte ich in "Faszination Nijinsky" sichtbar machen.

Und irgendwie kleben diese Urfragen weiterhin an mir. Wenn ich nach all den zeitfressenden Geldverdienarbeiten endlich zu dem Luxus komme, an meinem nächsten Roman weiterzuschreiben, so wird auch die Hauptfigur darin eine sehr exotische "Beschädigung" haben. Eine Störung, die laut einem bekannten Psychiatriewissenschaftler angeblich im 19. Jahrhundert erfunden wurde und vor dem Ersten Weltkrieg versiegte ... aber es gibt vermehrt Fälle in unserer Zeit und vor allem dort, wo Menschen unter großen Belastungen zusammenzubrechen drohen. Ich möchte in dem Buch einen wahren Fall zeitlich zurückverlegen und eine Geschichte erzählen, die im wirklichen Leben bis heute nie geklärt werden konnte.

In einem Interview hat mich Sandra Matteotti unlängst gefragt, warum ich so viel "Leid und Düsternis" als Thema wählen würde. Ich habe diese Frage damals gar nicht verstanden. Weil für mich all diese Menschen ungeheuer starke Menschen sind. Wenn eine Romanfigur in voller geistiger und körperlicher Gesundheit, vor Jugend und Geld strotzend, am Pool liegt, so ergeben sich daraus für mich Plots, die mich zu Tode langweilen. Nein, mich interessieren die Menschen auf dem schmalen Grat. Dass dann auch "Wassili Schukowski. Romantiker zwischen den Welten" so einer war, ein Schriftsteller, der einen elenden Kampf mit dem Leben kämpfte ... das ist reiner Zufall, ich schwöre. Der Vortrag, auf dem das Buch basiert, war ein Auftrag. Aber vielleicht ist das schon lange kein Zufall mehr, dass auch Auftraggeber meine Sensibilität für ein Thema nutzen?

Lesetipp:
Interview mit mir in "Denkzeiten"
Leseprobe "Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos"

2. September 2013

Buchjuristerei in Frankreich

Aufmerksame Blogleser werden es vielleicht bemerkt haben: Ich trage mich seit Monaten mit dem Gedanken, einen Verlag zu gründen. Drei Gründe gab es für die Überlegung: Das Behördenchaos in den Griff zu bekommen, dem man in Frankreich mit mehreren Jobs ausgesetzt ist. Für Distributoren u.a. Partner ein ernstzunehmender Geschäftspartner zu sein (womöglich zu besseren Konditionen). Und ja, ich gebe es zu, dem Trash-Image, das Self Publishing im deutschen Buchhandel hat, ein Signal entgegenzusetzen: Achtung, diese Bücher sind professionell gemacht!


Autoren befinden sich in Frankreich ständig in behördlichen Zwischenräumen.
Und weil ich mit einem Teil meines Kopfes immer in der Zukunft hänge, wollte ich all die technischen Möglichkeiten und eigenen Fähigkeiten nutzen, nicht einfach nur Bücher zu verlegen, sondern so etwas wie "Transmedia" zu machen ... ich erzähle meine Geschichten ja auch für Geld in öffentlichen Räumen, Straßen ... halte Vorträge, die ich als Essayband veröffentlichen will, und schreibe auch schon mal für ganz andere Künste. Warum ich bisher so zauderte: In Frankreich denkt man im künstlerischen Bereich, was die Administration angeht, extrem konservativ. Mutige Künstler mit ungewöhnlichen Konzepten können ein Lied davon singen, welchen Papierkram man mit einem einzigen Kunstwerk auslösen kann, das in keine eindeutige Amtsschublade passt. Kommt hinzu, dass der Fiskus eine völlig andere Sichtweise hat als die Sozialbehörden. Spaß macht das nicht wirklich.

Frankreich tut viel für seine Künstler, aber es war noch nie einfach, etwas für sich getan zu bekommen. Schriftsteller leben unter einem Ausnahmestatut. Sie können ihr Einkommen entweder als "salaire" deklarieren (also wie den Lohn eines Angestellten) oder als Gewinn - und dann werden sie Firma. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Auf sozialer Ebene kann man zwar Errungenschaften wie Renten- oder sogar Arbeitslosenversicherung erreichen, aber es gibt noch nicht wirklich ein Pendant zur Künstlersozialkasse wie in Deutschland. In Frankreich entscheidet die AGESSA, die Krankenkassen- und Sozialabgaben für Autoren verwaltet, wer Schriftsteller in ihrem Sinne sein darf: Man muss bei "echten" Verlagen einen Mindestumsatz pro Jahr machen und darf nur ganz streng vorgeschriebene Arten von Texten schreiben: Nämlich eigentlich nur Literatur, Belletristik und nicht allzu wissenschaftliche Sachbücher. Journalismus, Kommunikation, PR ... all das fällt beim sogenannten "auteur artiste" weg ... und jetzt wird es für Multitalente schwer: Jeder Beruf hat seine eigenen Pflichtkassen! Aber wer schafft die Buchhaltung, seine Gewinne mit allem Aufwand auf fünf Kassen prozentual korrekt zu verteilen? Die sich dann irgendwann streiten, wer bezahlt?

