Seiten

31. März 2010

Biss zur Buchstabentransfusion

Nun ist es offiziell: Ich muss in diesem Monat nicht Tag und Nacht für drei arbeiten. Das zu übersetzende Buch erscheint erst im Frühjahr 2011, so dass ich nun auch die kniffligen Literaten und die Lyrik-Einsprengsel gelassener angehen kann. Nicht, dass das zur Faulenzia verleitet, die täglichen Portionen werden nur kleiner. Es gibt mehr Kopf frei für die Endphase des Europaprojekts, für das bis Dienstag noch Broschürentexte zu schreiben sind und danach welche zu übersetzen. Ich habe also tatsächlich einmal ein freies Ostern. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen.

Wie ein genesender Worcoholic taste ich mich langsam ans Nichtstun. Verschnitt heute endlich meine Rosen - es war höchste Zeit. Genoss den sanft grünenden Wald, in dem der Weißdorn schon seine Blättchen entfaltet und das Sumpfwasser müffelt. Meine Hände sehen natürlich wieder aus, als hätten Minivampire an den falschen Körperstellen gekratzt; typisch, denn anderen Leute empfehle ich natürlich Rosenhandschuhe, nur selbst benutze ich sie ungern. Und irgendwie war mir nach so viel Freizeit wie Blutverlust zumute...

Es ist schon lustig. Kaum wird mein Hirn frei für eigene Denkarbeiten, spitze ich schon wieder die Eckzähne. Mich überkommt ein ungeheurer Appetit. Weggeräumt in der Bibliothek liegt ein Luxuskörperchen, blutvoll. Ich kann seine Farbe genau vor mir sehen, ein tiefes, leuchtendes Ultramarinblau. Es rappelt im Regal wie ein Sack widerspenstiger Flöhe, als renne alles darin durcheinander. Ab und zu schreit etwas darin. Und dieses Luxuskörperchen bläht sich seit heute auf, dass mir vor Appetit fast die Sinne vergehen.

Ich wette, ich halte es noch einen halben Tag lang aus mit dieser selbstverordneten Kräfterekonvaleszenz. Dann beiße ich zu. Wahrscheinlich genau in eine dieser schreienden Stellen. Erst danach wird es mir richtig gut gehen. Danach werde ich wieder ein ganzer Mensch sein. Und Kraft saugen für all die anderen Arbeiten und fürs Nichtstun, das eine sehr anstrengende Sache sein kann.

Das ultramarinblaue pralle Luxuskörperchen schreit, weil es ziemlich viele lose Enden hat, an die eigentlich Extremitäten gehören. Es wuselt so wild darin herum, weil das Personal noch ungehorsam und ausgeflippt Orte und Zeiten wechselt, manchmal sogar Person und Geschlecht. Manchmal scheinen sich einzelne von diesen wilden Flöhen heimlich irgendwo zu nähren, dann werden sie fett, versuchen andere zu erdrücken. Anderen habe ich Maulverbot erteilt, aber sie hören nicht auf mich. Heimlich tauschen sie Fotos und werfen mit Dingen nach mir.

Wenn es so umgeht in einem Zimmer, hilft nur noch ein Biss. Sozusagen als Rache, weil es mich ja längst gebissen hat, das Ding. Längst hat es einen eigenen Duft. Es riecht nach uralten staubigen Schrankkoffern, nach Maschinenöl in heißen Schiffsbäuchen, nach Rabengefieder in klirrendem Frost, nach Milch und Honig und schmelzendem Asphalt im Sommer, nach Mohnwiesen im Wind und ungewaschenen Reisenden. Es ist blau wie das Meer, der Himmel, gekalkte Wände, Sehnsucht, Heiligenmäntel, Veilchenduft, wie eine Komposition von Kandinsky oder das Tuten der Wagnertuben bei Strawinsky.

Verführerisch liegt mein neues Projekt vor mir, von dem ich immerhin schon 30 Seiten, unzählige Notizen und Tonnen von Ideen verbrochen habe. Das ich so sträflich vernachlässigen musste, um Geld zu verdienen. Es schreit nach mir. Ich sehne mich nach ihm. Einer Schriftstellerin Freizeit zu schenken, bedeutet, sie vom Nichtstun abzuhalten.

Lascaux-Feeling

Gestern ging es zum Meeting in einen Landstrich, der sich nie wirklich wie Arbeit anfühlt. Das kommt vielleicht daher, dass ich hier auch privat Erholung finde und öfter mit dem Fotoapparat auf Pirsch gehe. Meine Lieblinge leben da nämlich. Es gibt nichts Gemütlicheres zum Anschauen als friedlich grasende Kühe auf der Weide. Aber freilaufendes Highland-Cattle ist noch viel schöner - in den Weiten des Nordelsass, wo die Tiere für den Naturschutz arbeiten, erlebt man ein recht uriges Gefühl.

Wenn ich dort länger in der Landschaft herumlaufe, entdecke ich nicht nur in den Wäldern steinzeitliche Abris, auch die Sumpfwiesen wirken, als hätten sie aus Urzeiten überdauert. Kommt einem dann so ein massiges gehörntes Vieh entgegen, kann man sich schon ein wenig in die Maler von Lascaux hineinversetzen... In der Tat haben die sympathischen Schotten ein Aussehen, das an den Auerochsen erinnert.

Aber ich war da nicht zum Urlaub machen, sondern zum Arbeiten. Und bei dieser Arbeit geht es u.a. um den Wald und die sogenannten Röder, alte Rodeflächen, die man heute nur noch mit geschultem Auge erkennen kann. Denn der Wald erobert sich schneller Land zurück, als man das glauben mag. Natürlich erreichen die Bäume nur langsam richtige Höhen, aber sobald Mensch und Vieh nichts mehr tun, wächst in unseren Breiten der Wald.Dafür hat man das Highland Cattle in den elsässischen Regionen zwischen der Burg Fleckenstein und Obersteinbach und Niedersteinbach (nahe der Pfälzer Grenze) sowie auf den Sumpfwiesen um Stürzelbronn angeschafft. Absolut robust weidet es ganzjährig auch auf schlechten Böden und sorgt dafür, dass die Talauen und sumpfigen Täler am Fuß der Vogesen, die landwirtschaftlich nicht mehr genutzt werden, offen bleiben und nicht verwalden. Dadurch entstehen abwechslungsreiche Biotope, in die man nicht mehr wie früher mit Maschinen oder Brandrodung eingreifen muss.

Meine Fotos stammen vom letzten Herbstbeginn (gestern habe ich ja fleißig gearbeitet), jetzt im Frühling ist das Beobachten der Tiere natürlich noch schöner: sie haben kleine wollige Kälbchen. (Fotos zum Vergrößern anklicken)

29. März 2010

Der reichste Spatz der Welt

Heute habe ich ein wunderschönes Geschenk bekommen. Und prompt fühle ich mich wie die Titelfigur in einem meiner alten Kinderbücher: als reichster Spatz der Welt.

Ich sitze nämlich auf einem Sack Zeit. Richtig frische, duftende, leckere, bunt rieselnde, klimpernde Zeit! Die Frau, die eben noch bereit war, Tag- und Nachtschichten zu schieben, muss plötzlich nicht einmal an Ostern arbeiten. Die Arbeit bleibt zwar diesselbe, aber sie ist jetzt so verteilt, dass ich zwischendurch tief Luft holen kann.

Ein feines Gefühl. Da sitze ich auf meinem Sack und frage mich, was ich damit anfangen könnte, damit die Zeit sich noch praller anfühlt. Eine Idee habe ich sofort in die Tat umgesetzt: Ein kleines Festessen gekauft (nebst riesigem Knochen für den Hund). Und nun habe ich die ersten Zeitpläne geschmiedet. Trotzdem keinen Osterputz machen. Trotzdem nicht die Fenster putzen, nur weil das alle tun. Nicht in den französischen Ostereinkaufswahn verfallen. Stattdessen am nächsten sonnigen Tag der Nase nach in die Berge fahren. Morgen sehr entspannt und ausgeruht beim Meeting arbeiten. Und jetzt zum ersten Mal seit vielen vielen Wochen am hellichten Tag ein gutes Buch lesen! Rocco schnarcht schon gemütlich in der Bibliothek. Irgendwer hat offensichtlich auch meinem Hund freigegeben...

Lesestoff Burn-out

Zum Thema Burn-out empfehle ich noch einmal das Blog von Christa S. Lotz, die einige neue Beiträge und Lesetipps zum Thema hat.

Einen völlig anderen Ansatz verfolgt die ZEIT (sic!) in einem etwas älteren Beitrag, wenn sie fragt: "Geht uns die Zeit aus?" In einem Gespräch mit dem Soziologen Hartmut Rosa sucht sie nach einem uralten Hut: Muße braucht Zeit. Rosa hat einen eigenartigen Beruf: Er ist Beschleunigungsforscher und hat darüber gearbeitet, wie man durch die Steigerung der "Erlebnisdichte" das Leben verpassen kann.

Weil es so schön zum Genießen und den kommenden Ostertagen passt, klebe ich auch das hierher: Die Medizin lernt mal wieder um. Nachdem inzwischen bekannt ist, dass die Hysterie um Cholesterinwerte eher von der Pharmaindustrie als von unabhängiger Wissenschaft angeheizt wurde, sehen irgendwann die Superschlanken alt aus.
"Speckrollen sind gesund und machen glücklich" titelt die WELT über die neuesten Erkenntnisse aus medizinischen Studien.

Man sollte sich also weder psychisch noch körperlich allzu sehr unter Druck setzen lassen. Es lebe der Schoko-Osterhase! ;-)

28. März 2010

Technikprobleme?

Sabine meldete mir, dass mein Blog manchmal keine Kommentare annehme. Ich hoffe, das Problem kommt nicht öfter und nicht bei vielen vor.

Es ist nämlich ein längst bekanntes Problem von blogger.com, das die irgendwie nicht in den Griff bekommen, wie man am Help-Forum sehen kann. Wie man dort auch sehen kann, bekommt man nie eine adäquate Antwort. Die altbekannte-Probleme-Seite und der Status der Störungen sind auch nicht immer das, was man update nennen kann. Und seit das Ganze Google gehört, bekommt man diese perfekten Irrgarten-Antworten, nach dem Motto, wir antworten mal vorsorglich auf ein Problem, das Sie gar nicht haben, bitte wehren Sie sich nicht und sagen Sie sofort Ja und Amen.

Kurzum: Dieses Blog auf diesem Server ist kostenlos und hat darum natürlich öfter mal entsprechende Macken. Die Alternative wäre ein Blog, das mich Geld kostet - und das ich dann nicht mehr kostenlos anbieten könnte. Das will ich möglichst vermeiden. Sollten die Macken Überhand nehmen, müsste ich allerdings nach einer Alternative suchen.

Was ich selbst herausgefunden habe:

Blogger hat ein altbekanntes Problem mit Firefox und mit dem IE 7 inzwischen wohl auch.
Sprich, Kommentare durch diese Browser werden manchmal nicht ordentlich gespeichert oder der Browser stürzt vor allem ständig ab. Die neueste Version von Firefox sollte keine Probleme machen, die benutze ich selbst.

