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31. Juli 2010

Der digitale Lektor

Irgendwo hatte ich einmal gelesen, für sogenannte Trendware im Genrebereich würde bereits an einer Art elektronischem Lektor gearbeitet, der z.B. historische Romane oder Krimis auf das zurechtbügeln kann, was gerade angesagt ist. Und dann könne man sich auch einen Kostenfaktor bei diesen Büchern sparen, indem sie nicht mehr von Menschen korrigiert werden müssten.

Ich habe das natürlich sofort geglaubt, weil es in den USA bereits seit locker fünzehn Jahren Drehbuch-Software gibt, bei der man nur noch eintippen muss: "Held, 35, 1,98 m, blond, reich" und die Software spuckt aus: "Antagonist, 53, 1,65 m, schwarzlockig, Penner".
So ein Lektor wäre auch äußerst hilfreich beim zeitsparenden Durchscannen unverlangt eingesandter Manuskripte; nicht einmal die alten Formbriefe müssten umgeschrieben werden: "Ihr Manuskript passt leider nicht in unser Programm."

Dann erzählte mir eine Übersetzerkollegin aus Frankreich, wie "Billigware" übersetzt würde - sie meinte damit die Schmöker, die stapelweise an der Kasse von Buchketten liegen. Drei Tage habe ein französischer Kollege für 200 Seiten bei gewissen Verlagen. Sollte das je ein normaler, noch nicht genmanipulierter Mensch schaffen, wäre die Qualität mehr als saumäßig. Also behelfen sich die Kollegen, eine Literaturzeitung hat es aufgedeckt: Da werden Anfang und Ende gelesen und ordentlich übersetzt, dazwischen ein paar auffallende Ausdrücke aufgeschnappt - und dann füllt der Übersetzer den Zwischenraum mit eigenem Text. Da anscheinend auch die Leser nur Anfang und Ende solcher Bücher aufmerksam lesen, ist von der Erfindungsgabe der Übersetzer anscheinend vorher nie etwas aufgefallen. Aber einer, den Namen habe ich leider vergessen, ist jetzt ganz bekannt dafür, dass er seine Fantasie verschiedenen Genreautoren leiht.

Deshalb haut mich das Spielzeug jetzt gar nicht gleich um, das mir ein Kollege geschickt hat. Höchst vergnüglich kann man jetzt durch eine Software überprüfen lassen, wem das eigene Schreiben ähnelt. Für Stapelware enorm wichtig, weil solche Verlage immer ganz fett aufs Buch drucken: "Der neue Grisham!", "Erfindet Plots wie Dan Brown und bringt Dialoge wie in Snoopy". Vor der nächsten Verlagsbewerbung also unbedingt die eigenen Fähigkeiten testen!

Die deutschsprachige Beschreibung gibt es hier und testen kann man seine Schreibe hier.
Achtung. Jetzt kommt der Hammer. Die niedlichen kleinen Algorithmen sind auf Englisch getrimmt. Man müsste also seine Texte erst mal literarisch übersetzen lassen. Theoretisch. Aber ich dachte mir frech, wenn ein in Montenegro lebender Russe eine amerikanische Software bastelt, warum zum Teufel soll die dann nur auf Englisch reagieren? Also gab ich einen Teil meines Nijinsky ein - in deutscher Sprache.
Das Programm hat den Text geschluckt und nicht gerülpst. Im Gegenteil, ich habe es jetzt amtlich: "I write like Edgar Allan Poe".
Gar nicht so irre offensichtlich, denn meine Texte leiden unter einer gespaltenen Persönlichkeit. Im Blog sei ich eindeutig ein zweiter Kurt Vonnegut.

Ganz ehrlich: Solche Komplimente hat mir noch nie ein Lektor aus Fleisch und Blut gemacht! Ich bin also auch für den digitalen Lektor. Und dann sorgt der Algorithmus automatisch dafür, dass alle Sprachen irgendwie gleich sind, und dann erfinden wir den digitalen Übersetzer und den digitalen Leser noch dazu. Denn die aus Fleisch und Blut, haben wir in Frankreich gesehen, lesen eh nur noch Anfang und Ende ihrer Schmöker.

29. Juli 2010

Von Isolationen und Kontakten

Die Pianistin Martha Argerich gibt nur sehr selten Interviews, aber wenn sie es macht, sind sie lesenswert. Der ZEIT erzählt Martha Argerich, warum manche Künstler kommunikativ sind und manche im Stillen arbeiten müssen. Kann man Kunst zerreden? Und sie macht sich Gedanken um das Altern als Künstler mit einer Überlegung, an die wohl die wenigsten Menschen jemals gedacht haben:
"Aber ich mag die Tatsache nicht, dass viele alte Leute im Alter plötzlich so isoliert sind. Und wenn es dann Musiker sind, die ins "normale" Altersheim kommen und sie keinen Kontakt mehr zu dem haben, was sie ihr ganzes Leben lang gemacht haben – ich denke, das ist sehr traurig."
Dabei fällt mir ein, dass dieses Leiden schon in der Jugend beginnen kann. Wenn talentierte Kinder nicht gefördert werden, wenn das Elternhaus Kunst und Kultur gegenüber feindlich eingestellt ist. Wie viele Künstler haben sich schon in ihrer Kindheit "anders" gefühlt und mussten manchmal Jahre kämpfen, um auf den richtigen Weg zu gelangen?

Und wie ist das später im Leben? Ich leide manchmal furchtbar darunter, in einem Canton zu leben, in dem selbst Bürgermeister glauben, "culture" sei eine neue Anbauform der "agriculture", und in dem viele Leute zu Künstlern "Ziginer" sagen. Warum bin ich eigentlich noch nicht in Berlin, wo ich Künstler um mich herum sammeln könnte wie Briefmarken (und an der Großstadt leiden), warum schreibe ich nicht irgendwo abgeschlossen in einem fernen Gebirge in einem Künstlerdorf (ohne Fluchtmöglichkeiten)? Martha Argerich macht mir Angst, dass es noch schlimmer kommen könnte. Wie schafft man sich ein haltbares, kunstfreundliches Umfeld? Eine Antwort habe ich nicht...

Das Altern - nebst Unsterblichkeit treibt auch die Aussteller um, einige Ausstellungskataloge zum Thema Alter / Tod sind erschienen. Zu nennen sind "Altern in der Antike" vom Landschaftsverband Rheinland, "Mumien" vom Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim und "Ägyptische Mumien" vom Landesmuseum in Stuttgart.

Einen quicklebendigen Alten stellt die ZEIT vor, einen Weltenbürger und Grenzgänger in persona: Der Schriftsteller Giwi Margwelaschwili hat einen 800seitigen "Buchklumpen" mit dem Titel "Der Kantakt" geschrieben und der Verbrecher Verlag macht sich verdient darum, nicht nur diesen zu verlegen, sondern das Gesamtwerk des Berliner Georgiers. Absolut faszinierend, wie ein Schriftsteller zu einem so schwergewichtigen Stück Literatur kommen kann! Da findet er sich als Stadtschreiber von Rheinsberg plötzlich in seiner Stadtschreiberbude eingesperrt und muss ein Wochenende abgeschnitten von der Außenwelt verbringen. Nur ein gewisser Herr Tucholsky leistet ihm Gesellschaft, in Form der Erzählung "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte". Was dann zwischen dem Schriftsteller und den Figuren seiner Lektüre geschieht, ist an sich schon romanreif...
Wer das aufwändige und nicht billige Projekt unterstützen will: Die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft hat eine Spendenaktion für die Herausgabe des Gesamtwerks von Margwelaschwili ins Leben gerufen.

Solange Schriftsteller ein Buch und Papier haben, wenn sie isoliert sind, ist das Leben erträglich. Aber irgendwann braucht man eben doch den Schlüssel in die Welt der anderen Menschen. Martha Argerich zeigt, wie wichtig Biotope auch und gerade für Künstler sind. Und wenn man eines Tages gebrechlich und allein doch im ganz "normalen" Altenheim sitzt? Dann wünschte zumindest ich mir einen Internetanschluss als Anschluss an eine vielleicht nicht mehr so leicht erreichbare Welt.

Der ehemalige Politiker Ulrich Kasparick, Autor von "Notbremse. Ein Politjunkie entdeckt die Stille", macht sich dagegen in seinem Blog interessante Gedanken zur Verführbarkeit der Massen durch das Web 2.0 (Teil 1 / Teil 2). Kann das Internet als noch gefährlichere Propagandamaschine genutzt werden als andere Massenmedien? Wie fähig sind wir angesichts der technischen Möglichkeiten, wie kann man sich gegen Verführbarkeit schützen? Seine Beiträge sind eine empfehlenswerte Grundlage für kontroverse Diskussionen. Denn ausgerechnet in den Ländern, in denen am härtesten mit Propaganda gearbeitet wird, in denen Diktatoren oder Unterdrückungsregimes die Massen verführen und schließlich verblöden - wird das Internet zensiert und manchmal sogar ganz abgeschaltet. Zurück bleibt die Frage: Wie dünn ist diese Schicht Zivilisation eigentlich? Und woran macht man sie fest?

Noch etwas Tröstliches zum Schluss: In literarischen Verlagen scheint es nicht immer um Fräuleinwunder und Jugendwahn zu gehen. Da muss der Autor eher zur rechten Zeit am rechten Ort leben und über das rechte Thema richtig gut schreiben. Der Lektor Frank Wegner von Klett-Cotta erzählt im Interview mit der Textmanufaktur, "Wie man einen Verlag findet".

27. Juli 2010

Sabbatsemester

Heute morgen hat mir jemand gründlich den Frühstückskaffee verdorben und dann stand ich bei Twitter auf 666 Followers bei 6660 Tweets. Bei so viel Teufelei sollte eigentlich ein saftiges Voodooritual fällig sein, aber ich entschied mich anders. Auch das schlimmste Rabenaas der Welt ist bekanntlich noch wenigstens als Kompost fürs Universum tauglich. Also lief ich wie eine kleine Dampfmaschine mit dem Hund über herrlich blühende Wiesen in Weiß, Pink und Gelb, über denen Unmengen von Schmetterlingen Sonne und Nektar genossen.

Monsieur Rocco ist nun - selten genug - völlig geschafft und hechelt platt auf den kalten Fliesen. Und ich weiß endlich wieder, wie alles begann: Mit einer Osramschachtel voll bunter Wachskreiden, die wunderbare Töne machten - und den Schmetterlingen, die mir bunte, klingende Geschichten erzählten. Statt brav zu malen, schrieb ich meterlang in einer eigens erfundenen Schrift auf, was mir die Schmetterlinge erzählten.


Was eignet sich besser als so ein Tag, um wahr zu machen, was man sich insgeheim schon lange erträumt, aber aus Bravheit immer wieder verschoben hat! Viel zu brav wird man im Lauf des Lebens, und dann kann es theoretisch viel zu schnell vorbei sein. Was ist dagegen schon ein verdorbener Kaffee? Stattdessen gebe ich mir einen aus! Für die brutale Malocherei der letzten beiden Jahre werde ich mir nach Fertigstellung der Übersetzung ein Sabbatsemester schenken (zu mehr reicht's leider nicht). Nicht, dass ich währenddessen untätig herumsitzen werde...

Aber dann kenne ich nur noch eins, unabgelenkt und hochkonzentriert: Mein nächstes Buch (an dem indirekt ja noch eine andere, belletristische Manuskriptidee dranhängt). Dann werde ich mir obendrein all das schenken, was ich sonst für andere Menschen mache: Ein richtiges Konzept für die Öffentlichkeit erarbeiten, Auftrittsideen. Und ich werde endlich einmal in Ruhe Kontakte knüpfen können, die mir selbst wichtig sind, für meine eigene Arbeit. Denn wenn ich jetzt nicht Gas gebe, wann dann?

Und genau deshalb funktioniert das Märchen vom armen Poeten in der Realität überhaupt nicht. Denn wer ständig nur um seinen leeren Kühlschrank bangen muss oder sich an allen möglichen Fronten aufreibt, der kann nur schaumgebremst kreativ schaffen. Dagegen kann sich jemand, der sich dumm ackert, auch mal Pausen leisten. Manchmal hat dosierter Worcaholism also auch sein Gutes. Und wäre mir heute morgen nicht der Kaffee verdorben worden, wäre ich wahrscheinlich nie mutig genug gewesen für dieses Geschenk an mich selbst. Ich brühe mir doch gleich mal noch einen russischen Tee...

26. Juli 2010

TV-Tipp in letzter Minute

Wer einmal in die Zeit schnuppern will, in der auch die Ballets Russes und Vaslav Nijinsky groß wurden, der schalte heute abend um 21:40 ARTE ein mit der Doku: Isadora Duncan (1877-1927). Ich habe nur mein Leben vertanzt.

Nijinsky konnte Isadora Duncan übrigens nicht mehr leiden, seit sie ihm auf einer Party einmal angetragen hatte, er solle ihr - wegen des Geniefaktors - unbedingt ein Kind machen. Und das, obwohl sie wusste, dass Nijinsky und Diaghilew ein Paar waren. Die schlagfertige Antwort, die er ihr gab, liest sich in etwa so köstlich wie seine Bemerkungen über die Frau, die keine echte Künstlerin gewesen sei, in seinen Tagebüchern.
Dabei war ihre Anmache gar nichts besonderes, sie soll mit diesem Wunsch auf viele berühmte Männer losgegangen sein. Tragisch, wenn man das Schicksal ihrer Kinder bedenkt...

Das gleiche Filmteam soll auch eine Doku über Nijinsky gedreht haben, die ich jetzt natürlich suchen muss. Entweder kenne ich die längst oder es ist mir eine Perle entgangen...

25. Juli 2010

Ent-Täuschungen

Manchmal hat man den Eindruck, bei der Vernetzung von Blogs entstünden Straßen mit Nachbarn. Da kann man sich dann auch von Balkon zu Balkon etwas zurufen und die zufälligen Passanten auf bunte Häuser aufmerksam machen, die sie noch nicht kennen. Eins davon ist das "Schreibteufelchen", wo "Rabenblut" gerade kommentiert:
"Ich finde es erschreckend, dass veröffentlichte Autoren so desillusioniert sind."
Dieses Erschrecken passt ein wenig auf eine Entgegnung aus einem anderen bunten Haus zu meinem Arbeitspensum bei "Heinrichs Blog", das sei "worcaholic".

