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31. August 2012

Jammert nicht so herum!

Liebes Feuilleton,
wenn du wieder mal die Kassandra gibst, dass die Buchkultur vom ollen Gensfleisch demnächst zu zerbrechen drohe, dann sage ich: Hoffentlich ist es bald so weit! Damit wir dein Gejammere nicht mehr hören müssen.
Genau das Gleiche greinte nämlich zu Gutenbergs Zeiten die Kirche. Brutal war das, was dieser Profiteur und Monopolist auslöste, indem er alle Produktionsschritte des Buchs in seine weltlichen Hände riss! Humanismus. Renaissance. Reformation. Nee, bloß nie wieder solche Entwicklungen. Das wäre mordsmäßig anstrengend. Könnte sogar die Menschheit weiterbringen. Und das ist echt gefährlich.

26. August 2012

Schreibst du jetzt nie mehr?

Solche komischen Fragen kommen schon mal rein, wenn man verkündet, im Herbst einen Verlag gründen zu wollen. Natürlich schreibe ich weiter, keine Frage!
Es ist vielleicht für Laien nicht ganz klar: Nichts ist schneller gegründet als ein Verlag, nichts ist aber auch nichtssagender und bedeutungsloser. Zuerst einmal ist ein Verlag nämlich nur ein Rechtskonstrukt, das sich von dem eines freien Autors und Künstlers in einigen Punkten unterscheidet. Wie man das dann mit Inhalten und "Unternehmung" auffüllt, ist absolut individuell. Man muss es nicht einmal füllen.

Für mich geht es primär erst einmal darum, mich aus dem doch sehr restriktiven System des Künstlerstatus zu befreien. Und mit dem neuen Status bin ich außerdem eine andere Ansprechpartnerin für all die Dienste und Firmen rund ums Büchermachen - und für mein binationales Projekt.

Ganz praktisch wird sich also zunächst nichts für meine LeserInnen ändern: Die Autorin arbeitet fleißig weiter.
Nach und nach, wenn die Zeit übrig ist, wird jedoch der Service rund um meine Bücher wachsen.
Als erstes steht auf meinem Plan, durch einen Vertriebspartner meine E-Books in sehr viel mehr Shops und vor allem auch im Format Epub anzubieten - auch in Shops, die mir als Self Publisher verwehrt wären. Außerdem fällt für mich dann das Verbot, meine Bücher selbst zu verkaufen. Ich habe bereits ein Shopsystem im Auge. Das würde bedeuten, dass man künftig meine Bücher auch ohne Zwischenhändler direkt bei mir auf der Website einkaufen kann, natürlich mit gesichertem Zahlsystem und dem Service einer Fachfirma.

2013 wieder zu haben!

Alles andere, was ein Verlag so kann und macht, ist Zukunftsmusik. Denn ich habe ja nicht wie die indischen Göttinnen zig Arme ... Und schließlich wollen die Bücher auch geschrieben werden. Einen Selbstverlag zu gründen, ist keine große Kunst. Aber man kann damit mehr machen, ist freier.

Die Autorin in der Verlegerin schreibt sogar für andere Verlage ... denn Achtung: 2013 erscheint mein Erfolgstitel "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" bei Suhrkamp-Insel und das E-Book dazu bei Éditions Maeve. Und ja, ich stehe auch in Gesprächen über eine französische Version, aber so etwas sollte man nicht beschreien, denn Gespräche gibt es immer zahlreich und nicht alle legen tatsächlich ein Ei. Daumen drücken ist aber erlaubt ;-)

25. August 2012

Ein Königreich für einen Verlag!

Es war einmal...
Es war einmal eine stolze irische Königin, die ...
Halt, stop. Das hier ist kein Märchen, sondern die knallharte Realität. Also noch mal von vorn:

Es war einmal eine stinkwütende Frau. Sie hatte sich 1993 nach Warschau begeben, um dort zu leben und zu arbeiten. Es war eine ziemlich verrückte Zeit, denn der eiserne Vorhang war noch nicht lange gefallen, die Sowjetunion noch nicht lange aufgelöst. Noch gingen die Flugzeuge in die polnische Hauptstadt international von den allerletzten Gates ab, wo man mit Topolews fliegen konnte. Noch wurde man am Zielort von strengen Flintenweibern in Uniform nach Strich und Faden befragt und kontrolliert - und wehe, Papiere und Visa waren nicht in Ordnung! Nach dem obligaten Stempel begann im Land der Antrag für mehr als nur ein Touristenvisum. Aber kein Problem: Ich war eine Frau, ich brauchte so etwas nicht!

Nun war ich schon immer eine sehr neugierige Frau. Natürlich wollte ich wissen, warum der Staat mir das Leben so erleichterte. Die Antwort war ernüchternd: Ich durfte gar nicht arbeiten, denn dazu war ich von keinem entsandt worden. Und ich war nur als Familienmitglied geduldet. Das mit der Arbeit als Korrespondentin hatte nicht geklappt. Keine der kontaktierten Zeitungen war überhaupt an Polen interessiert oder sie bediente ganz Osteuropa gleich von Berlin oder Moskau aus. - Ja, wenn sie uns Artikel über die Unterdrückung der deutschen Minderheiten schreiben können, dann haben Sie den Job sofort! - Wollte ich nicht, ich weigerte mich, Realitäten zu verbiegen. Diese Unterdrückung gab es nur in spinnerten Hirnen von Chefredakteuren und Vertriebenenverbänden. - Ja, wenn sie uns über das Chaos, den Dreck und die Rückständigkeit berichten könnten, haben Sie den Job sofort! - Konnte ich nicht. Ich lebte in Boomtown, im aufbrechenden Wirtschaftswunder, in einem wachen Land, in dem Zukunft nur so brodelte. Und weil mich niemand entsandt hatte, durfte ich als Ausländerin im nichteuropäischen Ausland nicht arbeiten.

Emanzipation um ein Arbeitsvisum
Ich bin für Nichtstun nicht die richtige Frau. Also fragte ich auf der Behörde, was ich tun müsse. - Sie müssten Inhaberin einer polnischen Firma sein, Direktorin. Womöglich Arbeitsplätze schaffen. - Aha. Warum eigentlich nicht? Aus meinem Beruf als Journalistin müsste doch etwas zu stricken sein? Ich erkundigte mich, wie man Generaldirektorin wird. Aha: Frau gründet eine sogenannte S. p. z. o. o. Was klingt wie ein Tiergarten, ist nichts anderes als eine GmbH. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, wie man eine GmbH in Deutschland aufzog, geschweige denn, was das überhaupt ist - und das in einem Land, in dem ich wirklich absolut nichts verstand? Für mich gibt es allerdings nichts Besseres als die richtige Wut auf hemmende, dämliche und rückständige Strukturen. Und ich hatte eine Menge Wut. Auf die deutschen Chefredakteure, auf die Ausländerbehörde von Warschau, auf die Männerwelt, die eine Frau lieber am Herd sehen würde. Solche Wut macht mich fleißig und kreativ.

Ein Jahr später sprach und schrieb ich recht fließend Polnisch und hatte genügend Leute um mich herum, die Leute kannten, die Leute kannten, die ... mir halfen. Es war die verrückteste Zeit meines Lebens, auch im Nachhinein betrachtet kommt es mir vor wie in einem durchgeknallten Film. Damals war im Osten alles neu, alles frei. Es wurde improvisiert und ausprobiert - ein Paradies für Kreative. Ich brauchte eine internationale Bank, einen Anwalt und einen Notar und hatte nach der Firmeneinlage eigentlich kein Geld mehr. Es war der Dekan der juristischen Fakultät, der mich persönlich beriet und mir die Firmenverträge ausarbeitete, weil jemand etwas bei ihm gut hatte, der jemanden kannte, der mich kannte. Und weil der Dekan die Notarin kannte, hat die auch erklären können, dass ich der polnischen Sprache mächtig genug sei, um allen Verhandlungen allein folgen zu können - denn der eigentlich vorgeschriebene vereidigte Übersetzer hätte mich mein letztes Hemd gekostet. Blieb noch die Bank. Das waren Amerikaner, die mich meinen gesamten Aufenthalt hindurch grundsätzlich mit "dear Sir" anredeten, obwohl sie wussten, dass ich eine Frau war. Aber für Amerikaner gab es keine emanzipierten Frauen im Osten. Dachten sie.