Manche Blogger-Blogs speichern grundsätzlich nicht die Kommentare bestimmter Poster.
Das habe ich z.B. bei Frank Peter's Blog - ich kann mich dumm kommentieren - nichts.
Kann eine Person grundsätzlich nicht kommentieren, liegt es womöglich an Folgendem:
  • Sie ist bei Blogger / Google wegen Spam gesperrt worden (das merkt man aber, dann geht nirgends mehr etwas).
  • Alle neueren Blog-Templates, die im Kommentarfeld mit diesem schick verlaufenden Pop-up arbeiten (die alten Pop-ups sind nicht betroffen), haben einen Scriptfehler, der bestimmte Browser nicht kommentieren lässt (weil diese Browser wiederum gegen dieses Pop-up Sicherheitssperren haben). Abhilfe: Der Blogbesitzer muss den Scriptfehler im Layout per Hand berichtigen. Außerdem kann er das Pop-up ausschalten und bekommt normale Kommentarfelder wie bei mir. Oder er wechselt zu einem Template der ersten Generation oder zu einem freien von außerhalb, das funktioniert.
  • Ein Blogbeitrag hat eine bestimmte Menge Kommentare in kurzer Zeit überschritten. Die ist bei kostenlosen Versionen nämlich begrenzt.
  • Jemand versucht, genau dann zu kommentieren, wenn Blogger mal wieder Daten putzt. Dann anderen Tag, andere Uhrzeit testen.
Falls noch jemand Probleme hat, einfach hier versuchen, zu kommentieren...

Anleitung für Bloginhaber, bei denen manche Personen überhaupt nicht kommentieren können:

unter Einstellungen -- Kommentare -- zu "Platzierung des Kommentarformulars" gehen.

Dort eine der beiden ersten Möglichkeiten wählen, am besten "vollständige Seite".
Die Funktion "unter Post eingebettet" verursacht oben beschriebene Browser-Aversionen, sollte also nicht benutzt werden. Huhu, Frank Peters ;-)

27. März 2010

Kleine Verführungen

Manchmal stolpert man beim Surfen über Beiträge, bei denen einem ein Name bekannt vorkommt: Da geht es ja um mich, huch...
In zweien komme ich ziemlich als Verführerin weg, zumindest auf dem Papier scheine ich das zu beherrschen:

Im Blog Text - Design - Code heißt es in einer Rezension meines Buchs "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt", mein Buch sei nur zu ertragen, wenn man sich zwischendurch in der Küche mit Brot, Wein und Käse versorge - und:
"Wirklich bemerkenswert ist Petra van Cronenburgs Talent das Elsass in allen Facetten dem Leser allein durch die Magie der Sprache im Geist erstehen zu lassen und Lust auf Land, Leute und Küche der Region zu machen."
Das macht natürlich der Autorin Lust, noch mehr appetitanregende Texte zu schreiben!

Dann fand ich mich im auch von mir gern gelesenen Notizbuchblog wieder (durch Twitter) - anscheinend kam mein Beitrag über das Tagebuchschreiben und meine vielen Notizbücher gut an. Was mich aber noch sehr viel mehr freut, ist der Ansteckungseffekt, den der Artikel über mich im Notizbuchblog nach sich zieht. Sich vorzustellen, dass jetzt noch mehr Menschen eine Wort-Schatzkiste basteln oder ein Schwammbuch führen, ist schöner, als ich mir das beim Verfassen meines Beitrags hätte träumen lassen!

Wodka oder Literatur

Wodka

Gestern hörte ich die anscheinend neuesten Zahlen im Fernsehen: Vierzig Prozent aller gestandenen russischen Mannspersonen saufen sich zu Tode. Die Lebenserwartung der Männer liegt in Russland niedriger als in Bangladesh, nämlich im Durchschnitt unter 60. Und es gibt auch schon Studien, die sich damit beschäftigen, ab wann Wodka & Co. eine Kultur und Wirtschaft so nachhaltig schädigen können, dass sie sich nicht mehr selbst regenerieren können. Über die Wodkasauferei ließen sich politische und philosophische Überlegungen anstellen, denn die gibt es nicht nur in Russland, sondern in unterschiedlicher Stärke in den meisten ehemals kommunistischen Ländern, auch in der DDR hat man lieber Schnaps als Spitzenweine gepichelt. Aber selbst die Franzosen tendieren seit Sarkozy auffällig zum Wodka statt Whisky (der einst den Cognac ersetzte).

Erklärungen gibt es so viele wie Flaschen. Die meistgehörte in Polen neben der Winter-Dunkelheits-Theorie war die, dass Wodka die billigste, selbst zu fertigende Droge war, mit der man sich ein kurzes Scheinvergnügen und vor allem eine innere Flucht erkaufen konnte, als andere Auswege nicht zu haben waren. Auswegslosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Die kleinere Hölle wählen. In einem Irrgarten nicht mehr wissen, wohin. Flüchten wollen. Existenz als Bürde. Und eine Sehnsucht nach Menschen - gesoffen wird nämlich in Gruppen, am Anfang zumindest.

Literatur

Ja, es geht tatsächlich um Bücher. Wer Literatur aus dem Osten (und Skandinavien!) liest, muss sich nämlich oft mit der Sauferei herumschlagen. Bei den russischen Klassikern mutet das noch wie eine verbogene Romantik ferner, unvorstellbarer Zeiten an. In den ersten Krimis von Polina Daschkowa geht es dagegen bis an die Schmerzgrenze (die späteren sind gefälliger zurechtgemacht). Einige hochgepriesene literarische Werke halte ich wegen der Depressionen und Sauferei nicht aus. Weil ich die tiefe Wodkadepression in Polen erlebt habe, auch wenn das Umfeld selbst nicht auf Droge war. Aber ich habe sie erlebt, die Gestalten, die ihr letztes Geld in vergällten, stinkenden Methylalkohol und eine Scheibe Schwarzbrot umsetzten, wobei sie letztere nicht aßen, sondern als angeblich wirksamen chemischen Filter benutzten. Und auch ich bin irgendwann abgestumpft angesichts der Zahlen von an Wochenenden von der Tram zermatschten Wodkasäufern, die sich regelmäßig im Vollrausch zu einem Schläfchen auf die Gleise legten. Bücher mit einer solchen tiefen Depression ziehen mich runter.

Ein drastisches, sehr realistisches, streckenweise ungeheuer depressives Buch dieser Art ist "Das Sägewerk" des jungen polnischen Schriftstellers Daniel Odija. Trotzdem habe ich es regelrecht "gefressen", denn es ist auch magisch, poetisch, von einer ungeheuer kraftvollen Sprache. Es spielt in einer polnischen Provinz, die Urlaubern wie ein Idyll vorkäme und genauen Betrachtern unerträglich wäre, aber Odija schafft es, auch über uns zu schreiben. Im Grunde ist es nämlich eine sehr europäische Geschichte.

Józef, Sägewerksbesitzer, lebt in einem einst von einer Kolchose beherrschten Dorf, in dem Armut und Aussichtslosigkeit grassieren. Die früher Befehle erteilt haben, sind nicht mehr, die Menschen haben nicht gelernt, selbstständig und vorausschauend zu denken. Im Suff erscheint die Vergangenheit im Zwangssystem goldener als die Zukunftsaussichten. Józef entwickelt sich zum Schmalspuroligarch, kommt zu etwas Reichtum und Macht, aber auch er ist nur ein Rädchen im neuen System. Er scheitert, weil er seinen Aufstieg auf Kosten anderer erreicht hat - und das ist das einzig Hoffnungsvolle in dieser Welt des Umbruchs. Der 2003 in Polen (2006 in D.) erschienene Roman ist von einer erstaunlich aktuellen Brisanz: Was sich da im Kleinen zwischen den Wodkagläsern abspielt, ist wie Turbokapitalismus im Reagenzglas. Irgendetwas ist unterwegs verlorengegangen - und das scheint in diesem Buch sehr mythisch immer wieder durch.

Heiter-melancholisch bis sarkastisch-witzig ist dagegen Andrej Kurkow zu lesen, ebenfalls ein Schriftsteller der neueren Generation, geboren im russischen Petersburg und seit seiner Kindheit im ukrainischen Kiew lebend, wo auch seine Bücher spielen. Seine kurzweiligen und unterhaltsamen Bücher werden als Krimis oder sogar Thriller gehandelt, ersteres sind sie kaum, letzteres schon gar nicht. Aber das, was er wirklich schreibt, nämlich absurde Literatur mit einem fantastischen Einschlag, kommt im deutschen Marketing wohl nicht so gut...

Seinen Roman "Picknick im Eis" hätte ich wahrscheinlich wieder weggelegt, wenn mich nicht dieser Pinguin gefangen genommen hätte. Denn die Geschichte selbst beginnt ruhig, eher nebensächlich, und wie schon einmal dagewesen. Viktor ist ein Tagträumer und Möchtegernschriftsteller, statt zu arbeiten, schreibt er für die Schublade am großen Roman. Irgendwie ist er unfähig zum Leben zwischen den Neureichen und Mafiosi, aber er hat Herz. Viktor beherbergt in seiner Wohnung einen Kaiserpinguin - der Kiewer Zoo hat aus Geldmangel Tiere verschenken müssen. Eigentlich ist der Pinguin das einzige Wesen, mit dem er zu kommunizieren versucht.

Um ihn und sich zu ernähren, greift er bei einem Jobangebot zu. Für eine Zeitung soll er Nekrologe über bekannte Leute schreiben, so dass der Nachruf fertig ist, falls sie einmal ableben sollten. Er schreibt also wieder für die Schublade, aber außergewöhnlich gut bezahlt. Und plötzlich stirbt der Mann aus dem ersten Artikel. Jemand gibt ihm noch mehr Geld und lädt seine kleine Tochter bei ihm ab. Viktor ist überfordert, der Pinguin soll's richten. Ehe er sich versieht, ist er in einem undurchschaubaren, mafiösen Netz und einer Scheinfamilie gefangen. Nicht so einfach zu lösen, denn da sind Mafiosi mit Herz und Mafiosi ohne Herz und dann wird auch noch der Pinguin herzkrank. Viktor hat nichts besseres zu tun, als einen Weg zu finden, seinen Pinguin mit offensichtlich schmutzigem Geld operieren zu lassen und in die Antarktis zu fliegen. Vielleicht käme auch er so heraus aus dem Schlammassel?

Mehr wird nicht verraten, denn das Buch endet mit einem Knalleffekt, der so typisch für Kurkow ist. Was man anfangs als ruhige, alltägliche Geschichte gelesen hat, erhält plötzlich doppelte Böden und absurde Finten. Hinterher fühlt man sich selbst vergnüglich und hintergründig ertappt. Und das Kiew, in dem sie ständig alles beim Wodka erleben, planen, versäumen oder trotzdem tun, scheint gar nicht mehr so weit weg. Noch zwei Tage lang habe ich mich heimlich umgeschaut, ob mir ein Königspinguin folgt.

Noch mehr gesoffen wird in Kurkows Roman "Ein Freund des Verblichenen" und so eine Idee kommt einem nüchtern auch nicht so schnell: Tolja ist vom Leben enttäuscht, seine Frau betrügt ihn offen und will ihn verlassen, einen Job hat er nicht, die Flasche will er nicht mehr. In einem Anfall von Wodkadepression entschließt er sich zum Selbstmord, aber dazu braucht es Mut - und den hat er auch nicht. Tolja ist nämlich ein echter Versager. Zum Glück lebt er in einer Welt, in der Menschenleben nichts wert sind und Mörder gedungen werden können wie anderswo Gärtner. Tolja bezahlt anonym einen Berufskiller und setzt ihn auf sich selbst an. Wieder im Wodkadusel gabelt er kurz vor seinem geplanten Ableben eine Prostituierte auf, die ihm gefällt. Das Leben könnte vielleicht doch schön sein? Aber wie stoppt man einen Auftragskiller?

