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31. Oktober 2012

Halloween im Elsass?

Oh, wie sich die Halloween-Gegner gerade wieder ereifern über den angeblich amerikanischen Brauch! So viele wissen nicht, dass das Totenfest erst aus dem alten Europa von Auswanderern in die USA gebracht wurde. In ehemals keltisch besiedelten Landstrichen markiert Samhain den Beginn des neuen Jahreszyklus. Auch im Elsass gab es einst eine lebendige Kultur und Rituale um diesen Tag, die aber die Kirche so erfolgreich ausgerottet hat, dass die modernen Bräuche die alten überlagern. Aus Anlass des Tages hier eine Leseprobe vom Anfang meines Buchs "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt", das 2013 neu bei Suhrkamp-Insel erscheinen soll - und als E-Book bei edition maeve.

Butternuss-Kürbis mit frischen Kräutern

Oktober: Buckliges Elsass 

Mord im Hopfenland

"Wenn Altweibersommer und Herbst sehr warm waren, bleiben zum letzten Tag im Oktober kaum noch reife Kürbisse übrig. Doch was wäre das frostige Halloween ohne die orange leuchtenden Grimassen auf Eingangstreppen und Gartenpfosten! Zum alten keltischen Neujahr mummeln sich die Knospen des nächsten Frühlings winterfest ein. Neubeginn und Geburt bereiteten sich nach altem Glauben in der Nacht vor, mit dem Sterben.
Noch vor sechzig Jahren haben die Kinder im Elsass Futterrüben ausgeschnitzt. Mit den beleuchteten Fratzen auf Stecken zogen sie durch die Dörfer, setzten den Alten und Kranken die leuchtenden Geistermasken als Schutz und Geleit in eine andere Welt ins Fenster. Weil er „brutal“ erschien und die Kirche etwas gegen Geisterglauben hatte, wurde der elsässische Brauch abgeschafft. Über Amerika findet die europäische Tradition seit ein paar Jahren zurück. Es gab sie nicht nur in Irland, sondern in jedem ehemals keltischen Landstrich. Die elsässischen Großeltern derer, die heute den „amerikanischen Firlefanz“ bekämpfen, haben als Kinder noch am Tag nach der Ahnennacht Couplets für die Toten an den Türen aufgesagt. Der spielerische Umgang mit dem Vergehen als Chance zum Neuanfang ist nicht tot zu bekommen.
Lydie und ich stecken bis zu den verklebten Ellenbogen im Kürbis, schon die zweite Tonschüssel quillt über vom saftigen Fruchtfleisch, das blumig duftet. Hier im Alsace Bossue, dem Buckligen Elsass im Nordwesten an der Grenze zu Lothringen, ticken die Uhren etwas langsamer, wird der alte Brauch noch nicht nach dem Vorbild von Supermarktketten in Plastik und Spezialprodukten gefeiert.
Die Küche in Lydies Hof ist ein Saal, geplättelt mit Zementfliesen aus Jugendstilzeiten, mit verschlungenen Lilien in Kaffeebraun, Ocker und Himmelblau. Unsere Schritte hallen. Ein Trog aus behauenem Granit dient als Spüle. Meinen neugierigen Blick an die Wand auf der Schmalseite kommentiert Lydie sofort.
„Ein alter Bäckerofen. Mein Großvater hat darin Flammekueche gebacken und das halbe Dorf eingeladen. Ja, in dieser Küche könnte man ein ganzes Restaurant bekochen! Für uns lohnt sich das nicht mehr, der Ofen frisst riesige Holzknüppel. Und im normalen Herd wird der Flammekueche einfach nichts.“
„Und das da?“ Ich deute auf zerknülltes Zeitungspapier in einem Korb.
Lydie lacht. Mit ihren Sommersprossen und rotblonden Locken ähnelt sie einem irischen Klischee. „Ach das – das braucht Mélie für die Kartoffeln heute Abend!“
Das Geheimnis ihrer Haushaltshilfe, Kartoffeln noch kartoffeliger schmecken zu lassen, klingt eigen. Keine Frage, dass dem in diesem Land fast heiligen Gemüse ein eigener Topf reserviert wird! Am besten ein schwerer, aus Gusseisen und nicht emailliert. Nichts darf ihn berühren außer Kartoffeln und ihren Zutaten. Nichts, vor allem kein Spülmittel. Er wird mit Zeitungspapier ausgerieben, setzt Patina an und den rauchigen Duft frei, wenn Mélie darin zuerst Zwiebeln und ganze Knoblauchzehen in wenig Schmalz andünstet, die rohen, geschnittenen Kartoffeln dazu rührt und immer wieder mit dem hölzernen Löffel wendet. Erst wenn die Kartoffeln leicht knusprig werden, kommt der schwere Deckel auf den Topf. Mélie schwört auf den Holzherd. Da könnten die Bratkartoffeln stundenlang bei niedrigster Hitze ohne Fett „reifen“...."
(c) Petra van Cronenburg, alle Rechte vorbehalten

