Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich reine Linkempfehlungen inzwischen schneller und brandaktuell über Twitter und Facebook "heraushaue", anstatt sie hier im Blog einigermaßen kunstvoll zusammenzufassen. Es lohnt sich darum immer ein Blick in den Stream beider Medien rechts im Blogmenu - falls man mit mir nicht ohnehin schon dort verbandelt ist. Lässt man die Augen in jenes Menu schweifen, wird man bemerken, dass ich meine Echtzeitrezensionen ab und zu ändere und in anderen Blogs schreibe.
Deshalb heute meine ausführliche Rezension eines Romans, den ich für meine wichtigste literarische Entdeckung des Jahres halte, falls da nicht noch Größeres nachkommt - im Blog "красный диван - zwischen den Stühlen".
Während ich anderswo wühlte und vor allem den Spätsommer genoss, machten sich alle möglichen kluge Köpfe Gedanken zur Zukunft von Büchern, von Literatur und vom Erzählen überhaupt. Lit Flow nennt sich der Think Tank, den die Kulturstiftung des Bundes fördert, meines Wissens derzeit das mutigste, offenste und kreativste Projekt überhaupt - fernab von jedem Genöle und Gejammere um alte Pfründe und Privilegien. Die Lektüre des gleichnamigen Magazins ist kurzweilig und liefert Inspirationen ebenso wie Provokationen. Einer der Organisatoren, der Hildesheimer Professor Stephan Porombka, hatte im Perlentaucher schon mit einem etwas theoretischeren Ansatz die Realveranstaltung an diesem Wochenende eröffnet und erklärt, warum sich so viele in der Buchbranche von den derzeitigen Entwicklungen überrannt fühlen.
Höchst spannend zu lesen ist das Essay "Anonymouth" des Schriftstellers Clemens J. Setz, einem der Nominierten für den Deutschen Buchpreis. Er macht sich Gedanken um die Rückfolgerungen aus Stilanalysegeräten, wie sie eigentlich eher in geheimdienstlichen Ecken vermutet werden. Wie gefährlich oder wirksam ist ein eigener Stil? Werden wir uns in Zukunft wünschen, in einer anonymisierten Masse von Schreibenden unterzugehen, weil nur dann freies Schreiben möglich wäre? Könnte es eines Tages so kommen, dass Schweigen das bessere Erzählen wird? Und wie beredt ist Schweigen? Bedenkenswerte Situationen, die uns im braven Teil der Welt etwas exotisch anmuten mögen, die in einer Welt voller Zensur und Künstlerverfolgung mittels moderner Technologie jedoch gar nicht so sehr aus der Luft gegriffen sind, wie wir uns das wünschen mögen.
Dazu passt ein anderes Beispiel des Nachdenkens aus dem Blog der Karlshochschule, das ich für seine Themen und die Ernsthaftigkeit und Tiefe, mit der sie behandelt werden, ebenso empfehlen will wie den mp3-Ableger Soziopod. Patrick Breitenbach beschäftigt sich mit der digitalisierten sozialen Kontrolle in der vernetzten Gesellschaft, u.a. am bekannten Beispiel von Piraten-Mitglied Julia Schramm.
Ich selbst habe mir als Lektüre für heute Abend einen Text von Michail Schischkin aufgehoben: Tok-tok, wer wohnt in Teremok? Nicht nur, weil ich selbst mit dem Märchen vom Teremok aufgewachsen bin und mich für Russland interessiere - sondern weil der Text Teil einer vielversprechenden Reihe ist: "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa". Der Perlentaucher veröffentlicht in Zusammenarbeit mit dem Literaturfestival Berlin seit 26.9. jeden Tag einen anderen Text der Reihe, bei der es wohltuend einmal nicht um Geld, sondern um ganz andere Werte geht. Die bisher erschienenen Texte sind unter dem Reihentitel auf der Hauptseite des Perlentauchers zu finden.
Allen empfohlenen Links ist eines gemeinsam: Man braucht dafür Zeit und Hirn, wird aber womöglich durch Erkenntnisgewinn belohnt.
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30. September 2012
27. September 2012
It's not smart to buy a phone
Handy für den Absturz
Ich bin eine von diesen Verrückten, die nicht ständig rund um die Uhr erreichbar sind, auch nicht für Kunden. Die habe ich von Anfang an auf feste Bürozeiten trainiert: Wundersam, wie fein das funktioniert, wenn man hart bleibt! Es gibt ja Emails und Anrufbeantworter für die Dämlacks, die meinen, auch noch nachts Arbeit auf andere abladen zu müssen. Ein Handy ist für mich ein Arbeitsinstrument, falls ich doch mal unterwegs erreichbar sein muss - und vor allem als Retter in der Not für nächtliche Autopannen auf Waldstraßen und die Möglichkeit, Hilfe zu holen, wenn man in eine Schlucht stürzen sollte.
Ausgerechnet zwei Tage, bevor ich mein Handy wirklich ganz dringend brauche, sperrt mir der Operator plötzlich ohne Vorankündigung (Service!) die Sim-Karte, weil da "irgendwas umgestellt" und per Post (Schneckentempo) nach Hause gesendet wird. Weil mein Handy uralt ist, hatte ich die Schnapsidee, mir "ganz fix" ein neues zu kaufen. Und weil die Preisunterschiede nicht mehr wirklich gravierend sind, vielleicht ein Smartphone. Zum Glück bin ich eine von den Verrückten, die sich selten Technikgedöns kaufen, aber dann richtig vorher im Internet recherchieren!
Nationale Dschungel
Ein Dschungel! Eben mal schnell ein Telefon kaufen ist heute nicht mehr. Man ersäuft in Auswahl, jeder Anbieter hat eine andere und keiner so ganz das Richtige. Alles ist angeblich superbillig, da fallen einem die Smartphones für einen Euro entgegen, wenn man denn monatlich so viel dafür bezahlt wie Strom für ein kleines Schloss. Karten hier, Karten dort, in jedem Land heißen sie anders - und jetzt kommt der absolute Wahnsinn: Ein französisches "mobile", ein deutsches "Handy", trotz globalem Internet, trotz Mobilität, ist nicht zwingend international zu verwenden! Weh den armen Grenzgängern, die sich von Land zu Land bewegen, womöglich im falschen mehr telefonieren!
Härtetest im Laden
Nach zwei Tagen hatte ich drei Wunschmodelle recherchiert, die angeblich besten Verträge und ging sicherheitshalber in mehrere Läden. Wäre ich doch nur im Internet geblieben! Wäre ich mit versteckter Kamera fürs Fernsehen unterwegs gewesen, hätte das Publikum richtig etwas zu Lachen gehabt. Nur leider wäre der Gestank von altem Schweiß, den zwei von drei Beratern regelrecht ausschütteten, nicht sichtbar gewesen. Schwierig, so eine Beratung durchzuhalten, ohne in die Abteilung für Duschgel zu fliehen! Spaßig auch das System in Frankreich: Auf eine weibliche Kundin stürzt sich sofort die einzige weibliche Beraterin im Hypermarchée. Die Jungs stehen daneben, klönen und popeln in der Nase - oder so ähnlich.
Popelnde Jungs
Dumm nur, dass die weibliche Kundin sich so gut auskennt und schlau vorbereitet hat. Da kommt die Beraterin nicht weiter, so vieles weiß sie nicht. Also fragt sie die popelnden Jungs. Die antworten ihr, sie übersetzt der Kundin. Dass die Kundin mit einem von den Jungs selbst spricht - ausgeschlossen. Die Jungs sind für die Jungs da. Also malträtiere ich die arme Frau noch ein wenig weiter. Eigentlich weiß sie gar nichts. Die Tarife muss sie aus dem Katalog suchen. Lächelnd zeige ich auf den in meiner Hand. "Sie können gern meinen benutzen". Und dann das Problem: "Was ist für mich am günstigsten, wenn ich ständig die Länder wechsle?" Hagenau, Einzugsbereich der Grenzgänger. Ratlosigkeit. Nun auch bei den immer noch popelnden Jungs.
Zum Deppen gemacht
Ein Fazit kann ich aus sämtlichen Läden ziehen: Egal ob Hypermarché oder Telefonanbieter, ob Edelboutique oder Ramschregal: Ich wurde grundsätzlich und erkennbar falsch beraten. Absichtlich falsch beraten. Ich wäre ein Vermögen an Handyverträgen losgeworden, die nicht unter zwei Jahren liefen und danach nur unter Schwierigkeiten zu kündigen gewesen wären. Ich hätte den Großteil meines "forfait" verschenkt und in Deutschland übel draufgezahlt, weil die Kosten außerhalb der Flatrate natürlich so richtig zwiebeln. Und alle wollten mir aufschwatzen, dass ich mit zwei Stunden Telefonieren im Monat und mit ein bißchen Surfen am Tag nie und nimmer auskäme! Woher wissen die das? In den meisten Monaten führe ich nicht mehr als zwei Gespräche, bei denen ich anrufe anstatt angerufen zu werden.