Am Tag, als Tolja sich selbst hinrichten lassen will, geht alles schief. Er wird selbst zum Mörder. Und auch hier wieder doppelbödige absurde Verwicklungen in einem System, in dem Suff, Kriminalität und Menschenverachtung an der Tagesordnung sind, in dem keiner mehr die eigenen Verstrickungen durchschaut, geschweige denn sauber zu halten weiß. Kurkows Lösung der problematischen Lebensbedingungen ist so einfach wie schön, weil sie zutiefst menschlich ist. Es gibt noch Hoffnung auch im tiefsten Unten.

Das andere Buch will ich nur nennen und später extra besprechen. Es passt in diese Reihe auch nur deshalb, weil gleich zu Beginn eine Wodkaleiche auftaucht, deren mythisch-tragische Existenz geschildert wird. Das Buch selbst ist der mit dem höchsten polnischen Kulturpreis ausgezeichnete Roman "Taghaus Nachthaus" der Polin Olga Tokarczuk, die für mich im vergangenen Jahr die große Neuentdeckung war und deren Bücher ich nicht aus der Hand legen kann. Hier will ich nur kurz das Geheimnis lüften, warum ich zunächst dachte, ihre Bücher seien auf Deutsch nicht zu haben. Aus unerfindlichen Gründen sind vier Bücher auf drei Verlage verstreut: DVA, Berlin Verlag und Schöffling. Leider geht der Dienst am Leser nicht so weit, dass jeder Werbung auch für die anderen macht. Zu diesem Buch also mehr, wenn ich es genüsslich gelesen habe.

Lesetipps:
Daniel Odija: Das Sägewerk, Zsolnay

Andrej Kurkow: Ein Freund des Verblichenen, Diogenes
Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis, Diogenes
Olga Tokarczuk: Taghaus Nachthaus, DVA
Olga Tokarczuk: Unrast, Schöffling
(Tokarczuks Erzählband "Der Schrank" erschien bei DVA, der Roman "Ur und andere Zeiten" im Berlin Verlag - zum Glück ist die Übersetzerin Esther Kinski immer die gleiche.)

26. März 2010

Frühlingsfreuden

Freiberufler haben nicht nur viel zu arbeiten, sie haben es auch wunderschön. Sie können nämlich an Regentagen wie heute, die den Garten so richtig zum Sprießen bringen, doppelt so viel arbeiten. Dafür gab es gestern Klönen im Straßencafé und Blumenwiesen zum Verlieben - nebst fast sommerlicher Sonne (das blaue sind wilde Hyazinthen, davor blühen die letzten lila Krokusblüten; die gelben wilden Narzissen hat die Fotografin abgeschnitten) .

Und einen Lustkauf gab es, den ich allen empfehlen möchte, die statt Blumenstrauß ein haltbareres Geschenk für Garten- und Rosenfreunde suchen:
"Oh, wer um alle Rosen wüßte" mit Fotografien von Martina Hochheimer, Insel-Bücherei Nr.1331
Ein wunderschönes Bändchen, in dem die zauberhaften, farbigen Rosenfotos nicht einfach nur nach Zufallsprinzip eingestellt sind, sondern eine Einheit mit dem Text bilden, mit diesem sprechen - und umgekehrt.

Wem das Nachwort darin gefällt, der ist der ideale Leser für
Petra van Cronenburg: Das Buch der Rose, Parthas Verlag.

PS: Ich werde bei hemmungsloser Eigenwerbung nicht einmal mehr rosenrot...

25. März 2010

Leben gegen den Crash

Das Projekt ist abgenommen. Heute morgen um 0:15 kam ich von der Konferenz heim. Gleichzeitig erschöpft vom zweisprachigen Simultandenken und aufgedreht von der Anspannung. Irgendwie muss man dann erst wieder "runterkommen" und merkt, wie anstrengend Bücher sein können, die man sonst zur Zerstreuung liest. Im Moment habe ich ein Gefühl, als hätte ich einen Marathon gewonnen - mit entsprechendem Muskelkater. Auf dem Schreibtisch häuft sich die Arbeit erschreckend. Jeder Tag zählt.

In ihren Beiträgen über "Burnout" schreibt Christa S. Lotz (im Kommentar), wenn Menschen unter ihren Arbeitsbedingungen auszubrennen drohen, sei es schwierig für den Psychologen, etwas zu raten, um aus dem Teufelskreis zu entkommen. Man müsse eigentlich seine Arbeitsbedingungen ändern - wie aber mache man das als Selbstständiger, wenn Geld hereinkommen muss? Das ist eine gute Frage, denn die geht ganz böse ans Gebein, weil man ja nicht an einem fremden Arbeitgeber herummäkeln, nicht kündigen kann. Man ist sich auf Gedeih und Verderb selbst ausgeliefert.

Mich treibt das Thema deshalb so sehr um, weil ich im vergangenen Jahr ziemlich gefährdet war, auszubrennen. Ausgerechnet mitten in der Krise war ich damit beschäftigt gewesen, meine berufliche Existenz umzustellen, nochmals neu eine Existenz zu gründen und "nebenbei" ein extrem aufwändiges und forderndes Buch zu schreiben. Ich habe mich in zwei fremde Berufsfelder einarbeiten müssen und war so verrückt, zur Überbrückung der Zeit ein freies Auftrittsprogramm für die Bühne zu schreiben, zu konzipieren und einzustudieren. Eigentlich krank gemacht haben mich aber eher die Behörden, die - statt bei der Existenzgründung zu helfen - allen möglichen Formularwahnsinn als Steine in den Weg legten. Kurz vor der Premiere musste ich wegen eines ruinösen Computerfehlers vor eine Schiedsstelle ziehen, in fremder Sprache. Ich gewann gegen die Behörde. Nach der Premiere verlor ich einen Weisheitszahn und wurde krank.

Zum Glück schrieb ich über Nijinsky. Der war mir eine Warnung. Ich glaube ja nicht die schnellen Diagnosen von damals mit der Schizophrenie. Der Mann war ein Perfektionist, hat sich bis zum Äußersten gefordert, hat sich nie Pause, nie Erholung gegönnt und brach dann plötzlich unter dem äußeren und inneren Druck zusammen. Nerven. Magen. Was er in dieser Anfangsphase hatte, bevor sich wohl eine bipolare Störung manifestierte, würde man heute als Burnout diagnostizieren. Er hat nicht auf die Alarmsignale reagiert, sondern sich noch mehr unter Druck gesetzt. Bis er kurz vor der Zwangseinweisung (damals war man nicht zimperlich) in sein Tagebuch schrieb: "Das Pferdchen ist müde..."
Burnout hatte ich bisher für eine typische Managerkrankheit gehalten. Bei der Recherche zu Nijinskys psychischen Problemen fand ich jedoch heraus, wie schlimm auch Künstler davon betroffen sind, von denen man landläufig glaubt, sie hätten ja ein ach so bequemes Leben.

Wie kann man die Arbeitsbedingungen ändern, fragt die Kollegin. Ich fürchte, im Bereich der Spitzenkünstler wird es immer Menschen geben, die wie eine Kerze an zwei Enden brennen und womöglich umkippen in andere "Zustände". Die aber auch gelernt haben, gerade diese eigentlich selbstzerstörerische Haltung kreativ zu nutzen. Nurejew war auch so einer. Aber solche Menschen kommen in einem Jahrhundert nicht allzu oft vor. Und man sollte sich selbst nichts vormachen, die gleichen Fehler nachahmen zu wollen. Als Selbstständiger wird man damit nicht perfekt. Man erntet nicht zwangsläufig den totalen Erfolg. Sich endlos zu verströmen macht einen nicht zum Genie.

Im letzten Jahr habe ich gelernt, dass man atmet, um zu leben. Und dass auch Arbeit ein Atmen sein muss. Man muss Luft holen, nicht nur ausatmen. Man kann nicht ewig hecheln, sondern braucht auch ruhigen Atemfluss. Nicht immer sind die Verhältnisse ideal. Manchmal häufen sich Aufträge und es gibt Leerzeiten. Warum aber sollte man letztere nicht radikal nutzen, anstatt angstvoll zu rödeln und doch nichts Rechtes zu schaffen? Dem Burnout als Freiberufler zu entgehen, ist deshalb so schwer, weil man zu sich selbst Nein sagen lernen muss.

In meinem Fall heißt das konkret, dass sich die Arbeit heute türmen darf, bis sie schwarz wird, ich schaue nicht einmal meinen Terminkalender an, sondern mache mir einen schönen Tag. Ein ach so eiliger Amtsbrief wartet schon zwei Wochen gut, das Amt wird nicht verröcheln, wenn ich ihn erst am Wochenende bearbeite. Überhaupt habe ich in Frankreich gelernt, dass es so oft viel besser ist, nicht auf Administration zu reagieren, denn jede Antwort produziert neue Fehlerquellen. Ich lasse meine Nachbarn wie die Wahnsinnigen Osterputz betreiben - die haben ständig Ferien, denen tut solche Zusatzarbeit gut. Dafür werde ich morgen völlig erholt sein und sehr viel mehr arbeiten können.

Ich muss mir nicht ständig etwas beweisen, sondern lieber einmal im Stolz aufs Geschaffte zurückschauen. Zwei neue Berufe in meinem Alter, in dem ich für jede Firma angeblich zu alt und darum nicht mehr flexibel genug bin - und das auch noch als Freiberuflerin, also in unternehmerischer Verantwortung - das ist doch gut? Aber unlängst kam ein völlig verrücktes Angebot herein. Vor wenigen Jahren hätte ich gejubelt über das "Traumprojekt" und mich hineingeworfen, mit aller Kraft. Jetzt muss ich nicht einmal mehr darüber schlafen, um es abzulehnen. Ich müsste mich schon wieder in einen völlig anderen Berufszweig des Schreibens einlernen, eine Phase, die locker ein Jahr dauern könnte. Einen höllischen Berufszeig mit Stress hoch drei. Nur um mir sagen zu können: das hast du auch geschafft? Wie viel Können braucht der Mensch, um etwas zu können?

Die Worte eines Managers sind mir fest im Kopf verankert: "Konzentriere dich auf das, was du am besten kannst und bilde dich darin aus."
Den "Traumjob" lasse ich anderen, die all ihre Energie darin investieren wollen und können. Und die es vor allem können, nämlich im Unterschied zu mir von Anfang an gelernt haben.
Ich lehne mich mitten in dieser heißen Phase, in der sich die Deadlines stapeln, ruhig atmend zurück und wäge ab, in welchen meiner Berufszweige ich welche Energien brauche und wie ich das so ordnen kann, dass ein natürlicher Atemrhythmus daraus entsteht. Deadlines werde ich nie vermeiden können, aber ich kann entscheiden, welchem Zweig ich mehr Platz im Leben gebe, oder welchen ich nur punktuell zulasse.