30. Oktober 2012

Roco oder von der Liebe und vom Tod

Rocco geht es gut, er lebt! Dank der ungeheuer großen Anteilnahme von allen Seiten hier ein kleiner Bericht. Disclaimer: Dieser Text ist nichts für extreme Sensibelchen, Vegetarier und Leute, die mit den Essgewohnheiten anderer Kulturen Probleme haben.

Die Männchenvariante geht auch schon ohne Wackeln.

Angefangen hatte alles am Donnerstag morgen, als mir auffiel, dass mein absolut lebendiger Hund plötzlich müde und faul war und ständig unterm Schreibtisch lag. Weil ich selbst durch den Wetterunschwung müde war, dachte ich an nichts Schlimmes, aber bis zum Abend war Rocco völlig apathisch, hatte einen geblähten, harten Bauch und Schmerzen. Ich bin dann am späten Abend zum Notdienst in die Tierklinik und hatte das Glück, dass der Chef persönlich Dienst hatte. Doch die üblichen "Verdächtigen" wie z.B. Magendrehung fielen aus. Der Arzt nahm Blut für einen Gesamtcheck und bestellte mich gleich für den nächsten Morgen. Im Nachhinein wird mir schlecht, wenn ich daran denke, wie ich den armen Kerl noch bewegte.

Am nächsten Morgen war das Blutbild niederschmetternd: die roten Blutkörperchen hatten einen extrem niedrigen Wert. Röntgen und Ultraschall zeigten die Ursache, die bisher Roccos Leben eigenartigerweise kaum beeinflusst hatten - denn selten, nur ab und zu mal Durchfall ist noch nichts Ungewöhnliches. Diagnose: Tumor auf der Milz. Und der Arzt zum Glück so erfahren, dass er das Schlimmste ahnte.

Was dann ablief, erlebte ich wie in Trance. Weil Rocco vor noch nicht so langer Zeit schon eine schwere OP hinter sich hatte und im Dezember zehn Jahre alt wird, fragte ich natürlich nach den Chancen. Ob man dem Hund noch eine OP antun sollte. Ich erfuhr, dass man ohne Milz leben kann und Milztumoren in den meisten Fällen gutartig sind. Und dann fuhr mich der Arzt regelrecht an: "Schauen Sie Ihren Hund an, das Tier will leben!" Schnell die Papiere unterschrieben, den Hund hievten sie schon auf den OP-Tisch. Notoperation.

Freitag gegen halb sechs konnte ich den Patienten dann schon wieder abholen. Und auch das verlief zwischen Trance und Schock. Bevor ich Rocco sah, erklärte mir der Arzt, der Tumor habe angefangen, im Körper zu faulen, sei dadurch aufgebrochen. Blutverlust durch die Milz führt ganz schnell zum Tod. Vier Liter Blut waren in die Bauchhöhle geflossen. Etwa acht Liter hat so ein Hund. Dann kam der Chirurg mit einer Schüssel wieder, ohne Vorwarnung. Etwa eine große Salatschüssel. Darin schwamm dunkelrot ein Organ in einer Menge Blut. Nur ungefähr ein Liter. Zwei Schüsseln voll seien es gewesen. Ich durfte mir dann die Milz und den Tumor anschauen.