Der schönste Hammer war eine Beraterin beim Telefonnetzanbieter Nr. 1 in Frankreich. "Prepaid oder mit gedeckeltem Tarif - damit kommen Sie nie hin, so ein Smartphone surft ja ständig im Internet herum, wenn sie es einschalten, auch wenn Sie selbst nicht surfen." Aha! Wunder der Technik. Ich konnte nicht umhin, nach dem Smartphone zu fragen, das von selbst Kaffee kocht, während ich surfe. Natürlich mit charmantem Lächeln - Frauen unter sich ...
Hinter vorgehaltener Hand
Und da hatte ich sie. Die Frau hat mich perfekt für meine Bedürfnisse beraten, wenn sie mir auch zu gern den Tarif fürs Telefon aufgeschwatzt hätte, das heimlich alleine surft. Sie hat mir nämlich ehrlich gesagt, dass ihre Angebote nicht leisten, was ich wünsche. Und dass alle Grenzgänger genau das Gleiche monierten. Als ich mich bedankte und gehen wollte, kam sie mir nach und flüsterte. Ich solle mir ein unblockiertes Handy ohne Vertrag kaufen, besser in Deutschland. Denn die französischen von Telefonanbietern seien alle blockiert. Und vielleicht sogar eins mit zwei Sim-Karten - für eine deutsche und eine französische. Und einfach mal im Internet vergleichen. Aber als Grenzgängerin ja nicht in ihrem Laden kaufen ... (der übrigens gähnend leer war, auch nach einer Stunde noch).
Ich habe gerade im Internet geschaut, wo man Handys ohne Vertrag günstig bekommt. Den Weg heute hätte ich mir sparen können. Aber auch beim freien Internetkauf nach Gusto heißt es aufgepasst: Preisunterschiede von bis zu 300 Euro (Handys ohne Abonnement) beim gleichen Modell sind nicht selten. Nein, ein Handy kauft man heutzutage nicht ganz fix ein. Und mit "Beratung" besser überhaupt nicht. Die bekommt man besser in Spezialforen im Internet oder bei Tests daselbst. Inzwischen bin ich so weit, dass ich wahrscheinlich gar kein Smartphone mehr will. Was für eine Abzocke allüberall! Was für Umstände, sich zu orientieren - wer bezahlt mich eigentlich für diese verlorene Arbeitszeit? Ich werde mir wahrscheinlich für das Geld Bücher kaufen.
Ich bin eine von diesen Verrückten, die nicht ständig rund um die Uhr erreichbar sind, auch nicht für Kunden. Die habe ich von Anfang an auf feste Bürozeiten trainiert: Wundersam, wie fein das funktioniert, wenn man hart bleibt! Es gibt ja Emails und Anrufbeantworter für die Dämlacks, die meinen, auch noch nachts Arbeit auf andere abladen zu müssen. Ein Handy ist für mich ein Arbeitsinstrument, falls ich doch mal unterwegs erreichbar sein muss - und vor allem als Retter in der Not für nächtliche Autopannen auf Waldstraßen und die Möglichkeit, Hilfe zu holen, wenn man in eine Schlucht stürzen sollte.
Ausgerechnet zwei Tage, bevor ich mein Handy wirklich ganz dringend brauche, sperrt mir der Operator plötzlich ohne Vorankündigung (Service!) die Sim-Karte, weil da "irgendwas umgestellt" und per Post (Schneckentempo) nach Hause gesendet wird. Weil mein Handy uralt ist, hatte ich die Schnapsidee, mir "ganz fix" ein neues zu kaufen. Und weil die Preisunterschiede nicht mehr wirklich gravierend sind, vielleicht ein Smartphone. Zum Glück bin ich eine von den Verrückten, die sich selten Technikgedöns kaufen, aber dann richtig vorher im Internet recherchieren!
Nationale Dschungel
Ein Dschungel! Eben mal schnell ein Telefon kaufen ist heute nicht mehr. Man ersäuft in Auswahl, jeder Anbieter hat eine andere und keiner so ganz das Richtige. Alles ist angeblich superbillig, da fallen einem die Smartphones für einen Euro entgegen, wenn man denn monatlich so viel dafür bezahlt wie Strom für ein kleines Schloss. Karten hier, Karten dort, in jedem Land heißen sie anders - und jetzt kommt der absolute Wahnsinn: Ein französisches "mobile", ein deutsches "Handy", trotz globalem Internet, trotz Mobilität, ist nicht zwingend international zu verwenden! Weh den armen Grenzgängern, die sich von Land zu Land bewegen, womöglich im falschen mehr telefonieren!
Härtetest im Laden
Nach zwei Tagen hatte ich drei Wunschmodelle recherchiert, die angeblich besten Verträge und ging sicherheitshalber in mehrere Läden. Wäre ich doch nur im Internet geblieben! Wäre ich mit versteckter Kamera fürs Fernsehen unterwegs gewesen, hätte das Publikum richtig etwas zu Lachen gehabt. Nur leider wäre der Gestank von altem Schweiß, den zwei von drei Beratern regelrecht ausschütteten, nicht sichtbar gewesen. Schwierig, so eine Beratung durchzuhalten, ohne in die Abteilung für Duschgel zu fliehen! Spaßig auch das System in Frankreich: Auf eine weibliche Kundin stürzt sich sofort die einzige weibliche Beraterin im Hypermarchée. Die Jungs stehen daneben, klönen und popeln in der Nase - oder so ähnlich.
Popelnde Jungs
Dumm nur, dass die weibliche Kundin sich so gut auskennt und schlau vorbereitet hat. Da kommt die Beraterin nicht weiter, so vieles weiß sie nicht. Also fragt sie die popelnden Jungs. Die antworten ihr, sie übersetzt der Kundin. Dass die Kundin mit einem von den Jungs selbst spricht - ausgeschlossen. Die Jungs sind für die Jungs da. Also malträtiere ich die arme Frau noch ein wenig weiter. Eigentlich weiß sie gar nichts. Die Tarife muss sie aus dem Katalog suchen. Lächelnd zeige ich auf den in meiner Hand. "Sie können gern meinen benutzen". Und dann das Problem: "Was ist für mich am günstigsten, wenn ich ständig die Länder wechsle?" Hagenau, Einzugsbereich der Grenzgänger. Ratlosigkeit. Nun auch bei den immer noch popelnden Jungs.
Zum Deppen gemacht
Ein Fazit kann ich aus sämtlichen Läden ziehen: Egal ob Hypermarché oder Telefonanbieter, ob Edelboutique oder Ramschregal: Ich wurde grundsätzlich und erkennbar falsch beraten. Absichtlich falsch beraten. Ich wäre ein Vermögen an Handyverträgen losgeworden, die nicht unter zwei Jahren liefen und danach nur unter Schwierigkeiten zu kündigen gewesen wären. Ich hätte den Großteil meines "forfait" verschenkt und in Deutschland übel draufgezahlt, weil die Kosten außerhalb der Flatrate natürlich so richtig zwiebeln. Und alle wollten mir aufschwatzen, dass ich mit zwei Stunden Telefonieren im Monat und mit ein bißchen Surfen am Tag nie und nimmer auskäme! Woher wissen die das? In den meisten Monaten führe ich nicht mehr als zwei Gespräche, bei denen ich anrufe anstatt angerufen zu werden.
Der schönste Hammer war eine Beraterin beim Telefonnetzanbieter Nr. 1 in Frankreich. "Prepaid oder mit gedeckeltem Tarif - damit kommen Sie nie hin, so ein Smartphone surft ja ständig im Internet herum, wenn sie es einschalten, auch wenn Sie selbst nicht surfen." Aha! Wunder der Technik. Ich konnte nicht umhin, nach dem Smartphone zu fragen, das von selbst Kaffee kocht, während ich surfe. Natürlich mit charmantem Lächeln - Frauen unter sich ...
Hinter vorgehaltener Hand
Und da hatte ich sie. Die Frau hat mich perfekt für meine Bedürfnisse beraten, wenn sie mir auch zu gern den Tarif fürs Telefon aufgeschwatzt hätte, das heimlich alleine surft. Sie hat mir nämlich ehrlich gesagt, dass ihre Angebote nicht leisten, was ich wünsche. Und dass alle Grenzgänger genau das Gleiche monierten. Als ich mich bedankte und gehen wollte, kam sie mir nach und flüsterte. Ich solle mir ein unblockiertes Handy ohne Vertrag kaufen, besser in Deutschland. Denn die französischen von Telefonanbietern seien alle blockiert. Und vielleicht sogar eins mit zwei Sim-Karten - für eine deutsche und eine französische. Und einfach mal im Internet vergleichen. Aber als Grenzgängerin ja nicht in ihrem Laden kaufen ... (der übrigens gähnend leer war, auch nach einer Stunde noch).