Ich darf nicht aus den Augen verlieren, was mein Ziel ist: Ich will weiter Bücher schreiben, eigenkreativ tätig sein. Alles andere soll sich im Idealfall damit ergänzen, soll sich gegenseitig stützen und tragen. Das scheint zu funktionieren, denn das Thema "Grenzgängerei" zieht sich ja nun durch alles, was ich mache - andere Themen, die mich umtreiben, ebenso. Und plötzlich wird klar: Der "Traumjob" im Angebot birgt nicht nur ein immenses Risiko, er könnte sich auch als riesige Seifenblase erweisen. Der in den Augen anderer viel "kleinere" "Europajob" dagegen scheint schon kleine Eier zu legen, heimlich still und leise wie der Osterhase.

Freiberufler können nicht aus dem Hamsterrad aussteigen, aber sich vielleicht besser konzentrieren. Das Rad dreht rund und leicht, wenn man es schafft, dass sich die verschiedenen Tätigkeiten gegenseitig befruchten und nicht verhindern. Wenn man das macht, was man am besten kann - und das richtig. Warum nach fremden Sternen greifen? Warum sich verzetteln? Warum sich ständig etwas beweisen wollen, was man sich nicht zu beweisen bräuchte? Das zumindest haben auch die Künstler wie Nijinsky oder Nurejew gemacht, bevor sie über die eigenen Grenzen gingen: Sie waren Balletttänzer. Punkt. Sie haben nicht versucht, der ersten Geige zu erklären, wie sie spielen soll. Sie konnten keine Theatertruppe managen. Sie haben keine Kostüme genäht. Sie haben einfach "nur" getanzt und das richtig.

-Feierabend für heute-

Update:
"Die Flamme neu entzünden" - Christa S. Lotz über Ausgänge aus dem Hamsterrad


24. März 2010

Deadline

Madame macht gerade ihren Geist schön für die abendliche Konferenz, bei der hoffentlich das gesamte Projekt abgenommen wird, wie es ist.
Sprich, ich ärgere mich mit den üblichen Späßen kurz vor der Deadline herum: einem Reifen, der gestern plötzlich halb platt war und laut Werkstatt heute über den Bergpass halten soll (die haben vielleicht ein Gottvertrauen!); hängenden Layouts, die zwischen einem PC und einem Mac streiten, schulfreien Nachbarskindern, die meine Konzentrationsfähigkeit auf die Probe stellen, Telefonaten, Telefonaten ... und natürlich rufen auch all die an, die sonst nie anrufen. Und alles am besten gleichzeitig.

Wer diesen Zustand nicht nur vor Deadlines hat, sondern chronisch, sollte unbedingt bei Christa S. Lotz ins Blog schauen und den Burnout-Test machen!

23. März 2010

Ras le bol

"Bol" ist in Frankreich diese schüsselförmige Frühstückstasse für den Café au lait, in die man das Croissant besser tunken kann. "Ras" ist ebenfalls ein Ausdruck, den man in der Küche kennt: gestrichen (voll). Wenn man heute bei jeder Gelegenheit in Frankreich "ras-le-bol" hört, ist das allerdings keine Einladung zum Kaffee, sondern heißt schlicht: "Ich habe die Nase gestrichen voll".

Zwei Tage nach den Regionalwahlen steht fest, dass die Bevölkerung, die einst Sarkozy gewählt hat, endlich aufgewacht ist. Zu bunt hat er es getrieben. Doch Freude will nicht aufkommen, bis zur nächsten Präsidentschaftswahl ist er ja noch auszuhalten. Laut Le Point wünschen sich allerdings 58% der Franzosen, dass er dann gar nicht mehr antritt. Wieder einmal hat das Land eine Regierung, die es gar nicht will, eine schöne alte Gewohnheit.

Und so war es auch ein etwas verwirrtes Erwachen, als jetzt plötzlich auch noch die Regierung umgebildet wurde. Die Neuen beäugt man mit dem gleichen Misstrauen, der Filz riecht an allen Ecken und Enden gegen den Wind. Was die neuen Minister in so sensiblen Bereichen wie Haushalt, Jugend oder Arbeit anrichten werden, fragt man sich - man kennt sie zu gut von alten Posten.

Ruhig ist es heute, auf den Straßen jubeln Schüler, die schon frühnachmittags heimfahren. Ruhig ist es, wenn in den Bahnhöfen kein Zug kommt. Nur in den Straßen der Städte ist es nicht ruhig, in Straßburg demonstrierten heute Tausende. Ras-le-bol, rufen die Leute. Die Gewerkschaften haben zum "interprofessionellen" Streik gegen die soziale Misere und den Sozialabbau im Land aufgerufen. Das bedeutet, es geht alle an - Berufe spielen keine Rolle mehr, jeder streikt für jeden. Heute waren es vor allem Lehrer und Verkehrsbetriebe.

Noch ruhiger ist es im Supermarkt. Schon wieder ist alles teurer geworden, allein der Kaffee für den Bol um 20 Cent. Im Elsass haben wir es gut - wir flüchten ins viel billigere Deutschland. Die armen Familien im Landesinneren haben Glück, wenn sie auf dem Land wohnen, Kaninchen halten können und Gemüse anbauen. Wieder spielt das soziale Netz eine Rolle, bei dem getauscht wird und schwarz beschafft. Die Stimmung im Land ist gruslig, eine Mischung zwischen Depression, unbändiger Wut, Aggression und Resignation. Viele können nicht mehr.

Die Webseite der CAF, des zentralen Sozialamts, verkündet, dass seit 20. Februar "provisorisch" alle lokalen Sozialämter im Elsass geschlossen worden seien. Man sei völlig überlastet und müsse alle Mitarbeiter in die Bearbeitung der Fomulare einspannen. Für persönliche Ansprache oder Service vor Ort, für Beratung oder Hilfe habe man keine Zeit mehr. Wer etwas will, muss maschinenlesbare Formulare an die Zentrale in Strasbourg schicken. Muss hoffen, dass ihn die Maschine nicht ausspuckt. Wann die Sozialämter wieder öffnen werden, weiß keiner.

Es ist ungemütlich geworden. Viele Politiker wirken kopflos. Schnell wurde die umstrittende CO2-Steuer gekippt, die am schlimmsten kleine Pendler und ärmere Hausbesitzer (in Frankreich gibt es nur wenig Mietflächen, vor allem auf dem Land) getroffen hätte. Aber beim Rest der eilig hingefetzten Sarkozy-Erlasse oder neuen Gesetze blickt ohnehin längst keiner mehr durch. Noch nie haben Bewohner eines Landes so wenig gewusst, was sie noch oder nicht mehr dürfen. Der Bauch ist leer, aber der Wasserkopf in Paris ist es offensichtlich auch. Bleibt zu hoffen, dass sich das Volk nicht allzu billig verdummen lässt, denn die extremen Rechten haben erschreckend aufgeholt.

Lesetipp: Die Leere der Macht (ZEIT) - Analyse einer Entfremdung der Bürger vom Staat

Kuschelfaktor Social Web

Alte elsässische Häuser haben eine Architektur der menschlichen Beziehungen. Am schmiedeeisern vergitterten Fensterchen der Haustür winkt man Zeugen Jehovas und fliegende Händler weg. Eine weitere Tür schützt den Wohnraum vor Fremden, falls man die Tür öffnet. Handwerker & Co. kommen in die Diele, in der man auch sitzen kann. Und alles, was ein Gespräch bringt, vom Handwerker mit Auftrag bis zur Kaffeefreundin, landet in der Küche. Und da ist noch die "Gut Stub". Wer sie an besonderen Tagen betreten darf, gehört zu den Auserwählten, zu den Freunden, die fast schon Familie sind. Solch eine Beziehung ist in der Regel lebenslänglich.

In modernen Familien und Häusern ist der Kanon zwar gelockert, aber keiner käme auf die Idee, unsichtbare Höflichkeitsschwellen zu verletzen. Das ist so üblich in Ländern, in denen Gastfreundschaft heilig ist. Gastfreundschaft bedeutet nicht nur großzügiges Verströmen eines Gastgebers, sondern auch Verpflichtungen für den Gast, diese niemals zu verletzen. Es ist ein System, das für Außenstehende starr erscheinen mag, aber es bietet Halt und Verlässlichkeit, weil daraus ein soziales Netz entstehen kann. Kulturell verankerte Gastfreundschaft zieht nicht selten Tauschwirtschaft nach sich - und je nach Sichtweise auch gegenseitige Hilfe oder Vetterleswirtschaft.

Letzteres nennt man neudeutsch Vernetzung und das Internet ist ein hervorragendes Instrument, die alten menschlichen Sehnsüchte nach Austausch virtuell zu potenzieren. Vor allem dann, wenn man mit dem Nachbarn schon lang nicht mehr redet, die Familie auseinandergefallen ist und der nächste Kollege 500 km weiter weg wohnt. Warum nicht das, was man im echten Leben tut, nun auch virtuell probieren? Die Spielwiese dazu heißt ja auch Social Web, soziales Netz.

Aber irgendwie scheint der Mensch in dem Moment, in dem er eine Maus in die Hand nimmt, seinen Kopf an der Garderobe abzugeben. Man stellt sich nicht mehr am Glasfensterchen vor, sondern glaubt, mit einem Alias und maskiert gleich ins Esszimmer gebeten zu werden. Kaum hat man drei Sätze miteinander gewechselt, schlurft man ins fremde Schlafzimmer, Tag und Nacht. Manche Leute erzählen sogar, wie sie sich duschen. Jeder normale Mensch bekommt irgenwann zu viel, wenn die tratschende Nachbarin stundenlang am Küchentisch hängt. Man expediert das Weib höflich bis bestimmt aus dem Haus. Im Internet aber scheint das eigene Rückgrat zu schmelzen, Dauertratsch schlägt im Mailfach auf, brummelt und surrt bei Twitter oder sammelt sich in den anderen Netzwerken wie Facebook, Xing, Myspace und wie sie alle heißen.

Und dann passiert es. Man verwechselt den Zeugen Jehovas mit einem Intimfreund. Man glaubt dem Hohlschwätzer aus dem globalen Dorf, er könne einem den brandheißen Job besorgen. Man hält, wenn man Dinge bei der Dorfbäckerin ausplaudert, nicht mehr anständig die Hand vor den Mund. Man trinkt Kaffee mit lächelnden Masken, die einen hintenherum vergiften könnten. Man bemüht sich täglich zu hippen Partys, obwohl die Augenringe immer dunkler werden. Und sammelt "Freunde" und "Gefolgsleute" wie früher Murmeln und Panini-Bilder. Irgendwann steht man plötzlich wieder vor einem Menschen im dreidimensionalen Leben. Weiß nicht mehr, ob man ihn duzen oder siezen soll, rennt aber gleich mal in dessen Schlafzimmer.

Natürlich benutzt nicht jeder Social Media auf diese Weise, aber es trifft doch genug Menschen, dass sie sich in dem Haus, das sie sich selbst einrichten, nicht mehr orientieren können oder wohlfühlen. Die einen kehren enttäuscht den Social Media den Rücken. Die anderen schaffen nicht einmal mehr das, denn sie sind süchtig geworden. Man spricht bereits von Facebook-Sucht, denn die Seite ist darauf angelegt, dass man möglichst oft möglichst viel Zeit darauf verbringt und für die Werbeflächen als Zuschauer, ergo potenzieller Kunde, gehalten wird. Was dann folgt, ist so ähnlich wie beim Alkoholiker.