Das erste, was mir einfiel, war die Frage, ob er das mit den Tierhaltern immer so mache und keine Angst habe, dass ich umfallen könne. "Keine Angst, wir heben sie dann schon wieder auf." Ja, ein paar seien schon mal umgekippt, aber in einer Klinik könne ja nichts passieren, man kümmere sich dann schon. Das zweite, was mir in den Sinn kam, war der perverse Gedanke, dass so ein Tumor eine eigene gefährliche Schönheit habe, als wolle er selbst ein Organ sein. Und dann der Gedanke: Wir verdrängen so wunderbar Krankheit und Sterben. Wir reden von Gewächsen wie von seltenen Blumen und von Krebs, als befiele uns ein Tier. So ganz anders ist es, wenn so ein Tumor dingfest gemacht in einer Schüssel voll Blut schwimmt. Wenn einem der Chirurg sachlich Fakten erzählt und wie an einem Präparat alles zeigt. Würden wir mit solcher Offenheit bei Menschen manches mehr verstehen, anders sehen?

Ich muss niemandem sagen, dass solche Tage einen an die Grenze bringen und man sich plötzlich sehr lebendig der Endlichkeit bewusst wird. Ja, so ein Tier ist wie ein Freund. Und weil es bedingungslos liebt, ohne Wenn und Aber, fühlt sich Endlichkeit besonders schlimm an. Hund und Mensch konnten in diesem Fall nur eins tun: Viel schlafen, sich erholen und vor allem jede Minute miteinander genießen.

Der Patient wackelte dann mit einem Blick ins Sprechzimmer, der mir sagte, wie recht der Arzt hatte: Ja, dieses Viech wollte leben und es hatte trotz des Narkosedusels schon wieder neugierig Anteil am Leben. Muss ich sagen, dass sich Rocco in die Herzen aller Assistentinnen eingeschlichen hat? Die umzirzten ihn um die Wette und erzählten mir von einem so extrem braven Patienten, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie meinen frechen Hund meinten.

Rocco erholt sich zusehends und die schlimmen Tage sind geschafft, in denen es sich entschied, ob sein Herz überhaupt mitmacht. Aber der extreme Blutverlust verlangt seinen Tribut: Drei Wochen lang ist jeder Spaziergang verboten und er muss ruhig und gemächlich leben. Bis die roten Blutkörperchen wieder aufgebaut sind. Und wie baut man die auf? Am besten mit rohem roten Fleisch, meint der Tierarzt.

Mit dem Hund im Auto bin ich also nach der Klinik mit quietschenden Reifen vor dem nächsten Supermarkt vorgefahren. Zum Metzger gerannt und gefragt, was er so für den Hund hätte. Tja, Abfälle halt, so alles Mögliche drin. Nö, das dann doch nicht, Haut und Sehnen und so - bringt's ja nicht. Und sonst, billiges rotes Fleisch? Dabei entspinnt sich, wie immer beim französischen Metzger, ein Schwätzchen. Ja, der Hund bräuchte es nach einer OP zur Blutbildung. Lächelt der Metzger wie ein Drei-Sterne-Gourmetkoch und meint, ja da habe er gerade etwas Perfektes im Angebot: "longe de cheval", Pferdefleisch. Noch nahrhafter als Rind. Madame hat sofort zugelangt. Und daheim Portionen geschnitten. Schlimm nur, dass das Fleisch so wunderbar frisch und von so ausgesuchter Qualität war. Rocco in allen Ehren, aber erst habe ich mir selbst eine dicke Scheibe abgeschnitten. Die wird zu einer der leckersten Elsässer Spezialitäten geköchelt: Rossbiff. Und das schreibt man tatsächlich so. Früher gingen die Bauern am Samstag Rossbiff essen, mit Pommes und grünem Salat, heute erkennt man die guten Landkneipen noch daran.