Ich habe gerade im Internet geschaut, wo man Handys ohne Vertrag günstig bekommt. Den Weg heute hätte ich mir sparen können. Aber auch beim freien Internetkauf nach Gusto heißt es aufgepasst: Preisunterschiede von bis zu 300 Euro (Handys ohne Abonnement) beim gleichen Modell sind nicht selten. Nein, ein Handy kauft man heutzutage nicht ganz fix ein. Und mit "Beratung" besser überhaupt nicht. Die bekommt man besser in Spezialforen im Internet oder bei Tests daselbst. Inzwischen bin ich so weit, dass ich wahrscheinlich gar kein Smartphone mehr will. Was für eine Abzocke allüberall! Was für Umstände, sich zu orientieren - wer bezahlt mich eigentlich für diese verlorene Arbeitszeit? Ich werde mir wahrscheinlich für das Geld Bücher kaufen.
21. September 2012
Eine typische Mittagspause
Die Stare schnattern, die Sonne lacht - und ich bin zurück am Schreibtisch von meiner typischen Mittagspause, die ich gern bei jedem Wetter draußen verbringe. Draußen - das ist bei mir der Naturpark Nordvogesen, in dem ich mich auch nicht vom Handy stören lasse. Und im Moment muss ich nicht einmal Proviant mitnehmen, der Tisch ist reich gedeckt mit Äpfeln und Brombeeren. So gelingt es mir, umzuschalten: von der eiligen Fahnenkorrektur auf die Pressearbeit für einen Kunden, die neben wichtigen Terminen ansteht. Im Baum neben dem Bürofenster schwatzen Myriaden von fröhlichen Staren dazu.
Mit meinen Impressionen aus der Mittagspause wünsche ich allen einen wundervollen Herbstanfang!
Mit meinen Impressionen aus der Mittagspause wünsche ich allen einen wundervollen Herbstanfang!
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Austins "Tradescant" blüht schon wieder fleißig |
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Mit Herbstzeitlosen lila gesprenkelt sind die Wiesen |
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Ein Paradies für Roccos Spürnase: Wildschweinspuren |
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Die kleinen Waldbrombeeren haben das reichste Aroma |
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Die Kerne sind Vogelnahrung, die Hülle ist giftig: das hübsche Pfaffenhütchen |
15. September 2012
Die Nähmaschine meiner Mutter
Bis zu meinem dritten Lebensjahr bin ich außerhalb der Stadt mit Tieren aufgewachsen. Der eine Nachbar war Schweinehirt, ein inzwischen ausgestorbener Beruf in unseren Breiten, der andere war Pferdemetzger und hielt sein Schlachtvieh auf einer Koppel hinterm Haus. Überall muss es außerdem gekräht, miaut und gebellt haben. Es gibt viele Fotos, auf denen ich im Kinderwagen zwischen Hühnern sitze, und es muss wundervoll gewesen sein, denn bei deren Lauten fühle ich mich noch heute völlig entspannt. Als wir in die Stadt zogen, kam ein Haustier mit uns mit, das einzigartig war, weil es sonst niemand hatte. Es versteckte sich manchmal in einem Möbel, ähnlich wie das Radioviech mit dem glühenden Magischen Auge. Und es war absolut tabu. Keiner außer meiner Mutter durfte es berühren und streicheln und zum Schnurren bringen.
Vor diesem Tier hatte ich den größten Respekt. Es fraß Elektrizität - noch so ein Wunder, das mir bei Strafe verboten war. Es hörte auf meine Mutter und tat brav, was sie wollte. Manchmal griff sie tief in seinen Hals und steckte blind und nach Gefühl eine Spule darin fest. Die fraß das Tier offensichtlich, denn meine Mutter musste unzählige Spulen mit Fäden in allen Regenbogenfarben umwickeln. Manchmal setzte ich mich mucksmäuschenstill unter den Bauch des Tiers, nur, um es atmen zu hören. In seinem Maul, hinter der untersten Lippe, verbrag es den größten Schatz. Wenn ich brav war, ließ mich meine Mutter darin spielen - in der Knopfschachtel. Nie mehr vergesse ich das Atemgeräusch des Tiers, das von meinem Bravsein sichtlich besänftigt wurde: Bsssbüggg, öffnete es seine Lippen, gab die Schatzkiste frei und schloss wieder seinen Mund, sssssnnkalóck! Und natürlich versuchte ich alles, wenn meine Mutter nicht da war, um es zur Herausgabe zu überreden: Snkalock bssssbügg! Vergebens. Irgendetwas stimmte mit meiner Aussprache wohl nicht.
Irgendwann war ich groß genug, um zu begreifen, dass das Tier eine schnöde Nähmschine war und die Schatzkiste vor allem die typischen Plastikknöpfe der frühen 1960er beinhaltete. Irgendwann habe ich die Nähmaschine zu mir gerettet, obwohl ich nie lernen durfte, auf ihr zu nähen. Sie blieb ewig tabu. Meine Mutter war Schneiderin gewesen und behauptete, wenn ein fremder Mensch auf ihrer Maschine arbeitete, würde sie das fühlen - sie laufe dann anders. Noch habe ich die Maschine in der Tat nicht benutzt, weil sie gründlich zu überholen wäre. Aber kürzlich habe ich die unterste Schublade geöffnet, weil ich etwas suchte. Bsssbüggg, schnurrte das Tier. Ich verschloss sein Maul: sssssnnkalóck!
Es sind diese Momente, in denen nicht nur frühkindliche Erinnerung und Vertrautheit wieder lebendig sind, in denen all die Bilder, Geräusche und Emotionen hochtauchen. Ich habe diese Schublade immer wieder langsam und vorsichtig geöffnet und geschlossen, bemüht, nichts zu verändern, damit es immer wieder zu mir sprach: Bsssbüggg sssssnnkalóck. Die zwei wichtigsten Wörter, die ich wahrscheinlich noch vor vielen anderen Wörtern meiner eigenen Sprache sprechen lernte.
Und da war noch etwas plötzlich da. So eine Art Erkenntnis. Dieses Tier im Hause zu haben, das meine Mutter wie eine alte Zauberin hütete, hatte im Nachinein etwas wie ein animistischer Kult. Ich weiß heute, dass es schlicht eine damals schon wertvolle Pfaff-Nähmaschine war. Und trotzdem sind da auch die Emotionen, die Geschichten, die mir zeigen, da lebt etwas. Aus diesem "Tier" sind meine ersten Geschichten gekommen. Ich habe in seinen Rhythmen und Klängen gelebt, die für mich nicht weniger reich waren als die eines Klaviers. Das Tier konnte wütend rasen, verträumt singen und frech schnarren. Manchmal biss es meine Mutter in den Finger und auf seinem Rücken wuchsen Kleider für mich.
Ist das der Ursprung von Literatur? Wenn man tief in sich hineinhört auf jene frühesten Gesänge und sie hervorholt? Mein Scheiben ist ein musikalisches - ich muss Sätze tanzen können, die Klangfarben müssen stimmen, die Rhythmen exakt sein. Es muss schnarren, rasen, singen, bsssbüggg sssssnnkalóck ...
Irgendwie hat es müch überrascht und ist mir doch so vertraut: Wenn ich in mich versinke und eine Geschichte schreibe, wenn ich ganz weit weg bin in jener anderen Welt der Literatur, dann fühle ich all das, was ich damals gefühlt habe, bevor ich eine Sprache hatte. Literatur hat etwas Vorsprachliches für mich, auch wenn das ein Widerspruch zu sein scheint. Da ist in den Texten wieder jener ungeheure Reichtum an Farben von Garnrollen, da spult sich der rote Faden in Windeseile auf - und selbst billigste Plastikknöpfe erzählen ihre Geschichte. Das hat sich nie verloren, auch wenn die Erinnerung eine rein emotionale ist, jenseits aller Wörter. Ich kenne den Mantel von den großen Knöpfen links oben noch genau, fühle den Stoff, rieche seinen Geruch und weiß doch, dass ich zu jener Zeit, als es den Mantel noch gab, nicht einmal allein habe stehen können. Ich erinnere mich an die scheußliche Schürze mit den hellblauen Knöpfen schräg darunter, die nach Putztag roch und nach Unbehagen und einer Mutter, die viel zu beschäftigt war für mich. Der winzige grellgrüne Knopf ganz unten gehörte zu einem ebenso grellgrünen Minikleid, das nur an Festtagen aus dem Schrank kam. Ein Weihnachtsknopf. Aus Zeiten, als ich noch an Weihnachtsmann und Christkind geglaubt habe, vor allem ans Christkind, das ein grellgrünes Minikleid trug.