Tough leert man die letzte Flasche in den Ausguss, meldet sich also aus dem Netzwerk ab. Das macht es einem nicht einfach, sondern schleudert einem entgegen, dass all die herrlichen Whiskys und Biere und Wodkas einen schmerzlich vermissen werden. Wer soll sie in Zukunft trinken? Und wenn man nur einen einzigen, kleinen, winzigen Schluck pro Tag ...? Es gibt deshalb auch welche, die die Sucht mit der Sucht bekämpfen: Statt Alkohol Rauchen, statt Facebook die Facebook-Ehemaligengruppe. Sogar Placebo-Therapien gegen Social-Media-Manie sind wohlfeil zu haben.

Menschen, die sich in der Therapie gegen Internetsucht engagieren (die weit älter ist als das Social Web), wissen, dass es nicht das Medium ist, das krank macht. Wir selbst sind es, mit unserem Umgang damit. Keiner befiehlt uns, eine Flasche auf Ex zu trinken oder Rotwein zu verteufeln, nur weil auch Alkoholiker ihn trinken. Es gibt daneben eine feine Trinkkultur, eine Genusskultur. Kein vernünftiger Architekt würde das Schlafzimmer direkt hinter die Eingangstür eines Hauses bauen. Eine schön eingerichtete Diele hat ebenso ihren Reiz wie eine alte geschnitzte Eichentür, deren Fensterchen mit schmiedeeisernen Gittern verziert sind.

Rob Bedi, Psychologe an der Universität von Victoria, ist der Meinung, es habe keinen Sinn mit dem Ausschaltknopf gegen Internetsüchte agieren zu wollen. Anders als der Alkoholiker könne man heutzutage nicht mehr auf das Internet als Teil der Weltwahrnehmung verzichten, müsse also Selbstkontrolle lernen. Er gibt bei Addictioninfo als Hilfestellung:
"Find out what’s missing from your life, whether it’s having too much free time, not knowing anyone or just escaping, think about what made you resort to [Facebook], and what you could be doing instead."
(Was fehlt mir in meinem Leben? Habe ich zu viel Zeit? Bin ich einsam? Fliehe ich vor etwas? Was suche ich im Social Web? Was könnte ich stattdessen unternehmen?)
Aber was ist, wenn man noch nicht wirklich süchtig ist, dafür aber menschliche Beziehungsarten verwechselt, Grenzen überschreitet, "friends" von "wahren Freunden" nicht mehr unterscheiden kann? Dann mag es vielleicht helfen, sich das eigene Umfeld im Internet wie ein Haus vorzustellen. Früher hat man als Kind mit Legosteinen die Wunschvilla gebaut. Warum aber rast man planlos und ziellos im Web herum, wenn man erwachsen ist? Wie hätte man sein Haus denn gern? Liebt man offene Lofts mit Glasflächen von der Decke bis zum Boden? Sucht man nach dem Kuschelfaktor eines verwinkelten Fachwerkhäuschens mit verzerrenden Butzenscheiben? Oder rast man mit einem Aufzug im Partyhochhaus hoch und runter?

Der freie Architekt kann sich im Social Web alles bauen, nur technische Grenzen sind ihm gesetzt. Aber wenn der Typ aus dem Loft auf die kuschelige Kachelofendame trifft oder die rasende Aufzugfahrerin lieber im Museum aussteigen möchte, dann greifen plötzlich wieder ganz altmodische Dinge: Häuser haben eine Klingel. Früher hat man angeklopft, bevor man mit der Tür ins Haus fiel.

Häuser haben weder eine Seele noch Gefühle. Sie erfüllen primär einen Zweck. Sie entwickelten sich aus Steinzeithöhlen, Stroh- und Lehmhütten. Sie sind nicht mystisch. Keiner würde auf die Idee kommen, Häuser anzubeten oder fürs Seelenheil anzupreisen. Häuser sind das, was sie sind nur durch die Menschen, die sie erbaut haben, die in ihnen wohnen, die sie verkommen lassen oder pflegen, geschmacklos oder geschmackvoll einrichten...

22. März 2010

DANKE!!!

Im Märzen der Bauer ... und der Schriftsteller fährt seine Ernte ein.

Die meisten Menschen wissen das gar nicht: Autoren bekommen kein Monatsgehalt, sondern werden in der Regel einmal oder zweimal pro Jahr bezahlt. Der März ist der magische Moment der Abrechnungen, bei denen man dann auch erfährt, wie viele Exemplare eines Buches über den Ladentisch gingen und wie viele Exemplare von den Buchhändlern remittiert wurden, weil sie zu lange im Laden klebten. Nimmt letzteres überhand, kommt irgendwann der berühmte Formbrief, dass dem Verlag die Lagerkosten jetzt doch zu hoch würden und man den Restbestand zum Sonderpreis einkaufen könne, bevor er an Antiquare verhökert wird. Das nennt man dann wiederum Verramschung, die gleichbedeutend mit dem Tod eines Buchs ist. Und verramscht wird immer früher, vor allem in großen Verlagen.

Was sich länger als zwei Jahre hält, ist ein außergewöhnlicher Glücksfall für Autoren wie Verlage. Und das sichere Zeichen dafür, dass beide Hand in Hand etwas geschaffen haben, das zeitlos ist - und immer wieder neue Liebhaber findet.

Nach nunmehr sechs Jahren Laufzeit habe ich eigentlich kaum noch damit gerechnet. Sitze aber mit einem dicken Grinsekuchengesicht vor der Nachricht über mein Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt". 2004 erschienen, in der zweiten Auflage, mit Hörbuchausgabe und zahlreichen Lesungen - und es läuft und läuft und läuft.

Das habe ich nicht nur dem Hanser-Verlag zu verdanken, der sich löblich um seine Autoren und Bücher kümmert, sondern vor allem meinen wunderbaren Leserinnen und Lesern! Dafür heute ein einfaches, von Herzen kommendes DANKE. Danke fürs Lesen, Verschenken, Empfehlen!

So ein Tag ist für uns Autoren in schöner Tag - wenn man Schwarz auf Weiß sieht, dass tatsächlich jemand ein Buch liest. Noch schöner sind für mich natürlich öffentliche Lesungen und die Gespräche, die sich dabei entwickeln. Da ist es nicht selten vorgekommen, dass Leserinnen und Leser mir Lust auf bestimmte Ecken und Ideen machten!

Leider muss ich dieses Jahr mit Auftritten etwas kürzer treten, aber einmal "Elsass" bei meinen Lieblingsveranstaltern muss natürlich sein: Am 16. Mai als Sonntagsmatinée mit feinem Menu und Wein im Galand in Kehl-Odelshofen.

Bei so viel ungebrochenem Interesse für das Elsass und seine sinnlichen und kulturellen Genüsse kommt die Autorin natürlich auf verwegene Ideen. Sie könnte ja noch mehr noch ganz andere Dinge übers Elsass schreiben? Das wiederum überschneidet sich mit meiner Europa-Arbeit. Wenn wir unsere Deadlines hinter uns haben, wollen wir überprüfen, ob sich da nicht zweisprachig etwas machen lässt. Auch mit der Option Ebook will ich mich näher beschäftigen, weil gerade im Bereich Tourismus Updates keine schlechte Sache wären. Ich kann mir also vorstellen, dass es einmal mehr von mir zum Thema geben wird - nur brauche ich zur Entwicklung einen absolut freien Kopf, also Freizeit.

Wer so lange nicht warten mag, wird im Frühjahr einen neuen Rundwanderweg zwischen dem pfälzischen Nothweiler und dem elsässischen Wingen genießen können, der "Grenzgängerweg / Sentier à saute frontière" heißen wird. Zusätzlich zu den künstlerisch gestalteten Schildern wird es eine farbige Broschüre mit wunderschönen Fotos geben. Wenn es soweit ist, werde ich das Projekt hier vorstellen, an dem wir derzeit mit Hochdruck arbeiten.

Nachtrag: Journalisten-Bohème

Einige wundern sich manchmal über mich: Ich bin mit Leib und Seele Journalistin, arbeite journalistisch aber nur in Ausnahmefällen - und verschenke hier meine Texte.

Meine Umorientierung begann vor Jahren, als wir schon einmal eine sehr viel heftigere Medienkrise hatten und plötzlich Buy-out-Verträge unterschreiben sollten (die langsam vor Gerichten für unlauter erklärt werden). Kurz und gut: Wer auch nur halbwegs unternehmerisch denken kann, kommt beim Zusammenrechnen solcher blockierten Honorare ganz schnell zur Erkenntnis, dass er eine unwirtschaftliche Firma betreibt und schleunigst das Metier wechseln sollte.

Nach dem Beitrag von gestern habe ich spaßhalber mal in die Honorare von Tageszeitungen geschaut. Da gibt es bei Mediafon eine feine Auflistung (unter Verträge und Honorare). Nun bin ich ja einiges gewohnt, aber hier musste ich mir in der Tat heftig die Augen reiben. Aber da steht klar und deutlich: Stand 14.3.2010 und nicht 1910.

Man muss sich diese Honorare für Freie einmal auf der Zunge zergehen lassen, wohl wissend, dass es sich um Brutto-Beträge handelt und der Freie davon auch noch Urlaubs- und Krankenzeiten und die Rente bezahlen muss. Wohl wissend, dass so ein Artikel im Schnitt vielleicht 80-90 Zeilen hat und man nicht täglich einen loswird. Wohl wissend, dass ein Artikel mehr als Schreibzeit braucht, denn man muss sich gerade für Lokalredaktionen stundenlange Sitzungen und Events um die Ohren schlagen.

Nur eine kleine Auswahl an Zeilenhonoraren, Quelle: Mediafon-Honorardatenbank:

AZ Lüneburger Heide 10 Cent
Badische Zeitung 25 C, bei längerer Mitarbeit 36 C
Berlinwide 20 C bei maximal 20 Zeilen
Blick Aktuell 16-18 C
Darmstädter Echo 25 C
Der neue Tag Weiden 6 C, Mantel 16 C

Man kann da weiter stöbern, Honorare unter 20 C sind keine Seltenheit.

Zum Vergleich: Mitte der Achtziger bekam ich bei meiner Zeitung 1-1,20 DM.
Das müsste ohne Lohnsteigerung also 50-60 Cent ergeben, rechnet man jedoch genauso wie alle Geschäfts- und Firmeninhaber in Euro um, wie das 1:1 gehandhabt wurde, sollte ein Freier demnach 1-1,20 E pro Zeile verdienen. Und dann wäre er immer noch auf einem Niveau der 1980er eingefroren.

Ein freier Journalist im Jahr 2010 verdient also gerade mal die Hälfte seines Kollegen von 1985, wenn es dumm läuft. Mit dem Unterschied, dass der von 1985 seine Artikel mehrfach verwerten durfte, um zu überleben. Das machen heute die Zeitungen selbst und streichen den Reibach ein.

Heftig.

Mein Fazit als Journalistin, die solcher Arbeit dann doch das Spargelstechen vorzieht:
Printjournalismus ist tatsächlich von gestern. Von vorvorgestern.

Tipp:
Betroffene Freie engagieren sich bei den Freischreibern.

21. März 2010

Bohème für Jammerlappen?