Wie ist das denn nun mit den veröffentlichten Autoren?

Ich kann natürlich nicht für andere sprechen, aber ich denke, es passieren im Lauf der Jahre zwei Dinge:
1. Jede Arbeit, auch eine Berufung, entwickelt irgendwann Routinen und fühlt sich nicht immer toll an. Davon weiß der Pfarrer ein Lied zu singen, wenn er abends noch ein Trauergespräch unterbringen muss; so geht es dem Metzger bei der 1001. Blutwurst; das fühlt ein Lehrer, wenn er an einem schlechten Tag vor der Rasselbande steht. Warum soll es Schriftstellern anders ergehen? Schriftsteller sind Menschen, die mit Menschen zu tun haben - ergo auch mit jeder Menge Bockmist, rasender Dummheit und sonstigen Widrigkeiten des Lebens. Und dazu stehen sie ständig unter ungeheurem Druck: dem eigenen Erwartungsdruck und dem der anderen. Herumschrauben kann man nur an ersterem.

2. Wie in allen Bereichen des Lebens verliert auch ein Schriftsteller irgendwann seine Unschuld. Er wird erwachsen, verliert naive Vorstellungen. Und weil es sich um eines der härtesten Geschäfte überhaupt handelt - so wie alle Künste - geschehen einem auch ziemlich bald die ersten Katastrophen, bei denen es sich schnell erweist, wer das Zeug zum Durchhalten hat und wer nicht. Darwinismus im Haifischbecken - das ist Schriftstellerei. So geht es aber auch der Tänzerin, die Ballerina werden möchte; dem Klavierspieler, der Solopianist werden möchte; dem Maler, der entdeckt werden möchte. So geht es aber auch dem Metzger, der mit seinem Blutwurstrezept eine Firma aufbauen will. Man gibt sich ganz, oder man geht unter.

Ich finde, genau dafür ist das, was nach außen als "Desillusion" erscheinen mag, sehr gesund! Sicher, man kann sich mit zu viel Zweifeln natürlich zerstören. Aber Enttäuschung ist immer auch eine "Ent-Täuschung" - und wer sich nicht selbst täuscht, hat das Zeug dazu, mit den Beinen auf dem Boden zu bleiben und die eigenen Schwächen und Stärken genauer einschätzen zu können. Also noch professioneller zu werden. Die meisten Anfänger scheitern daran, dass sie von der dauerhaften Selbstüberschätzung nicht mehr herunterkommen (wollen).

Nun geschieht durch die wachsende Zahl von veröffentlichten Autoren im Internet, durch Foren und Blogs zum Thema, jedoch etwas, was es zu meinen Anfängerzeiten nicht gab: Wir erleben sozusagen in Echtzeit die Enttäuschungen der Autoren mit. Manche gehen sogar so weit, Anfängern zu raten, immer brav vernünftig alles ordentlich nach den Erfahrungen der Veröffentlichten zu machen. Ein ganzes Genre von Ratgeberliteratur wird zur Gelddruckmaschine, weil die noch nicht Veröffentlichten glauben, der Erfolg komme mit dem Vermeiden von Fehlern und dem Befolgen von Regeln. Ich halte davon gar nichts.

Im Gegenteil, ich rate jedem, der es sich noch leisten kann (weil vertraglich ungebunden), sich schreiberisch zunächst so viel Wahnsinn, Unvernunft, Blödsinn, Fehler und Scheitern zu gönnen wie nur möglich. Sich alle Zeit der Welt zu nehmen, allen Spaß, den das Schreiben machen kann, jede Freiheit. Diese wunderbare Zeit der "Kindheit" und Unschuld wird nie wiederkehren. Aber sie ist die Zeit der Lehre, des Experimentierens, des Findens der eigenen Stimme und Themen. Die meisten "Braven" schneiden sich viel zu früh von diesen inneren Quellen ab und müssen sich dann eines Tages, mitten im Getriebe von Arbeitsanforderungen und Öffentlichkeit, mühsam selbst wieder finden. Und das tut weh und gelingt nicht immer, weil es dann vielleicht auch gegen äußere Widerstände läuft.

Es mag ein Adel für die eigene Arbeit sein, wenn auf einem gedruckten Buch ein Verlagsname steht - aber dieses Vergnügen ist ein zweischneidiges, wenn man bedenkt, dass das gleiche Buch, vielleicht unbeworben auf den Markt geworfen, schon drei Monate später verramscht werden kann. Veröffentlicht zu werden ist ein zweifelhaftes Vergnügen - veröffentlicht zu bleiben die eigentliche Herausforderung. Aber ist das ein Ziel, das Ziel?

Diese Freiheit im Kopf erlange ich nur, wenn ich mir sagen kann: Ich muss nicht veröffentlicht werden. Ich muss keinen Vertrag unterschreiben. Aber ich muss dieses Buch schreiben, koste es, was es wolle. Ich kann gar nicht anders. Es muss einfach aus mir heraus. - Und seltsames Wunder: Solche Projekte, sofern sie dann auch wirklich gut geschrieben sind, finden auch meist irgendwann einen Verlag.

Ich möchte den teilweise größenwahnsinnigen Blödsinn in meiner Autorenlaufbahn nicht missen. Natürlich habe auch ich geglaubt, man müsse sich beim größten Giganten zuerst bewerben und der warte nur auf den absoluten Bestseller der Nation. Auch ich habe also einen freundlichen Formbrief von Random House in meiner Sammlung, für ein absolut peinliches Manuskript, in dem es um Drachen und Reisen an "Drachenorte" ging. Hätten mir damals ältere Kollegen bereits Vernunft und Regeln angeraten, wäre mein erstes Buch nie entstanden, denn so ein Drache krauchte auch auf dem Odilienberg herum. Nach dem Größenwahnsinn setzte das Denken ein - die Desillusion: Ich hatte begriffen, warum RH der falsche Verlag war und meine Idee Überarbeitung brauchte.

Hätte ich danach nicht absolut größenwahnsinnig daran geglaubt, dass die Menschheit nur auf dieses Buch warte und mein Lieblingsverlag auch, hätte ich mich nie dreimal hintereinander bei eben diesem Verlag beworben (das tut "man" nicht). Wäre ich nicht desillusioniert worden, hätte ich nicht die ungefähr 750 Seiten umgearbeitet in logischere, etwa 190 neue Seiten. Und hätte nicht bei eben diesem Wunschverlag den Vertrag unterzeichnen können.

Meine naive Selbstüberschätzung, mein lustig vorpreschender Glaube an die Buchwelt haben mir die Kraft und Energie gegeben, scheinbar Unmögliches wahr zu machen. Nur durch Unvernunft und gegen alle Regeln habe ich es geschafft, gegen die Spötteleien meiner Umwelt diesen Riesenklops Begeisterung nach und nach in ein lesbares Manuskript umzuarbeiten. Weil ich durch Unfälle und Scheitern, durch die Desillusion, gelernt habe, worauf es ankam.

Natürlich bin auch ich immer wieder harsch enttäuscht worden. Ich habe z.B. gelernt, dass Verlage schneller untergehen können als mancher Autor. Ich kämpfe gegen Routinen, muss harte Arbeitsbedingungen überleben und mache mir über manches, was man nicht laut erzählen kann, mit Kollegen in schwärzesten Sarkasmen Luft. (Und ich weiß, dass Verlagsmitarbeiter mindestens genauso Abstruses mit Autoren erleben). So desillusioniert manches in einem Blog klingen mag, wo man aus der Laune heraus berichtet, so begeistert kann man trotzdem Illusionen nachjagen. Die Kunst ist wohl, sie in die Realität zu holen?

Ich werde bald wieder an einem Buch schreiben, von dem ich glaube, dass die Welt darauf gewartet hat... Ich werde wieder daran glauben, dass ich mein Bestes gebe. Es wird mir piepegal sein, ob ein Verlag danach greift, weil ich es schreiben muss, so nötig, wie ich atme. Aus dem gleichen Grund weiß ich im Innern, dass es veröffentlicht werden wird. Aber eben nur, wenn ich es schaffe, wenn ich gut genug bin. Nur, wenn es mir gelingt, diese Begeisterung zu übertragen. Dazu brauche ich die eigene Begeisterung, dazu muss ich spinnert sein dürfen - selbst bei Sachbüchern. Denn wenn das Manuskript nichts taugt, dann war's das.

Vielleicht ist es das, was einem beim Verlust der Unschuld passiert: Der Verlag selbst ist nicht mehr das eigentliche Ziel, sondern ein "Kompetenzzentrum" für die technische Umsetzung, ein Geschäftspartner. Ein Solopianist braucht einen Konzertbetrieb um sich herum, ein Maler Galeristen.
Das eigentliche Ziel muss viel tiefer liegen, wenn man durchhalten will - und es ist bei jedem Autor wohl ein anderes, fern allen Marktgeschehens, fern aller Ratschläge. Es darf sogar durchaus verrückt klingen. Nur verrückt machen darf ich mich nicht lassen.

24. Juli 2010

Sturheit oder Disziplin

Mein Hund ist, wie alle Hunde, ein ritualverliebtes Gewohnheitstier. Weil er auch noch eine exakte Uhr eingebaut hat, reibt sich dieser Charakterzug häufig mit meiner Spontaneität. Zur Zeit jedoch ist er überglücklich: Seine Menschin ist wieder zur hündischen Vernunft gekommen, lebt wie ein Uhrrädchen, völlig vorhersagbar - und stinklangweilig. Ein Tag gleicht dem anderen und der Sonntag ist wie ein Montag. Aber prompt schauen mich die ersten Menschen schon wieder komisch an: Buchmenschen, das sind doch die Leute, die bei schönem Wetter am Pool fläzen, nachts um drei unter Drogeneinfluss einen Musenkuss skizzieren und auf Parties von ihren nächsten Bestsellern erzählen? Und sind die nicht zu beneiden, wenn sie einen Vertrag in der Tasche haben? Dann müsste das Küssen mit Muse oder Muserich doch erst recht flutschen?

Was ich im Moment erlebe, habe ich meiner Übersetzerarbeit zuzuschreiben, aber der Zustand unterscheidet sich in nichts vom professionellen Bücherschreiben. Wenn man einen Vertrag hat, hat man nämlich auch einen Abgabetermin. In der Regel rechnet man sich genügend Zeit ein für etwaige Krankheitsfälle und sonstige Unfälle. Trotzdem kann es extrem knapp werden. Ging mir so mit dem "Lavendelblues", als der Verlag fragte, ob ich nicht zwei Monate früher abliefern könne, da sei etwas ausgefallen und er passe viel besser ins frühere Programm. Eigentlich nicht zu machen, aber will man seinem Buch nicht das ach so viel bessere Programm gönnen? Ich weiß nicht, ob ich das damalige Schreiben noch einmal aushalten würde. Einen Roman auf Knopfdruck schreiben, kreativ sein nach der Uhr. Irgendwann schlief ich im Sitzen ein, als ich mir nachts endlich eine Büchse Fertigessen aufmachen wollte - nicht einmal mehr zum Kochen hatte ich Kraft. Anschließend waren der Haushalt und mein Körper ein Wrack, aber das Buch "locker leicht" erschienen.

Diesmal habe ich den eingerechneten Ausfallsrabatt bereits eingeholt und Übersetzungen sind ohnehin Arbeit auf Zeit, damit es sich überhaupt rechnet. Meine Tage sind Pakete geworden, Textpakete. Jeden Tag soundsoviel Seiten, koste es, was es wolle. Dazu braucht es feste Rituale, eiserne Disziplin. Morgens ein Hirnerwecken im Internet, dann kurzes Einlesen in den Tagestext. Herunterübersetzen, mit Speed, möglichst ohne viel Nachschauen im Wörterbuch, die noch nicht geklärten Wörter sind schon unterstrichen. Mittags Hundelauf und dabei ein Resumé des geschafften Textes, die innerliche Vorbereitung auf die nächste Portion und etwas Ausspannen.

Und weiter geht's im Text. Mit sehr viel Wasser nebenher und sehr wenig Aufputschgetränken, denn die machen einen fertig, wenn man das länger durchhalten will. Pünktlich zur ersten Hälfte des Texts setzt dann auch das Gehirn aus, das Tippen wird plötzlich legasthenisch, der Kopf kann Sprachen nicht mehr auseinanderhalten. Das kommt davon, wenn man sich über die eigenen Grenzen treibt. Auch dafür gibt es ein Mittel: Pause machen, sofort - und ausreichend für Hirnnahrung sorgen. Man glaubt kaum, wie viel Energie ein Körper bei intensiver geistiger Arbeit verbrennt! Man kann überall nachlesen, was so ein Hirn am liebsten mag - Schokolade ist es jedenfalls nur sehr bedingt und das Blut soll auch nicht in den Bauch sacken. Das mache ich jetzt anders als zur Zeit der Büchse zum "Lavendelblues" - und bin bedeutend fitter.

Ein bißchen Ritual wie beim Hund hilft außerdem; die nächste Schicht wird mit einem leckeren Tee eingeläutet, der bei der Kaffeetrinkerin eigentlich für "Entspannung und Genießen" im Kopf verankert wurde. So betrügt man den eigenen Kopf, der sich erfrischt an den Genuss weiteren Texts setzt. Diese Schicht ist die Schlimmste, denn sie wird über den toten Punkt hinausgepeitscht bis zum Abend. Ja, man feuert sich dann tatsächlich an wie einen Marathonläufer, der im Begriff ist, aufzugeben.