Kurzum: Bis gestern morgen hielt ich einen Verlag, der mich in all meinen künstlerischen und brotberuflichen Auswüchsen verlegt, für die beste aller Ideen. Aber ich hatte die Rechnung nicht damit gemacht, dass Self Publishing, das mir inzwischen den größeren Anteil beim Bücherschreiben einbringt, in Frankreich behördlich absolutes Neuland ist! Nur eines ist klar: Noch lehnt die AGESSA Self Publisher kategorisch ab! Alles andere ist Ausdeutungssache: Wird man Händler und dem Chambre de Commerce abgabepflichtig, weil man bei Lesungen und vielleicht aus dem eigenen Webshop heraus Bücher verkauft? Oder bleibt man intellektuell schaffend und künstlerisch tätig, weil man sich ja eher um die Inhalte und die Gestaltung kümmert und andere verkaufen lässt? Eine klitzekleine Streitfrage, die über fiskalisches und soziales Statut entscheiden, mit unvorstellbar großen Folgen.

Ich habe mir dann gestern einen Wolf recherchiert durch all die juristischen Texte im Internet - denn die Behörden vor Ort sind gnadenlos überfordert. Auch wenn sie staatlicherseits verpflichtet sind, mich zu meinen eigenen Gunsten zu beraten - wie sollen sie das erfüllen, wenn sie selbst die Möglichkeiten nicht kennen? Zu viele Neuverordnungen und Paragraphenänderungen überschwemmen selbst die erfahrenen Finanzbeamten. Wer in einem so schrägen und unüblichen Bereich gründen will, versorgt sich besser selbst mit Wissen. Und da wirkt es wenig tröstlich, dass die AGESSA verkündet, bis nächstes Jahr sei eine Regierungskommission dabei, endlich all die Statuten für Autoren den modernen Gegebenheiten anzupassen und womöglich eine eigenen Sozialversicherung zu schaffen. Ein Jahr warten auf Ungewisses?

Die Folgen einer Verlagsgründung sind in Frankreich nicht ohne. Es funktioniert fast zu einfach: Man sucht sich eine passende Firmenstruktur aus (jede Unternehmensform ist möglich) und beschreibt seine Tätigkeit so, dass man als VerlegerIn eingeordnet wird. Das lässt sich mit wenigen Mausklicks online machen oder beim zuständigen Finanzamt, wo man ein riesengroßes Formular ausfüllt, das recht einfach gestaltet ist. Meist nur 24 Stunden später hat man die Bestätigung der Firmeneröffnung im Briefkasten, nach ein paar Wochen die INSEE-Nummer, die Zaubernummer, die man auf allen Papieren angeben muss, und die Unternehmen recherchierbar machen. Die Folgen einer Verlagsgründung sind in zweierlei Hinsicht zu bedenken: Mit den meisten Firmenformen, die sich für kleine Strukturen eignen, kann man mit seinem Privatvermögen haftbar werden. Und man zahlt eine gnadenlos hohe Sondersteuer für Unternehmer, die sich eher an Konzernen orientiert, denn sie wird willkürlich kommunal festgelegt, für alle. Ich recherchierte also nach Alternativen und fand einiges über Self Publishing heraus.

Wer in Frankreich nur verschwindende Umsätze mit selbst verlegten Büchern macht und gar nicht erst in Größenordnungen etablierter Verlage kommt, braucht im Grunde gar nichts zu erklären oder zu gründen - er muss die Gewinne nur in der richtigen Rubrik des Steuerformulars bei der Einkommensteuererklärung deklarieren. Allerdings muss er sich irgendwie selbst kranken- und sozialversichern (Pflicht) und kann keine "KSK" in Anspruch nehmen, falls das nicht über einen anderen Beruf läuft. Er kann auch keine Unkosten absetzen außer einer automatischen Pauschale und muss unter einem bestimmten Einkommenslimit bleiben. Kommt hinzu, dass dieser Status nicht eindeutig mit Gesetzen abgedeckt ist, man muss also bei den Behörden vorsprechen und sich am besten schriftlich geben lassen, dass das so in Ordnung ist. Was übrigens nachher auf dem Buchdeckel steht, ist unerheblich und muss nicht von einem Verlag kommen, sondern kann eine bestimmte, selbst herausgegebene Reihe bezeichnen.