Noch ein Leberchen zwischendurch ... wir denken in Bluteinheiten. Und weil ich Rocco im Auge behalten muss, damit er sich nicht selbst die Fäden zieht, gibt es nichts Gemütlicheres als "gemeinsames" Kochen. Mein Blog hat mich nämlich beim Metzger auch heimgesucht, der gerade frisches Lammhirn anbot. Ich hab mir ein Herz gefasst und dumm gefragt, ob man denn nach BSE und all diesen Gefahren noch welches essen dürfe. Habe erfahren, dass die französischen Vorschriften der Kontrolle für die Lämmer inzwischen so scharf sind - ja, das könne man schon seit geraumer Zeit wieder essen. In Frankreich vertraut man seinem Metzger. Vielleicht hilft ja das Hirn dem Hirn, so wie das Blut dem Blut hilft? Madame hat auch hier zugegriffen. Nach gefühlten Urzeiten.

Was macht man sonst so mit einem schwerkranken Hund? Abschalten. Kaum noch Internet. Urlaub war ohnehin angesagt. Gute Bücher satt. Und wie das Leben es so will, stolpere ich über eine wunderbare Lektüre, die genau das bringt, was mich in dieser Zeit so beschäftigt: Letztlich dreht sich in der Literatur wie im Leben alles um die Liebe und den Tod. Letztlich bringt erst das die Tiefe im Schreiben, wenn ich mich selbst diesen Themen stelle, sie nicht verdränge. Mein Buchtipp - nur vordergründig ein Buch über amerikanische Tramps, hintergründig sehr viel mehr: William T. Vollmann: Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild, Suhrkamp. Dass ich indirekt durch Rocco auch für mich wieder eine uralte Form wiederentdeckt habe, mit der ich als Journalistin reussierte, ist auch so ein kleines Wunder: Die Reportage, genauer gesagt, die literarische Reportage.

Kurzum: Danke der Nachfrage - Mensch und Tier genießen die Liebe und das Leben in vollen Zügen, eingedenk aller Endlich- und Unendlichkeit. Und während der Hund hoffentlich fleißig rote Blutkörperchen bildet, reifen in der Menschin literarische Gedanken heran. Berufsdeformation ;-) ...

24. Oktober 2012

Leseprobe mit Plüschbär

Ein Bär drängt sich ins Bild - und wird demnächst noch für Trubel sorgen. Einstweilen kann ich ihn nur mit einer Leseprobe stillhalten. Aus dem Kapitel "Alptraum mit Plüschbär" des gleichnamigen Romans, der als E-Book zu haben ist.
Protagonistin Karen hat die ersten drei Monate nach der plötzlichen Trennung von ihrem Mann überlebt. Zum ersten Mal denkt sie darüber nach, was sie selbst falsch gemacht haben könnte - da kommt ihr eine Erinnerung aus frühester Kindheit in den Sinn:


"Woher kommt dieses große Liebessterben, warum verlöscht das, was man für unverbrüchlich und bedingungslos hält, so schleichend und unsichtbar? Ich erinnere mich an eine Szene, an die ich mich nicht erinnern dürfte, weil ich damals erst zwei Jahre alt war. Ich spüre noch den warm schmeichelnden Stoff meines Trägerrockes, den mir meine Mutter morgens zuknöpft. Für einen Tag, der größer sein soll als andere. Meine Finger gleiten gerne in die riesigen Knöpfe, die so glatt sind wie die Unterarme meiner Mutter und in deren Vertiefungen man unaufhörlich Kreise ziehen kann. Meiner Mutter gefalle ich so, ich entspreche ihrem Bild eines adretten Kindes, dessen schneeweißes Blüschen unterm gefältelten Trägerrock signalisiert: Da ist eine liebende Mutter, die besser ist als alle anderen Mütter, weil sie ihr Kind auch an einem solchen Tag perfekt herausputzt.