Etwa 18:30 geht dann wirklich nichts mehr. Denkt man. Aber wenn ich nicht nur Büchsen aufwärme, sondern richtig schön koche, bin ich so erfrischt, dass ich statt sonstiger Aktivitäten das Textpäckchen des nächsten Tages vorbereiten kann. Diese Arbeit besteht darin, den Text ohne Hilfsmittel beim Lesen sozusagen simultan zu übersetzen und darin Notizen zu machen. Manchmal ersetzt diese Arbeit auch die Bettlektüre. Aber möglichst nie den Schlaf, den brauchen die grauen Zellen nötigst. Am nächsten Morgen: The same procedure as every day. Bei zu großer Erschöpfung wird ein freier Tag zwischengeschaltet. Und so komisch es klingt: Psychologisch hilft einem eine gute Gesichtscreme über den schauderhaften Anblick im morgendlichen Spiegel hinweg!

Absolut ärgerlich ist, dass in dieser heißen Phase ausgerechnet ein Projekt dazwischenquengelt, das monatelang von dritter Seite her Staub angesetzt hatte; dass ausgerechnet jetzt eine Behörde wieder mit völlig unsinnigem Quatsch belästigt - und man sich die Putzfrau mit solchen Jobs natürlich immer noch nicht leisten kann. Ich frage mich kurz, wie es anderen gelingt, derzeit unerreichbar im Urlaub zu sein (unter anderem die Frau von der Behörde) und wieso ich so dumm sein muss, in heißen Phasen kurz vor der Erschöpfung noch mehr tun zu müssen. Gnadenlos wird aufgeschoben. Das andere Projekt dazwischen geschoben. Geflucht. Gejammert. Und natürlich bin ich längst wieder soweit, mich für einen schönen, regelmäßigen Angestelltenjob zu bewerben - was meist daran scheitert, dass mir nicht einmal die Zeit bleibt, mir einen Job auszudenken.

Manche sehen in solchen Phasen vielleicht Masochismus, ich nenne es lieber Kalkül: Ich versuche nämlich, meine eigenen Textpäckchen zu überholen. Schaffe ich bei einem Tagespensum von sagen wir zehn Seiten nämlich zwölf, habe ich zwei Seiten gutgeschrieben. Überhole ich mich mehrmals, springt ein freier Tag heraus. Und natürlich überfordere ich mich mit den Portionen, weil die immer so berechnet sind, dass ich bis zum wahren Abgabetermin noch etwas Luft habe. Man kann ja nie wissen: Behörden, Kunden, Kopfschmerzen...

Vierzehn große Seiten Originalsprache (größer als Normseiten) sind mein Pensum für 10-14 Tage (im Deutschen ergibt das etwa 20% mehr). Hirnverbrannt und nicht zu machen. Ich habe jedoch schon 409 Buchseiten übersetzt, was 496 Normseiten ergab. 545 Seiten hat das dicke Brikett von Buch ohne Anhang (so ein dickes Buch würde ich als Autorin nie schaffen!). Genau mit diesem Zwang der Textpäckchen erledige ich die Rohübersetzung schneller und habe viel mehr Zeit für die Feinüberarbeitungen danach. Die sind Ende August fällig. Und dann - das hält mich im Moment unter Dampf - gönne ich mir einen unerhörten Luxus: Ich arbeite in meinem eigentlichen, wahren, wirklichen Beruf.

23. Juli 2010

Stolzgeschwellte Detektivin

Ich hatte kürzlich von den Übersetzerfreuden berichtet, wenn es um die Schreibweise von Eigenamen geht, die aus kyrillischen Buchstaben in lateinische umgesetzt werden müssen. Ich übersetze zwar ein Buch aus dem Französischen, aber da kommen gerade Russen vor. Es lief alles relativ problemlos, aber dann stutzte ich an prominenter Stelle. Irgendetwas stimmte nicht. Noch konnte ich den Finger nicht darauflegen, war mir aber fast sicher, dass der Autor irrte. Verwechselte er womöglich jemanden? Oder gab es zwei Personen mit gleichem Namen, den im Originaltext und einen anderen, der mir bekannt war? Irrte ich selbst? Nennen wir den betreffenden Mann, der mich so verwirrte, Herrn S. Ich hatte das Gefühl, ihn ganz anders zu kennen.

In solchen Fällen recherchiert man den Text nach, wie das auch ein Fachlektor machen würde. Ich frage mich ernsthaft, wie das in Zeiten vor dem Internet zu schaffen war! Doch diesmal schien ich trotz Technik auf dem Trockenen zu sitzen: Ein Russe dieses Namens existierte zumindet für Google nicht. Seltsam, denn das Ereignis, um das es ging, war ein einigermaßen berühmtes. Natürlich probierte ich alle möglichen Schreibweisen aus. Nichts. Leere Suchmaschinenseiten! Dann erweiterte ich die Suche, indem ich nur den Nachnamen eingab, auch auf die Gefahr hin, von Basketballspielern über Internetaliase bis zu Firmeninhabern überschwemmt zu werden. Der Nachname war so unüblich nicht.

Bingo. Schon auf der ersten Seite machte ich einen Herrn S. aus etwa der richtigen Zeit aus. Er trug sogar den richtigen Vornamen. Dumm nur, dass er vier Jahre älter war als der Herr S. meines Autors und scheinbar einen völlig anderen Beruf hatte! Aber etwas gefiel mir an diesem Herrn S. Er kannte die Beteiligten, die im französischen Buch vorkamen, garantiert persönlich. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Denn das berührte eines meiner Spezialthemen. Gab es ihn etwa doppelt?

In diesem Fall kommt einem normalerweise das Russische entgegen, denn der immer genannte Vatersnamen hilft beim Unterscheiden. Ein Sergej Iwanowitsch Maslow ist nie derselbe wie ein Sergej Sergejewitsch Maslow. Wenn das doch nur die Texte bei Google gewusst hätten... Mein Herr S. tauchte ohne Vatersnamen auf "witsch" auf. Und der Vatersname im zu übersetzenden Bestseller? Hoppla, der endete auf -o!

Was war ich blind gewesen. An diesem Namen stimmte etwas nicht. Der Name in der Mitte war auch ein Nachname! Ein Russe ohne Vatersname, dafür mit zwei Nachnamen? Mein Ehrgeiz als Detektivin war geweckt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Namenskombinationen und verrückte, auch absichtlich falsche Schreibweisen ich eingab. Aber irgendwann fragte mich die Suchmaschine, ob ich mich womöglich verschrieben hätte und schlug eine andere Schreibweise vor. Plötzlich war ich im Ergebnisparadies!

Was war geschehen?
Der französische Autor oder der Lektor des Verlags hatten einen falsch getippten Namen hinterlassen, genauer gesagt, ein "r" geschrieben, wo ein "v/w" hätte stehen müssen. Da hatte ich einen eindeutigen Nachnamen. Und wurde frech, ließ bei der nächsten Eingabe den Nachnamen, den der französische Autor für einen solchen gehalten hatte, einfach weg. So wurde aus meinem Herrn S. plötzlich ein Herr I.

Und in dem Moment schaltete Google dann endlich auf Suchergebnisse aus Russland, in kyrillischen Buchstaben. Zum Glück reichten die Sprachkenntnisse noch für einen Enzyklopädieeintrag. Ich war von Anfang an auf der richtigen Spur gewesen! Mein vermuteter Herr S. mit dem anderen Alter und dem anderen Beruf war genau der richtige, nämlich eigentlich der Herr I.! Nun auch komplett mit Vatersnamen zum Beweis. Und das Wort für Pseudonym konnte ich dann auch noch entziffern, das war also das S. gewesen!

Der Autor hatte also folgendes gemacht:
Vorname + vertippter Nachname + Pseudonym
+ falsches Alter + falscher Beruf

Das sind dann die Momente, wo die Übersetzerin eine höfliche Fußnote schreibt.
Und sich heimlich fürchterlich ins Fäustchen lacht, denn der echte, richtige Herr S. alias I. wird womöglich in meinem nächsten Buch vorkommen. In dem dann, sollte es je als Lizenz verkauft werden, andere Übersetzer dicke Hunde finden werden, weil der Mensch nicht perfekt ist und ein Buch auch nach mehreren professionellen Korrekturvorgängen Fehler haben kann. Nur sollte man nie zweimal denselben machen.

Blogger hustet

Vielleicht geht es nicht nur mir so: Beim Eintragen von Kommentaren hustet Blogger öfter mal in letzter Zeit, in diesem Fall mal wieder mit Firefox. Man bekommt eine Message "request URL ...too long" und der Beitrag könnte nicht bearbeitet werden.
Einfach nicht beachten, back-button des Browsers klicken und wie von Zauberhand steht der Kommentar längst online.
Leider ist Blogger offensichtlich nicht sehr bemüht, solche Browser-Unverträglichkeiten zu bearbeiten, weil sie den eigenen Browser offensiv bewerben... Aber einem geschenkten Gaul schaut man ja bekanntlich nicht zu tief ins Maul.

Die Applaus- und Buhtasten lasse ich vorerst drin. Das Problem, von dem Heinrich kürzlich berichtete (Sicherheitswarnung) liegt ganz eindeutig nur an dem Add-on "No-script", nicht am Browser. Natürlich kann ich dieses Blog nicht für jedes individuelle Add-on optimieren.

Falls jemand irgendwann technische Probleme mit diesem Blog hat, bitte am besten an mich melden, ich bekomme ja nicht alles mit, kann dann aber nach einer Lösung suchen!

22. Juli 2010

Viel Lärm und nichts?

Der Mensch kann nur kreativ sein, wenn er schöpferische Pausen macht. Und ein Schriftsteller kann, wie einige andere Künstler wohl auch, nur dann fruchtbar arbeiten, wenn er die Stille und sich selbst aushält. Von den meisten Menschen um mich herum werde ich mit innerem Kopfschütteln betrachtet. Das kann doch alles nicht normal sein: Außen an meinem Tor gibt es keine Klingel (und seither auch keine Zeugen Jehovas mehr), mein Handy habe ich nur für den Notfall gekauft und schalte es selten an, mein Telefon ist während der Arbeit eisern durch AB abgeschottet und ich muss auch nicht in allen möglichen Social Web Aktivitäten herumhängen. Mails schreibe ich - mit Ausnahmen von Arbeitsangelegenheiten - so schnell wie Briefe, nämlich langsam. Ich habe nicht den Eindruck, dass mir irgendetwas fehlt, im Gegenteil. Und ich kenne eine Menge Menschen, die genauso "verrückt" leben wie ich.

Wenn ich dann den vorzüglichen Artikel "Machen statt tweeten" von Markus Albers lese, erschrecke ich regelrecht. Gibt es solche Menschen wirklich? Die erst eine Webbewegung namens "Lifehacking" brauchen, um ins Leben zurückzufinden, für die es "kalten Entzug" am Handy gibt und die glauben, früher hätte keine Kommunikation unter Menschen stattgefunden? Wer auch nur im Geringsten gefährdet ist, sich von dieser "schönen neuen Welt" ähnlich verführen zu lassen wie unsere Elterngeneration vom Fernsehprogramm, der findet in diesem Beitrag viel Stoff zum Nachdenken.

Sehr viel vertrauter und näher ist mir die Welt, über die der Komponist Helge Burggrabe im Gespräch mit Gesine von Prittwitz redet. Das Interview unter dem Titel "Zeiten der Stille" ist insofern besonders interessant, als Burggrabe bei Stille nicht nur an Pausen, Auszeiten, Retreats oder Freiräume denkt. Hier geht es vor allem um die einem Kunstwerk immanente Stille und Ruhe, die wir oft kaum noch wahrnehmen. Musik ohne Pausenzeichen wäre wahrscheinlich unerträglich, in der Bildenden Kunst werden Leerstellen und weiße Flächen verwendet, in der Bildhauerei gibt es die Kunst des Weglassens. Burggrabe macht auf Stille und Raum in der Architektur aufmerksam, am Beispiel der Rhythmik der Kathedrale von Chartres. Auch das Schreiben ist in gewissem Sinne Komposition und bedient sich der Rhythmik der Sprache.

Noch so ein Zauber, der Büchern eigen ist. Um uns herum kann alles toben und nerven, wenn wir ein Buch verschlingen - also das Buch eigentlich uns verschlingt - atmen wir in seinem Rhythmus. Und der kann so viel langsamer sein als unsere hektische Welt. Wer erinnert sich nicht an die Hürde von etwa hundert Seiten, deren Aushalten Umberto Eco in "Der Name der Rose" von seinen Lesern abverlangt hat, damit sie umso stärker aus ihrer Welt treten und im Rhythmus des Buchs leben? Wer kann nicht mindestens drei Bücher nennen, die ihn aus Hektik und Online-Gewäsch getragen haben? So kann man nur schreiben, wenn man ein Gefühl für Zeit hat, ein Gefühl für Rhythmen und vor allem: für die Stille. Ruhe kann man nur weitergeben, wenn man sie selbst kennt.

Man kann in der Tat fürs Schreiben sehr viel aus der Musik lernen. Aus dem Theater. Aus der Geschichte sogar. Vor hundert Jahren gab es die Probleme nämlich schon einmal: Ein überaus geschwätziges Publikum ließ sich allabendlich berieseln durch Aufführungen ohne Pausen, ohne Stille. Man ging ins Variété mit seinen pausentötenden Conférenciers; man schaute sich Opern an, wo zwischen den Akten auf der Bühne Werbedarstellungen für Produkte "eingeschaltet" wurden; man bevorzugte Ballette, wo die Tänzerinnen und Tänzer unablässig in der Luft herumschnörkelten. Die Zeit war irgendwann so atemlos geworden, so technisiert und lärmend, dass die Menschen darunter litten. Fortan verherrlichten die einen den technischen Fortschritt und die Raserei, während die anderen den Untergang des Abendlandes durch die neuen Technologien vorhersagten. Das war vor etwa hundert Jahren.