In der taz gibt es einen guten Artikel über die wahren Arbeitsbedingungen für Künstler und Kreative: "Digitale Bohème, ein Abgesang: Wir nennen es Blase".

So sehr ich bei dem Artikel immer wieder nur nicken kann, macht er mich auch wütend. Und zwar aus zweierlei Gründen:

Ich kann dieses idealisierte Bohème-Image des armen Poeten nicht mehr hören.

Zufällig lese ich gerade in einem Buch über die echte Bohème, die zwischen 1900 und 1930 in Paris dahinvegetierte und Kunst aller Art schuf. Diese Künstler waren bitter arm. Sie froren sich im Winter den Hintern ab in ungeheizten, baufälligen Zimmern, die wir heute Slums nennen würden. Sie hatten nichts zu beißen. Und schufen die aufsehenerregendste Kunst des ganzen Jahrhunderts.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Zu der Zeit waren in Paris nämlich alle Unterschichten bitter arm, Krankenkassen und Sozialsysteme gab es nicht. Zu dieser Zeit lebten alle Menschen am Montmartre in einer Art Slum und organisierten sich im Winter von irgendwoher das letzte Brennmaterial, weil die Kohlepreise zu hoch waren. Die meisten Künstler waren außerdem Emigranten ohne französischen Pass und ohne viel Hab und Gut gestrandet.

Trotzdem hat die Bohème damals sehr viel leichter und vor allem steuerfrei die verrücktesten Gelegenheitsjobs ergreifen können. Fehlte das Geld, hat man mal wieder ein wenig gearbeitet, dann konnte man wieder Kunst machen. Arbeiter hatten diese Freiheit selten. Oder man suchte Mäzene - damals war Kunstförderung Prestige und Selbstverständlichkeit bei denen, die Geld hatten.

Maler wie Modigliani hielten es schon damals anders als jobbende Kollegen - nie wollte er Geld mit etwas anderem machen als mit Malerei. Also erzeichnete er sich sein Essen mit Portraits in den Kneipen. Utrillo malte reihenweise Postkarten ab und verkaufte die Ansichten an Touristen. Andere feilschten mit Händlern, tauschten auch mal Werke gegen Produktionsmittel. Und viele versenkten ihr letztes Geld in Alkohol und Drogen.

Die meisten von dieser Bohème haben nicht reich geerbt oder reich und bequem geheiratet, wie man das heute in der Literaturszene ab und an beobachten kann, sondern trotz alledem wie die Besessenen an der Kunst gearbeitet. Diejenigen, die nicht im Ersten Weltkrieg umkamen oder an einer der üblen damaligen Krankheiten, erhielten dafür spät, aber doch bei Lebzeiten eine Belohnung. Irgendwann zogen sie um ins feinere Montparnasse und irgendwann fuhren sie im Bugatti vor.

Wer heute von digitaler Bohème redet, tut der echten bitter Unrecht. Die Bohème in Paris - das war kein Sascha Lobo, der sein Konterfei und seine Worte allüberall bestens verkauft, das waren echte Künstler, die zudem eines gelernt hatten: alles mögliche geschickt zu Geld zu machen und trotzdem sich selbst nicht zu verkaufen.

Ich kann diese Jammerei von den hungernden Selbstständigen und Freiberuflern nicht mehr hören.

Wer diese Berufsart ausübt, nur weil ihm nichts besseres einfällt oder weil er nichts gelernt hat, wird stranden. Wer mit sinkenden Honoraren zu kämpfen hat (was außer Frage steht), sollte sich endlich klar darüber werden, dass dies ein gesamtgesellschaftliches Problem ist: Immer mehr Menschen brauchen zwei oder drei Jobs, um eine Familie ernähren zu können. Da läuft mehr schief als eine Verachtung der armen Künstler.

Angestellte können sich so leicht nicht wehren, wenn sie der Chef erpresst - ein Freiberufler kann durchaus Nein sagen, den Vormittag über im Bett bleiben oder den Auftraggeber wechseln. Seien wir uns dieser Freiheit auch mal wieder bewusst! Und machen wir uns die Folgen unserer Freiheit bewusst, deren Ursache nicht so fein schmeckt. Freiberufler haben sich in weiten Teilen schlechtere Arbeitsbedingungen und Honorare selbst zuzuschreiben, weil allzu viele sich verschenkt, ja geradezu prostituiert haben. Wie viele gut Verheiratete kann ich aufzählen, die eine Arbeit für einen Appel und ein Ei machen, weil sie es nicht nötig haben - und es macht ja ach so Spaß. Wie viele Möchtergerns werden vorgezogen, weil sie Arbeiten sogar umsonst erledigen! Keiner von ihnen merkt, dass er den Ast absägt, auf dem er selbst sitzt.

Natürlich muss man als Künstler anders und mit anderen Körperteilen malochen als ein Bandarbeiter. Und meist verdient man sehr viel weniger, erschreckend viel weniger. Aber will man tauschen?

Natürlich ist es eine Illusion, mit Büchern oder gar Internettexten gemütlich und dick Geld verdienen zu wollen. Wie bekloppt muss man eigentlich sein, um zu glauben, Texte in den Social Media brächten ein tolles Einkommen, wenn schon die Social Media selbst nicht viel bringen?

Ich fürchte, da ist einigen Leuten die Realität ein wenig verrutscht.
Man kann mit schreibenden Berufen immer noch Geld verdienen, so ist das nicht. Die Konkurrenz ist größer, das Gehype lauter. Aber es gilt immer noch und immer wieder:

Qualität und Professionalität haben ihren Preis.

Und zur Professionalität gehört auch, die richtigen Preise auszuhandeln. Eben nicht ein Buch für 13 Euro die Seite zu übersetzen, für zwei Euro die Seite zu lektorieren, einen Hardcoververtrag mit 6% Tantiemen zu unterschreiben - nur weil das manche Dummchen machen, die lieber ihre Haut zu Markte tragen, als auf den schlimmsten Auftraggeber zu verzichten. Das ist der sichere Weg ins Prekariat und in die Selbstausbeutung!

Der Weg aus der Armut unterscheidet sich kaum von dem der Angestellten: Bildung, Weiterbildung, ständige Übung, Vervollkommung anderer Fertigkeiten, Professionalität.

Texten allein ist kein Beruf, aber man kann einen daraus machen. Texte schreiben kann jeder Nicht-Analphabet, gute Texte für gutes Geld schreiben - das will gelernt sein.
Nur liegen diese guten Jobs nicht im Internet herum, werden so häufig wie behauptet nicht via Social Media vergeben. Da muss man manchmal ganz altmodisch per Telefon und Papier oder persönlich aktiv Aquise betreiben.

Mehr zum Thema "gute Arbeit für gutes Geld": Protextbewegung

Die Autorin dieses Artikels arbeitet als Literaturübersetzerin und als Übersetzerin und Texterin in der PR.
Das ermöglicht es mir, nur noch Bücher zu schreiben, von denen ich selbst rundum überzeugt bin, - und flexibel zu bleiben. In allen Berufen nutze ich das Internet als Werkzeug, aber die eigentliche Arbeit landet im Endergebnis weiter auf Papier!
Kein einziger meiner Geschäftskontakte kam je über Social Media zustande, aber 80% durch persönliche Empfehlung. Angebote über Social Media boten dafür aber zu etwa 95% Bezahlungen im Spektrum zwischen Dumping und Unverschämtheit an ...

Autoren und ihre Tagebücher

Eine gewisse journalistische Spezies macht immer mal wieder Blogger als überflüssige "Tagebuchschreiber" verächtlich. Sie übersieht, dass die deutsche Bloggerszene ursprünglich aus dem Journalismus entstand, vor allem aber, dass auch Tagebücher einst auf Papier geschrieben wurden. In Schulhefte, in liebevoll gestaltete Kladden mit Vorhängeschloss, in bibliophile Kostbarkeiten. Tagebuchschreiben - das ist in den Augen solcher Leute etwas für Tante Erna und klein Peterchen und vor allem für Pubertätsgeplagte. Wer nach dem achtzehnten Lebensjahr - womöglich öffentlich - davon berichtet, was er am 21.3.2010 gegessen und erlebt hat, ist entweder meschugge oder trägt zum Untergang des Abendlandes bei.

Nur ein einziger Berufsstand darf auch öffentlich meschugge sein und wird dann dafür von Journalisten interviewt. Herausgekommen ist dabei eine Reihe über Schriftsteller und ihre Tagebücher in der ZEIT; gestandene, erwachsene Menschen wie Karen Duve, Peter Kurzeck, Andreas Maier, Brigitte Kronauer, Martin Mosebach, Hanns-Josef Ortheil und Peter Stamm gestehen ihren Umgang mit dem Intimsten. Das - ähnlich wie beim Blogger - so intim nicht ist, schließlich sind sie Schriftsteller. Lesenswert!

Und immer wieder habe ich schmunzeln müssen, weil ich mich öfter selbst wiederfand. Mein Tagebuch aus Schulzeiten las sich ähnlich dämlich wie das von Peter Stamm, was ich nie als Hinweis auf ein mögliches Talent gedeutet hätte. Auch ich habe alte Tagebücher verbrannt wie Karen Duve, um mit Jugendphasen abzuschließen und wirklich effektiv jede Überlieferung für die Nachwelt unmöglich zu machen. Nie würde ich ein Buch verbrennen können, aber ein Tagebuch - das hat etwas vom Phoenix aus der Asche.

Irgendwann konnte ich keine Tagebücher mehr schreiben. Da war ich Autorin. Ich sammle zwar meine Terminkalender, um nachträglich wichtige Ereignisse rekonstruieren zu können. Sie dienen mir auch als Rechercheunterlage, weil ich, völlig absurd, täglich die Wetterlage notiere und das Aufblühen besonderer Pflanzen. So eine Art Gartenkalender, in dem ich nachschlagen kann, bei welchem Sturm eine Romanszene 2002 spielen könnte; in dem ich mich winters versichern kann, dass ein neuer Frühling kommen wird; in dem ich die Hysterie der Menschen und Medien ad absudum führe, die trotz besseren Wissens behaupten, ein Sommer sei extrem heiß und ein Winter eine Eiszeit gewesen. Ausrede für diese Zeitverschwendung: Ich könnte einmal über eine Wiese im Juni schreiben müssen und dann nicht wissen, was da blüht.

Wollte ich mehr über mich selbst festhalten, geriete es zur Inszenierung, zumindest einer formalen. Ich kann nicht mehr nicht-ausformuliert schreiben. Solche Spontantexte müsste ich sprechen, denn sobald Worte sichtbar werden, spiele ich damit, setze sie um, streiche, schreibe um. Mein Blog ist insofern Tagebuch, als es wiederspiegelt, was mich an einzelnen Tagen für mindestens eine Stunde beschäftigte. Aber das stimmt so auch nicht. Manchmal frage ich mich nur: Was könnte meine Leser heute beschäftigen? Unlängst fragte mich ein Leser, wie viel davon eigentlich geflunkert sei, die Geschichte mit dem dauerbetrunkenen Dorfgehilfen sei schon fast zu romanesk gewesen. Die Geschichte ist echt, erlebt. Aber schreibe ich sie vielleicht anders auf? Erlebe ich womöglich anders? Kann man Wahrheit und Wirklichkeit inszenieren?