Wer erzählt, wer schreibt, schreibt vordergründig über Recherchiertes oder Erfundenes. Wir plotten unsere Bücher und verbinden die Szenen mit der richtigen Dramaturgie. Aber in jener magischen Zwischenwelt, aus der man den Kitt dafür holt, geht es ans Gebein, an die eigenen Innereien, in die Tiefe der kindlichen Schatzkisten und in die Untiefen magischer Tiermäuler, die Elektrizität fressen und Hände verschlingen können - wenn man ihnen zu nahe kommt. Man stellt sich den großen beigen Emotionen, den grellgrünen und hellblauen. Und auch denen, die so unsagbar tief verborgen sind, dass man sich manchal scheut, hinabzusteigen, weil einem alle Worte fehlen, um all das zu fassen.
Bücher, die einen berühren, können das umgekehrt auch. Sie führen ihre Leser in andere Welten, die doch irgendwie vertraut erscheinen. Sie zeigen die Schätze zwischen Leben und Tod. Und manchmal ist da ein Satz, eine Szene - und wir erinnern uns wieder. An das eigene Wort vor jeder Sprache. An jenes geheimnisvolle Bsssbüggg sssssnnkalóck, das bei jedem Menschen anders klingt und anders heißt und doch immer das Gleiche bedeutet.
Eines hat mich die Nähmaschine beim letzten Öffnen der Schublade gelehrt: Jene Schubladen wollen langsam und behutsam bewegt werden. Wer nicht achtsam ist, hört einfach nur eine schnöde Schublade. Es gibt so viele Bücher, in denen alle möglichen Schubladen klappern und krachen, lieblos, nach Mustern, und "weil man's so macht." Es gibt immer mehr davon im lauten Getümmel. Literatur jedoch hat dieses unsagbare Etwas mehr. Wohl deshalb wird sie aus einer Stille heraus geboren, aus einem Dazwischen und aus dem Innehalten. Sie ist so geheimnisvoll wie ein animistischer Kult, wie das Erleben eines Ureinwohners, eines kleinen Kindes. Man kann sie fühlen, aber kann man sie "lernen"?
Froh bin ich nur, dass ich nie Nähen gelernt habe. Wer weiß, was mir fehlen würde, wenn ich frühzeitig begriffen hätte, dass mein "magisches Wesen" nur eine seelenlose Maschine zum Arbeiten war.
Vor diesem Tier hatte ich den größten Respekt. Es fraß Elektrizität - noch so ein Wunder, das mir bei Strafe verboten war. Es hörte auf meine Mutter und tat brav, was sie wollte. Manchmal griff sie tief in seinen Hals und steckte blind und nach Gefühl eine Spule darin fest. Die fraß das Tier offensichtlich, denn meine Mutter musste unzählige Spulen mit Fäden in allen Regenbogenfarben umwickeln. Manchmal setzte ich mich mucksmäuschenstill unter den Bauch des Tiers, nur, um es atmen zu hören. In seinem Maul, hinter der untersten Lippe, verbrag es den größten Schatz. Wenn ich brav war, ließ mich meine Mutter darin spielen - in der Knopfschachtel. Nie mehr vergesse ich das Atemgeräusch des Tiers, das von meinem Bravsein sichtlich besänftigt wurde: Bsssbüggg, öffnete es seine Lippen, gab die Schatzkiste frei und schloss wieder seinen Mund, sssssnnkalóck! Und natürlich versuchte ich alles, wenn meine Mutter nicht da war, um es zur Herausgabe zu überreden: Snkalock bssssbügg! Vergebens. Irgendetwas stimmte mit meiner Aussprache wohl nicht.
Irgendwann war ich groß genug, um zu begreifen, dass das Tier eine schnöde Nähmschine war und die Schatzkiste vor allem die typischen Plastikknöpfe der frühen 1960er beinhaltete. Irgendwann habe ich die Nähmaschine zu mir gerettet, obwohl ich nie lernen durfte, auf ihr zu nähen. Sie blieb ewig tabu. Meine Mutter war Schneiderin gewesen und behauptete, wenn ein fremder Mensch auf ihrer Maschine arbeitete, würde sie das fühlen - sie laufe dann anders. Noch habe ich die Maschine in der Tat nicht benutzt, weil sie gründlich zu überholen wäre. Aber kürzlich habe ich die unterste Schublade geöffnet, weil ich etwas suchte. Bsssbüggg, schnurrte das Tier. Ich verschloss sein Maul: sssssnnkalóck!
Es sind diese Momente, in denen nicht nur frühkindliche Erinnerung und Vertrautheit wieder lebendig sind, in denen all die Bilder, Geräusche und Emotionen hochtauchen. Ich habe diese Schublade immer wieder langsam und vorsichtig geöffnet und geschlossen, bemüht, nichts zu verändern, damit es immer wieder zu mir sprach: Bsssbüggg sssssnnkalóck. Die zwei wichtigsten Wörter, die ich wahrscheinlich noch vor vielen anderen Wörtern meiner eigenen Sprache sprechen lernte.
Und da war noch etwas plötzlich da. So eine Art Erkenntnis. Dieses Tier im Hause zu haben, das meine Mutter wie eine alte Zauberin hütete, hatte im Nachinein etwas wie ein animistischer Kult. Ich weiß heute, dass es schlicht eine damals schon wertvolle Pfaff-Nähmaschine war. Und trotzdem sind da auch die Emotionen, die Geschichten, die mir zeigen, da lebt etwas. Aus diesem "Tier" sind meine ersten Geschichten gekommen. Ich habe in seinen Rhythmen und Klängen gelebt, die für mich nicht weniger reich waren als die eines Klaviers. Das Tier konnte wütend rasen, verträumt singen und frech schnarren. Manchmal biss es meine Mutter in den Finger und auf seinem Rücken wuchsen Kleider für mich.
Ist das der Ursprung von Literatur? Wenn man tief in sich hineinhört auf jene frühesten Gesänge und sie hervorholt? Mein Scheiben ist ein musikalisches - ich muss Sätze tanzen können, die Klangfarben müssen stimmen, die Rhythmen exakt sein. Es muss schnarren, rasen, singen, bsssbüggg sssssnnkalóck ...
Irgendwie hat es müch überrascht und ist mir doch so vertraut: Wenn ich in mich versinke und eine Geschichte schreibe, wenn ich ganz weit weg bin in jener anderen Welt der Literatur, dann fühle ich all das, was ich damals gefühlt habe, bevor ich eine Sprache hatte. Literatur hat etwas Vorsprachliches für mich, auch wenn das ein Widerspruch zu sein scheint. Da ist in den Texten wieder jener ungeheure Reichtum an Farben von Garnrollen, da spult sich der rote Faden in Windeseile auf - und selbst billigste Plastikknöpfe erzählen ihre Geschichte. Das hat sich nie verloren, auch wenn die Erinnerung eine rein emotionale ist, jenseits aller Wörter. Ich kenne den Mantel von den großen Knöpfen links oben noch genau, fühle den Stoff, rieche seinen Geruch und weiß doch, dass ich zu jener Zeit, als es den Mantel noch gab, nicht einmal allein habe stehen können. Ich erinnere mich an die scheußliche Schürze mit den hellblauen Knöpfen schräg darunter, die nach Putztag roch und nach Unbehagen und einer Mutter, die viel zu beschäftigt war für mich. Der winzige grellgrüne Knopf ganz unten gehörte zu einem ebenso grellgrünen Minikleid, das nur an Festtagen aus dem Schrank kam. Ein Weihnachtsknopf. Aus Zeiten, als ich noch an Weihnachtsmann und Christkind geglaubt habe, vor allem ans Christkind, das ein grellgrünes Minikleid trug.
Wer erzählt, wer schreibt, schreibt vordergründig über Recherchiertes oder Erfundenes. Wir plotten unsere Bücher und verbinden die Szenen mit der richtigen Dramaturgie. Aber in jener magischen Zwischenwelt, aus der man den Kitt dafür holt, geht es ans Gebein, an die eigenen Innereien, in die Tiefe der kindlichen Schatzkisten und in die Untiefen magischer Tiermäuler, die Elektrizität fressen und Hände verschlingen können - wenn man ihnen zu nahe kommt. Man stellt sich den großen beigen Emotionen, den grellgrünen und hellblauen. Und auch denen, die so unsagbar tief verborgen sind, dass man sich manchal scheut, hinabzusteigen, weil einem alle Worte fehlen, um all das zu fassen.