Das historische Stück in polnischem Design und polnischer Schreibweise der frühen 1990er

Die Generaldirektorin und die Königin
Ehe ich mich versah, war ich Generaldirektorin einer polnischen GmbH, beschäftigte eine Buchhalterin und hatte erreicht, was ich wollte: Ein eigenes Visum und eine Arbeitserlaubnis. Als einzige Ausländerin stand ich mit meinem Köfferchen in den Schlangen der Polen mit Köfferchen auf irgendwelchen Ämtern herum. Ich hatte eine Medienagentur, belieferte ein amerikanisches und polnische Blätter - und unterrichtete die Journalistinnen eines der deutschen Konzerne, die meine allzu ausgewogenen Artikel nicht hatten haben wollen. In Polen arbeitete jener Konzern am Fiskus vorbei mit schwarz bezahlten Journalisten - auch eine Möglichkeit, sich den Ämterkram zu sparen.

Natürlich braucht eine Firma einen wohlklingenden Namen. Und weil ich eine so wütende Frau gewesen war, die sich mit viel Blut und Schweiß ihren Weg in jener knallpatriarchalen Welt gebahnt hatte, fiel mir diese berühmte irische Königin wieder ein, deren Name wie "rotes Bier" einen wahren Rausch bedeutete. Bei einem Irlandurlaub war ich auf ihrer mythischen Grabstätte "Miosgán Meabha" auf dem Knocknarea bei Sligo gesessen.

Queen Maeve oder Medb, eine mythische Königin mit Göttineigenschaften, soll in einem Ganggrab auf dem Knocknarea im County Sligo in Irland liegen, über das sich rund 40.000 Tonnen Steine 10 m hoch wölben.

 Das immer noch unversehrte Ganggrab ist einer der unvergesslichsten Orte, die ich kenne. Von oben hat man einen Weitblick über Irland und das Meer, zu Füßen wachsen winzige Bergkristalle in den grauen Steinmäuerchen. Unzählige Steinkreise mit Initialen und Blumengaben zeugten davon, dass die Einheimischen immer noch alte Zauber webten. Es ist ein Ort, wo man die eigene Winzigkeit spürt wie unter einem nächtlichen Sternenhimmel, und wo sich alle Zeiten der Geschichte ineinander zu verweben scheinen. Sie ist noch recht lebendig da oben, die wilde Frau. Vom Christentum wurde sie schlecht gemacht, als unmoralisch und launisch hingestellt. Draufgängerin war sie in jeder Hinsicht - und was sie wollte, erreichte sie auch. Erst spät in unserer Zeit wurde klar, dass in die alten Geschichten um Maeve auch Schichten von Überlieferungen um eine alte Schöpfergöttin eingegangen waren. Berauschende Schöpfungsmacht - das steckt eigentlich hinter ihrem Namen. Sie ist eigenwillig und kann tricksen und zaubern. Und ganz nebenbei hat sie für ein Kabinettstück früher Literatur gesorgt: den womöglich ersten "Pillow Talk" der Literaturgeschichte. Jener Ort, jene Frau schienen mir ideal auf meine Situation zu passen. Und wenn ich aufgeben wollte oder kraft- und saftlos schien, stachelte mich Maeve, die gälische Medb, wieder an: Aufgeben gab es nicht. Ich schrieb damals auch an meinem ersten Buch, das 1998 erschien.

Ein neuer Wutrausch
Fast 20 Jahre hat das alles in mir geschlafen. Und jetzt bin ich wieder in einer Berufssituation, wo sich ein unwahrscheinlicher Umbruch abzeichnet, wo abzusehen ist, dass bald nichts mehr so sein wird, wie das zu Zeiten meines Erstlings war. Es gibt erstaunliche Parallelen. Wieder stehe ich hilflos in Ämtern herum, die ewig gestrig Berufe definieren. Mit meinem Bauchladen von Tätigkeiten deklariere ich mich dumm und dusslig und werde überall wie der letzte Depp behandelt. Als "auteur-artiste" ist man für Behörden Abschaum, Bodensatz der Gesellschaft, womöglich irgendwie durchgeknallt. Und man befindet sich mit den neuen Möglichkeiten des Self Publishing in Frankreich ständig in einer gefährlichen, weil rechtlich nicht einwandfreien Grauzone, denn Amazon ist kein Verlag. In Deutschland wiederum sind die Self Publisher die "Schmutzigen" - jedenfalls bei manchen Teilen der Buchbranche. Allem voran bei denjenigen, die selbst um ihre Zukunft fürchten. Und man kommt so einfach nicht an das heran, was hilfreich wäre - die Distributoren, den eigenen Shop.

Muss ich noch erzählen, was passiert ist? Mich hat wieder jene Wut gepackt, die in einem Kreativrausch endet. Als hätte ich mit Maeve rotes Bier getrunken. Die Frau inspiriert mich noch immer. Wenn einen etwas stört, muss man nachdenken, wie man es beseitigen könnte. Wenn man beruflich etwas tun will und alles scheint dagegen, muss man schauen, wie man die Wege findet, auf denen möglichst wenig "schlafende Gendarme" liegen. So heißen in Frankreich die Straßenschwellen zum Abbremsen. So nenne ich für mich die Behinderer, die immer nur ein "ja aber" auf den Lippen haben. Vor zwei Jahren hätte ich wegen solcher Leute fast das Schreiben ganz aufgegeben. Stattdessen habe ich mein erstes Projekt im Self Publishing durchgezogen.

Kluge Bücher für moderne Menschen
 Wieder einmal habe ich die Bedingungen zweier Länder verglichen. Mich sogar in einem deutschen Berufsnetzwerk kundig gemacht. Das gab mir den Rest. Außer einer Handvoll aufgeweckter, wirklich hilfreicher Frauen schlug mir per Mail fast Hass entgegen. Ich sei komplett verrückt, ich solle meine Finger davon lassen; was würde ich mir eigentlich einbilden zu glauben, ich könne jetzt auch noch einen Verlag gründen! Sehr reinigend, so etwas. Ich bin aus dem Netzwerk ausgetreten, habe mich mit den Aufgeweckten zweier Nationen beraten, viel diskutiert, viel nachgedacht. Und eigentlich habe ich es schon verraten: Ich gründe einen Verlag. Einen französischen Verlag, der im Elsass deutschsprachige Bücher macht. Erst mal nur die eigenen, mit winzigen Brötchen will ich anfangen. Es ändert sich im Prinzip nur die juristische Form. Aber ich freue mich schon jetzt darauf, den eigenen E-Book-Shop auf die Beine zu stellen - denn ab dann darf ich auch hochoffiziell Bücher verkaufen. In Frankreich können Verlage ihre eigene Verlagsbuchhandlung sein.

Ich sitze in Gedanken wieder auf jenem "Weltenmittelpunkt" in Irland, wo alle Zeiten aufeinandertreffen, und möchte am liebsten mit ihr anstoßen: Maeve ist wieder da. Und die kleine Menschenfrau mit dem elenden Dickkopf und dem Zukunftshunger kalkuliert sich noch diverse Dinge durch, liest sich durch Tonnen von französischer Juristerei, lässt sich weiter beraten. Und dann kann es im September ganz schnell gehen. Die Firmenform lässt sich online eintragen. Und die Deklaration für die Firmennummer wird innerhalb von 24 Stunden bearbeitet. Dann wird der Verlag offiziell und amtlich sein.
Éditions Maeve. Kluge Bücher für moderne Menschen. 