Ich fühle mich geborgen in meiner Woge aus Dunkelblau und Meeresgrün, weil sie nach den Tagen duftet, an denen auch mein Vater Zeit für mich hat. Dieser fremde Mann mit den großen schwarzen Schuhen und den schwarzen Haaren, der mich zu Beginn solcher Tage zuerst zum Weinen bringt, weil ich ihn sonst nie im Zimmer sehe. Die meiste Zeit kenne ich diesen Mann nicht, aber ich weiß, dass wir wegen ihm eine Familie sind. Er ist mitgekommen auf diese lange Reise und ich bin glücklich. Das Glück ist fast unerträglich. Ich fühle diesen Rock, der nach den Tagen riecht, an denen mich gleich zwei Menschen lieb haben. Und mein Teddybär darf mich begleiten. Ich erzähle ihm, wie aufregend das ist, dass mich mein ganzes Nest an einen anderen Ort bringt.

In einem späteren Erinnerungsbild sehe ich mich schreien, weil mir eine fremde Frau den Teddybären weggenommen hat. Der ganze Raum scheint voller Frauen zu sein und sie fühlen sich kalt an, steif wie die Tischdecken, die meine Mutter auflegt, wenn die „andere“ Oma kommt. Die Frauen haben keine Haare und dünne Lippen. Sie tragen steife Tischdecken auch auf dem Kopf. Als eine von ihnen beginnt, meinen Trägerrock aufzuknöpfen, bricht meine Welt zusammen. Die großen runden Knöpfe dürfen nur ich und meine Mutter schmeicheln. Die Frau schmeichelt nicht, sie reißt. Wo ist meine Mama, warum ist mein Vater draußen geblieben? Meine Mama kommt nicht. Die fremden Frauen reißen und zerren und reden Dinge über mich und meine Mama. Sie kommt nicht, obwohl sie mein Schreien hören muss!

Sie kommt nicht, weil sie mich hereingelegt hat. Sie hat mich in meine blaugrünen Nestwogen gehüllt und meinen Teddybären teilhaben lassen, sogar den fremden schwarzen Mann bestellt, nur um mich zu verraten und zu verlassen. Die fremden Tischdeckenfrauen mit den kalten Augen dürfen meine Knöpfe berühren. Die, die es tun muss, ist böse auf mich, und ich weiß, dass sie gleich mit mir brüllen wird. Meine Mutter muss das gewusst haben. Sie hat mich nicht einfach nur ausgeliefert. Sie hat mich verraten, weil sie den kalten Frauen erlaubt, mir den Rock der schönen Tage wegzunehmen. Sie hat es gewusst und sie hat mir nicht das gehasste Kleid angezogen, das meinen Körper kratzt wie die Stimme der Frau, die jetzt schimpft, ich sei ein ungezogenes Kind. Die mir sagt, ich solle stillsitzen, wenn ich meinen Teddybären wiederhaben will. Meine Mutter hat meine Gefangenschaft und die meines Bären verursacht, liebevoll, mich küssend. Beide Menschen haben mir gesagt, wie sehr sie mich lieben.

Ein großer freundlicher Schwan, der aussieht wie ein Vater, erzählt mir, dass ich nun brav im Krankenhaus bleiben müsse und bald wieder zu meinen Eltern dürfe. Ich weiß nicht, wo ich bleiben möchte. Im Bett neben mir liegt ein trauriger Junge. Wir lassen unsere Teddybären zwischen uns fliegen. Wir liegen unter einer gespannten, an den Gitterstäben festgebundenen Decke, die sich anfühlt wie die Frauen. Das Bewegen in diesem schneekalten Gefängnis fällt uns schwer, aber das ist auch gut so. Denn jede Bewegung unter der gespannten Decke verursacht einen noch kälteren Wind. Wir sind traurig und auf ewig festgebunden im Eis der Tischdeckenfrauen.

Deren Welt treibt uns schmerzendes Weiß in die Augen, und obwohl er die gleiche Farbe trägt, fehlt uns dieser Mann. Warum kommt der freundliche Schwanenmann nur so selten? Er hat warme Hände, wenn er uns den Bauch abtastet, und er hat ein warmes Lächeln. Er macht weniger Angst als der Vater, weil er nicht so finster scheint. Aber am meisten lieben wir ihn, weil die Tischdeckenfrauen in seiner Gegenwart verstummen und nur noch lieb mit uns reden. Der Schwanenmann bleibt wieder aus. Aber unsere Teddybären fliegen über den Abgrund, den unsere Mütter betrachten. Jemand erzählt mir, die Gesichter hinter der Glasscheibe seien unsere Eltern.