Bücher, die einen berühren, können das umgekehrt auch. Sie führen ihre Leser in andere Welten, die doch irgendwie vertraut erscheinen. Sie zeigen die Schätze zwischen Leben und Tod. Und manchmal ist da ein Satz, eine Szene - und wir erinnern uns wieder. An das eigene Wort vor jeder Sprache. An jenes geheimnisvolle Bsssbüggg sssssnnkalóck, das bei jedem Menschen anders klingt und anders heißt und doch immer das Gleiche bedeutet.
Eines hat mich die Nähmaschine beim letzten Öffnen der Schublade gelehrt: Jene Schubladen wollen langsam und behutsam bewegt werden. Wer nicht achtsam ist, hört einfach nur eine schnöde Schublade. Es gibt so viele Bücher, in denen alle möglichen Schubladen klappern und krachen, lieblos, nach Mustern, und "weil man's so macht." Es gibt immer mehr davon im lauten Getümmel. Literatur jedoch hat dieses unsagbare Etwas mehr. Wohl deshalb wird sie aus einer Stille heraus geboren, aus einem Dazwischen und aus dem Innehalten. Sie ist so geheimnisvoll wie ein animistischer Kult, wie das Erleben eines Ureinwohners, eines kleinen Kindes. Man kann sie fühlen, aber kann man sie "lernen"?
Froh bin ich nur, dass ich nie Nähen gelernt habe. Wer weiß, was mir fehlen würde, wenn ich frühzeitig begriffen hätte, dass mein "magisches Wesen" nur eine seelenlose Maschine zum Arbeiten war.
13. September 2012
Plötzlicher Buchtod oder wie positioniert man sich?
Heute lag in meinem Briefkasten die Notiz einer Kollegin, bei der mir erst einmal die Ohren klingelten: Es sei leider KEINE gute Nachricht. Anbei lag ein Zeitungsartikel über ein neues Buch eines Herrn, das bei oberflächlicher Betrachtung genau dem entspricht, was ich als nächstes mit meinen russischen Spaziergängen plane. Fachlich absolut keine Konkurrenz. Aber wie reagiert man, wenn es eine Buchidee auf engem Raum nun schon zum dritten Mal gibt? Wie platziert man sich, wenn die Presse schon bei Büchern, die es nicht einmal im Buchhandelssortiment gibt, in halbseitigen Jubel ausbricht? Und hat das alles wirklich einen Sinn: sich um eine Übersetzung kümmern, um einen völlig fremden Markt und dann auch noch den eigenen Verlag auf solche Bücher auszurichten, sogar die eigene Arbeit? Vielleicht war ich heute wegen einiger Termine zu sehr in Hektik, um klar zu denken: Ich war mir jedenfalls sicher, mein Russenprojekt sei gestorben. Plötzlichen Kindstod gibt es bekanntlich bei Büchern manchmal schon vor der Geburt, vor allem bei Sachbüchern. Ich war nicht einmal allzu traurig, weil sich für den Winter ein deutsch-französisches Projekt anbahnen könnte.
Zum Glück hat mir meine Übersetzerin dann die Hammelbeine langgezogen. Und ich habe mich an den Programmleiter eines renommierten Sachbuchverlags erinnert, der mir einmal Folgendes sagte: "Und wenn es schon 1000 Bücher über Drachen gibt und du der Meinung bist, dein Buch über Drachen ist etwas Besonderes, dann schreibe das 1001. Buch. Und für die Bewerbung schau in die 1000 anderen Bücher und untersuche: Was kannst du besser, wo liegen deine ganz anderen Stärken, was haben alle anderen nicht, was machst du völlig anders, was war noch nie da - warum braucht die Welt dieses 1001. Drachenbuch?" In der Geschäftswelt nennt man das USP, Unique Selling Point.
Zugegeben, ich war ein bißchen ratlos. Und ein bißchen verwirrt. Ich merke dann nicht immer, "auf welcher Sprache" ich gerade "laufe". Und so habe ich zwecks Inspiration für meinen USP aus Versehen französisch gegoogelt. Hoppla aber auch! Irgendwo in den Suchergebnissen hakte sich mein Auge an der heiligen Odilia fest. Über die hatte ich meinen Erstling geschrieben, den ausgerechnet jener Programmchef verlegt hatte, der Jahre später mit mir über Drachen redete. Nein, nein, ich bin überhaupt nicht abergläubisch und glaube nicht an Zeichen, ich doch nicht! Aber ich hangle mich beim Surfen an Assoziationen entlang. Das ist fast so ein bißchen wie das Glauben an Zeichen. Die Russische Kirche in Strasbourg hatte also eine Ikone der heiligen Odilia empfangen und die katholischen Nonnen vom elsässischen Kloster haben dafür sogar ein winziges Stückchen Reliquie gespendet. So viele Jahre habe ich mit den Recherchen um Odilia gelebt, lebe mit ihrem Berg immer noch und immer wieder. In so einem Moment fängt es bei mir im Kopf an zu ticken.
Wenn es eine Kirche gibt, gibt es eine genügend große Gemeinde. Und hat Strasbourg nicht auch eine russische Botschaft? Dann haben die aber nicht erst seit gestern Kontakte. Und weil die Franzosen ja auch in Baden-Baden waren und man von dort nach Strasbourg reiste, lohnte sich vielleicht weiteres Suchen auf der hiesigen Rheinseite?
Der Mensch ist deppert, was die eigene nächste Umgebung betrifft. Man reist heutzutage zuviel in die Ferne und sieht die Schätze vor der eigenen Nase nicht mehr. Da sitze ich 40 Autominuten von einem renommierten slawistischen Institut entfernt! Und auf dessen Website stolpere ich ausgerechnet über eine Veröffentlichung über einen berühmten Schriftsteller, der Freund des Schriftstellers war, mit dem mein Buch beginnt.
Es heißt, Odilia könne nicht nur Blinde wieder sehend machen, sondern einem noch ganz andere Augen öffnen. In meinem Falle müssen es die Hühneraugen gewesen sein? Oder sie hat mir die Leberwurst von der Brille gewischt. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! Odilia wird traditionell mit DREI Augen dargestellt. Trinationale Arbeit!!! Von wegen plötzlicher Buchtod! Jetzt geht's erst richtig los. Frankreich - Deutschland - Russland. (Da ist sie wieder, meine Achse Paris - Petersburg aus dem Nijinsky-Buch!) Darüber reden kann ich nicht, über ungelegte Eier zu reden bringt ohnehin Unglück - und ich bin ja gar nicht abergläubisch. Vor mir liegt jetzt erst einmal die Arbeit, das Profil für eine mögliche Buchreihe in meinem zu gründenden Verlag zu schärfen und mich rasant um das deutsch-französische Projekt zu bewerben. Und eben noch ein bißchen mehr und anders zu recherchieren.
Bis dahin liegt schon wieder Arbeit vor mir, die mich eigentlich nie und nimmer hätte zweifeln lassen dürfen. Ende September führe ich die Leserinnen einer österreichischen Zeitschrift auf den Spuren meines künftigen Buchs durch Baden-Baden - die sich vorher das Elsass angeschaut haben. Und Mitte Oktober werde ich nicht bei der Buchmesse sein, weil ich zu einem sehr wichtigen deutsch-russischen Festakt eine Rede halten darf. Vertreter der russischen Botschaft und des Generalkonsulats sind geladen, noch weiß ich nicht, wer kommen wird. Nur, dass die Ansprüche an meine Rede groß sein werden - der Dichter, um den es geht, ist einer der berühmtesten Russlands. Es sollte die Generalprobe für mein Buch werden, denn mit diesem Dichter fängt es an. Nein. Falsch. Noch einmal von vorn: Es wird die Generalprobe werden.
Seit meiner Liebe zu Odilia und meinem Projekt um die Ballets Russes bin ich nun schon so weit gekommen. Wie habe ich auch nur eine Minute daran zweifeln können? Was so ein dummdreister USP so alles anrichten kann. Wieder etwas gelernt, was ich mir mit Rotstift ins Merkbuch schreiben muss: Lasse nie den Markt oder den USP über ein Projekt entscheiden, sondern leite aus dem Projekt selbst den USP ab. Verkaufen kann man alles, wenn man es richtig macht. Aber nicht alles, was sich verkaufen lässt, wird auch zu Literatur.
Liebe Kollegin - du siehst - deine Notiz war doch eine gute Nachricht. Ohne deinen Brief hätte ich nie auf Französisch nach meinem Thema gegoogelt. Da hast du nun eine Flasche Odilienwasser gut bei mir. Habe ich nämlich auch immer im Haus. Nein, nein, ich bin überhaupt nicht abergläubisch. Aber im Elsass gehört das einfach dazu.