Und dann kam ein Ausnahmekünstler, der die Stille zum Leben brauchte und in sich trug, der aus einer immensen innerlichen Stille schöpfen konnte. Vaslav Nijinsky hat der Welt die Stille im Ballett geschenkt:
Alles ist anders als gewohnt. Nijinsky entwickelt seinen Tanz aus der Horizontale des Erdbodens. Er lotet die Bewegungslosigkeit und Ruhe auf der Bühne aus, als wäre sie selbst ein kunstvoller Sprung.[...] Seine intensive Bewegungskraft setzt im scheinbar toten Punkt an, aus dem einfach alles entstehen kann, weil es der Moment der Stille vor der Schöpfung ist.
Zitat aus: Petra van Cronenburg: Nijinsky
So modern sind wir gar nicht mit unseren Zivilisationswehwehchen.Wir haben vielleicht nur manchmal verlernt, dass auch die Stille einen Ton hat, eine Bewegung, einen Rhythmus, eine Farbe - und sich damit auf alle anderen auswirkt. Und dieser Ton, diese Bewegung, dieser Rhythmus, diese Farbe sind einfach zu schön, um darauf zu verzichten.

21. Juli 2010

Apropos Faulenzia

Ich habe nach dem gestrigen Tag im Zeichen musischen Nichtstuns meinen absoluten persönlichen Höchstleitungsrekord im Übersetzen geschafft und bin immer noch nicht müde davon. Ein paar Seiten Vorbereitung gehen noch...
Nur mal so als Tipp für alle Worcoholics, die glauben, bei drohenden Abgabeterminen nicht mehr leben zu dürfen.

Chance verpasst...

Wie es gestern war? Interessiert das jemanden? Ich habe in meinem Leben beruflich schon so viele Musikkritiken geschrieben, dass ich das privat nicht auch noch tun möchte - zumal ich mich bei Klassik auch nicht für kompetent halte. Nur so viel sei gesagt: Das Orchester des Marijnsky unter Leitung von Valery Gergiev war gigantisch gut und schon bei den ersten Takten lernte man die Bedeutung des Wortes "Klangkörper" neu. Im Gegensatz zu wahrscheinlich 80% des Publikums konnte mich persönlich jedoch René Pape bei den russischen Opern nicht so überzeugen wie bei Wagner, ihm fehlte irgendwie die Seele für das, was er zu singen hatte. Mein Fehler vielleicht, ich habe den unvergesslichen bulgarischen Sänger Boris Christoff zu sehr im Ohr (Fassung mit London Philharmonia Orchestra unter Issay Dobrowen) - an dessen Seite 1949 übrigens eine damals unbekannte Dame namens Maria Callas für eine andere Sängerin einsprang und berühmt wurde.

Musik vom Feinsten war das gestern!
Mithalten konnten leider weder die Architektur des Festspielhauses (ein Horror für Menschen mit Höhenangst, ein eisgekühlter Konzertsaal mit selbst in piano-Stellen hineinrauschender Klimaanlage und ein Millionengrab, für das schon wieder gesammelt wird, weil man einst das Bühnenparkett gespart hat) noch das etwas seltsame Publikum (wer sich während der Musik über den Golfplatz unterhalten muss, hat sich eindeutig verlaufen - und Leute, diese Bonbons in Zellophanpapier, die man im Saal nicht auswickeln soll, sind genau die Dinger, die ihr in den paar Takten Pause geknüllt habt! - ganz zu schweigen von den Rentnerhorden, die nach ein paar Klatschern wie von der Tarantel gestochen aufsprangen und herausrannten: "Wir müssen als erste aus der Tiefgarage kommen!").

Natürlich bekommt man bei einem Live-Konzert mehr geboten als auf einer CD, so lässt sich beispielsweise relativ leicht ins Gespräch kommen mit anderen Besuchern. Tja, und dann stand er da. Multiplizierte man seinen Sonnenbank-Faktor mit der Klamotte und teilte das Ganze durch die sichtbar vorhandene Kosmetikerin, so stand in der Tiefgarage wahrscheinlich ein Porsche Cabrio, oder was Mann sonst so trägt. Nun bin ich ein offener Mensch, interessiert an allem und allen und ein wenig arglos bin ich offensichtlich auch. Das Gespräch über Opern war nett und intelligent, schließlich unterhält man sich an einem Opernabend leichter darüber als über das Sodbrennen vom schlechten Sekt.

Irgendwann jedoch hätte etwas bei mir klingeln sollen. Da wurden Metropolen dieser Erde - letztens erst Paris - und kulinarische Highlights und Hotels und das wohle Wohlleben vor mir ausgebreitet, dass ich wahrscheinlich hätte zugreifen sollen. Und was mache ich Landei in meiner galoppierenden Naivität, als der Schlenker zur Oper zurückführte? Ich nehme die Opernerfahrung meines Gegenübers ernst und finde, es sei faszinierend zu erleben, wie Gergiev im 21. Jahrhundert mit einem hundert Jahre alten Programm, das einst an der Pariser Oper gegeben wurde, wieder solchen Erfolg feiert.

Beim Konzert hörte man in den Pausentakten die Klimaanlage. Nach meinem freundlichen Einwurf hörte ich ... nichts. Noch nie hat sich jemand so schnell von mir verabschiedet, aber schließlich war die Zeit knapp bemessen für Frauenfang und mein Intelligenzquotient abgecheckt.

Natürlich fürchte ich jetzt um meine Zukunft. Mir ist noch nie so bewusst geworden wie gestern, dass ich an einem absoluten Nischenprodukt arbeite. Ich werde sie alle als potentielle Leser abschreiben müssen: Die gesprächigen Damen aus dem Golfclub, die Zellophanbonbon-Lutscher, die operngestählten Porschefahrer...

PS: Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen intelligenten und kultivierten Porschefahrern, das Image dieses Autos war einfach zu verführerisch...

20. Juli 2010

Die (De)Konstruktion von Magie

Ich nehme an, mein gestriger Beitrag hat hauptsächlich zu zwei Reaktionen geführt:
  • Oje, jetzt driftet sie aber komplett ab!
  • Irre, wie funktioniert das bloß?
Diejenigen, die sich letzteres gefragt haben, sind auf einer heißen Spur. Und die anderen will ich nicht im Regen stehen lassen, sondern erklären, wie es funktioniert. Schriftstellerei ist leider eine der Künste, die zahlreiche Behinderungen hat. Sie ist - im Gegensatz zu Musik, Tanz oder Bildender Kunst, international nicht ohne Übersetzung zugänglich. Und stellt den Autor auch innerhalb der eigenen Sprache eine große Herausforderung: Wie übertrage ich Emotionen, Gefühle auf die Leser? Wie sage ich Unsagbares? Wie drücke ich beim Leser aufs Knöpfchen, damit er sich aufregt, freut, sich wundert, traurig wird - oder einfach nur mitgeht? Noch viel schlimmer wird das beim Sachbuch: Wie fasziniere ich die Leser, wie mache ich hölzerne Sachinformationen lebendig?

Im Einleitungssatz habe ich den Fehler aller Anfänger gemacht: Der Autor sagt klipp und klar, welche Emotion eine Figur hat. Wie dumm! Denn der Leser empfindet dabei allenfalls Gleichgültigkeit: Sie ist halt aufgeregt, na und? Solch einen Humbug kann man dann wirklich nur noch mit einer humorvollen Brechung durch einen berühmten Buchtitel abmildern, aber selbst das hat Kalauerqualitäten.

Dann aber passiert etwas im Text. Seltsame Synchronizitäten ereignen sich. Auf geheimnisvolle Weise gibt es Überschneidungen zwischen einer 100 Jahre alten Geschichte, einem Konzert in der Zukunft und einem Projekt der Autorin, die in diesem Fall ja die Protagonistin ihres eigenen Beitrags ist. Schon gehen wir dieser Protagonistin auf den Leim, sind vielleicht irgendwie emotional angerührt und würden nur zu gern wissen, wie die Frau das dauernd macht, dass sich Fiktion und Leben so überschneiden. Hätte ich nur berichtet, dass ich aufgeregt sei, weil ich heute abend in eine Operngala gehe, wäre der Beitrag kein Bit wert gewesen. Aber dieser seltsame magische Moment hat dazu beigetragen, dass er so oft gelesen wurde, wie kaum ein inhaltsreicherer Beitrag sonst.

Ich bin gemein, ich verrate jetzt, wie das geht. Es handelt sich um eine Konstruktion von Magie. Dazu brauchen wir folgende Zutaten:
  • Eine Autorin, die sich intensivst mit der Geschichte der Ballets Russes und der Avantgarde beschäftigt hat.
  • Sie liest deshalb gerade die Biografie von Diaghilew.
  • Die Ballets Russes gingen aus dem Marijnsky Theater hervor.
  • Gergiev ist Chefdirigent und Leiter des Marijnsky Theaters.
  • Das Marijnsky hat das 100jährige der Ballets Russes gefeiert.
  • Das Programm des heutigen Abends nimmt Highlights von Diaghilews ersten Programmen in Paris auf.
  • Wagner ist kein Zufall: Diaghilew hat das "Gesamtkunstwerk" nicht nur erträumt, sondern umgesetzt.
  • Die Autorin folgert: Mit diesem Abend wird ein Kreis geschlossen. Diaghilew wünschte sich zeitlebens vergeblich eine Tournee nach Russland und eine Anerkennung durch das Marijnsky. Und den Wagner gibt's als Hommage an das Gastland dazu.
Langweilig geworden, das Wunder, nicht wahr?
So ungefähr würde sich eine Sachbuchrecherche lesen. Ähnlich kleinteilig und langatmig lesen sich aber wahrscheinlich auch Autorennotizen zu einem Krimi. Was ist der Trick bei der Umsetzung?

Jeder macht das anders, Patentrezepte gibt es nicht. Ich persönlich recherchiere zunächst, was das Zeug hält. So lange, bis der Kopf nicht mehr mitmacht. Dann sind nämlich endlich alle Zensoren und Hindernisse mundtot gemacht und das wahre Hirn kann denken - was einige Kollegen gern als Intuition oder Musenkuss bezeichnen. Kurzum: Ich entwickle ein Feeling für meinen Stoff, er lebt und mein Gespür dafür verfeinert sich. Ich lebe mit diesem Stoff. Dadurch fokussiere ich meine Wahrnehmungen, was in heißen Arbeitsphasen für Unbeteiligte fast zwanghaft wirken kann: Ich sehe auch scheinbar nicht damit zusammenhängende Dinge in einem neuen Licht, im Licht meines Themas.

Plötzlich fallen mir Dinge auf, die keiner bisher so gesehen hat oder vielleicht gar nicht sieht. Ich bin fasziniert, mich packt die Leidenschaft. Ich veranstalte wilde Kopfspiele, kombiniere scheinbar Unkombinierbares, schreibe neue Plots für die Realität oder spiele Realität mit der Fiktion. Ich denke nach: "Was wäre, wenn..."
Aber auch in diesem Stadium empfiehlt es sich nicht, den Text schon zu Papier zu bringen. Es würde ein "Hach bin ich aufgeregt, weil..." daraus oder "Protagonistin A war aufgeregt". Wir wollen ja den Lesern nicht vorschreiben, was er zu fühlen hat, wir wollen, dass er von selbst fühlt. Der Leser selbst soll auf die Abenteuerreise.

Jetzt kommt der magische Trick ins Spiel. Ein Autor weiß grundsätzlich sehr viel mehr als der Leser - er weiß alles, bis zum Ende des Buchs. Jetzt muss ich mich selbst zurücknehmen, rückwärts bis zu diesem Zeitpunkt, als ich selbst fasziniert staunte. Was hat dieses Staunen verursacht, welche Information, welcher Schritt hat mich umgeworfen? So schreibe ich das auch: Ich enthalte dem Leser zunächst all meine Informationen vor. Er soll in meine Rolle schlüpfen können, als ich noch unbewusst staunte. Ich gebe ihm kleine, wohldosierte Päckchen von Text, ganz anders dosiert und beschrieben als für mich - denn der Leser kennt die Materie nicht. Und dann mache ich das wie an Weihnachten. Ich stelle ein besonders verführerisches Textpäckchen hin und begleite ihn beim Auspacken. Womöglich verzögere ich das Auspacken sogar noch, um die Spannung zu steigern.

Im gestrigen Beitrag habe ich das wegen der Kürze ein wenig von hinten aufgezäumt, indem ich gleich das Knallbonbon hingelegt habe. Es gibt unterschiedliche Techniken von Supense. Würde ich das Gefühl weitertreiben wollen, könnte ich mir den Lohengrin greifen, der an diesem Abend auch erklingt. Warum bitte ausgerechnet Lohengrin? Und dann würde mir mein eigener Schauer über den Rücken wieder einfallen, als ich eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte mit Musik aus Lohengrin sah und bemerkte, dass sie irgendetwas mit einem Ballett von Nijinsky gemeinsam hatte. Dann würde mir meine Ergriffenheit einfallen, als ich herausfand, dass sich Nijinsky und Charlie Chaplin kannten.

Dem Leser würde ich zunächst genauso wenig verraten wie hier, würde ihn nur langsam anfüttern. Erst wollte ich Emotionen hervorrufen und dann das erzählen, was geradeaus erzählt vielleicht nur eine hölzerne trockene "Sach- und Fachgeschichte" wäre. Ich denke, das ist eines der großen Geheimnisse von sogenannten "erzählenden Sachbüchern", wie sie meisterhaft beherrscht werden im angelsächsischen und französischen Raum. Die Franzosen nennen das "partager les emotions" - und das ist genau das, was man gemeinsam bei einem guten Konzert oder Theaterstück anschließend zelebriert: Man teilt seine Emotionen miteinander. Es lohnt sich, aufmerksam zu lauschen, wie die Leute das machen. Sie sagen nicht nur: "Das ging mir ans Herz." Sie sagen eher: "Erinnerst du dich an dieses teuflische Glissando in der ersten Geige, wie zart das zuerst kam und dann..." Und erst wenn der andere sich lebhaft erinnert, spricht man explizit über die Gefühle.

Gut, das erklärt natürlich nicht, warum man zur rechten Zeit auf die richtigen Situationen oder Menschen trifft, die sich mit dem eigenen Denken dann so verkoppeln, dass einem wieder völlig neue faszinierende Aspekte aufgehen. Aber ein bißchen Magie und Geheimnis brauchen wir Schriftsteller doch auch...