Und nein, ich nehme KEINE Manuskripte an!

21. August 2012

Buchmesse adé

Eigentlich ist es völlig bekloppt, bei dieser Hochsommerhitze schon an die herbstliche Buchmesse zu denken. Aber Tickets, Fahrkarten und womöglich Zimmer wollen rechtzeitig gebucht werden. Warum aber zum Teufel trifft sich alle Welt in Frankfurt? Warum nehmen Autoren dieses Loch im Geldbeutel in Kauf?

Es ist eigentlich ganz einfach: Man trifft sich, weil sich dort die gesamte Buchwelt trifft. Insofern hat man endlich alle wichtigen Leute an einem Platz, für die man sonst in alle möglichen Himmelsrichtungen reisen müsste. Ich habe auf diese Art meinen Agenten und Verlagsmitarbeiter zum ersten Mal gesehen, die ich vorher nur per Mail und Telefon kannte. Und man lernt durchaus Kollegen kennen, bei inzwischen via Twitter oder FB organisierten Treffs. Termine hat man besser lang im Voraus abgesprochen, die wechseln oft im Zehn-Minuten-Takt. Messe ist Stress, Adrenalin, Aufregung. Ein unvergessliches Ereignis.

Aber der Aufwand ist nicht ganz billig. Und so fragt man sich jedes Jahr: Muss ich da hin? Kann ich XY nicht viel ruhiger und besser an seinem Arbeitsplatz kennenlernen? Was habe ich davon, wenn 70 Twittergesichter real life auf mich einstürmen? Habe ich ein Buch zu promoten, bin ich Star an irgendeinem Stand?

In meinem Fall wäre die Buchmesse in diesem Jahr nur Luxus, um Leute kennen zu lernen. Dort hängen meine E-Books nicht herum und für mein nächstes Buchprojekt gehe ich ohnehin ganz neue Wege. Aber jetzt hat sich die Frage ganz schnell von selbst erledigt: Ich bin 2012 nicht bei der Buchmesse.

Ich muss nämlich in jenen Tagen eine Rede halten, die mit meiner Buchzukunft zusammenhängt. Mein neues Buch beginnt mit der Geschichte eines der größten russischen Dichter, Wassilij Schukowski, Lehrer Puschkins, kongenialer Übersetzer von Goethe, Schiller und Lord Byron. In meinem Buch zieht der Dichter der Zarenhymne ausgerechnet 1848 ausgerechnet in die Nachbarschaft von Georg und Emma Herwegh. Die beiden Revoluzzer sind mit einem gewissen Bakunin befreundet und würden am liebsten alle absolutistischen Herrscher Europas und Russlands beseitigen. Schukowski bekommt seine Rente vom Zaren. Es geht heiß her in jener Zeit in Baden-Baden, die Provinz wird nicht zum letzten Mal zur weltpolitischen Bühne.

Wie das Leben so spielt, wird genau während der Buchmesse Schukowskis Familiengrab als Gedenkstätte übergeben (er selbst wurde posthum nach Petersburg überführt). Die deutsch-russische Kulturgesellschaft hat die Patenschaft übernommen, das Grab hergerichtet - derzeit wird noch am Obelisk gearbeitet. Es wird einen orthodoxen Gottesdienst zur Weihe geben und eine Gedenkveranstaltung in der Stadtbibliothek vor hochrangigen russischen Gästen. Für die deutsche Seite werde ich eine Rede über Schukowski halten.

Ich mache also zur Buchmesse genau das, was man immer tut in dieser Zeit: Kollegen kennenlernen. In meinem Fall ist er schon tot, aber die, bei denen ich recherchieren kann, sind höchst lebendig und womöglich anwesend. Ich mache das, was man zur Buchmesse immer tut: Ich kümmere mich um mein nächstes Buchprojekt. Nur eben nicht in Frankfurt ...

18. August 2012

Sehr heiße Lektüre!

Wenn einem das Hirn vor lauter Hitze auszutropfen droht, kann heiße Lektüre helfen. Diesmal sind es zwei Frauen, die pünktlich zum Tropenwochenende herumwutzen, dass es ein Spaß ist.
Cora Stephan, unter dem Pseudonym Anne Chaplet selbst Krimiautorin, lässt in "Die Welt" erfreulich erfrischend die Sau raus gegenüber dem, was die Verlagswelt so langsam aus dem Genre Krimi macht:
"Der eine oder andere Leser dürfte langsam die Nase voll haben von der Resterampe namens Krimi." Anlässlich der medial gehypten Fakes, die Autoren überflüssig machen könnten, sticht sie mit dem spitzen Finger in Wunden und zeigt, dass wir uns längst an Schweinereien gewöhnt haben, die wir einem Banker oder Broker nie durchgehen lassen würden.
Update: PR-Frau Gesine von Prittwitz hat den "Sturm im Wasserglas" dahingehend betrachtet, wie Bücher heutzutage vermarktet werden:
"Dafür wird auf Teufel kommt raus und ungeachtet dessen, was zwischen den Buchdeckeln steht, geklimpert und getrommelt. Und zwar frei nach der Devise: Je schriller, desto besser! Und sollte sich einmal kein Aufhänger finden lassen, der zum Skandälchen taugt, dann kann man ja noch auf eine einstweilige Verfügung hoffen, die sich öffentlich ausschlachten lässt"
Ebenfalls am Geld hängt die Sau, die Sibylle Berg in ihrer Spiegelkolumne durchs Modedorf treibt. Wenn's denn nur bei scharfer Kleidung für hippe Alte bleiben würde. Wenn da im Feuilleton nicht überall der Sexismus sogar in Nachrufen aufblitzen würde. Schweinerei, ganz bestimmt. Aber mal ehrlich: Ich schaue auch lieber einer schönen Frau nach als einem hässlichen Mann.

Dan Rocco macht das ganz anders. Er verpasst seinen toughen und leicht durchgeknallten Ermittlerinnen grundsätzlich kuriose Assistenten. Und dann mal sehen, wer der Sau den Hintern abbeisst und wer den Kopf! Keine Angst, zu Tode kommt in "Das Marzipanschweinchen" keine niedliche Wutz, sondern gleich ... o lala ... Und weil es so heiß ist: Schon gewusst, dass der freche Autor von "Rouge und Revolver" vor Jahren in einer schwiemeligen Kaschemme entdeckt wurde - wie er sich ausgerechnet bei 40 Grad im Schatten einen abmordete:
"Schon mal 30 Grad warmen Glenlivet im 34 Grad kalten Schatten getrunken? Ist wie Nelkenessenz an einem Spritzer Knockout."
PS an meine lieben Ausdruckerfreunde: Man kann die Links in diesem Beitrag anlicken, ohen dass das Blog explodiert. Da geht's zum Beschriebenen.
PPS an alle, die sich jetzt wundern: Ich bekomme manchmal Mails mit Texten wie "Ich tät dein Blog ja gern lesen, aber die Artikel, von denen du redest, stehen da nie." 

16. August 2012

Seitenblicke wagen!

Man muss es immer wieder dazusagen, weil manche Leute nicht scrollen können / mögen: Auch anderswo wächst der Text. Rechts im Menu unter dem Kaufladen, der mich ernähren muss, kann man in meine anderen Blogs finden (heiße Story im Nijinsky-Blog!) und bei Twitter und Facebook mitlesen.

12. August 2012

Das Menschenbuch

Es ist an sich eine Preziose mit seinem in Gold und Relief geprägten Einband, der einem französischen Stoffmuster aus den 1860ern nachgebildet ist, mit dem feinen Vorsatz- und Innenpapier, dem Lesebändchen und einer Einschubtasche für Zeichnungen und Zettelchen. Die Klappe, die das Ganze wie ein Schuber schützt, haftet mit einem Magnetverschluss. Von meinem Menschenbuch (bei Paperblanks zu haben) trenne ich mich nie - und wahrscheinlich hasse ich winzige Handtaschen deshalb, weil man darin nicht mindestens ein solches Buch verschwinden lassen kann.