Zum Glück hat mir meine Übersetzerin dann die Hammelbeine langgezogen. Und ich habe mich an den Programmleiter eines renommierten Sachbuchverlags erinnert, der mir einmal Folgendes sagte: "Und wenn es schon 1000 Bücher über Drachen gibt und du der Meinung bist, dein Buch über Drachen ist etwas Besonderes, dann schreibe das 1001. Buch. Und für die Bewerbung schau in die 1000 anderen Bücher und untersuche: Was kannst du besser, wo liegen deine ganz anderen Stärken, was haben alle anderen nicht, was machst du völlig anders, was war noch nie da - warum braucht die Welt dieses 1001. Drachenbuch?" In der Geschäftswelt nennt man das USP, Unique Selling Point.
Zugegeben, ich war ein bißchen ratlos. Und ein bißchen verwirrt. Ich merke dann nicht immer, "auf welcher Sprache" ich gerade "laufe". Und so habe ich zwecks Inspiration für meinen USP aus Versehen französisch gegoogelt. Hoppla aber auch! Irgendwo in den Suchergebnissen hakte sich mein Auge an der heiligen Odilia fest. Über die hatte ich meinen Erstling geschrieben, den ausgerechnet jener Programmchef verlegt hatte, der Jahre später mit mir über Drachen redete. Nein, nein, ich bin überhaupt nicht abergläubisch und glaube nicht an Zeichen, ich doch nicht! Aber ich hangle mich beim Surfen an Assoziationen entlang. Das ist fast so ein bißchen wie das Glauben an Zeichen. Die Russische Kirche in Strasbourg hatte also eine Ikone der heiligen Odilia empfangen und die katholischen Nonnen vom elsässischen Kloster haben dafür sogar ein winziges Stückchen Reliquie gespendet. So viele Jahre habe ich mit den Recherchen um Odilia gelebt, lebe mit ihrem Berg immer noch und immer wieder. In so einem Moment fängt es bei mir im Kopf an zu ticken.
Wenn es eine Kirche gibt, gibt es eine genügend große Gemeinde. Und hat Strasbourg nicht auch eine russische Botschaft? Dann haben die aber nicht erst seit gestern Kontakte. Und weil die Franzosen ja auch in Baden-Baden waren und man von dort nach Strasbourg reiste, lohnte sich vielleicht weiteres Suchen auf der hiesigen Rheinseite?
Der Mensch ist deppert, was die eigene nächste Umgebung betrifft. Man reist heutzutage zuviel in die Ferne und sieht die Schätze vor der eigenen Nase nicht mehr. Da sitze ich 40 Autominuten von einem renommierten slawistischen Institut entfernt! Und auf dessen Website stolpere ich ausgerechnet über eine Veröffentlichung über einen berühmten Schriftsteller, der Freund des Schriftstellers war, mit dem mein Buch beginnt.
Es heißt, Odilia könne nicht nur Blinde wieder sehend machen, sondern einem noch ganz andere Augen öffnen. In meinem Falle müssen es die Hühneraugen gewesen sein? Oder sie hat mir die Leberwurst von der Brille gewischt. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! Odilia wird traditionell mit DREI Augen dargestellt. Trinationale Arbeit!!! Von wegen plötzlicher Buchtod! Jetzt geht's erst richtig los. Frankreich - Deutschland - Russland. (Da ist sie wieder, meine Achse Paris - Petersburg aus dem Nijinsky-Buch!) Darüber reden kann ich nicht, über ungelegte Eier zu reden bringt ohnehin Unglück - und ich bin ja gar nicht abergläubisch. Vor mir liegt jetzt erst einmal die Arbeit, das Profil für eine mögliche Buchreihe in meinem zu gründenden Verlag zu schärfen und mich rasant um das deutsch-französische Projekt zu bewerben. Und eben noch ein bißchen mehr und anders zu recherchieren.
Bis dahin liegt schon wieder Arbeit vor mir, die mich eigentlich nie und nimmer hätte zweifeln lassen dürfen. Ende September führe ich die Leserinnen einer österreichischen Zeitschrift auf den Spuren meines künftigen Buchs durch Baden-Baden - die sich vorher das Elsass angeschaut haben. Und Mitte Oktober werde ich nicht bei der Buchmesse sein, weil ich zu einem sehr wichtigen deutsch-russischen Festakt eine Rede halten darf. Vertreter der russischen Botschaft und des Generalkonsulats sind geladen, noch weiß ich nicht, wer kommen wird. Nur, dass die Ansprüche an meine Rede groß sein werden - der Dichter, um den es geht, ist einer der berühmtesten Russlands. Es sollte die Generalprobe für mein Buch werden, denn mit diesem Dichter fängt es an. Nein. Falsch. Noch einmal von vorn: Es wird die Generalprobe werden.
Seit meiner Liebe zu Odilia und meinem Projekt um die Ballets Russes bin ich nun schon so weit gekommen. Wie habe ich auch nur eine Minute daran zweifeln können? Was so ein dummdreister USP so alles anrichten kann. Wieder etwas gelernt, was ich mir mit Rotstift ins Merkbuch schreiben muss: Lasse nie den Markt oder den USP über ein Projekt entscheiden, sondern leite aus dem Projekt selbst den USP ab. Verkaufen kann man alles, wenn man es richtig macht. Aber nicht alles, was sich verkaufen lässt, wird auch zu Literatur.
Liebe Kollegin - du siehst - deine Notiz war doch eine gute Nachricht. Ohne deinen Brief hätte ich nie auf Französisch nach meinem Thema gegoogelt. Da hast du nun eine Flasche Odilienwasser gut bei mir. Habe ich nämlich auch immer im Haus. Nein, nein, ich bin überhaupt nicht abergläubisch. Aber im Elsass gehört das einfach dazu.
3. September 2012
Futurologischer Kongress für Literatur
War das eine Nacht! Zuerst bin ich dem völligen Fehlen begegnet, sozusagen dem Tod in der Musik, und dann war da dieser General ... Aber erzählen wir von Anfang an. Als Synästhesistin habe ich bei Konzerten für mein Eintrittsgeld bekanntlich etwas mehr Vergnügen als bloße Hörer und Zuschauer, ich bekomme sozusagen den "LSD-Trip" frei Haus. Musik sehen, fühlen, riechen - kein Problem. Sofern die Musik etwas taugt. Denn eigenartigerweise ballert ein Gustav Mahler auf allen Ebenen intensivst Sinneseindrücke auf mich, während die Konservenmusik im Supermarkt ausschaut wie die Farbwüste eines fernen Planeten, eindimensional dazu.
Und dann gestern die Uraufführung zweier Kompositionen des jungen russischen Komponisten und Pianisten Nikita Mndoyants. Der Mann komponiert synästhetische Feuerwerke! Bei "Whistling a Tune" von 2010 ist es dann passiert: Da waren ein, zwei Takte, in denen der Tod in die Musik geriet. Literaturfreunde kennen das Phänomen: Es gibt Bücher, die sich vor Untiefen nicht scheuen und die den Lesern einen ganz tiefen, wahren Einblick in Liebe und Tod gleichermaßen geben können. Damit meine ich jetzt nicht die Wegleseware, nicht die Fluchten, in denen das Sterben zum Kitsch verkommt. Ich meine diese Bücher, die einen am Gebein packen und lange nicht mehr loslassen; die einen womöglich verändern.
Solch ein Musikstück war das. Musik kann das manchmal auch. Zuerst habe ich gar nicht begriffen, was ich fühlte. Ein, zwei Takte lang war ein Schalter umgelegt. Es gab keine Farben mehr, keine Gerüche mehr, nichts mehr. Nur eine Harmoniefolge, die sich gegenseitig zur absoluten Stille aufhob, zu einer Fehlstelle. Der Atem von "Whistling a Tune" setzte kurz aus - um sich dann wieder freizubrechen. Live war das besonders intensiv zu erleben - denn nicht nur ich hielt den Atem an. Der Applaus war wie eine Erlösung.
Synästhesie ist etwas ungeheuer Praktisches. Wenn ich nämlich - meist durch Kunst aller Arten - so ein richtiges Bombardement der Sinnesverschmelzungen erleben durfte, öffnen sich bei mir irgendwelche kreativen Pforten und ich werde von Ideen überschwemmt. Weil ein braver Mensch, der am nächsten Tag früh arbeiten muss, aber nächtens schläft, und weil ich auch richtig müde war, deckte ich meine Pforten mit der Bettdecke zu und mahnte sie, sich zu gedulden, bis ich ausgeschlafen hatte.