Je mehr ich mich mit dem französischen Verlagswesen beschäftigte, desto unguter wurde mein Gefühl. Da stimmte einfach nichts auf meine Bedürfnisse - und die Abgaben waren einfach zu happig. Bis zu 4000 Euro pro Jahr durften das nach einigen Angaben schon mal sein, auch wenn man Verlust macht, Und ich will ja gar nicht vornehmlich in Frankreich verkaufen, sondern eher im deutschsprachigen Raum. Es gilt natürlich immer der Geschäftssitz. Wohnen kann ich, wo ich will, aber ich muss meine Geschäfte an einem festen Sitz abwickeln und dort ansprechbar sein. Ein Verlag in Deutschland ist für mich also nicht drin.

Und dann passierte das, was für Frankreich so typisch ist: In einem Land, in dem sich die Administration mit Sonderregeln überbietet, findet immer irgendwer die einfachste Lösung aller Lösungen. Die dann, weil sich der Dschungel der Paragraphen gerade an anderer Stelle verwächst, einfacher nicht sein könnte. Ich gründe eine Firma, die gleiche, wie ich es für den Verlag auch hätte tun müssen. Aber diese Firma widmet sich all meinen intellektuellen und künstlerischen Schreib- und Veröffentlichungsarbeiten und kann Texte und Erzähltes aller Art in die Welt blasen. Ich darf nur keine Orgeln oder Möbel für Geld restaurieren und keine Filme fürs Fernsehen oder Kino produzieren! Ja. Kein Witz. So sieht das aus mit den Schubladen.

Ich bin dann weiter Schriftstellerin und Künstlerin - und Unternehmerin. Plötzlich gilt für mich wieder die große gesetzliche Errungenschaft, dass Autoren grundsätzlich von jener üblen Firmensondersteuer befreit sind, weil sie ja nicht so viel verdienen wie ein Shampoofabrikant. Ich kann sogar mein Privatgeld aus der Haftung nehmen. Ich kann superschnell und supereinfach gründen, solange es die Politiker nicht umwerfen: Als "auto-entrepreneur", einer Art Ich-Firma. Die wird demnächst im Parlament neu verhandelt. Im Oktober kann alles schon wieder anders aussehen! Sie ist vor allem in der Gründungsphase interessant, weil alle Abgaben automatisch und vereinfacht per Deklaration im Internet erfolgen. Ein Freund bestätigte mir, dass der Staat sogar so schnell ist, dass das Geld zwei Stunden nach der Deklaration schon abgebucht ist. Endlich kein Papierkram mehr! Und wenn der Gewinn dann das Limit übersteigt, landet man automatisch in der nächsten größeren Struktur.
Nur muss man hier wieder die Behörden überzeugen dank Doppelstatut der Schriftsteller und Self Publisher: Man ist kein Händler, sondern intellektuell tätig. Eingetragen wird eine solche Firma auf den eigenen Namen, aber ein Fantasiename für den Buchdeckel und das öffentliche Auftreten ist zusätzlich möglich.

Tja, so einfach kann das Komplizierte sein! Auch stinknormale Firmen können Bücher machen! Und was besonders wichtig ist: Sie müssen sich natürlich trotzdem ans Verlagsrecht halten. Wenn ich Glück habe und die Politiker den Schriftstellern gewogen sind, dann bekomme ich nach jener Verhandlung Mitte 2014 vielleicht sogar die Möglichkeit, bei Krankenkassen- und Sozialbeiträgen durch eine Art KSK Geld zu sparen. Bis dahin zahle ich wie eine ganz normale Unternehmerin. Außerdem ist eines zu beachten: Wer die Bücher anderer Autoren herausbringt, muss einen Verlag gründen - obige Lösung gilt nur für Self Publishing. Und wer nennenswerte Umsätze durch Bücherverkauf in einem eigenen Laden oder Webshop macht (das meint ein paar tausend Bücher pro Jahr), muss sich ins Handelregister eintragen.

Ich geh dann mal gründen! Einen "Verlag", der gar kein Verlag ist und alles schöpfen, schaffen und verbreiten kann, was das "Prinzip Buch" sprengen mag. Ein Buch genauso wie Bühnentexte oder Happenings auf der Straße. Nur das Restaurieren von Orgeln werde ich mir verkneifen müssen.