19. Juli 2010

Ich bin dann mal...

...aufgeregt. Furchtbar aufgeregt vor Vorfreude (Vorgeschichte).

Und ein wenig geplättet.
Das geht doch alles nicht mit rechten Dingen zu! Gestern Nacht hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Recherchen zu den Ballets Russes wieder aufzunehmen und las in Diaghilews Biografie die Passage, wie er Strawinsky zur Überarbeitung der Mussorgsky-Oper "Chowantschina" brachte.
Und heute ist das Geheimnis des Galaabends des Marijnsky-Theaters gelüftet, was morgen außer Wagner und einem Ausschnitt der von Diaghilew in den Westen gebrachten Oper "Boris Godunow" noch gegeben werden wird:
Chowantschina.

Irgendwie kann das alles doch nicht ganz real sein.

18. Juli 2010

So viele Leben, so viele Grenzgänge

Ich bin erlöst. In dem zu übersetzenden Buch ist endlich der Erste Weltkrieg vorbei, keine militärischen Spezialwörter oder Waffenvokabeln sind mehr nachzuschlagen, es herrscht Frieden. In Trümmern dagegen liegt eine Art Vor-Europa, eine einst kosmopolitische Welt, in der es zumindest bei den Kunstschaffenden kaum Denkgrenzen gab zwischen dem äußersten Westen in Frankreich bis ins ferne Russland im Osten. Nie mehr hat sich die gemeinsame Kulturarbeit von diesem Wahnsinn erholt. Wir Generationen von heute können nur träumen vom goldenen Zeitalter einer europäischen Avantgarde, die so wild lebendig unerhört Neues schuf, weil sie ständig nationale, kulturelle und künstlerische Grenzen überschritt. Hundert Jahre später versuchen Politiker und Leiter von Kulturinstitutionen sich an einem französisch-russischen Kulturjahr, aber die Künste reißen schon lange nicht mehr die Massen mit, taugen kaum noch als bahnbrechende Aufreger.

Wir sind Gezeichnete. Dieser jüngeren Vergangenheit, die so entfernt scheint, können wir kaum entgehen. Friedlich wirkt auf uns zwar die kleine Welt im näheren Umkreis, in der wir unseren festen Platz gefunden zu haben scheinen. Doch wir bräuchten gar nicht die Exotik von Mittelalterromanen, um zu begreifen, aus welch gebrochenen Lebenslinien wir oft selbst stammen. Mitten in Europa ist kaum einer, was er scheint; haben die Vorfahren immer wieder Grenzen überschritten, Nationalitäten gewechselt: freiwillig, zufällig oder gezwungenermaßen.

Eigentlich bräuchten wir überhaupt keine Bücher, wenn wir nur zuhören könnten, was uns die Alten zu erzählen haben. Die Biografien von Menschen der letzten hundert Jahre sind mit das Spannendste, obwohl sie im Eigeninteresse oder aus Selbstschutz so gern verbogen und vergessen werden. Früher erzählten die Alten noch den Jungen. Früher gab es die Geschichtenerzähler in Familienclans, die die Geschichte lebendig hielten. Auch ich hatte solch eine Großtante, die als Einzige und der Sprachen kundig die Zweige aus den USA, dem Westen und dem Osten in Europa lebendig und zusammen hielt. Mit ihrem Tod trennten sich die Familien womöglich für immer. Und wenn man einmal wissen will, wie das einst mit dem und dem war, dann ist da keiner mehr, der sich erinnert - und man kann nur noch das Internet befragen, Geschichte recherchieren.

Das Weiterleben nach dem Tod geschah früher in den Erzählungen an langen Winterabenden vor dem Ofen. Solange jemand in solchen Geschichten eine Rolle spielte, war er nicht wirklich tot. Und die Nachfahren konnte sich selbst an den Erzählungen reiben oder spiegeln: Hätte ich es genauso gemacht? Wie hätte ich gehandelt? Was kann ich heute anders tun? Was will ich nie erleben müssen? Was kann ich daraus lernen? Was dürfen wir nie vergessen? Was für eine Zukunft erträume ich mir?

Mich faszinieren solche Menschengeschichten, Menschenleben. Vielleicht ist es dieses Bedürfnis, wenn Schriftsteller von sich sagen, sie wollten etwas Bleibendes schaffen, warum sie dann immer wieder von Menschen erzählen müssen. Einem Buch hört man auch ganz anders zu als der Oma von nebenan. Nicht jede Geschichte aber eignet sich für ein Buch, die der Verwandtschaft bis zum Überdruss bei jedem Familienfest immer und immer wieder erzählt wird. Da muss man schon ein Händchen haben, ein gutes Auge fürs Erzählbare. In meiner Bekanntschaft kannte ich auch so einen, dem die Kinder und Enkel genervt den Mund verboten, weil er alles tausend mal erzählte. Ich als Außenstehende war fasziniert von diesem reichen Leben voller Begegnungen mit Berühmtheiten, voller bedeutender geschichtlicher Ereignisse, für die niemand sonst Interesse zu haben schien. Niemand hat es festgehalten. Er starb - und mit ihm starb sein reiches Wissen.

Deshalb fasziniert mich der Beruf von Matthias Brömmelhaus, der vom normalen Buchmarkt kaum wahrgenommen wird: Er ist Biograf. Aber im Unterschied zu den marktgängigen und massentauglichen Biografien von Berühmtheiten und Promis kümmert er sich um die "ganz normalen" Leben. Er hat in seinem Blog "schreibtäter" wieder frische Bücher ausgepackt und ich kann ihm versichern, dass solche Geschichten wahrscheinlich um vieles haltbarer sind als mancher "ordentliche" Bestseller.

Nicht umsonst verzeichnen Genealogieportale und entsprechende Suchmaschinen im Internet Millionenzuläufe. Wer würde nicht gern die oft um viele Ecken laufende eigene Geschichte kennenlernen? Vor allem dann, wenn die Grenzgänger im Kopf auch noch immer wieder über die Landesgrenzen wechselten!
Meine Übersetzertätigkeit begann mit einem Theaterprojekt, das aus Interviews mit Betroffenen entstanden war, also aus dem Leben heraus. "Grenzen" beschäftigt sich mit den Erlebnissen und Gefühlen von Menschen, welche die wechselnden Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland im Elsass kennengelernt hatten, aber auch die eiserne Grenze zwischen BRD und DDR und die einst so exotisch wirkende Grenze zwischen Deutschland und Polen. Winzige Ausschnitte von Lebensgeschichten aus dem Alltag, die erhellende Schlaglichter auf unsere Geschichte, unsere Befindlichkeiten und Vorurteile werfen.

Vor kurzem habe ich durch Zufall in Nele Tablers Blog "karnele" eine solche Erinnerungsgeschichte entdeckt. Sie erzählt von den Grenzerfahrungen ihrer beiden Großmütter, die typischer kaum sein könnten für das Europa vor dem Ersten Weltkrieg - und den Folgen danach. Da treffen sich Osten und Westen und Links und Rechts vom Rhein in einer humorvoll-bodenständigen Art, bis der Krieg die Selbstverständlichkeiten zerstört, Freunde zu Feinden macht und Fremdes schafft; weil das, was man nicht kennt, einem verdächtig wird. Ich habe ihre Grenzschmuggeleien mit Schmunzeln und Freude gelesen. Und kann ihr berichten, dass die komischen "Kannibalen" in Petersburg neuerdings sogar über eine Ausweitung der Visafreiheit nachdenken, weil europäische Touristen gewohnt seien, einfach so mit ihren Papieren über die Grenzen zu wechseln.

Viel und hart wird noch an einer solch offenen Welt auf nationaler Ebene zu arbeiten sein. Fast noch härter scheint mir jedoch die innere Arbeit: bis die Grenzen in den Köpfen fallen, bis sich Menschen einfach als Menschen begegnen. Deshalb sind Lebensgeschichten so wichtig - vor allem, wenn man dadurch über die gegenseitigen Vorurteile und Klischees miteinander lachen kann. Über unsere Lebensgeschichten lernen wir uns näher kennen - und ist es nicht gerade das, was wir Fremden im Zug zuerst anvertrauen wollen?

Und deshalb war es auch gar nicht so schlimm, dass ich allerhand Granatsplitter aus Spezialwörterbüchern ziehen musste, denn gerade dieses zu übersetzende Buch zeigt, wie faszinierend, bunt und gegenseitig befruchtend das Leben werden kann, wenn Menschen zu Brücken-Köpfen werden - wie das einst Tomi Ungerer, der elsässische Kosmopolit und Künstler angeregt hat.

Gennadij Gor, die Zweite

Es ist wunderschön, wenn man mit einer Rezension Menschen zum Lesen verführen kann, aber noch schöner, wenn man mit diesen dann über das Buch sprechen darf.
Simona hat meine Rezension von Gennadij Gor: Das Ohr (Friedenauer Presse) zum Kauf gebracht, sie erzählt in den Kommentaren von ihren Leseeindrücken und das bringt mich auf die Idee, eine unter jungen AutorInnen gern gestellte Frage zu beleuchten: "Sind Adjektive böse?"

Auch ein lesenswerter Kommentar zu einem älteren Beitrag, in dem ich eine Rastatter Buchhandlung empfehle: Eine Kundin, die das Gebäude besonders gut kennt, erzählt von ihren Erlebnissen dort.

Das Kommentieren älterer Beiträge ist auf Moderation geschaltet, um Spam zu verhindern. Das sollte aber nicht davon abhalten, auch alte Beiträge hervorzuholen! In der Regel schalte ich die Kommentare frei, sobald ich wieder online bin.

16. Juli 2010

Fürstlich beschenkt

Richard B. Breuers Zitat von Montaigne passt jetzt wunderbar: "Es erfordert Mut, sich zu fürchten." In der Presse sieht das Berufsbild des Schriftstellers ja ziemlich einfach aus: Man schreibt etwas auf, wird entdeckt und sonnt sich fortan am Pool. In Wahrheit ist es manchmal fast unvorstellbar, welch extreme Höhen und Tiefen sich abwechseln können. Heute ist mir so richtig bewusst geworden, was für ein Glück ich habe, dass es mich im vergangenen Jahr nicht zerrissen hat.

Wer die Geschichte mitverfolgt hat, wie ich an meinem Projekt über Nijinsky schrieb, hatte ein wenig Einblick. Ich habe noch nie zuvor so an den Grenzen meiner Belastbarkeit geschrieben, denn da war nicht nur der Zeitdruck, da sollte auch noch der Brotberuf neu aufgebaut werden. Drei Jobs gleichzeitig, dazu ein extrem forderndes Manuskript, viele Nachtschichten. Und dann kam dieser eine Beitrag mit der Champagnerlaune vom 12. Januar, wo ich erzähle, dass ich mir eine Eintrittskarte für die Sommerfestspiele im Festspielhaus Baden-Baden geschenkt habe, um mich für all das zu belohnen. Diese Karte hat eine ganz besondere Bedeutung für mich: Nijinsky hat im Marijnsky Theater gelernt und angefangen - ich kann es nun hören - und es wird ausgerechnet ein Ausschnitt von Diaghilews erstem Opernprogramm im Westen gegeben, von 1908. Das war die rechte königliche Belohnung, dachte ich.

Und dann kam der totale Absturz. Mit dem ich nie gerechnet hatte. Einer der berühmtesten Ballettkritiker hat mein Manuskript gelesen und gelobt, ich schwebte wie auf Wolken - und fast im gleichen Augenblick erfahre ich, dass der Verlag nicht produzieren kann - was mit dem Manuskript nichts zu tun hatte. Dunkelheit. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Manuskript geschrieben zu haben, von dem man sich nicht nur einbildet, dass es gut sei - und zu erleben, dass es das Licht der Welt nicht erblickt. Dass es keiner lesen kann. Gleichzeitig schwebte die ganze Welt im 100-Jahr-Fieber der Ballets Russes. An die Zeit, in der ich darum bangte, meine Rechte schnell wiederbekommen zu können, will ich nicht mehr denken. Aufrecht gehalten hat mich immer diese Eintrittskarte, die für mich ein Zeichen war: Ich konnte nicht davon lassen, ich wollte weiter mit diesem Thema leben.

Damals begann die "Unvernunft". Theoretisch hätte ich die Karte noch zurückgeben können: Kein Buch, keine Belohnung. Stattdessen spielte ich russisch Roulette mit dem Schicksal: Du, Karte, bist jetzt Belohnung, dass ich das tiefste Tief überlebt habe. Und bis zu den Sommerfestspielen spätestens will ich wissen, wie es weitergeht, es muss weitergehen. Also habe ich mir weiteres Recherchematerial gekauft.

Noch habe ich zwar keinen Vertrag (wenn schon Roulette...), aber das Projekt hat sich gewandelt, ist sehr viel größer geworden. Gestern kam dann die Idee mit der Unvernunft dazu. Viel Zeit bleibt mir schließlich nicht mehr - das Konzert findet am Dienstag statt.

Tja, heute (zum Beginn der Festspiele) habe ich spontan die Karte abgeholt, weil ich sie am Wochenende sozusagen körperlich genießen wollte, wegen der Vorfreude. Als ich nachmittags das Festspielhaus betrat, strömten gerade die Musiker des Marijnsky-Theaters in den Bühneneingang, es war ein ganz verzauberter Augenblick. Vor hundert Jahren hätte Nijinsky dabei sein können und mein Manuskript beginnt damit, dass er vor dem Bühneneingang steht, unerkannt... Diese Klänge, diese Sprache - jetzt wurde die Eintrittskarte zum Sinnbild fürs gnadenlose Durchhalten und Weitermachen - koste es, was es wolle.