Da kam ein russischer General, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem der Geiger des Abends hatte, auf mich zu und knipste mir meine Eintrittskarte für den Futurologischen Kongress der Literatur ab. Die Russen hatten das System der Nationen abgeschafft und Literatur als identitätsstiftend erklärt, so dass ich mir erst meinen literarischen Pass abholen musste. So landete ich auf einer Insel, auf der ein "Adelskongress" von schrillsten und skurrilen Typen in einer Umgebung tagte, die wie in der ersten Verfilmung von "The Prisoner" wirkte. Das hatte ich nun von meinem Namen! Ein Balletttänzer, der einen goldenen Schal zu schneeweißer Toga trug, ermahnte mich mit affektierter Stimme, ich solle mich nicht durch die falsche Literatur manipulieren lassen und mir unbedingt einen der neuen beweglichen Avatare kaufen. Das waren biegsame Masken, auf die wie bei einem Bildschirm mein jeweiliges Autoren-Ich aufprojiziert werden konnte - vollkommen vernetzt mit den Social-Chips, die sich Fans unterschiedlicher Buch-Plattformen freiwillig implantieren ließen. Ein paar Feuilletonisten kamen in Maske und schauten irgendeiner Adelstussi zu, die als interaktiv quatschendes und werkelndes Kochbuch in Küchen gebeamt wurde und selbstständig den Einkaufszettel im Kühlschrank umprogrammierte.
Keine Frage, ich wollte da raus, schnellstmöglich von der Insel runter und zu dem freundlichen General zurück. Auf der Flucht sah ich, wie die Russen beim Futurologischen Kongress der Literatur ein geniales Feuerwerk nebst Lasershow abfackelten. Der komplette Bauplan der Titanic in 3 D erschien am Himmel und ich war endlich wieder auf dem Futurologischen Kongress der Literatur.
Der General erklärte mir, dass ich meinen Pass nun wegwerfen könne, denn Menschen würden sich nur noch um ihre Lieblingsliteratur gruppieren und sich von dieser regieren lassen. Dabei ließ die Literatur keine Wünsche mehr offen, denn die Autoren reagierten sofort auf Publikumswünsche und schrieben in Echtzeit in den Hirnchip hinein. Szenen wurden von Lesern weggeklickt, Protagonisten wie früher Anziehpuppen vom Publikum umgestaltet, Happy-Ends verstärkt. "Wir haben heute die totale Demokratie!", beeilte sich der General zu sagen. Ein Cyborg-Schriftsteller gab zu bedenken, dass die Filterfunktion der beweglichen Adelsavatare noch nicht mächtig genug sei. Immer noch gäbe es Bruchstellen bei der Verquickung von Games, Film und Buch, so dass eine perfekte Konditionierung im Sinne des Geldbörsenvereins noch nicht fehlerfrei zu erreichen sei.
Der Geldbörsenverein hatte eine Kette von Vergnügungszentren geschaffen, in denen man sich rund um die Uhr mit multimedial-multiformaler Literatur berieseln lassen konnte. Das war ihm gelungen, weil in der Vergangenheit die Regierungen der Welt das neue Konzept als Bildungstempel subventioniert hatten. Es herrschten daraufhin bald die totale Demokratie, die totale Literatur, das totale Prinzip der Wunscherfüllung. Literatur war immer schneller geworden, immer einfacher, immer zugänglicher - sie hatte den Globus überschwemmt. Die Müll-Bots, die nichts anderes zu tun hatten, als die überschwappende Literaturflut aufzusaugen und in feste Nahrungsmittel umzupressen, gingen nicht umsonst auf dem Futurologischen Kongress der Literatur auf die Barrikaden. Sie verlangten, dass der Geldbörsenverein endlich aufhörte, mit Nahrungsmitteln zu spekulieren.
Da nahm mich der freundliche General beiseite. "Sie wollen sicher zu den Leuten vom Samisdat", sagte er. Samisdat? War das nicht vor meiner Zeit?
"Aber es gibt doch gar keine Zensur mehr, keine Verbote?", fragte ich.
Der General lachte ein tiefes, aus dem Bauch röhrendes Lachen. "Was brauchen wir noch Zensur, meine Liebe! Das Zauberwort heißt Überflutung! Liefert den Menschen alles, was sie sich in einem Buch wünschen und liefert ihnen noch mehr dazu! Überfütterung! Brei, nichts als Brei, kennen sie noch das uralte Märchen vom süßen Brei? Damals, als Sie jung waren, haben die mit der totalen Demokratie es doch schon geschafft gehabt, Bücher unsichtbar zu machen, ohne sie zu verbieten. Gebt den Leuten eine Top Ten und sie lesen die Nummer 101 nicht mehr! Gebt ihnen eine zweite Top Ten, und sie fangen an, über eine dritte zu diskutieren, ohne überhaupt eins der Bücher zu lesen! Schließt sie an den Social Chip an und sie pfeifen alle auf der gleichen Wellenlänge, pfeifen ein lustiges Liedchen und nie wieder wird Stille sein. Zensur ist heute die Abwesenheit von Stille."
"Und der Samisdat?"
Der General nahm mich an der Hand, führte mit der anderen seinen Zeigefinger an die Lippen und ermahnte mich, über alles, was ich jetzt in den geheimen Räumen sehen würde, zu schweigen. "Das ist unsere einzige Chance gegen die totale Literatur. Schweigen. Fehlstellen."
In einem der Räume saßen vermummte Schriftsteller und schrieben eigenartige Texte. Einige von ihnen arbeiteten an Romanen ohne detaillierte Figurenbeschreibung. Lektoren radierten Haarfarben aus, Beschreibungen von Kleidung, von Gesichtern - und mahnten an, wenn ein Roman sich zu sehr den Baukastensystemen annäherte. Andere Autoren verlangsamten ihre Texte auf eine anarchistische Weise. Man konnte sie nur verstehen, wenn man sich auf den Atem jener Texte einließ, wenn man die Wörter einzeln kaute, schmeckte und auf der Zunge zergehen ließ. Dazu war es nötig, das Dauerrauschen des Hirnchips abzustellen. Solche Texte wurden vor jeder Literaturplattform geheim gehalten. Nicht auszudenken, wenn öffentlich würde, dass hier Literatur geschaffen wurde mit Fehlstellen! Literatur, die nicht sofort jedes Bedürfnis von Kunden befriedigte!
"Sehen Sie jetzt, wie gefährlich unsere Arbeit hier ist?", fragte mich der General. "Was Sie hier lesen können, sind unverfälschte Geschichten aus echten und individuellen Menschenköpfen, keine beweglichen Echtzeitfassungen mehr. Was wir hier machen, ist brandgefährlich: Wir schaffen Pausen. Wir schreiben Leerstellen. Wenn sie nach dem Kongress wieder gehen, entscheiden Sie sich. Die projizierbare Avatarmaske ist der neueste Schrei und wirklich billig. Das, was wir hier machen, kommt Sie womöglich teuer zu stehen. Das Buch haben wir längst überwunden, jetzt arbeiten wir gegen die totale Literatur."
Und was macht die Autorin, als sie nach diesem Satz aufgewacht ist? Sie befindet sich in einer recht seltsamen Stimmung, denn all die Menschen und Wesen dieses Traums sind so klar und deutlich und lebensecht, als sei es gar kein Traum gewesen. Der General hat mir noch eine Menge anderer Dinge gezeigt. Für mein Essay über die Zukunft des Buchs muss ich jetzt nur noch schnell genug mittippen können. Und dazu mache ich Pause von den lachhaften Anfängen des Hirnchips, den technisch noch ach so primitiven Social Media.
Ich danke Stanislaw Lem, dass er es geschafft hat, sich auch noch an meinem Traum zu schaffen zu machen.
(c) by Petra van Cronenburg, alle Rechte vorbehalten
Und dann gestern die Uraufführung zweier Kompositionen des jungen russischen Komponisten und Pianisten Nikita Mndoyants. Der Mann komponiert synästhetische Feuerwerke! Bei "Whistling a Tune" von 2010 ist es dann passiert: Da waren ein, zwei Takte, in denen der Tod in die Musik geriet. Literaturfreunde kennen das Phänomen: Es gibt Bücher, die sich vor Untiefen nicht scheuen und die den Lesern einen ganz tiefen, wahren Einblick in Liebe und Tod gleichermaßen geben können. Damit meine ich jetzt nicht die Wegleseware, nicht die Fluchten, in denen das Sterben zum Kitsch verkommt. Ich meine diese Bücher, die einen am Gebein packen und lange nicht mehr loslassen; die einen womöglich verändern.