Wie Ortheil habe ich ebenfalls eine Art Kladdenlaster. Ich kaufe oder bastle prunkvolle, sehr dicke Notizbücher, die ich in unregelmäßigen Abständen befülle. Da ist ein ganz großes Heft mit dem Titel "Das pralle Leben". Darin finden sich Skizzen zu irgendwelchen Gartenpflanzungen, Schilderungen von äsenden Rehen im Morgennebel, Kochrezepte, alles mögliche an "Sinnenzeug". Als Schlechtwetter-Lektüre nicht übel. Dann ist da die "Wort-Schatzkiste", die in Schulzeiten noch wirklich eine Schachtel voller Zettel war. Ich sammle darin besondere Wörter. Seltene Wörter, wohlklingende Wörter, kuriose Wörter, Wörter, die ich schon immer mal benutzen wollte. Eine Schublade ist schlechten Zeiten vorbehalten, falls ich mal wieder an mir und meiner Arbeit zweifeln sollte: Darin liegen die positiven Rezensionen und nette Leserbriefe, nennen wir sie mal "Aufmöbelkiste".

Dann ist da ein kleinformatiges Notizbuch, das ich überall mit mir herumschleppe. Ich nenne es "Schwammbuch" und es birgt das Geheimnis, dass Autoren wahrscheinlich tatsächlich anders wahrnehmen. Diese Wahrnehmung lässt sich leider auch mit Feierabend nicht ausschalten, man ist damit geschlagen und gleitet mit den Jahren immer tiefer hinein. "Schwamm", weil ich wie ein solcher durchs Leben gehe. Ich kann nicht unbeteiligt durch eine Fußgängerzone laufen. Ich bin danach prallvoll mit Menschen, Gesten, kleinen Szenen. Das ist nicht immer gemütlich, denn es sind immer die Extreme, die ich wahrnehme - das Normale scheint mein Hirn irgendwie auszublenden - oder dafür Geschichten zu erfinden, die schon wieder nicht normal sind. So war das mit dem betrunkenen Gemeindearbeiter - hätte er nüchtern seine Arbeit gemacht, hätte ich ihn nicht gesehen. Mich reizt das Absurde.

An freien Tagen gehe ich manchmal vorsätzlich als Schwamm irgendwohin und notiere dann in einem Park oder Café, was mir auffällt. Und dieses Skizzieren ist immer ein schriftstellerisches, immer mit dem Hintergedanken notiert: Das könntest du eines Tages in einem Buch brauchen können. Da stehen dann Sachen drin wie:

"Inhaberin eines Stoffladens. Ein kleiner knubbeliger Stoffballen von Mensch, fleischige Nase, schwarz, intensive Augen, ausladend in Körper und Gestik."

"Baden-Baden. Regenschirme im Sonderangebot, ältliche Damen scharen sich darum. Die Regenschirme und die Damen tragen Pelzbesatz!"

"Roccos Welt hat eine Tiefe mehr als die meine. Mit seiner Spürnase kartgrafiert er unterirdische Welten, mit seinen Ohren erlebt er Mausfluchten und Maulwurfmühen."

"Mann mit basedow'schen Augen, das eine leicht schielend, Hamsterbäckchen, kurzärmeliges, gestärktes (!) weißes Hemd, trägt Miniköter auf dem Arm, der das gleiche nasenzugespitzte Frätzchen hat - und vor allem die gleichen hervortretenden Glubschaugen."

Es gibt darin eine Frau, deren Mann als Notfall ins Krankenhaus kommt, und die überall herumfragt, wie sie sich die Haare machen lassen sollte für einen Besuch dort, eine Frau, die wegen ihrer immensen Busenvergrößerung und diverser Liftings eine stützende Begleiterin braucht, eine sprühende, lebenslustige Töpferin, verzweifelte Entliebte auf einem Bahnhof, zwei ältere Frauen, die sich gestehen, dass sie keine Körper anfassen können, einen betrügerischen Metzger, einen Eigenbrötler, der sich zuerst die Füße verbrannt hat und dann erfroren ist, einen Alzheimerkranken, der pünktlich zur Arbeit erscheinen will, eine geglimmerte Frau um die Fünfzig im Polyesterabendkleid, die erotische Gedichte für junge Männer schreibt...

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen und würde nur eines beweisen: Schriftsteller führen ein viel zu langweiliges, eintöniges Leben, um Tagebücher zu schreiben. Aber das, was sie sehen, wie sie es herauspicken und später dramaturgisch verändern, ist eigentlich viel zu spannend, um es in Privatbüchern vermodern zu lassen.
Brigitte Kronauer hat es so schön ehrlich auf den Punkt gebracht:
"Man mache sich nichts vor: Schriftsteller hoffen, wenn sie »ganz für sich« über ihre Tagesverläufe berichten, nicht nur auf Selbsterforschung, sondern auf das Literaturarchiv Marbach und ein lüsternes Publikum."

19. März 2010

Durchbruch, Durchfall, Zufall?

Die Kollegin Christa S. Lotz hat gerade eine schöne Reihe mit dem Titel "Durchbruch" in ihrem Blog gestartet, bei der sie durchspielt, wie ein Autor zur Veröffentlichung kommt - oder auch nicht. Den Autor, dem man sagt: "Sie haben Talent und können es zu was bringen" habe ich selbstverständlich sofort beneidet, zu mir hat noch kein Lektor der Welt so etwas Vollmundiges gesagt.

Natürlich habe ich überlegt, wie das bei mir war. Ich bin ein magisches Glückskind gewesen. In meinem Leben habe ich mich grundsätzlich immer dreimal bewerben müssen - und damit meine ich dreimal beim Gleichen. Meine Bewerbung für ein Zeitungsvolontariat verschwand der Reihe nach in verschlossenen Laden eines Alkoholikers und eines fristlos Gekündigten. Um aufzufallen, schickte ich sie dann im Riesenzeitungsformat per Rolle aus, immer bei der gleichen Wunschzeitung, und bekam die Stelle.

Mein erstes Manuskript verschwand der Reihe nach in verschlossenen Laden eines Alkoholikers und eines durchgeknallten Jungautorenhassers, dem fristlos gekündigt wurde. Ich bewarb mich wieder, immer beim gleichen Wunschverlag, und wurde dort veröffentlicht. Ziemlich gestotterte Durchbrüche also und eine Autorin mit Vorschlaghammermanieren. Das Imperium schlug jedoch zurück und verkaufte mich innerhalb des Verlags. Man drohte mir einen Karrieresprung an.

Und dann ging alles ganz schnell. Ich kann heute kaum noch rekonstruieren, wie oft diese beiden Verlage sich gegenseitig kauften und verkauften, fusionierten, auseinanderbrachen, wieder verkauft wurden, ach, was weiß ich. Ich erinnere mich nur noch, dass ganz zu Anfang plötzlich fast alle Verlagsmitarbeiter kündigten und die neuen Besitzer Bücher aus dem Programm nahmen, welche die Vorbesitzer besonders liebten. Meine natürlich auch. Das Trauma vom Durchbrechen statt Durchbruch habe ich Jahre verdrängt, so lange dauerte nämlich das Hickhack, meine Rechte zurück zu bekommen. Erst im vergangenen Jahr hat das geklappt, weil nun alles wiederum von Random House gekauft wurde - und die haben eine bestens organisierte Rechteabteilung. Ich kann mit meinen Büchern aus den 1990er Jahren wieder machen, was ich will, seit 2009.

Was ein Durchbruch sein soll, weiß ich so recht immer noch nicht. Irgendwie arbeite ich eher am Durchfall. Ich darf gar nicht rekonstruieren, wie viele Verlagsverkäufe und Umstrukturierungen ich schon hinter mir habe. In einem Fall von Verlagsverkauf, bei Parthas, hat es dem Buch nicht geschadet, eher im Gegenteil. Und die neueste Umstrukturierung ist so etwas wie Montezumas Rache an frechen, vorlauten Autoren: Die Autorin, die einst freudig bei BLT unterschrieb, Originalton "fein, dann veröffentliche ich wenigstens nicht bei Bastei", bekommt heuer die Honorarabrechnungen von - Bastei.

Wann hat man eigentlich einen Durchbruch? Als Schulkind stellte ich mir die Welt noch einfach vor: Man scheibt, man wird gedruckt und alle schreien "spitze!" (damaliger Jargon für "vollfettkrass"). Und schon ist man berühmt und hat einen Durchbruch. Aber spätestens seit dem Biologieunterricht hätte ich gewarnt sein sollen: Einen Durchbruch hat man höchstens am Blinddarm und der ist tödlich.

Stattdessen kämpfe ich seit zwölf Jahren (in Buchstaben: ZWÖLF) gegen den Durchfall durch Zufall. Ich habe so manchen Kniefall vor dem Schicksall hinter mir, ringe mit Ausfall und Wegfall, bekomme im Moment fast wieder einen Knall, züchte Ideen im Stall und schrie auch schon ab und zu auf einem einsamen Berg Krawall ins All.

Danach stelle ich immer wieder fest, dass ich noch aufrecht gehen kann und das Schreiben immer noch nicht lassen. Obwohl ich dreimal blöder bin als Dostojewskij - der hat wenigstens gewusst, dass man beim Roulette eindeutig die größeren Chancen hat (ZERO! Ja, grün, ZERO!). Zwölf Jahre gequirlter Wahnsinn in einem Beruf, der manchmal effektiver ist als das permanente Schlagen mit dem Kopf gegen eine Betonwand. Wenn ich nur wüsste, warum ich mir das ständig antue! Bin ich vielleicht auch nur eine von denen, die auf den Durchbruch warten?

PS: Autorin nach Diktat mit Monsieur Godot verreist.

Ballets Russes: Prachtbücher

Ja, schon wieder. So ist das halt, wenn man von einer Sache gebissen ist. Ich jedenfalls bekomme dieses Thema nicht aus dem Fleisch und kaufe immer noch Bücher, Bücher, Bücher... Gestern waren sie da und zu empfehlen sind sie alle - für Menschen, die sich für Ballett interessieren, für die Avantgarde von ca. 1900-1930, für Kunst und Kultur zwischen Frankreich und Russland.

John E. Bowlt: Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben & Kultur in Russland 1900-1920, dtv

Über den bildreichen Prachtband habe ich bereits gejubelt, froh bin ich, ihn jetzt mein eigen zu nennen - solche Bücher holt man sich nicht nur zeitweise aus der Bibliothek, die liest man über Jahre hinweg immer wieder oder schaut einfach nur die Bilder an. Überraschung war der Preis, der seltsam stark gesunken war. Erst auf den zweiten Blick merkte ich, warum: Das Buch, das eigentlich bei Christian Brandstätter erschienen war, kam nun von dtv. Und der einzige feststellbare Unterschied ist das Softcover, selbst das Format ist nahezu das Gleiche. Leider habe ich das Hardcover schon abgegeben, ich muss es noch mal vergleichen. Aber so radiert man sich eigentlich das Hardcover aus, wenn nur der Pappdeckel derart viel mehr Geld kostet. Oder mir ist einfach nur etwas entgangen.