Wir interessieren uns nicht für die gläsernen Abziehbilder an der Wand. Unsere Eltern haben unsere Liebe wie eine Tischdecke geplättet, wie an den Tagen, an denen die „andere“ Oma kommt, die sie nicht leiden können. Wir Kinder verschwören uns gegen die falschen Glasmenschen und lassen Teddybären fliegen. Die überwinden Bettschluchten und Bänder an Gitterstäben. Sie erzählen uns von der Wärme in den anderen kleinen Körpern. Die kalten Frauen werden böse, wenn die Bären fliegen, aber sie sind dumm. Sie können nicht hören, was uns die Bären erzählen. Deshalb lachen wir glücklich.

Wir vergessen unsere Mütter, weil unsere Mütter uns vergessen haben. Wir haben plötzlich gelernt, dass manchmal die Liebe in den Abgrund zwischen zwei Betten fallen kann. Manchmal wird sie zerrissen, wenn man sich in das Kleid glücklicher Nesttage hüllt. Wir aber werfen uns in hohem Bogen Liebe zu – die Gitter werden wir überleben."

Leseprobe aus Petra van Cronenburg: Alptraum mit Plüschbär, edition maeve (Kindle / das Buch erschien in der Originalausgabe unter dem Titel "Stechapfel und Belladonna bei Bastei-Lübbe / epub für 2013 geplant).
Längere Leseprobe herunterladen / Buch kaufen

Über das Buch:

Karen ist spezialisiert auf heile Welten: Im Beruf konzipiert sie heitere Vorabendserien, privat pflegt sie die glückliche Ehe-Idylle. Bis ihr Ehemann sie nach 18 Jahren überraschend verlässt.
Gummibärchen, Prosecco und Seifenoper-Klischees bieten ihr nur ungenügenden Trost. Sie ertrinkt in Selbstmitleid – bis ihre exzentrischen Freundinnen und ein schräger Scheidungsratgeber sie auf neue Gedanken bringen.

Glück, so sagen sie, gibt es nicht geschenkt - aber man kann sich den Zugang dazu organisieren lassen. Von Profis. Etwa in zweifelhaften Dating-Börsen. Bei durchgeknallten Fernsehhexen. In dubiosen Selbsterfahrungsseminaren. Über endorphinstrotzende Ernährungs-Coachings.
Anfangs verzweifelt, dann aber mit wachsender Erheiterung klappert Karen all die angesagten Spielarten der modernen Glückssuche ab – ein absurd-wahnwitziges Unterfangen. Deshalb entschließt sie sich zu einem noch verrückteren Vorhaben ...

"Liest sich wie ein appetitliches Menu, duftet ein wenig literarisch und schmeckt nach amüsanter Unterhaltung."
(Rheinische Post)

Petra van Cronenburg lebt als Grenzgängerin seit über 20 Jahren in Frankreich. Die Journalistin, Autorin und Übersetzerin hat zwei Romane und zahlreiche Sachbücher in renommierten Verlagen veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. "Alptraum mit Plüschbär" erschien wie ihr Roman „Lavendelblues“ auch auf Litauisch.

20. Oktober 2012

Gartenspaß für trübe Tage

Ich hatte beim Übersetzen dieses Garten-Geschenkbuchs im vergangenen Jahr einen riesigen Spaß: Es gab in dem Original, das beim Pariser Verlag Larousse erschienen ist, jede Menge zu entdecken. Da waren kleine Zettelchen in Körben und Taschen versteckt, Heftchen ließen sich aufklappen und Informationen auseinanderfalten. Das Kind in mir, das ohnehin die alten dreidimensionalen Aufklappbücher liebt, fand ebenso Befriedigung wie die Hobbygärtnerin. Auch wenn viele Texte Altbekanntes in neuem Gewand erzählen, habe ich noch so manchen Trick entdeckt, den ich noch nicht kannte. Und ich pflege manche Pflanze inzwischen anders oder habe neue Pflanzen im Garten ausprobiert.