Meine Ideen entstehen in altmodischen Preziosen

Bei meinem Roman "Alptraum mit Plüschbär" wurde ich immer gefragt, ob das, was ich erzähle, nicht alles verdammt echt sei und womöglich ich die Protagonistin. Eine Frau im Dorf ereiferte sich böse bei ihren Freundinnen (die mir das wieder hintertrugen), ich hätte mich in der Gestalt der Hanna über sie lustig gemacht. Eine andere Frau bei einer Lesung rief entzückt: "Die Hanna, das bin ja ich!" Und eine junge Frau nahm mich verschwörerisch beiseite, ich solle ihr doch bitte haarklein alles über diesen Typen mit dem Decknamen "busby_racer" erzählen, denn ihr sei ganz stark der Verdacht gekommen, mit dem sei sie schon mal im Bett gelandet. Diese Figuren seien also so echt, dass sie einfach - echt sein müssen!

Tatsächlich fröne ich beim Romaneschreiben einer gewissen Faulheit, um mich von den aufwändigen Recherchen meiner Sachbücher zu erholen: Die Geschichten spielen dort, wo ich mich auskenne, also im deutsch-französischen Grenzland anstatt in New York oder auf Hawaii. So liefere ich mich natürlich dem Verdacht aus, mich womöglich am unliebsamen Nachbarn zu rächen, indem er in einer miesen Rolle im Buch landet. Natürlich habe auch ich einen solchen Nachbarn, einen Kerl, den das ganze Viertel nicht leiden kann, weil er sich gegen alle stellt und fiese Dinge tut. Dem man dann durchaus auch mal die Polizei vorbeischickt. Aber erstens schreibe ich - noch - keine Krimis und zweitens wollte ich nicht meine wertvolle Energie mit solchen Zeitgenossen vertun. Wie also entstehen solche Figuren wie die von ihrem Mann plötzlich verlassene Karen, die ausgeflippte Jana, die bodenständige Hanna oder der rundum sympathische "Sahneengel" Tom?

Wahrscheinlich wie bei den meisten Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Ich gehe wie ein Schwamm durchs Leben. Ich habe eine Berufsdeformation in der Wahrnehmung, die ich nicht abschalten kann: Sie ist wach, sobald ich wach bin. Unauffällig beobachte ich Menschen, schaue sie mir genau an. Vor allem Bahnhöfe, Theaterpausen, Fußgängerzonen und Restaurants haben es mir angetan. Denn dort kann ich aus dem Vollen schöpfen. Ich sauge alles auf, was mir besonders auffällt, aus irgendeinem geheimnisvollen Grund. Ich sammle Gesten, eine bestimmte Mundhaltung, eine auffällige Stimme, vielleicht sogar den Dialogfetzen des Paares am Nebentisch, bevor sich beide nur noch anschweigen.

Das alles passiert unbewusst. Nur manchmal ist ein Bild so stark, dass ich es festhalten muss. Manchmal begegnet mir ein Mensch, der irgendetwas an sich hat, das ich auf immer konservieren möchte, weil es so besonders ist, weil es diesen Menschen oder eine bestimmte Situation so nachhaltig ausmacht. Dafür brauche ich dann mein Menschenbuch. Die Konservierung ist ein Ritual, das zelebriert werden will, denn ich rufe mir dafür jede Einzelheit noch einmal lebendig ins Gedächtnis. Als ich am Freitag durch das Nachbardorf fuhr, schrie ich sogar laut im Auto: "Das muss ins Menschenbuch!" Eine alte Frau stand in einem über und über blühenden Bauerngarten, gekleidet in ein altmodisches Blumenkleid, eine verblichene Männerjacke eines Blaumanns darüber und einen zierlichen Strohhut auf dem Kopf. Sie lächelte so glücklich, völlig versunken in die Blüten.

Ein Fotograf hätte in solchen Situationen seinen Fotoapparat dabei. Ich fotografiere in solchen Situationen bewusst nicht, weil es mein inneres Bild aufheben würde, weil ich die Stimmung, die Farben, die Bewegungen und all das Erlebte erst eine Weile mit mir herumtragen muss. Und wenn das Bild dann noch so stark lebt, dass es mich zwingt, schreibe ich es in voller Konzentration in mein Menschenbuch. Fotos mögen vergehen - diese inneren Bilder bleiben mir ein Leben lang. Ich kann mich an viele solcher Bilder seit meiner frühesten Kindheit erinnern. Als ich ein Kind war, hatte ich die Vorstellung, eines Tages in größtem Reichtum zu sterben - reich an Menschenbildern. Zuerst sammelte ich Menschen in Schachteln, später in Heften - und nun in den Menschenbüchern. Menschen faszinieren mich.

Da ist die Griechin aus der Stoffbranche, "ein kleiner knubbeliger Stoffballen von einer Frau, fleischige Nase, intensive schwarze Augen, ausladend in Körperbau und Gestik". Da ist die Frau mit dem inoperablen Hirntumor, die von ihrer Pilgerfahrt nach Lourdes schwärmt: "In der Zeit der Krankheit hat sie Geige spielen gelernt ... eine einsame kranke Frau, die innerlich wie äußerlich so strahlt, dass sie mit ihrem Glück die Normalen erschreckt." Ich finde aber auch Regenschirme mit echtem Pelzbesatz im Sonderangebot in Baden-Baden, den Laden, der pleite macht, weil die Besitzerin mit ihrem Metzger bei Parties das Geld durchbringt, oder eine bestimmte Nebelstimmung, in die ein Schaf scheinbar aus dem Nichts hinein ruft. Ich notiere besondere Beobachtungen an Spuren im Schnee: "Ein Mensch, der querfeldein scheinbar geradeaus auf einen Fixpunkt zugeht, läuft in leichten Schlangenlinien. Wird er von jemandem begleitet, zeigen diese einen Drall in Richtung des Begleiters und der Mensch gleicht diese Anziehung immer wieder aus."

So entstehen meine Figuren. Ich lese oft in diesem Buch und manchmal wollen bestimmte Gesten oder Blicke oder Worte einfach befreit werden ins Leben. In solchen Phasen können mir Menschen im echten Leben zu viel werden und ich wandere in stundenlanger Waldeinsamkeit in der Zwiesprache mit einer neu entstehenden Figur. Im Buch werden diese kleinen Blicke auf wahre Menschen verewigt. Aber sie nehmen neue Formen an. Da wächst die typische Geste der einen Frau mit einem Blick einer anderen Frau zusammen, ich borge mir eine Stimme, die ich zehn Jahre zuvor gehört habe, kleide sie in ein Kleid, das mir gerade in einem Schaufenster auffiel, und rede mit ihr, um zu erkunden, wer diese neue Figur sein mag. Irgendwann wird sie lebendig und nimmt mich bei der Hand, erzählt mir von ihrem Leben, ihren Sehnsüchten und Ängsten. Manche schaffen es nie ins Leben, sie bleiben Bestandteil meiner "Schatzkiste". Irgendwie, so habe ich den Eindruck, ist mein Erschaffen von Fiktionen auch eine Art Bewahrenwollen des Besonderen. Ein Zelebrieren von Erinnerungen in die Wirklichkeit hinein. Ein Bewahren der Momente, wo man sich dem Leben an sich besonders nah wähnt. Weil man im Roman Leben erschaffen muss ...? Karen, Dahlia, Tom, Luc und wie sie alle heißen - sie sind niemand und sie sind viele, sie sind die anderen und sie sind wir selbst.