Endlich hielt ich sie in Händen, ein edel goldenes Ding. Und plötzlich faltete sich das Ding auf und ich sah eine Summe, die ich gar nicht bezahlt hatte. Hatte man mir die falsche Karte gegeben? Nein. Die rund 160 Euro, die da angehängt waren, sind ein Gutschein, weil ich zum ersten Mal gebucht habe. Drei Mal habe ich ungläubig nachgeschaut, nach dem Haken gesucht, aber ich darf tatsächlich diese Summe in Eintrittskarten "verbraten". Das ist Edel-PR zum Heranziehen von Stammgästen! Dafür könnte ich z.B. Hélène Grimaud hören und mir die Hommage aux Ballets Russes von John Neumeier anschauen. Ich spiele schon wieder russisch Roulette... Bei solchen Vorzeichen muss doch das Manuskript zum Buch werden!

Anschließend bin ich dann über einen lieben Kollegen gestolpert, der meine irrsinnige Idee von gestern weniger verrückt fand als ich. Im gemeinsamen Gespräch fielen mir dann drei Leute ein, mit denen ich unbedingt einen Wein trinken muss, um eines Tages vielleicht und dreimal auf Holz geklopft 1884 Kilometer zu überwinden. Sie waren schon da in meinem Leben, ich hatte sie nur übersehen.

Also, werter Monsieur Montaigne, ich freue mich unbändig auf Dienstag, fast zu sehr, als dass es gesund sein könnte. Aber spätestens am Mittwoch fange ich an, mich ganz fürchterlich zu fürchten! Das geht doch alles nicht mit rechten Dingen zu?

Und so freut man sich unbändig mit der Furcht im Nacken. Ständig balanciert man an einem Abgrund, immer wieder kann der Absturz kommen. Vielleicht ist dieser Beruf so ähnlich wie bei den Hochseilartisten? Das Wissen um den Abgrund verhindert das Abheben, hält einen hoffentlich eine Weile auf dem Seil... Und damit es einem dort nicht zu wohl wird, kommen jetzt noch ein paar Wochen knallharter Übersetzerarbeit mit einigen Doppelschichten.

15. Juli 2010

Ein Hoch auf die Unvernunft

Ich machte nur, wozu ich Lust hatte, und noch heute richte ich, wenn das, was ich will, nicht möglich ist, es so ein, dass es möglich wird.
Hélène Grimaud
Wir müssen dem folgen, was uns begeistert, was uns interessiert, was uns herausfordert und uns das Gefühl gibt, lebendig zu sein, und wir müssen alles andere zur Seite schieben.
Joe Jackson

Hélène Grimaud ist schuld. Joe Jackson ist schuld. Eine Begegnung am gestrigen Tag ist schuld, die mir von einem erzählte, der nach einem Todesfall in der Familie endlich einen Wunschtraum nicht mehr nur träumte, sondern ins Leben brachte. Christa ist schuld, weil sie in ihrem Blog laut darüber nachdenkt, von welchen Fragen sich Autoren ablenken lassen können, ohne zu merken, dass manche Ideen in der Schublade liegen. Rachmaninow ist schuld, weil Musik oft schöner ist als jeder vernünftige Vorsatz. Immer sind andere schuld.

Wie praktisch, dass man alles Mögliche bis hin zum eigenen Leben immer wieder auf andere schieben kann. Auch ich habe Jahre damit vertan, mir Fragen wie die folgenden zu stellen: Was muss ich tun, um einen Verlag zu finden? Was muss ich tun, damit mich eine Agentur nimmt? Was muss ich tun, dass mich mein Verlag mag? Was muss ich tun, damit mich die Leser mögen? Was muss ich schreiben, dass...? Was muss ich tun...?

Bald hatte mich die Wirklichkeit gelehrt, dass dies die falschen Fragen sind, weil sie sich an der Essenz vorbeimogeln und weil ich sie gar nicht beeinflussen kann. Weil ich mich vor den eigentlichen Fragen damit nur drücke. Denn schon der erste Verlag ging zur Unzeit ein. Und meine wunderbare Agentur gibt es leider auch nicht mehr. Trotzdem lebe und schreibe ich noch, trotzdem gibt es noch ein paar Bücher von mir. Also tatsächlich die falsche Art des Fragens.

Ich kann nicht genau sagen, wer oder was wirklich schuld war - ich fürchte, ich stecke selbst dahinter. Jedenfalls ging mir gestern auf, dass auch die Frage "was will ich?" noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Es fehlt ihr nämlich das klitzekleine Partikelchen, das Hélène Grimaud so treffend beschreibt: Was will ich - und was muss ich tun, damit dieses Wollen ins Sein tritt?

Der Prozess begann schleichend. Mich interessierten Fragen nach Verlagen, Agenturen, Märkten und all dieser Kram überhaupt nicht mehr. Nur noch die Themen, die Leidenschaft war wichtig. Leidenschaft kann man manchmal teilen, aber man kann sie nicht nach fremden Bedürfnissen zurechtbiegen oder klein fragen. Aber immer dann, wenn man sich das Feuer bewahrt, trifft man eines Tages auch auf Menschen, mit denen man solche Pläne verwirklichen kann. Gestern kam mir eine verwegene Idee dieser Art. Es geht um mein nächstes "Opus", für das ich zwar einen Vertrag aufgelöst, aber noch keinen neuen geschlossen habe. Da ich es sowieso schreibe, koste es, was es wolle - denn ich kann gar nicht anders - interessieren mich die früheren Fragen gar nicht mehr. Ich rechne damit, dass alles klappt. Ich weiß es.

Stattdessen ist mir die Idee gekommen, mir einen völlig verrückt erscheinenden Traum zu verwirklichen, einen, der nach Joe Jacksons Zitat klingt. Ohne zu wissen, ob das Sujet zum gedruckten Buch wird, habe ich mir fest vorgenommen, an einem gewissen Ort mit dem fertigen Buch eine Lesung zu veranstalten. Also frage ich mich: Was muss ich tun, um dort eine Lesung mit dem Ding zu bekommen? Gar nicht so einfach umzusetzen, meine Idee, höchst aufwändig sogar. Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit, aber genau das fordert mich heraus. Schließlich war es auch nicht unmöglich, dass ich heute mit meinem Hund friedlich und in Eintracht mit einer dreiköpfigen Storchenfamilie über die Wiesen wanderte!

Lesetipps:
Hélène Grimaud: Wolfsonate, blanvalet - die Geschichte einer Künstlerkarriere mit wertvollen Einblicken in die Bedeutung des Künstlerdaseins
Joe Jackson: Ein Mittel gegen die Schwerkraft, Satzwerk - hinter der Autobiografie der ersten Wanderjahre verbirgt sich die Auseinandersetzung mit einem Leben zwischen Kunst und Kommerz

Prima Klima

Sagt man eigentlich Höllenglut oder Paradieswetter? Egal. Gestern war einer jener Tage, die man gern im Terminkalender ausreißen möchte, noch bevor sie stattgefunden haben. Ausgerechnet am sonnigen Nationalfeiertag hatte ich unliebsame Termine in einer deutschen Stadt, von der ich immer froh bin, wenn ich nicht hinfahren muss, und noch froher, wenn ich sie verlasse. Ausgerechnet gestern stiegen gegen unsere läppischen 34 Vogesengrade die Temperaturen am Rhein bedenklich. In meiner alten Karre ohne Klimaanlage wurde das Durchqueren von 30er-Zonen zur Qual und ich überlegte mir ernsthaft, ob ich den Inhalt meiner Wasserflasche lieber trinken oder über mich schütten sollte. Die Termine dauerten länger als gedacht und ich hatte nur noch eine Vision: die heimische Dusche. Nichts wie weg, zurück nach Frankreich, den Rest des Feiertags genießen.

Irgendetwas stimmt jedoch in letzter Zeit nicht mit mir. Mein Willenszentrum gehorcht mir nicht mehr. Ob es daran gelegen haben mag, dass ich die Gefühle eines Bratfischs erlebte, der in einer erhitzten Sardinenbüchse gelandet war? Jede rote Ampel wirkte wie ein Belastungs-EKG. Nichts wie heim in den schattigen Wald, schon war ich auf der Straße zum Rhein, nur noch eine Abfahrt! Der Kreislauf legte sich aufs Gaspedal. Um ihn wieder ein wenig näher an mich heran zu holen, drehte ich das Radio voll auf. Das Orchester des Marijnsky-Theaters donnerte Rachmaninows Paganini Rhapsodie (s. Video nebenan mit einer ruhigeren Passage).

Mein Kreislauf schwebte auf Streicherwolken und es war so schön und ich fuhr entspannt und der Fahrtwind säuselte zärtlich in die offenen Fenster und ich war irgendwie auf einer völlig falschen Straße. So falsch, dass selbst eine Blinde Kuh hätte merken müssen, dass sie sich um 180 Grad gedreht hatte. Ich fuhr diametral von der Grenze weg und die Musik war so schön und der Name des Orchesters war an einer Brücke ausgeschrieben, Rosenkaskaden empfingen mich, die Fassaden wirkten wie Turin oder Florenz, es wurde immer heißer, aber es war eben schön und ich war nun mal da.

In einer Stadt, deren beschattete Wetterstation sage und schreibe 38,9 Grad Celsius zeigte und in deren italienisch anmutenden Straßen nur Französisch gesprochen wurde. All die Elsässer, die ich zu Hause auf den verdächtig leeren Straßen vermisst hatte, schienen versammelt zu ein und ein paar Busse auf Kunstreise kamen noch dazu. "Das ist ja, als hätte man Bordeaux gar nicht verlassen", sagte einer und eine Frau jubilierte: "Die sprechen hier alle fließend Französisch, was für eine französische Stadt!" Jedem seine Stadt, Weltenwechsel pur, in einem Ambiente aus Belle Époque und Fin-de-siècle.

In solch einem Moment war mir danach, etwas völlig Dekadentes und Marodes zu tun. Ich grinste Monsieur Dostojewskij zu, der auch diesmal seine Büste mit keiner Mimik verzog - lief ein Weilchen und setzte mich schließlich ungefähr an die Stelle, an der Monsieur Turgenjew seine bissigsten Szenen für den Roman "Der Rauch" aufgesammelt haben muss. Die von ihm beobachteten skurrilen Typen flanierten immer noch unter riesigen Palmen vor griechischen Säulen und glutroter Dahlienpracht. Wären dahinter der Strand gewesen und kleine Badehäuschen mit gestreiften Markisen, man hätte wie Thomas Manns Aschenbach die reine Schönheit und reife Erdbeeren genießen können, um in der Gluthitze des Scirocco lustvoll dahinzusterben. Fast schien es, als würden die Felsen, die am Horizont aufragten, ebenfalls dahinschmelzen.

Aber nur Männer sterben in der Gluthitze, bestattet mit Anzug und Krawatte. Frauen benutzen wieder die in solchen Rüschenzeiten erfundene Taschenklimaanlage, die reibungslos und ohne Strom und absolut ökologisch für Kühlung sorgt. Am Abend kann sie sich sogar in eine Flirtmaschine verwandeln, mit einer vielsagenden Körpersprache. Die Rede ist vom Fächer. Gestern habe ich nicht nur zum ersten Mal seit Urzeiten Sonnenschirme und zweckentfremdete Regenschirme gesehen, sondern so viele Fächer wie noch nie. Pech hatten die französischen Touristinnen, die sich ganz schnell so ein Ding zulegen wollten, weil es sie an Spanienurlaube oder an die eigene Großmutter erinnerte. Außer den Billigdingern aus dem Asienshop findet man schöne Fächer eher im südlichen Ausland oder bei Versteigerungen. Denn noch sind sie ein Geheimtipp.

Den meinen habe ich aus Frankreich, in einem Tabakladen erstanden. Es ist eine Nachbildung des Fächers von Georges Sand. Ich finde, wenn man sich als Schriftstellerin schon einen Tag stiehlt und eine falsche Straße dazu, dann kann man das stilecht tun. Und wie das so ist an solchen Weltenwechseltagen, bekam ich anschließend die römischen Thermen kostenlos dazu: Meterhoch dampften die Straßen unter dem Schauer eines Gewitters.

13. Juli 2010

Babylon auf Kyrillisch

Wer Fremdsprachen gelernt hat, kennt das: Woanders werden Wörter manchmal anders ausgesprochen als geschrieben. Und manchmal werden Laute, die man gleich sprechen könnte, in unterschiedlichen fremden Alphabeten geschrieben. Man muss also entweder die Aussprache oder das Alphabet oder beides lernen.

Mit Eigennamen sollte es einfacher sein, könnte man meinen. Eine "Petra" wird im griechischen Alphabet z.B. mit genau den gleichen Vokalen und Konsonanten buchstabiert, nur ein klein wenig anders gefärbt gesprochen. Und auch wenn sie in kyrillischen Buchstaben leicht zur Lachnummer mit der Petersilie wird, lässt sie sich Buchstabe für Buchstabe übertragen. Es könnte alles so einfach sein. Aber wie ist das eigentlich umgekehrt? Ganz ehrlich: Es ist zum Fluchen. Es ist so sehr zum Fluchen, dass ich das schon dreisprachig mache.

Achtung, jetzt wird es kompliziert: Es gibt Sprachen, die übertragen Eigennamen möglichst genau nach Lauten, andere passen Namen an die eigene Sprache an. Deshalb steht auf Briefen aus dem Ausland nicht unbedingt "München", sondern auch mal "Munich", deshalb schreibe ich auf Umschläge immer beides: Vienne oder Wien. Bis hierher ist auch das noch zu packen, man muss eben die Namen in Fremdsprachen oft wie Vokabeln lernen.

Wie aufwändig das trotzdem manchmal wird, wenn Suchmaschinen nach Buchstaben und nicht nach Gehör funktionieren, erlebe ich bei der Recherche zu den Ballets Russes ständig. Die Eigenamen sind meist russisch - und immerhin kann ich Google Russland mit den Originalen beglücken - wenn ich auch die Übertragung mühsam dank falscher Tastatur "tricksen" muss. Aber es nützt mir wenig, meine Sprachkenntnisse reichen nicht für die meisten Unterlagen. Und weil die Deutschen erschreckend wenig Material zum Thema bieten, heißt es ausweichen: Französisch und Englisch sind die Sprachen, in denen das meiste Material vorliegt. Wie dumm nur, dass beide Länder kyrillisch Geschriebenes anders umsetzen!