Solch ein Musikstück war das. Musik kann das manchmal auch. Zuerst habe ich gar nicht begriffen, was ich fühlte. Ein, zwei Takte lang war ein Schalter umgelegt. Es gab keine Farben mehr, keine Gerüche mehr, nichts mehr. Nur eine Harmoniefolge, die sich gegenseitig zur absoluten Stille aufhob, zu einer Fehlstelle. Der Atem von "Whistling a Tune" setzte kurz aus - um sich dann wieder freizubrechen. Live war das besonders intensiv zu erleben - denn nicht nur ich hielt den Atem an. Der Applaus war wie eine Erlösung.
Synästhesie ist etwas ungeheuer Praktisches. Wenn ich nämlich - meist durch Kunst aller Arten - so ein richtiges Bombardement der Sinnesverschmelzungen erleben durfte, öffnen sich bei mir irgendwelche kreativen Pforten und ich werde von Ideen überschwemmt. Weil ein braver Mensch, der am nächsten Tag früh arbeiten muss, aber nächtens schläft, und weil ich auch richtig müde war, deckte ich meine Pforten mit der Bettdecke zu und mahnte sie, sich zu gedulden, bis ich ausgeschlafen hatte.
Da kam ein russischer General, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem der Geiger des Abends hatte, auf mich zu und knipste mir meine Eintrittskarte für den Futurologischen Kongress der Literatur ab. Die Russen hatten das System der Nationen abgeschafft und Literatur als identitätsstiftend erklärt, so dass ich mir erst meinen literarischen Pass abholen musste. So landete ich auf einer Insel, auf der ein "Adelskongress" von schrillsten und skurrilen Typen in einer Umgebung tagte, die wie in der ersten Verfilmung von "The Prisoner" wirkte. Das hatte ich nun von meinem Namen! Ein Balletttänzer, der einen goldenen Schal zu schneeweißer Toga trug, ermahnte mich mit affektierter Stimme, ich solle mich nicht durch die falsche Literatur manipulieren lassen und mir unbedingt einen der neuen beweglichen Avatare kaufen. Das waren biegsame Masken, auf die wie bei einem Bildschirm mein jeweiliges Autoren-Ich aufprojiziert werden konnte - vollkommen vernetzt mit den Social-Chips, die sich Fans unterschiedlicher Buch-Plattformen freiwillig implantieren ließen. Ein paar Feuilletonisten kamen in Maske und schauten irgendeiner Adelstussi zu, die als interaktiv quatschendes und werkelndes Kochbuch in Küchen gebeamt wurde und selbstständig den Einkaufszettel im Kühlschrank umprogrammierte.
Keine Frage, ich wollte da raus, schnellstmöglich von der Insel runter und zu dem freundlichen General zurück. Auf der Flucht sah ich, wie die Russen beim Futurologischen Kongress der Literatur ein geniales Feuerwerk nebst Lasershow abfackelten. Der komplette Bauplan der Titanic in 3 D erschien am Himmel und ich war endlich wieder auf dem Futurologischen Kongress der Literatur.
Der General erklärte mir, dass ich meinen Pass nun wegwerfen könne, denn Menschen würden sich nur noch um ihre Lieblingsliteratur gruppieren und sich von dieser regieren lassen. Dabei ließ die Literatur keine Wünsche mehr offen, denn die Autoren reagierten sofort auf Publikumswünsche und schrieben in Echtzeit in den Hirnchip hinein. Szenen wurden von Lesern weggeklickt, Protagonisten wie früher Anziehpuppen vom Publikum umgestaltet, Happy-Ends verstärkt. "Wir haben heute die totale Demokratie!", beeilte sich der General zu sagen. Ein Cyborg-Schriftsteller gab zu bedenken, dass die Filterfunktion der beweglichen Adelsavatare noch nicht mächtig genug sei. Immer noch gäbe es Bruchstellen bei der Verquickung von Games, Film und Buch, so dass eine perfekte Konditionierung im Sinne des Geldbörsenvereins noch nicht fehlerfrei zu erreichen sei.
Der Geldbörsenverein hatte eine Kette von Vergnügungszentren geschaffen, in denen man sich rund um die Uhr mit multimedial-multiformaler Literatur berieseln lassen konnte. Das war ihm gelungen, weil in der Vergangenheit die Regierungen der Welt das neue Konzept als Bildungstempel subventioniert hatten. Es herrschten daraufhin bald die totale Demokratie, die totale Literatur, das totale Prinzip der Wunscherfüllung. Literatur war immer schneller geworden, immer einfacher, immer zugänglicher - sie hatte den Globus überschwemmt. Die Müll-Bots, die nichts anderes zu tun hatten, als die überschwappende Literaturflut aufzusaugen und in feste Nahrungsmittel umzupressen, gingen nicht umsonst auf dem Futurologischen Kongress der Literatur auf die Barrikaden. Sie verlangten, dass der Geldbörsenverein endlich aufhörte, mit Nahrungsmitteln zu spekulieren.
Da nahm mich der freundliche General beiseite. "Sie wollen sicher zu den Leuten vom Samisdat", sagte er. Samisdat? War das nicht vor meiner Zeit?
"Aber es gibt doch gar keine Zensur mehr, keine Verbote?", fragte ich.
Der General lachte ein tiefes, aus dem Bauch röhrendes Lachen. "Was brauchen wir noch Zensur, meine Liebe! Das Zauberwort heißt Überflutung! Liefert den Menschen alles, was sie sich in einem Buch wünschen und liefert ihnen noch mehr dazu! Überfütterung! Brei, nichts als Brei, kennen sie noch das uralte Märchen vom süßen Brei? Damals, als Sie jung waren, haben die mit der totalen Demokratie es doch schon geschafft gehabt, Bücher unsichtbar zu machen, ohne sie zu verbieten. Gebt den Leuten eine Top Ten und sie lesen die Nummer 101 nicht mehr! Gebt ihnen eine zweite Top Ten, und sie fangen an, über eine dritte zu diskutieren, ohne überhaupt eins der Bücher zu lesen! Schließt sie an den Social Chip an und sie pfeifen alle auf der gleichen Wellenlänge, pfeifen ein lustiges Liedchen und nie wieder wird Stille sein. Zensur ist heute die Abwesenheit von Stille."
"Und der Samisdat?"
Der General nahm mich an der Hand, führte mit der anderen seinen Zeigefinger an die Lippen und ermahnte mich, über alles, was ich jetzt in den geheimen Räumen sehen würde, zu schweigen. "Das ist unsere einzige Chance gegen die totale Literatur. Schweigen. Fehlstellen."
In einem der Räume saßen vermummte Schriftsteller und schrieben eigenartige Texte. Einige von ihnen arbeiteten an Romanen ohne detaillierte Figurenbeschreibung. Lektoren radierten Haarfarben aus, Beschreibungen von Kleidung, von Gesichtern - und mahnten an, wenn ein Roman sich zu sehr den Baukastensystemen annäherte. Andere Autoren verlangsamten ihre Texte auf eine anarchistische Weise. Man konnte sie nur verstehen, wenn man sich auf den Atem jener Texte einließ, wenn man die Wörter einzeln kaute, schmeckte und auf der Zunge zergehen ließ. Dazu war es nötig, das Dauerrauschen des Hirnchips abzustellen. Solche Texte wurden vor jeder Literaturplattform geheim gehalten. Nicht auszudenken, wenn öffentlich würde, dass hier Literatur geschaffen wurde mit Fehlstellen! Literatur, die nicht sofort jedes Bedürfnis von Kunden befriedigte!
"Sehen Sie jetzt, wie gefährlich unsere Arbeit hier ist?", fragte mich der General. "Was Sie hier lesen können, sind unverfälschte Geschichten aus echten und individuellen Menschenköpfen, keine beweglichen Echtzeitfassungen mehr. Was wir hier machen, ist brandgefährlich: Wir schaffen Pausen. Wir schreiben Leerstellen. Wenn sie nach dem Kongress wieder gehen, entscheiden Sie sich. Die projizierbare Avatarmaske ist der neueste Schrei und wirklich billig. Das, was wir hier machen, kommt Sie womöglich teuer zu stehen. Das Buch haben wir längst überwunden, jetzt arbeiten wir gegen die totale Literatur."
Und was macht die Autorin, als sie nach diesem Satz aufgewacht ist? Sie befindet sich in einer recht seltsamen Stimmung, denn all die Menschen und Wesen dieses Traums sind so klar und deutlich und lebensecht, als sei es gar kein Traum gewesen. Der General hat mir noch eine Menge anderer Dinge gezeigt. Für mein Essay über die Zukunft des Buchs muss ich jetzt nur noch schnell genug mittippen können. Und dazu mache ich Pause von den lachhaften Anfängen des Hirnchips, den technisch noch ach so primitiven Social Media.
Ich danke Stanislaw Lem, dass er es geschafft hat, sich auch noch an meinem Traum zu schaffen zu machen.
(c) by Petra van Cronenburg, alle Rechte vorbehalten