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11. August 2012

Lektüre für Sommerlaune

Monate hat es gedauert, nun ist es endlich so weit: Meine "Jugendsünde" ist zu kaufen. Ich habe lange überlegt, ob ich meinen Erstlingsroman je wieder neu veröffentlichen soll, denn für mich persönlich scheint er aus einer anderen Welt zu kommen, die ich längst schreiberisch verlassen habe. Aber man soll ja nicht egoistisch sein. Zweite Hürde war die Gestaltung. Jetzt endlich hatte ich die Möglichkeit, nicht nur den ungeliebten Originaltitel loszuwerden ("Stechapfel und Belladonna"), sondern auch das ungeliebte Cover. Was für eine Chance, einen Roman völlig neu und vielleicht anders und sogar passender platzieren zu können! Was für ein Risiko aber auch, was für eine Verantwortung für die eigene Arbeit! Es bleibt ein Verbanque-Spiel.

Leider hatte ich dieses Mal wirklich kein Geld für das, was ich mir im Self Publishing nach dem Lektorat zuallererst leisten können möchte: ein Cover vom Profi. Und so musste ich viel Zeit und Schweiß investieren, denn auch die Titelfindung fiel mir nicht leicht. Wie beschreibt man ein Buch, das sich immanent über Klischees lustig macht, ohne es wie eine Klischeesammlung aussehen zu lassen? Immerhin - der gefundene Titel ist auch der Titel eines Schlüsselkapitels. Aber wie zum Teufel illustriert man so etwas? Die ersten Versuche zeige ich besser nur ganz guten Freunden in dunkler Nacht. Da ist alles dabei, von psychedelischem Chaos bis hin zu Gestaltungen, die einen Krimi vermuten lassen würden. Ich weiß nicht, wie viele Stock-Fotos schon im Mülleimer landeten. Zeitweise bekam ich fast Brechreiz, denn wenn man Fotodatenbanken auf das Stichwort Teddybär oder Plüschbär durchsucht, watet man durch Zucker, Honig und Infantilismus.

Dann packte mich die Wut. Einen Bären hatte ich doch selbst! Darf ich vorstellen: Bärbär heißt der Titel-Boy. Seinen edlen Namen bekam er, weil er für mich so intensiv BÄR war wie kein anderer, eben Bärbär. Und wie drücke ich einen Alptraum aus, mit womöglich heiteren Untertönen? Im Buch wird ein Bär geworfen. Also landete der arme Bärbär auf Fotos zuerst kopfunter an meiner Hand, aber der Unterarm machte sich durch die Perspektive nicht so gut. Ich verkleidete mich in meine Opernrobe und hatte ein Cover im Sinn, wo ich mich und den Bären freistellen würde. War nur ein übel schlechtes Licht an jenem Tag und ich hatte es eilig. Hatte genug von der Herumbastelei. Ich ging nach draußen.

Bei dem Unkraut, das zwischen den Steinen hervorlugte, würde ich mir jedoch in Photoshop einen Wolf schneiden! Und das Regenwetter war für meine Klamotte auch nicht gemacht, für Bärbär schon gar nicht. Kopflos raste ich ins Bad, zog das erstbeste Badetuch aus dem Schrank und sah, dass es blau war. Das "Bluebox"-Verfahren fiel mir ein. Mit dem Kontrast müsste es doch ein leichtes sein, den Bären freizuschneiden? Und weil das Handtuch auf dem regennassen Unkraut so schön trocken war, pfefferte ich Bärbär liebevoll auf den Boden, denn ich brauchte einfach beide Hände zum Fotografieren aus der Höhe. Die Testbilder machten farblich etwas her zum Kleid. Und so kommt es, dass ich nun das wohl erste Cover weltweit habe, das aus einem zufällig aus dem Schrank gezogenen Handtuch besteht! Ich möchte auch nicht verhehlen, dass mich ein echter Grafiker beim letzten Verschieben der Schriften beraten hat - den möchte ich gern mal für ein anderes Projekt beauftragen.


Das E-Book ist seit heute hier bei Amazon zu haben. Und ich muss wohl nicht dazusagen, dass Leuten, denen dieser Roman gefällt, auch "Lavendelblues" gefallen könnte und umgekehrt. Sommerlaune im Doppelpack sozusagen. Und jetzt, wo ich das alles vom Hals habe, muss ich endlich mal wieder "für Geld arbeiten", sprich, bis Monatsende ein zwölfseitiges Essay schreiben. Mein Schreiben im Blog und in Social Media könnte sich dadurch leicht verdünnisieren ...

Klappentext:

Karen ist spezialisiert auf heile Welten: Im Beruf konzipiert sie heitere Vorabendserien, privat pflegt sie die glückliche Ehe-Idylle. Bis ihr Ehemann sie nach 18 Jahren überraschend verlässt.

Gummibärchen, Prosecco und Seifenoper-Klischees bieten ihr nur ungenügenden Trost. Sie ertrinkt in Selbstmitleid – bis ihre exzentrischen Freundinnen und ein schräger Scheidungsratgeber sie auf neue Gedanken bringen.

Glück, so sagen sie, gibt es nicht geschenkt - aber man kann sich den Zugang dazu organisieren lassen. Von Profis. Etwa in zweifelhaften Dating-Börsen. Bei durchgeknallten Fernsehhexen. In dubiosen Selbsterfahrungsseminaren. Über endorphinstrotzende Ernährungs-Coachings.
Anfangs verzweifelt, dann aber mit wachsender Erheiterung klappert Karen all die angesagten Spielarten der modernen Glückssuche ab – ein absurd-wahnwitziges Unterfangen. Deshalb entschließt sie sich zu einem noch verrückteren Vorhaben ...

"Liest sich wie ein appetitliches Menu, duftet ein wenig literarisch und schmeckt nach amüsanter Unterhaltung."
(Rheinische Post)

4. August 2012

Lesung im Stundenhotel!

... mir wurde anonym folgende Mail zugespielt, die meiner Meinung nach eine breitere Öffentlichkeit verdient hat. Damit sich das Ganze flüssiger liest, möchte ich den Autor ganz fiktiv Alfons Alfonsius nennen. Mit womöglich existierenden Menschen des gleichen Namens hat er nichts zu tun, Übereinstimmungen wären rein zufällig.

... hat mich mein Verlag zu einem großen Essen im X eingeladen, um gemeinsam mit der Werbeabteilung ein brandneues, brandheißes ( so steht das wörtlich in der Einladung) Konzept in Sachen Markenbildung und Corporate Identity für mich und mein Buch zu erarbeiten. Da ich den Vertrag nur bekommen habe, weil ich mich zu eigenen Auftritten und Zusammenarbeit bei den Werbemaßnahmen bereit erklärt habe, war ich natürlich sofort dabei (und welcher Autor kann sich schon ein fünf-Gänge-Diner im X leisten!).

Ich habe einen Management-Ratgeber im populären Sachbuchbereich geschrieben, bei dem es darum geht, sich äußerlich wie innerlich freier zu präsentieren, den Kollegen gegenüber, den Kunden gegenüber. Darin sind Tipps enthalten, welche schicken Alternativen es zu Krawatte und Anzug gibt, aber auch Wege beschrieben, wie sich moderne Manager zur eigenen Authentizität in Social Media befreien, anstatt nur um der Karriere willen den Sklaven im System zu mimen. Die Programmkonferenz soll bei der Vorstellung von Exposé und Probetext gejubelt und mit großem Hallo gleich drei Titel vorgeschlagen haben:
--- "50 shades of  pinstripes"
--- "Fi.k dich selbst. Eine Reise ins Innere der Macht"
--- "Deutschland löscht dich aus"

Bei einer spannenden Treibjagd zwischen Vertretern und Lektorat wurde Vorschlag 3 sofort verworfen, weil die Werbeabteilung fand, für diesen Titel sähe ich einfach zu jung und knackig aus, und weil mein Kollege Sarrazin schon alle geilen Auftrittsorte dafür "verbrannt" hätte. Der Rest wurde, wie gesagt, in diesem angesagten Schuppen mit mir besprochen. Anbei das Podcast (transkribiert):

Programmchef: Wir können heutzutage Bücher nicht mehr nur über Wasserglaslesungen in der staubigen Buchhandlung verkaufen. Lesereisen zwischen Köln-Porz, Bayrisch Himmelstein und Berlin Kreuzberg ziehen einfach nicht mehr. Ohne Event, das ich in den Social Media auch mal ein bißchen langatmiger und nicht so kurzlebig verkaufen kann, läuft heute nichts mehr im Spitzensellerbereich!