Trotz der enormen Anstrengung einer Speedübersetzung (ca. 4 Wochen für Übersetzung und Überarbeitung) wurde mir diese Arbeit also nicht langweilig. Manche Texte waren so gut versteckt, dass ich gemeinsam mit der Lektorin noch kurz vor Schluss verschollene Zeilen fand. Ein winziges Blättchen hatte sich sogar frech unter meinem Tischbein versteckt. Vor allem aber tat dieses Buch im eiskalten grauen Januar ungeheuer wohl - mit seinen Farben und den Träumen vom erneuten Blühen und mit all den Plänen, was ich gern einmal umsetzen wollte.

Ich selbst verdiene am Verkauf nichts, empfehle aber gern das Buch als Geschenk für Gartenfreunde, die eigentlich schon alles haben. Die übersetzte Version aus dem Kosmos Verlag folgt dem Original erstaunlich treu in Bildern und Layout und ist jeden Cent wert!

Catherine Delvaux (Übersetzerin Petra van Cronenburg): Meine Gartenwelt: Kleine Schätze und praktisches Wissen für Gartenfreunde, Kosmos Verlag.


15. Oktober 2012

Das Geheimnis des Kartoffelsacks

Das war noch nie da: Ein Kartoffelsack im Briefkasten? So sehen Belegexemplare von Zeitschriften aus, die im dicken Flugzeug von Frankfurt ins Elsass über den Zoll gingen. Aber warum ein Kartoffelsack? Zum Glück konnte zur Aufklärung der Funkverkehr des Flugzeugs mitgeschnitten werden!



Pilot kommt aus Frankfurt, kreist über dem Elsass: "Tower, meideimeideimeidei, haben die überhaupt 'nen Flugplatz?"
Tower: "Moment, müssen nachschauen. Haben derzeit nur einen auf dem Schirm, wo alle nach Mallorca und Russland fliegen. Der kann's irgendwie nicht sein, oder?"
Pilot: "Elsass, ist das jetzt Frankreich? Muss das Päckchen da durch den Zoll?"
Tower: "Shi.t, das mit den Russen ist Baden-Baden, halt dich ganz hart rechts davon!"
Pilot: "Sehe nur Pampa!"
Kopilot: "Was machste denn, höher, höher, du fliegst ja direkt in ein Kloster rein, da auf dem Berggipfel, zieh verdammt noch mal die Schnauze hoch!"
Tower: "Klasse, jetzt seid ihr voll richtig. Da ist schon mal ein Airbus runtergeschrammt, weil er ins Elsass wollte. Jetzt haltet euch hart links!"
Pilot: "Entzheim? Die haben einen internationalen Flughafen? Ich dachte, das sei dieses Sauerkrautdorf?"
Tower: "Untersteht euch zu landen, ihr seid ein Billigflug. Das Essen im Dreisternelokal ist nicht drin!"
Pilot: "Was machen wir dann?"
Tower: "Schmeißt das Zeug im Kartoffelsack ab, das finden die Sauerkrautbauern leichter."

Hirn an Schokosößchen

In meiner Kindheit hat man noch viel Hirn gegessen. Für Kleinkinder gab's das extrem zarte Geschwurbel fein gedämpft mit Gemüschen. Später entdeckte ich, dass Anbraten in Butter dem Essen diesen aufdringlichen intelligenten Touch nahm, dieses Gefühl, das Ding auf deinem Teller könne jederzeit anfangen, über dich nachzudenken. Das Ganze wurde zu einer Delikatesse - außen knusprig, innen schmelzend weich. Früher, in meiner Kindheit, hat man Hirn übrigens aus dem gleichen Grund wie Walnüsse gegessen: Der Verzehr sollte angeblich gut fürs eigene Denkvermögen sein und die Proteine und anderen Stoffe sollten irgendwie schlauer machen.