Es geht dann manchmal recht schnell, man muss nur alles dreifach suchen. Den Strawinski und den Strawinsky mit dem Stravinsky, oder: Diaghilev - Diagilew - Diaghileff (letzteres die Originalschreibweise seiner eigenen Unterschrift). Manchmal funkt Google dazwischen und will einem weismachen, man habe sich vertippt, dann muss man beharren: Nein, ich will wirklich nur englische Seiten, obwohl mein Computer in Frankreich sitzt und ich auf Deutsch schreibe. So doof sind Suchmaschinen nun mal. Irgendwann hatte ich dann also jede Person dreifach nachgeschlagen und war zufrieden. Es hätte alles so schön sein können.

Nun gibt es aber ein Land auf dieser Erde, dem reicht die komplizierte Umsetzung aus fremden Alphabeten noch nicht. Dieses Land hat es nicht nur geschafft, die eigenen Bewohner durch diverse Rechtschreibreformen zu verwirrren, es bedient sich außerdem zwei verschiedener Umschriftsysteme fürs Russische. Manch einer hat vielleicht schon gestaunt, warum sich der Herr Tschechow, dem man in anderen Sprachen lediglich ein "s" stiehlt oder mal ein "v" gibt, auf seinen eigenen Werken manchmal als völlig Fremder erscheint. Dann schreibt man ihn nämlich wie Cevapcici, wobei die meisten Systeme, wie dieses Blog, das "c" mit dem umgekehrten Dächlein für die Würstchen gar nicht erst anbieten. Einen ähnlichen Spaß bereitet es, mit Westtastatur den Herrn Cevapcici-Tschechow in einer Suchmaschine eingeben zu wollen.

Aber diese "phonetische" Umschrift gilt in deutschen Landen als besonders wissenschaftlich und darum auch als besonders literarisch - selbst wenn sie von weiten Kreisen der lesenden Bevölkerung ignoriert wird. Kaum einer würde sich wohl ein Buch kaufen, in dem es um einen unbekannten Herrn namens Puskin geht, der ebenfalls dieses Cevapcici-Dächelchen trägt, diesmal auf dem "s". Und kaum einer, der bewusst diese verquer wirkende Neuschreibung kauft, wird den tatsächlich dort stehenden Zischlaut des Originals mit korrekter Zungenstellung in der Mundhöhle bilden können oder wollen. Dabei könnte man den Herrn Puschkin so schön in die Suchmaschine eingeben und würde sogar auf Mr. Pushkin kommen. Ich will jetzt gar nicht davon reden, dass auch die Rückübertragung ins Russische zumindest mir unmöglich wird. Als ich das kyrillische Alphabet lernte, gab es noch keine Cevapcicis hinter dem Eisernen Vorhang.

Na, wer hat bis hierher folgen können? Diejenigen ahnen vielleicht, dass das alles noch gar nichts ist. Dass es noch viel schlimmer kommen kann. Und bis eben habe auch ich noch nicht geahnt, welche babylonische Zungenverrenkung entstehen kann in dieser herrlich mehrsprachigen Welt, in der eine Suchmaschine angeblich alle Sprachen spricht.

Da übersetze ich gerade einen Text vom Französischen ins Deutsche, in dem ein Spanier und eine Russin... Ganz genau, bei so viel Weltenbürgertum hört der Spaß auf. Der Spanier war zum Glück so richtig berühmt mit einem Nachnamen, sonst hätte ich ihn nicht identifizieren können. Denn mein Autor macht etwas, was selbst Franzosen nicht immer so deftig tun: Es übersetzt jeden einzelnen Vornamen ins Französische. Und da wird aus einem Juan zwar noch ein erkennbarer Jean, aber an mancher Stelle sollte man fast Spanisch können. Zum Glück hilft Wikipedia weiter, sie hat nur einen Fehler: Sie macht andere Namensfehler als mein Autor. Kurzum: Ich habe den Kerl identifiziert. Ich musste die korrekten Namen dann gegen Wikipedia recherchieren. Und darf ihn im deutschen Text mit seinen echten spanischen Namen nennen, unter denen ihn die ganze Welt kennt.

Jetzt hat mein Autor aber auch die Russin "verfranzösisiert", obwohl genau diese Russin eigentlich in Frankreich ganz normal umgeschrieben wird. Kein Problem, die Übersetzerin kann ja zum Glück laut lesen und hinhören ... ach, das müsste doch ungefähr so und so heißen... Eine Gegenprüfung bei Google Russland fördert den Originalnamen zutage, daraus wiederum findet die Übersetzerin die Schreibformen in anderen Sprachen.

Nur nicht auf Deutsch. Kaum jemand scheint sich in diesem Land für diese Frau interessiert zu haben. Google spuckt allerhand Schreibfehler aus: Die einen benutzen die englische Schreibweise, die anderen eine originalere französische, als die, welche mein Autor pflegt. Langsam, es wird noch schlimmer! Wir hatten ja im Deutschen diese beiden Schreibformen, bei denen es um die Wurst geht!
Ich will jetzt wirklich nicht ins Detail gehen, aber der Laut, den die eine Schreibweise zeigt, knackt anders als das Original. Und die ältere wäre eigentlich die neuere und ... Ba-by-lon!

Eines wenigstens hat die deutsche Doppelschreibweise von russischen Eigennamen gebracht: Man muss sich als Autor oder Übersetzer eigens im Buch für die Wahl einer bestimmten Schreibweise verteidigen und trotzdem all die Verwirrungen prüfen, bevor man sich dann strikt entscheidet (und der Verlag muss da auch noch mitmachen). Und bis man es so weit korrekt aufs Papier gebracht hat, darf man wie ich in wildem Sprachwirrwarr richtig laut fluchen.
Eins ist klar: Ich will meinen Tschechov wiederhaben, und zwar so lange, bis die Sprecher von Tschechow und die Sprecher von Čechov mir beweisen, dass ihre unterschiedliche Schreibweise zur perfekten Aussprache von Чехов führt! Und mit folgendem Herrn machen wir jetzt mal einen kleinen Zischlautwettbewerb, aber ich will die Nuancen genau hören: Puschkin - Puškin - Пу́шкин

So. Jetzt ist mir wohler. Auch wenn ich mich damit in der Zunft der Übersetzer vielleicht unmöglich gemacht habe. Aber die wissenschaftliche Umschrift erschwert es bei unbekannteren Namen einfach ungemein, internationale Recherchen anzustellen. Vor allem dann, wenn ein französischer Autor auch noch seine eigene Umschrift erfindet und die Übersetzerin mit der Doppelwahl der eigenen Sprache schlau werden muss, wen er wohl gemeint haben mag.
Es wird Zeit, dass Suchmaschinen hören lernen*.

Und was haben wir daraus gelernt? Eine Übersetzung vom Französischen ins Deutsche ist nicht immer nur eine zweisprachige Angelegenheit.

*Einige können das bereits, vor allem bei Genalogierecherchen. Leider sind sie zu speziell für Grundrecherchen dieser Art.

Sibirien, Frankreich, Schweiz und USA

Eigentlich wollte ich heute Nikolai Lilins "Sibirische Erziehung" (Suhrkamp, siehe Rubrik "Madame liest") besprechen, das ich gestern ausgelesen habe und für ein sehr wichtiges Buch halte. Aber dazu müsste ich etwas geordneter ausholen und ein paar politische Gegebenheiten erklären, also wird das auf einen Tag mit mehr Zeit verschoben. Sibirien gibt's dafür in der TAZ, wenn auch der "Aushilfhausmeister" unter "Regionalkrimi" in seiner Blogserie etwas völlig anderes versteht als der gemeine Buchhandel. Seine Serie über "True Crime Stories" ist aber lesenswert und beleuchtet diesmal das nicht nur literarische Verbrechen in der Zeit der Sowjetunion und danach.

Mich lässt sein Artikel mit den Rezensionen doppelt nachdenklich zurück: Echte Missstände und politische Doppelbödigkeiten hätten wir ja auch im eigenen Land, aber dort hat sich der Regionalkrimi bekanntlich als Hilfsliteratur der Tourismusbranche mit starkem Fluchtcharakter etabliert. Nicht wenige davon entstehen nicht aus einem gesellschaftskritischen Antrieb heraus, sondern als Auftragsarbeiten von Verlagen: "Mach uns mal was Nettes zu Karlsruhe / Berlin / Hinterdödelshausen". Vielleicht geht es uns einfach zu gut. Vielleicht müssen Autoren aber auch nur einfach eines Tages vor so viel Eskapismus flüchten - nur wohin?

Bleiben wir in der Kälte des Schnees: Künftig lassen sich nicht nur Verbrechen zumindest in der Schweiz leichter online recherchieren. Mehrere Schweizer Archive haben sich zusammengeschlossen und stellen ihr Material online. Damit werde ich jetzt endlich auch eine französische Realsatire los, die ganz und gar nicht erfunden ist. In Frankreich hat der Staat nämlich einst eine Steuer dafür gewidmet, dass sämtliche Archive digitalisiert würden. Und dann hat irgendwer in diesem Staat die Archivabgabe umgewidmet, um damit die allbekannten Rond Points, den Kreiselverkehr, zu bauen. Wer beobachtet, dass diese Kreisel wie die Pilze aus dem Boden schießen, der weiß um den Zustand mancher Archive Bescheid.

Von der Kälte, aus der die Spione kommen, hinein in die Hitze des Gefechts: In den USA ist alles, was Bücher betrifft, natürlich immer extra hot. Und drum steht der gemeine Autor als Spezies in einem solchen Buchmarkt unter enormem Bestsellerdruck. Bestsellerformeln gibt es bekanntlich viele (und irre viele aus den USA), bisher hat noch keine funktioniert, aber vielleicht klappt es ja mit Pamela Redmond Satrans Vorschlag in der Huffington Post: "How to turn Your Blog Into a Bestselling Book".

Bei ihren zehn Lernpunkten bin ich hin und hergerissen zwischen der Erkenntnis, was ich mit diesem Blog alles falsch mache, und eine verstohlenen Grinsen, weil ich die Vorschläge fast schon für Satire halten könnte. Aber nur fast. Menschen, die Bestsellerformeln verkaufen wollen, glauben bekanntlich so fest an ihre Erleuchtungen wie ein Guru, der Gelder für einen Rolls Royce einsammeln möchte. Auf der anderen Seite - "§2 copy the masters" hat zumindest Helene Hegemann zu Ruhm verholfen.

§ 3 Find a great name: yeah, cronenburg. Was sonst.
§ 7 Marry, don't clone. Wenn ich jetzt für mein nächstes Buch nicht nur auffallend oft über Russland schwätzte, sondern auch noch jeden zweiten Tag über Ballett und das Silberne Zeitalter und Bühnenbauten und Avantgarde und Bourgeoisie, wie viele Leser würden dann noch mein Rosenbuch kaufen? Drum
§ 11, made by myself: be stromlinienförmig. Vielseitige Menschen haben Probleme mit der webimmanenten Persönlichkeitsspaltung.

10. Juli 2010

Sommerloch tierisch nutzen

Die Welt ist ungerecht. Die Übersetzerin / Autorin arbeitet sich einen Wolf im frischen Juli, weil bekanntlich die nächste Buchmesse schneller kommt, als der Sommer 2010 zum Schlüpfen brauchte. Wäre sie brav Journalistin geblieben, würde sie sich jetzt entweder an einem dicht bevölkerten Strand Seeigelstachel aus den Füßen reißen oder in der Redaktion gelangweilt in der Nase popeln, in der Hoffnung, dass irgendetwas ins Sommerloch falle. (Merke: Dies ist ein Lehrsatz gegen den Gebrauch abgeschrägter Bilder und überflüssiger Vergleiche).

Auch das ist Sommerloch: Verzweifelt versuchen, Zeilen zu schinden, denn so eine Zeitung hat auch dann Seiten, wenn gar nichts passiert. (Merke: Bis hierher wurde immer noch nichts gesagt). Was des einen Leid, ist des anderen Freud, heißt es schon in der Public-content-Literatur, über deren Weg zu Public-viewing-Büchern einmal ernsthaft nachgedacht werden sollte. (Merke: Pseudoschlauschwafel mit netten Merksprüchen für Tante Erna bläht jeden Text ins möglicherweise Sinnhafte). Kurzum.

Kurzum: Das Sommerloch ist die Chance für jeden noch unentdeckten Autor, endlich sein Konterfei ins Hintertupfinger Käsblatt zu hieven, dreispaltig, farbig. Das Sommerloch bietet Platz für all die Bücher, die während des Rests des Jahres sowieso keiner lesen will, deren Haltbarkeitsdatum längst überschritten ist oder die sonst irgendwie nach Misserfolg müffeln. Das verkannte Genie muss nur einfach irgendwie einen dieser in der Nase popelnden Redakteure ausfindig machen, die dem Kollegen den Seeigelstachel im großen Zeh neiden. Machen Sie den verzweifelt nach Sommerloch-Geschichten suchenden Leuten eine Freude, bieten Sie ihnen mehr Abwechslung als Monsieur Godot! Aber bedenken Sie: Auch das Geschäft der ewig Zurückgebliebenen ist knallhart. Das weiß sogar die ZEIT, die in diesem Jahr empfiehlt, mit Tieren berühmt zu werden.

Geht nicht? Kein Titel vorhanden wie "Die Elefantin der Königin", "Das Nattern-Komplott" oder "Abnehmen mit der Regenwurmdiät"? Kein Problem, Werbefritzen machen jeden Ladenhüter passend. Ich hab das mal probiert - und hier ist zu lesen, was mir die Agentur Brainworm & Egel riet:

Lavendelblues
Suchen Sie sich ein Tier im Zoo, dem die Depression ins Gesicht geschrieben steht. Wir empfehlen zur Abwechslung ein Plumplori (alles andere ist schon abgegriffen). Starten Sie eine Social Media Kampagne, in der sie den Menschen klar machen, dass es Plumplori Lorinchen nur an Lavendel fehlt, um glücklich zu sein. Der Spender jeder angefangenen neuen Tonne Lavendel bekommt den Roman als Geschenk. Halten Sie Plumplori und Buch so oft wie möglich in die Kamera. Wenn Lorinchen dann nach ihrem Roman grabscht, ist alles gewonnen: Machen Sie ein glückliches Gesicht und erzählen Sie vom Lavendelglück des Plumploris mit ihrem Buch.

Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt
Da haben wir ja schon ein Tier! Das Buch ist vergriffen? Macht nichts. Ist der Zander im Elsass ja auch. Ziehen Sie Tier- und Naturschutzorganisationen auf Ihre Seite, indem Sie auf die verheerenden Folgen der Überfischung bei Zandern aufmerksam machen, die dazu führt, dass Zuchtzander aus Osteuropa importiert werden müssen. Starten Sie eine aufsehenerregende Aktion in Funk und Fernsehen, um den heimischen Zander wieder ansässig zu machen und Ihr Buch an den Fischteichen zu verkaufen: Angler haben viel Zeit zum Lesen! Vergessen Sie nicht den Zusatznutzen durch Ihr Zanderrezept und lassen Sie die Aktion von stinkreichen Rieslingwinzern und Sterneköchen sponsern. Lassen Sie lebende Jungzander aus Osteuropa einfliegen, während Sie die Eurovisions-Hymne spielen, und greifen Sie dafür jede nur erdenkliche Europa-Subvention ab. Wir garantieren: Bei dieser Aktion verdienen Sie so viel Geld, dass Sie Ihr Buch getrost vergriffen sein lassen können.

Das Buch der Rose
Welches ist Ihr meistgelesener Text zum Thema Rosen? Ganz genau, der Text über Blattlausbrühe, Ihr Mörderrezept aus Tabak und Knoblauch gegen die Tierchenflut, die regelmäßig über das Sujet ihres Buchs herfällt. Und welcher Text steht garantiert nicht in diesem Buch? Ganz genau, der Text über Blattlausbrühe. Sprechen Sie mit Ihrem Verlag über eine limitierte Luxus-Sonderausgabe, der ein Faksimiledruck Ihres handgeschriebenen Mörderrezepts beiliegt. Machen Sie währenddessen eine PR-Aktion bei Politikern und Nichtraucherverbänden, indem Sie zeigen, wie aus in Restaurants und Kneipen beschlagnahmtem illegalen Tabak ein Segen für Rosenliebhaber wird. Lassen Sie Lungenspezialisten im Fernsehen zur besten Sendezeit interviewen, die nachweisen, dass Raucher in etwa die gleichen Überlebenschancen wie Blattläuse haben, wenn sie Blattläuse wären. Spritzen Sie, was das Zeug hält, in Talkshows und Gärtnereien, in öffentlichen Parks und Quizsendungen.
Was, das Buch klebt nach dem letzten Auftritt bei Lanz immer noch wie Blattlaushonig?
Wir haben Sie gewarnt! Um berühmt zu werden, bringt man eben keine Tiere um. Auch Blattläuse können zu Sympathieträgern werden.

Die Autorin dankt der ZEIT sowie der Agentur Brainworm & Egel für in greifbare Nähe gerückte Berühmtheit. Sie ist nach Diktat verreist, um einen Plumplori zu finden, der keine Läuse hat.

9. Juli 2010

Chłodnik

Eigentlich sollte die Überschrift "Urlaub" heißen. Da jedoch Madame Babbelwasser*** wahrscheinlich auch bei über 40 Grad den Mund nicht halten kann, werde ich das Blog bis Ende des Monats einfach nur unregelmäßiger bestücken. Nicht dass ich wirklich Urlaub hätte, ich ertrinke in Arbeit - und die geht vor.

Also gibt es eine kühlende Überschrift für alle, es ist Zeit für Chłodnik! (Das durchgestrichende L wird gesprochen wie ein englisches W). Chłodnik ist den Polen das, was den Spaniern der Gazpacho bedeutet, auf Deutsch einfach eine kalte Suppe - ideal in den heißen Sommern, die auch in Osteuropa heftig sein können (und deshalb gibt es diese Suppen auch nicht nur in Polen).

Die Küche bleibt kalt, die Ernährung ist leicht und vitaminös. Die einfachste kalte Suppe ist eine süße Obstsuppe, man nimmt nämlich alles her, was es an Obst gibt, am liebsten die traditionellen Sommerbeeren: Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren. Große Früchte werden klein geschnippelt. Dann Kefir oder Sauermilch oder Sahne mit Dickmilch (gut gekühlt!) darüber gießen, vielleicht auch Zucker und Vanille zugeben - fertig. Den Geschmack dieser Beeren, die Sammler im Sommer an den Straßen in Waldnähe verkaufen, werde ich nie vergessen. Zwar gibt es auch in den Vogesen wilde Himbeeren und Heidelbeeren, aber die meisten Leute sind zum Sammeln zu faul - und wenn ich selbst Beeren hole, komme ich am heimischen Kühlschrank allenfalls mit verschmiertem Mund, vollem Bauch und leeren Händen an.

Für extra faule Köche nun mein ganz privater, extra schneller Chłodnik, ideal auch für Sommergäste:

Zutaten
1 l Sauermilch-Naturjoghurt-Gemisch
125 ml Sahne (flüssige Crème fraiche)
1 EL Zitronensaft oder etwas Barszcz-Ansatz
2 hartgekochte Eier, gewürfelt
150 g feingeschnittener roher Schinken oder Reste von weißem Fleisch
1 Salatgurke, gewürfelt
1 Bd. Radieschen, in feinen Scheibchen
1 Bd. frischer Dill, gehackt
4 kl. Frühlings- oder Lauchzwiebeln, gehackt
1 Bd. Trieblinge von roten Beeten (Ersatz: nicht eingelegte Rote Beete)
Salz, Pfeffer, Prise Zucker, Senf und Schnittlauch zum Abschmecken

Zubereitung:
Alle Zutaten möglichst zerkleinern und miteinander verrühren (Mengenangaben nach Gusto verändern) und mindestens zwei Stunden lang kalt stellen. Wer es flüssiger mag, nimmt mehr Sauermilch (Kefir geht auch), wer es fester möchte, mischt mehr Joghurt ein. Wer es aromatischer liebt, kann auch eingelegte Gurke zugeben, das sollten dann aber unbedingt welche nach polnischem oder russischem Rezept sein, ich schwöre, französische Cornichons machen sich in dieser Suppe zum Fürchten!
Vor dem Servieren noch einmal abschmecken.
Sofort aus dem Kühlschrank servieren oder auf dem Tisch in eine große Schale mit gestoßenem Eis stellen.

Und wer mir verraten kann, wo in Deutschland man Barszcz / Borschtsch-Ansatz kaufen kann, der bekommt von mir die Rote-Beete-Kugel in Gold verliehen! Ich weiß, ich weiß, man kann ihn auch selbst machen, aber wenn man doch in der Zeit schreiben kann...

 *** Im Badischen sagt man zu Leuten, die nicht aufhören zu reden: "Du hast wohl zu viel Babbelwasser getrunken!" In manchen Ortschaften versiegelt man deshalb sogar die Gräber mit Steinplatten, damit sich das Mundwerk nicht posthum selbstständig macht und ein Babbelwasser trinken geht.

8. Juli 2010

Aus der Distanz zur Nähe

Ich möchte noch einmal unbedingt das Video "Was ist die Kunst des Übersetzens" empfehlen, das ich mir heute in einer Übersetzungspause angeschaut habe. Mich ließ nämlich die Frage nicht los, die ich mir nicht erst seit heute morgen stelle: Warum ich ausgerechnet aus der Sprache übersetze, zu der ich innerlich die größte Distanz habe - und nicht aus einer, die mir emotional sehr gleicht.

Mein Alltag besteht aus drei ständig gesprochenen und gehörten Sprachen, von denen Französisch die Hauptsprache ist, während meine Muttersprache eher den Weg des Geschriebenen geht und das Elsässische in einer sehr eigenen Art Brücken zwischen beiden schlägt. Wenn ich mich dann manchmal in babylonischer Sprachverwirrung befinde, weil man in diesem Landstrich das Vokabular auch innerhalb von Sätzen wild wechseln kann, nehme ich nicht mehr wahr, wie ich mich selbst ausdrücke. Aber eigenartigerweise fließen Emotionen am leichtesten auf Polnisch, was ich daran bemerke, dass mich alle großäugig anschauen, weil sie nichts verstanden haben. Ich verfalle in intellektuellen Diskussionen schnell ins Französische, muss mich dann manchmal mühsam selbst ins Deutsche übersetzen und scheitere am dort modernen "Spezialsprech" von Insidern. Dafür suche ich verzweifelt im Französischen nach den vertrauten Wortspielen oder der Würze knapper konkreter Angaben des Deutschen - oder der blumigen bis deftigen Poesie des Elsässischen.

Ich habe in meinem Leben Sprachen immer extrem leicht und schnell gelernt (im Gegensatz zu Mathematik). Nach drei Monaten konnte ich Polnisch einigermaßen fließend sprechen und schreiben. Nur mit einer Sprache habe ich mich immer äußerst schwer getan, obwohl ich sie von Kindesbeinen an hörte, denn ich bin in einer französischen Garnisonstadt an der Grenze aufgewachsen. Genau das war vielleicht der Fehler? "Kinder, lernt jetzt Altgriechisch", meinte der Schuldirektor, "das könnt ihr später nur noch schwer, Französisch habt ihr um euch herum, das lernt ihr dagegen im Handumdrehen und jederzeit im Leben!" - "Studenten, setzt euch auf den Hosenboden fürs Hebraicum, Französisch könnt ihr nachher immer noch im Ferienkurs im Land belegen", fand der Professor. Ich muss kaum erwähnen, dass ich niemals auch nur irgendeinen Kurs in der Sprache des Nachbarlandes belegte und statt Ferien zum Radikalmittel Emigration griff. Aber auch der einstige französische Ehemann änderte nichts daran, dass ich über französischer Grammatik jammerte und stöhnte, während ich die Grammatiken anderer Sprachen nicht einmal zu pauken brauchte.

Es gibt diese Szenen immer noch, wo ich nach einem Gespräch auf Französisch zu einer Deutschen sage: "Was habe ich wieder herumgestottert, ich habe wieder nicht genau das sagen können, was ich sagen wollte!" Und mein Gegenüber runzelt die Brauen, will mich so gar nicht verstehen. "Aber du hast doch fließend gesprochen?"

Irgendwie muss da aber mehr sein als das fließende Sprechen, Lesen oder Schreiben. Es fühlt sich für mich an wie ein Rollenspiel im Theater. Ich kann mit einer Rolle derart verschmelzen, dass sie mir wie auf den Leib geschneidert scheint, dass ich völlig unbewusst die richtigen Register ziehe. So wie ich das in meiner Muttersprache auch mache, wo ich arg alt aussehe, wenn mich einer nach Grammatikregeln fragt. Und dann gibt es die Rollen, die man sich erst erkämpfen muss, die einem fremd oder anders, vor allem aber unbequem erscheinen. Bei diesem Spiel schalte ich nicht ab, ich bin mir jeder einzelnen Geste, jeder mimischen Veränderung bewusst. Ich hebe nicht den Arm, weil ich in einer gewissen Situation automatisch den Arm hebe; ich hebe ihn, weil mir bewusst ist, dass ich mit dem Heben des Arms in genau dieser Situation genau jene Wirkung hervorrufe. Ich habe gelernt, wann man den Arm eher hebt oder senkt, ich fühle mich nicht frei und spontan in meinen Bewegungen.

Diese übergroße Bewusstheit, die ich natürlich nicht immer so intensiv wahrnehme, lässt ein Gefühl von Distanz entstehen. Es ist eine Distanz, in der ich mich, meine eigenen Worte und Gedanken ständig in Bezug setze, ständig am anderen vergleiche. Zuerst fiel mir auf, dass das gemeinhin hochgelobte gegenseitige Verständnis von Franzosen und Deutschen auf einer Menge von Vorurteilen und Illusionen beruht - und genau darum oft nur an der Oberfläche funktioniert. Das liegt aber schon daran, dass beide Sprachen völlig unterschiedlich funktionieren, dass die eine eher mit der Nadel zusticht und die andere eher etwas umkreist. Als Übersetzerin stehe ich da wie ein Schmetterlingsjäger, der die flüchtige Brillanz flatternder Flügel aufspießen soll, dazu aber unter keinen Umständen einen Kescher benutzen darf, sondern eine Weile mit den Schmetterlingen durch die Luft gaukeln sollte.

Inzwischen glaube ich, es ist schwieriger, auf das Naheliegende - nämlich den Kescher - zu verzichten, wenn man zu sehr mit der Aufgabe verschmilzt. Die Distanz lehrt einen Anschauung und Beurteilung von Methoden - sie schafft jedoch auch eine Distanz zur eigenen Sprache, zur eigenen Denkwelt. Muss man denn wirklich einen Schmetterling nach dem anderen auf ein Brettchen aufnadeln? Gibt es nicht noch viel mehr Methoden, den Farbnuancen und der Schönheit gerecht zu werden?

Genau hier ist ein fast magischer Punkt beim Übersetzen erreicht. Fremdsprache und Muttersprache kreuzen sich. Aus dem Kokon der Rohübersetzung können so vielfältige Texte fließen, so überraschende Schmetterlinge sich entpuppen. Es ist nie etwas eindeutig "Schwalbenschwanz", wenn es an einem besonders glühenden Rot gesessen, von einem seltenen Nektar genascht hat. In diesem Moment erreichen beide Sprachen genügend Distanz zum Übersetzer, so dass sie sich unabhängig von diesem miteinander zu unterhalten scheinen. Darum ist Übersetzen zu großen Teilen Hinhören, Lauschen, Schauen. Und darum kann vielleicht die Rolle, die man sich erst erkämpfen musste, die viel interessantere Herausforderung sein?

Oder ganz lapidar gesagt: Fast 450 Seiten stehen nun zur Überarbeitung an, keine 200 mehr sind zu übersetzen. Bergarbeiterarbeit, denn Anfang 2011 soll das Buch erscheinen.