Werbetante: Da muss ein echtes Event her! Etwas nie Dagewesenes! Etwas, das unseren jungen, schmucken Mann hier in die Herzen aller Frauen und vor allem ins TieVie katapultiert!

Dauerfrustrierte outgesourcte Lektorin: Frauen? Wie viele hocken denn in Spitzenpositionen? Das ist eindeutig ein Männerbuch.

Vertreter: Vergesst Männerbücher. 95% aller Käufer sind weiblich. Ist doch egal, was die für einen Beruf haben. Hauptsache der Kerl auf dem Autorenfoto ist sexy und der Titel auch. Ich bin für den Titel mit den pineapples, äh, den Dingern, äh, das versteht doch keine Sau. Können wir da nicht ein "grey" draus machen, passend zum Anzug?

Werbetante: Ich ruf gleich bei Hugo Boss an, ob die nicht vielleicht eine Kollektion mit Handschellen haben, das wird der Renner!

Programmchef: Sachte, sachte mit die jungen Damen. Fragen wir doch erst mal unseren vielversprechenden Autor, wie er gedenkt, sich für das Geld einzubringen, das wir in sein Machwerk pumpen!

Controler: Meine Rede. Bevor das Profitcenter Autor nicht steht, brauchen wir über Markenbildung gar nicht zu reden.

Werbetante mit lustvollem Seitenblick auf den Autor: Aber das mit der Corporate Identity wird ein Kinderspiel. Corpus hat der Junge, das muss man ihm lassen ...

Autor, schüchtern stammelnd: Also, also ich würd natürlich schon was tun für mein Buch. Ich könnte mir durchaus auch Events vorstellen.

Lektorin, jetzt weniger frustriert, aber immer noch outgesourct: Ich hab euch ja gesagt, der Mann ist Gold wert! Der zickt nicht so rum wie letztens die Veganerin, die während der Lesung öffentlich ihr Baby stillen wollte. Ich mein, wo kommen wir denn da hin, schreibt einen Sächsratgeber und stillt ihr Kind mitten im Verhütungskapitel!

Autor: Ich habe einen Managementratgeber geschrieben. Vielleicht könnte man ein Event unter Managern ...

Vertreter: Nee Jung, das schmink dir mal ganz schnell ab! Da muss was Geileres her! Thalia kauft uns das unmöglich ab, da hatten wir schon letztens Probleme, weil die Autorin mit diesem historischen Roman "Die Fußschemelin der Knappin" gleich ein ganzes Schloss mieten wollte. Dabei war die Treppe noch nicht mal bezahlt ...

Nicht zuständige Lektorin, fest angestellt: Der zweite Titel tät mich anmachen. "Hengstparade" ist ja leider schon vergeben. Unsere Leserinnen werden uns das Buch aus den Händen reißen. Warum eigentlich nicht auch unseren Autor? Ich seh vor mir, wie die Fans dem die Kleider vom Leib reißen!

Autor stumm mit Glubschaugen.

Werbetante: Nackich ist immer gut. Vor allem bei der Corpus Identity! Kommen wir zwar nicht ins Vorabendprogramm und in die Jugendpresse, aber je kontroverser, desto besser. Das Feuilleton wird sich kollektiv einen runterholen beim Meckern!

Vertreter: Was machen wir mit Weltbild?

Werbetante: Gegessen. Kommt ja kein Kondom im Buch vor, oder?

Controler: Ich mache darauf aufmerksam, dass wir schon bei der Hauptspeise sind. Unser Autor hat bereits eine ganze Flasche Champagner allein niedergemacht. Das kostet! Wir sollten also schnell zu einer tragfähigen Werbeaktion kommen!

Autor, lallend: Wewennn, w ...ich auchmal w...wwasss sagen ...

Werbepraktikant: Hab mit Boss telefoniert, die könnten Anzüge stiften, aber die Handschellen müssten wir in so Shops besorgen. Oder bei der Polizei. Aber des wär doch zu arg Crime oder? Und die Mehrheit in Social Media steht auf Blümchensex laut unserer Studie von vor zwei Jahren.

Autor pfatscht mit Löffel in den Beilagen, dass es spritzt, und kichert: Aber ich hab doch einen Management...

Controler: Jetzt machen wir mal Nägel mit Köpfen. Nackt muss sein. Drunter geht's bei Spitzentiteln nicht mehr. Die Leserinnen wollen ihre Lieblingsautoren zum Anfassen. Und jetzt, wo die Konkurrenz ihre Autoren schon im Livestream in der Muckibude lesen lässt, da geht bei uns nix nix nix mehr im Anzug. Wenn ich das richtig verstanden habe, geht's in dem Buch sowieso ums Freimachen?!

Werbetante: Ja, ja, ja, jaaaaaaa! Geil! Irre, super, dasisses!

Lektorin, egal welche: So leidenschaftlich auf einmal, Erika? Wenn sie diese Verve doch auch mal für unsere Frauenromane aufbringen würden!

Werbetante: Ach was, Frauen. Unsere Leserinnen wollen FLEISCH. Leidenschaft, genau das ist es. Wie viele Frauen müssen heutzutage ohne Buch ins Bett gehen! Mag ich mir gar nicht vorstellen. Diese Leere, dieses Leid. Aber Muckibude ... lasst das mal die Konkurrenz machen. Ich bin ja der Meinung, nicht jede Leserin steht auf Männerschweiß. Wo gehen Manager hin? Lasst uns das mit ganz dichtem Bezug zum Buch machen! Na, was kommt denn nach den Sitzungen und Konferenzen am Abend immer?

Vertreter: Gemeinsames Besäufnis an der Bar. Endlich mal unter sich. Ohne Ehefrau.

Werbetante: Das ist das Stichwort! Wie viele Leserinnen würden sich bei unserem schnieken Autor nicht an die Stelle der Ehefrau wünschen, der Mann sieht ja auch noch volltrunken richtig heiß aus!

Autor bestellt mit hochgerecktem Mittelfinger noch eine Flasche Champagner.

Werbetante: Ich hab's. Wir mieten das Kempinsky oder das Atlantik Hotel oder so einen Edelschuppen. Natürlich nur ein Zimmer mit Doppelbett. Dafür tauschen die die Bibel auf allen Zimmern durch unser Buch aus, gekauft, nicht gespendet. Boss liefert die Klamotten zum Ausziehen und stapelt unser Buch im Outlet. Link zu unserem Verlag in allen internationalen Shops. Unser Autor macht im Live-Streaming einen Striptease und wird täglich eine Viertelstunde auf den entsprechenden Sendern im Fernsehen gezeigt. Dazu bauen wir eine Website mit VIP-Lounge, wo man ihn mit Virtual Reality, oder wie das heißt, auffem Touchscreen antatschen und bewegen kann.

Controler tippt in Rechner und strahlt.

Werbepraktikant: Da hätte ich die geilste, äh, wenn ich vorschlagen dürfte, also eine irre geile Idee ...

Controler: Wenn sie nichts kostet?

Werbepraktikant: Nein, sie bringt sogar noch Geld ein. Wir verlosen unter den Leserinnen eine Stunde mit ihrem Lieblingsautor, nackt vor der Live-Cam. Gestreamt auf alle Kanäle. Für jede Minute, die die Kamera ausgeschaltet bleibt, kaufen die Leserinnen ein Buch. Macht sechzig Bücher à 38,95 Euro für eine Stunde Gratissex. Das war noch nie da.