Weil so ein Lamm oder Schwein oder Rind aber eigentlich nicht zur Klasse der Intellektuellen zählt, nennt man diesen Vorgang "sympathetische Magie". Das bedeutet, dass der Mensch vom Aussehen eines Gegenstands oder einem parallel wirkenden Ritual Wirkungen auf Ähnliches ableitet. In meiner Kindheit war man also vom Kannibalen, der lustig Schädeldecken knackte und Köpfe auslöffelte, gar nicht so weit entfernt. Denkerisch jedenfalls. Leider nahm die Delikatesse irgendwann eine leicht irre Färbung an: BSE machte Schluss mit der leckeren Hirnmagie.

Und so stehe ich nun da, ohne mein Heilmittel. Verlassen wie eine olle Keltin, der irgendein neumodischer Mönch den Kopfkult genommen hat. Verlassen von allen guten Geistern obendrein, denn in meinen Hirnwindungen herrscht derzeit vor allem eins: Leere. Wissenschaftler behaupten, je mehr sich da winde, desto mehr funktioniere die Denke. Und wenn sich einfach nur Leere windet, in diesem kleinen, fast unendlich erscheinenden Kosmos da oben hinter meinen Augen? Nicht, dass ich irgendwelche heiligen Rituale aus Obertibet, Hinter-Lhasa oder Mittel-Nirwhana praktiziert hätte. Ich habe mich auch - das schwöre ich bei allen Flugmotten und allem Weltraummüll obendrein - keinesfalls mit einem Energiedrink vollgedröhnt und meine Hirninhalte womöglich im freien Fall aus dem Weltraum selbst überholt. Es kann so billig sein, zu verblöden! Man muss dazu nichts anderes tun, als "intelligentes Zeug" zu schreiben!

Ich habe im letzten Monat tatsächlich zu viel nachgedacht. Zuerst das Essay für die Bundeszentrale für politische Bildung, frei nach dem Motto, mal sehen, ob ich überhaupt Essays schreiben kann. Dann ein halbstündiger Vortrag für eine deutsch-russische Feierstunde zu Ehren eines Dichters, zu der auch der russische Konsul und russische Presse gekommen waren. Frei nach dem Motto, mal sehen, ob ich innerhalb von drei Tagen einen Vortrag auf dem Niveau meines Nijinsky-Buchs in die Tasten klappern kann (Recherche und Denkzeit nicht gerechnet). Eine Speedübersetzung am Sonntag hat mir dann den multilingualen Rest gegeben: Nichts geht mehr. Ich schaffe nicht mal mehr Mails. Sobald ich schreibe, kommt Blödsinn dabei heraus. So wie hier. Dabei müsste ich längst einen Auftrag für November vorbereiten, der im Juli schon hätte vergeben werden müssen. Ich muss für zwei Bewerbungen ein Konzept entwickeln. Und streike.

Im Hirn habe ich nur noch Mittel-Lhasa, Untertibet und Ober-Nirwhana. Nichts dreht mehr. Auch keine Hirnwindung. Schwabbelmasse. Ich stelle mir vor, wie mein Hirn schwappen würde, wenn ich im Schaukelstuhl säße. Bllllblllllblllblll ... Zum Glück haben sie jetzt einen Ersatz fürs Hirnessen gefunden. Garantiert gesund. Oberlecker. Und das Schönste: Nach einem Zwangsurlaub und hohem Konsum der neuen Denkerdroge bin ich dem Nobelpreis so nah wie nie zuvor. Hier ist sie - haut rein!

5. Oktober 2012

Zur Zukunft des Buches

Pünktlich zur Buchmesse ist es so weit. Neben sechs anderen Beiträgen erscheint mein Essay "In der dunklen Höhle. Zur Zukunft des Buches" am kommenden Montag in der gedruckten Ausgabe des APuZ, einer Beilage der Wochenschrift "Das Parlament", herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung.
Soeben ist die digitale Version bereits erschienen (pdf/html/epub):
Das gesamte Heft "Zukunft des Publizierens"
Mein Essay "In der dunklen Höhle. Zur Zukunft des Buches"