Controler: Das schlägt sicherlich die Konkurrenz mit dem Mann in der schweißigen Muckibude. Die haben sicher fürchterlich investieren müssen.

Autor rülpst laut und säuft weiter.

Verleger: Einverstanden. Das wird der absolute Bestseller. Die werden uns in der Luft zerreissen und uns darum das Buch aus den Händen reißen. Ich schlage den Titel vor: "Fifty shades of fi.k dich selbst. Eine Reise ins Innere der Macht". Keinen Sponsor vergessen, unseren Autor auf Vitamine setzen, schicken sie auch gleich eine Ladung voll an Weltbild und vergessen sie nicht, die Leute von Thalia zum Probeliegen einzuladen. Das wird der geilste Management-Ratgeber, den wir je im Programm hatten. (Zum Werbepraktikanten) Melden Sie sich morgen bei mir. Sie bekommen ein unbefristetes Praktikum auf drei Jahre bei uns. Solche Mitarbeiter brauchen wir!


Autor liegt bewusstlos unterm Tisch.

Danke, Alfons Alfonsius, für den Mut, trotz der widrigen Umstände diesen Abend auf einem batteriebetriebenen Diktiergerät mit Minikassetten mitzuschneiden.
Danke Tom, für die Überführung der Tondaten auf mp3, so dass ich das Ganze zum Ausdrucken transkribieren konnte.
Und ein besonders dickes Dankeschön an die Fischer Verlage für die absolut geile Steilvorlage, Autoren zum Lesen in die Sauna zu schicken. Die Satirikerin konnte einfach nicht mehr anders.

Neuer Klappentext, neues Buch

Während ich nur scheinbar nichts anderes tue, als in Social Media herumzuquasseln, peitschen Hirn und Finger ein Manuskript in die Konvertierfähigkeit: Ein neues E-Book steht an. Ganz so neu ist das Buch allerdings nicht, es ist mein Erstling in Sachen Roman aus dem Jahr 2005, mein größtes Sorgenkind zugleich. Damals, als ich als Newcomerin einen Doppelvertrag unterschrieb, war ich nämlich noch naiv und unwahrscheinlich leichtgläubig, ahnte auch noch nicht, dass jene erste Literaturagentur, von der ich mich dann bald trennte, nur ihren Profit im Kopf hatte und schnelle Abschlüsse - jedoch nicht mein Schreiben.

Ich fürchtete es von Anfang an und meine Bestrebungen, dagegen anzugehen, haben sich im Rückblick bewahrheitet, aber damals nichts genützt. Das Buch inklusive Vermarktung wurde kräftig auf "Freche-Frauen-Roman" gebürstet, nur weil ich ironisch einige Versatzstücke aus diesem Genre verwende. Werbeabteilungen reicht ja ein Klappentext zur Einsicht in einen Roman ... Dumm nur, dass ich das Genre weder schreibe noch schreiben möchte oder überhaupt kann. Aber das war damals gerade trendy, vor allem Newcomer wurden in diesem Genre gleich im Taschenbuch auf den Markt gekippt: Friss oder stirb.

Dank des Titels "Stechapfel und Belladonna. Rezepte einer glücklichen Trennung" landete der Roman sofort auf allen gängigen Drogenseiten in deren Online-Shops und in der Ratgeberschublade. Ich sah es bei Thalia sogar einmal in der Kochbuchecke. Später konnte ich mein Zielpublikum auf Gartenliebhaberinnen erweitern. Enttäuschte Leserzuschriften bemängelten, dass man keinerlei Anleitung zum richtigen Rauchen in dem Buch fände und die "Scheidung auf Französisch" deutsche Leserinnen bei der Anwaltswahl völlig im Stich lasse. Und dann waren die magischen drei Monate herum, die ein Taschenbuch höchstens hat, um sich am Markt durchzusetzen. Dass das Buch überhaupt zwei Jahre durchgehalten hat, bevor es verramscht wurde, hat selbst mich erstaunt. Aber da hat der zweite Roman "Lavendelblues" viel erreicht. Etwas schlauer geworden, hatte ich den nämlich lieber gleich selbst beworben. Aber das mandelgrüne Etwas mit den drei kichernden hippen Jung-Frauen auf dem Cover hatte es einfach schwer. "So was fass ich doch nicht mit der Beißzange an", meinten meine Freundinnen. Zielpublikum verpeilt. So einfach geht das.

Was jetzt folgt, ist ein Experiment. Ich habe nicht die riesige Maschinerie eines Verlags wie Lübbe zur Verfügung und auf vielen Gebieten nur Halbwissen, was bekanntlich schädlicher sein kann als Nichtwissen. Trotzdem wage ich eine komplette Neuplatzierung des Romans, so wie ich ihn "fühle". Er bekommt einen völlig neuen Titel, der bis zum Erscheinen aus Titelschutzgründen geheim blieben muss. Er bekommt ein völlig neues Cover, das ich leider aus finanziellen Gründen ebenfalls selbst gestalten muss. Beim neuen Klappentext hat mir dankenswerterweise Kollege Andreas Winterer* schwer auf die Sprünge geholfen, der das Buch sehr gut kennt. Denn niemand ist in der Werbung betriebsblinder als die Autorin selbst.

An diesem Wochenende bin ich mit Texterfassung, Konvertierung und Covergestaltung vollauf beschäftigt. Dann wird es eine Kindle-Ausgabe geben. Kein Print, denn der olle Schmöker ist gebraucht im Umlauf (und an dem verdiene ich keinen einzigen Cent, der macht nur Händler reich).

Vorab gibt's hier den neuen Klappentext:

Karen ist spezialisiert auf heile Welten: Im Beruf konzipiert sie heitere Vorabendserien, privat pflegt sie die glückliche Ehe-Idylle. Bis ihr Ehemann sie nach 18 Jahren überraschend verlässt.

Gummibärchen, Prosecco und Seifenoper-Klischees bieten ihr nur ungenügenden Trost. Sie ertrinkt in Selbstmitleid – bis ihre exzentrischen Freundinnen und ein schräger Scheidungsratgeber sie auf neue Gedanken bringen.

Glück, so sagen sie, gibt es nicht geschenkt - aber man kann sich den Zugang dazu organisieren lassen. Von Profis. Etwa in zweifelhaften Dating-Börsen. Bei durchgeknallten Fernsehhexen. In dubiosen Selbsterfahrungsseminaren. Über endorphinstrotzende Ernährungs-Coachings.

Anfangs verzweifelt, dann aber mit wachsender Erheiterung klappert Karen all die angesagten Spielarten der modernen Glückssuche ab – ein absurd-wahnwitziges Unterfangen. Da entschließt sich Karen zu einem noch verrückteren Vorhaben ... 

* und als Dankeschön an Andreas - macht ihn reich, kauft seinen Brüller!

2. August 2012

Die virtuelle Konstante

Ich kann's ja längst nicht mehr hören: Den herbeigeredeten Unterschied zwischen dem "Real Life" und der Virtualität. Mein "echtes Leben" beinhaltet das Modem genauso wie den Fußmarsch, das Schwätzchen in Social Media sogar viel lieber als den Stammtisch im Wirtshaus. Aber wahrscheinlich sollte ich mich vorsehen. Immer häufiger werde ich von allen Seiten gewarnt: Das Gequatsche am Bildschirm soll einsam machen, depressiv sowieso, manchmal auch hyperaktiv und ungenießbar. Noch schlimmer: Das böse böse Internet sei daran schuld, dass sich unsere Welt so beschleunige; dass mir im Hamsterrad der Kommunikation wenn nicht kotzübel, so doch wenigstens schwummrig werden würde. Ich würde den Halt in der realen Welt verlieren, im Overflow der Informationen ersaufen und schneller auf die Zukunft prallen, als meine lahme Aura das verkrafte.



All diese Warner vor dem Herrn haben anscheinend noch nie wirklich einen Tag "Real Life" in einem Dorf fernab der Metropolen aushalten müssen. Ich persönlich habe gerade zwei Tage "Real Life" übersatt hinter mir, inklusive dem alljährlich üblichen Formularkrampf auf einer französischen Behörde namens Krankenkasse. Dort habe ich zuerst auf Papier einen Antrag für mein Internet-Account einreichen müssen, das der Papiereinsparung auf Behörden dient und dessen Zugang mir per Snailmail gesendet werden wird. Der Rest der Behörde ist ein zentralisierter Moloch in Strasbourg, in dem kleine fleißige Ameisen Formulare entgegennehmen, abstempeln und herumschieben, bevor sie in einer riesigen Fabrik von Archiv außerhalb der Stadt gebündelt werden, so dass man sie im nächsten Jahr nicht wiederfindet und im zweiten Jahr vernichtet, damit die überquellende Fabrik wieder neues Papier aufnehmen kann. Überall stehen selbstverständlich Computer herum, die jedoch nur zum innerbehördlichen Mailverkehr gedacht sind und wahrscheinlich auch zum Kaffeekochen.

Um einen etwa fünf Zentimeter hohen Stapel aller erforderlichen Papiere  abzugeben, musste ich zweimal die Strecke von etwa vierzehn Kilometern hin und zurück fahren, weil ein Blatt, für das die Kasse zuständig gewesen wäre, dort nicht vorhanden war und ich das dann privat aus dem Internet ausgedruckt habe. Denn der Computer im Amt kocht wohl nur Kaffee - wir wissen ja, Internet ist böse und würde nur zu allzu sehr beschleunigen. Ich will aber hier nicht mit Einzelheiten langweilen. Nur so viel: Mich haben die beiden letzten Tage extrem beschleunigt, ich hetzte über Straßen, verbrachte wertvolle Zeit hinter all den Heuwägelchen, die man in Haarnadelkurven am Berg so schlecht überholen kann, sah jede Menge völlig entschleunigter Männer den Rasen mähen und hätte beim Bäcker eine halbe Stunde verquatschen können, wenn mich dieses Echtleben nicht so gehetzt hätte mit seinen Öffnungszeiten.

Am Abend dann der soziale Reinfall, Isolation pur. Was mich interessiert, hat geschlossen. Die eine Freundin kommt gerade aus Land X ins Land Y, wohin ihr Mann schnell nachreist. Die Freunde CC hängen irgendwo an einer Küste herum und NN erstickt gerade in irgendetwas. War es Arbeit, ein Umzug, Urlaubsstress oder einfach nur das Internet? Das Schwätzchen mit den Nachbarn fällt kürzer aus als sonst, die Hecken müssen geschnitten werden, der Hof gekärchert, der Rasen gemäht, man ist in Eile bei zwei Monaten Vollurlaub. Und überall die gleichen Gespräche: "Du, ich glaube, irgendwann platzt was. Die Welt geht nicht mehr so weiter. Es verändern sich Dinge!!!"

Vorsichtig gebe ich zu bedenken, dass nach jeder Gegenwart eine Zukunft kommt. Mein Gegenüber schüttelt heftig den Kopf: "Nein, früher war alles besser. Früher hat sich nicht einfach irgendwas so schnell verändert!" - "Früher hast du auch deinen Hof mit dem Besen gefegt statt gekärchert." - "Das ist es ja, man steht einfach unter diesem permanenten Druck, das macht einen ganz verrückt!" Ich erspare mir die böse Frage, wie viel Bar Druck so ein Kärcher im Gegensatz zum Besen aufbaut.

Der Dauerlärm des Landlebens im Urlaubszustand und das ganz lebendige Echtlebenchaos um mich herum, in dem einfach noch viel weniger funktioniert als früher, weil man jetzt immer diese Ausrede mit dem bösen Internet hat, lässt mich nach einer geistigen Oase suchen. Da draußen ist mir gerade alles zu laut, zu beschleunigt und gleichzeitig zu zäh. Nichts funktioniert richtig, weil man nicht wahrhaben will, dass gewisse Konzepte veraltet sind oder man herkömmliche Denkweisen überdenken könnte. Man könnte diese Amtscomputer eigentlich sogar mit den Archivfabriken vernetzen, könnte Akten digitalisieren. Ich träume davon, all diesen Heckmeck eines Tages mit einem kleinen Update vom Schreibtisch aus erledigen zu können. Aber ganze "Echtwelten" sind gefangen in jenem "Früher war alles besser, aber fegen will ich auch nicht mehr".

Ich brauche einen Kaffee und eine Pause, muss wieder runterkommen. Dazu schalte ich den Computer ein und klicke Facebook an. Die Freunde, obwohl in Land X und Land Y getrennt, sind greifbar, CC kloppen ihre Strandlangeweile ins Smartphone und zeigen mir das schlechte überteuerte Essen von gestern. NN ist immer noch offline. Wahrscheinlich beschleunigt er gerade derart in irgendeinem Real-Life-Stress, dass er schon jenseits der Lichtgeschwindigkeit sendet. Ich trinke meinen Kaffee ganz entspannt am Schreibtisch mit mir nur virtuell bekannten Leuten, tausche ein paar nette Bildchen und mümmle ein Stück Tarte aux Myrtilles. Ein paar Zukunftsnachrichten fallen mir zu, da denken doch tatsächlich ein paar Leute so wie ich darüber nach, wie Menschsein nach dem Wegkärchern aussehen könnte. Es ist ein aufregendes und erhebendes Gefühl, wenn man der Zukunft beim Werden und Schlüpfen zusehen kann - und es entspannt mich ungemein, wenn ich die Finger da drin haben kann. Oder es mir zumindest einbilden kann, dass ich dabei war.

Das ist viel entspannender als das tägliche Aufreiben an den ewig gestrigen Strukturen, die längst mit der Lebenswirklichkeit kollidieren. Ich fühle mich jenem Amt wie im Zeppelin entgleiten und gewinne langsam wieder die innere Ruhe und Kraft, die es braucht, wenn nach zwei Monaten Bearbeitungsfrist die Nachforderung für ein Blatt Papier kommt, das man in der Archivfabrik nicht mehr finden konnte - um dann weitere zwei Monate lang jenes nachgreichte Papier zu bearbeiten. Jenes Amt ist eigentlich längst finanziell und funktionell am Ende, so wie vieles in diesem Land, aber man bewahrt den Status Quo. Denn früher war alles besser.

Das Internet mit seinen Quer- und Vordenkern, mit seinen Think Tanks und geistigen Unruhezellen macht mich glücklich. Da ist ein Leben außerhalb der Administrationsdepression. Da gibt es Dinge, die funktionieren, auch wenn der Server jenes Amtes nicht dazugehört. Da sind meine echten, realen Freunde drin und ein Teil meines Lebens und Wahrnehmens: Real Life ist eben auch das Web. Meine Hyperaktivität der letzten beiden Tage legt sich. Dank der Konversation in den Social Media und der Tarte aux Myrtilles bin ich wieder zu genießen, fröhlich und sowas von entschleunigt! Und wenn alles um mich herum hohl dreht und hohl schwätzt und hohl herumspinnt: Ich habe meine virtuelle Konstante. Im Internet kann ich sie alle blockieren oder ignorieren: Die Dauerkärcherer, die Rasenmäher, die Dummschwätzer vom Bäcker, die Papierfresser, deren geistige Kapazität gerade noch zum Kaffeeholen und Formulareinfordern reicht. Social Media sind so viel ruhiger als ein ganz normal stressiges Kuhdorf am Rande eines Naturparks. Das macht den Kopf frei für das, wozu ich gemacht bin: fürs Schreiben.