Sjeng Scheijen: Diaghilev. A Life. Profile Books, London

Typisch für Bücher über die Ballets Russes ist, dass sie bisher immer in anderen Sprachen erscheinen. Scheijens Großbiografie mit bisher unveröffentlichtem Material aus russischen Archiven ist nun endlich aus dem Holländischen übersetzt. Das Buch ist ein riesiger, fetter Brummer, der sich allerdings leichter und flüssiger liest, als das extradicke Papier wiegt. In Sachen Nijinsky wenigstens nichts Neues, was ich nicht auch schon wusste - so dass ich ruhig schlafen kann. Überfällig ist diese Biografie, weil das Bild Diaghilevs bisher von der Biografie Nijinskys verzerrt wurde, die dessen Frau Romola schrieb. Und die Dame hasste bekanntlich den ehemaligen Lebenpartner ihres Mannes inständig.

Absolut neu ins Licht gerückt wird deshalb die Bedeutung Diaghilevs nicht nur fürs Ballett, sondern auch für die Kunst überhaupt. Kaum ein Mensch hat je so viele Genies und Berühmtheiten (und Mäzene) um sich versammelt, sie angestachelt, Gewagtes und Neues zu schaffen und so Theater, Tanz, Mode, Design, Bildende Kunst etc. prägend beeinflusst. Auf Schritt und Tritt begegnet man in seinem Umfeld der Avantgarde von Paris. Hilfreich: Der Autor arbeitet viele Originalschriften und Augenzeugenberichte der Zeit ein, so dass ein abgerundetes Bild entsteht.

Purvis, Rand, Winestine (ed.): The Ballets Russes and the Art of Design, The Monacelli Press, New York

Mit Beiträgen von Bowlt, Grafola, Zafran, Woodcock und Lobanov-Rostovsky
Ganz ehrlich: Ich habe gequietscht, als ich das Coffee-Table-Book in die Hand nahm. Ich habe inzwischen viele Bücher über die Ballets Russes, auch Ausstellungskataloge. Dieses ist das prächtigste und es lohnt allein wegen der umwerfenden, großformatigen Fotos und Kunstdrucke sogar den Kauf, wenn man kein Englisch kann. Eine Augenweide. Ein Novum. Dadurch, dass hier einmal nicht mit Bildern aus der Sammlung Neumeier gearbeitet wurde, die in europäischen Veröffentlichungen verbreitet sind, kann der Fan völlig Neues und Unerwartetes entdecken. Und das richtet sich nicht allein an Ballettfreunde.

Im Buch wird das künstlerische Design der Ballets Russes untersucht, es enthält Entwürfe von Bühnnbildern und bemalten Hintergrundvorhängen, Gemälde, Fotos von Originalkostümen, Plakate, Postkarten und sogar Meissner Porzellankitsch. Hier wird deutlich, welch faszinierendes Gesamtkunstwerk die Truppe bot - und wie damals schon der Handel mit Fanprodukten erfunden wurde. Die Kostüme und Bühnenausstattungen, die auch ich in dieser Zusammenstellung so noch nie gesehen habe, lassen zusammen mit Fotos der Truppe ein Bild entstehen, wie das damals ausgesehen und gewirkt haben mag.

Eine perfekte Zeitmaschine, ein Buch, das deutlich macht, wie sehr das Phänomen Ballets Russes die Kunst und Kultur einer ganzen Epoche prägte - bis heute spürbar. Leider geht es nur um Design für die Aufführungen selbst, der riesige Komplex der Avantgardekünstler, die für die Ballets Russes in Auftrag standen, wie z.B. Picasso oder Braque, ist ausgespart. Das kann aber ein einziges Buch nicht leisten. Ein Prachtband, für Interessierte das absolute "must have". Und der Euro steht zum Dollar erfreulich...

Und eine schlechte Nachricht, weil ich natürlich derzeit vermehrt ungeduldige Anfragen bekomme: Mein Buch "Ich will eine Liebesschlange. Eine Annäherung an Vaslav Nijinsky" steckt in Produktionsschwierigkeiten, die sich meiner Verantwortlichkeit entziehen. Ich kann im Moment nichts dazu sagen, außer dass ich über ein späteres Erscheinen hier natürlich rechtzeitig informieren werde. Deutschlands Ballettkritiker Nr. 1, Horst Koegler, hat das Manuskript bereits vorab begeistert gelesen, ich hoffe sehr, dass dieses Vergnügen noch viele andere haben werden...

18. März 2010

Schreibunterricht

Neuerdings fragen mich immer öfter KollegInnen scherzhaft, ob ich nicht mal bereit wäre, Schreiben zu unterrichten, oder wie man neudeutsch sagt, Dozentin für Creative Writing zu werden. Das fragen die ausgerechnet eine, die von fertigen Ratgebern und Instant-Anleitungen so gar nichts hält. Nun erzählte mir vorhin einer am Telefon, es gäbe jetzt schon Schreibseminare für den Fall, dass einem erst gar nichts einfällt. Das glaube ich ihm nicht, denn wenn mir nichts einfällt, lass ich's besser und mach mir einen schönen Tag. Dafür brauche ich doch keinen Unterricht? Oder irre ich mich?

Spontan kam ich auf die Idee, ein Seminar anzubieten: "Auspendeln heißer Themen". Falls einem mal wieder nichts einfällt, kann man von der Zahnbürste über Zeitungsausschnitte bis zur letzten Mahnung vom Finanzamt oder ein paar Hundehaaren alles hinlegen. Professionell erpendelt lässt sich doch aus allem ein Bestseller stricken!

Ich hätte dann auch gleich den Kurs für Fortgeschrittene: "Pendeltechniken für Plagiatoren". Mitzubringen sind gute Bücher, Papierleim, eine Schere und Papier. Alter unbegrenzt, die Teilnehmer sollten jedoch blond sein.

Der liebe Kollege (lach nicht so laut) meinte dann, ein wenig Tiefenentspannung zwischendurch sei nicht schlecht, allerdings nur so weit, dass die Schreibhand nicht einschlafe. Das ist allerdings ein Problem, dem ich aber mit zwei Seminaren abhelfen kann: "Automatisches Schreiben mit und ohne Baldrian" oder "Bücher-Channeling leichtgemacht". Fortgeschrittene der Stufe A 2 belegen besser den Kurs "Mir fällt nichts ein, ich hab keine Lust und will trotzdem berühmt werden."

Soll ich das wirklich alles unterrichten? Ich bring das fertig!
Aber vorher macht ihr bitte alle brav eure Hausaufgaben:

Stellt euch vor, ihr wärt ein kleines grünes Gummischwein. Als euch wieder mal nichts einfällt, begegnet ihr einer Blume, die nach Motorenöl riecht und behauptet, in einer früheren Reinkarnation Verleger gewesen zu sein. Plötzlich stürzt ein Förster herbei, der euch den Rüssel abschneiden möchte. Drohend zückt er einen Brieföffner.

Aufgabe: Entwickelt einen Dialog, der dem inneliegenden Konflikt gerecht wird. Zielgruppe: Verlage für Terrarienkunde.

Habe die Ehre...

Dies ist ein kostenloser Schnupperkurs für Teilnehmer an "Plotten mit Lachjoga"

Genialische Anbiederer?

Ich finde es immer wieder höchst spannend und befruchtend, Themen über den eigenen Berufshorizont hinaus zu reflektieren. Erinnert sich jemand an den Beitrag "Hund beißt Schwanz"? Da habe ich untersucht, ob ein Buch dem Marketing folgen solle oder das Marketing dem Buch. Habe von AutorInnen erzählt, die sich krampfhaft an irgendwelche "Märkte" oder "Zielgruppen" (aus Halbwissen und Wunschdenken gebastelt) anzupassen versuchen, noch bevor sie die eigene Stimme entwickelt haben. Und die auf diesem Weg nach Ratgeberrezepten und Baukastensystemen für den perfekten Roman suchten.

Kulturmanager Christian Henner-Fehr schreibt dazu:
Der von Petra van Cronenburg in ihrem Blogpost beschriebene Prozess der Anbiederung an die potenziellen LeserInnen ist in meinen Augen eigentlich nur dann möglich, wenn ich diese nicht ernst nehme.
Ich finde diesen Satz atemberaubend. Denn er stellt scheinbar völlig auf den Kopf, was die Verfechter einer solchen Anpassung, seien es Autoren oder Lektoren, propagieren. Die tun nämlich so, als würde man da Dienst am Kunden praktizieren. Aber welchem Kunden?

Wenn ich diesen Satz richtig verstehe, bedeutet er, dass dieser Pseudoluftblasentraum von "die Leserin von heute will..." nicht nur eine Illusion ist, sondern die Leserin zudem absolut nicht ernst nimmt. Zuerst wollte ich das nicht glauben. Der Satz ist unbequem. Er schreckt aus dem Trendschlaf auf.

Aber wenn man ihn weiterdenkt, heißt die Konsequenz, dass ich auch meine Leserinnen und Leser in ihrer Vielschichtigkeit und Diversität ernst nehmen muss. Dann heißt das, dass es DIE Leserin gar nicht gibt, weil jede einzelne von ihnen ein einzigartiger Mensch ist. Dann heißt das, dass es an der Zeit ist, diese Blubberblasen von Fertigrezepten endlich in den Müll zu treten, sich mit Menschen auseinanderzusetzen - anstatt mit Pappkameraden und Schablonenfiguren.

Subversiv gefragt: Könnte es möglich sein, dass mein Menschenbild als Autorin sich in der Vielschichtigkeit der Charaktere widerspiegelt, die ich erfinde? Dass ich automatisch platte Schablonenfiguren schaffe, wenn ich ein Bild habe, dass es DIE Leserin gibt, die will... ?
Henner-Fehr schreibt weiter in einem Kommentar, dass bei der von mir beschriebenen Anpassungsmethode nicht erschaffen würde. Solche Künstler versuchten lediglich, den Erfolg anderer zu kopieren und Prozesse abzubilden.

Wer sich selbst in dieser Hinsicht noch etwas intensiver hinterfragen will, dem empfehle ich den Artikel im Kulturmanagement-Blog: "Kunst und Business: Sie müssen sich entscheiden" nebst Diskussion in den Kommentaren.

17. März 2010

Fluchtpunkt Baden-Baden

Eigentlich sollte ich höllisch aufpassen, was ich über Baden-Baden schreibe. Ein Satz meiner Protagonistin im Lavendelblues (der Roman spielt u.a. in dieser Stadt) wurde dort schon für die Politik benutzt. Kurz nach einem Toilettentest in meinem Blog wurde das öffentliche Häuschen am Augustaplatz umgebaut und man kann jetzt auch mal kostenlos Pipi machen in der Kurstadt, ohne sich mit gesenktem Kopf bei Mac Donalds einschleichen zu müssen. Das wird aber eher dem gleichen Zufall zu danken sein wie der Bau von Notausgängen für den Michaelstunnel, in dem Dahlia aus dem Lavendelblues ähnlich an Dürrenmatt denken muss wie die Autorin. Ich gebe zu, ich könnte nie auf Dauer in dieser Stadt leben, aber ich brauche sie langsam wie ein Junkie zum Ausbrechen.

Gestern habe ich wahrgemacht, was ich hier so großmundig verkündete. Anstatt in Deadline-Hektik zu hyperventilieren, stahl ich mir einen halben Tag, den ich mit einer fälligen Bibliotheksrückgabe rechtfertigte. So ganz cool bin ich eben doch nicht. Aus dem von Frank Peters im Blog angekündigten Sonnenschein fuhr ich dann ... in düsteres, deprimierendes Schwarzwaldgrau, die Schneefelder auf den Höhen im Blick. Aber ich wollte ja ohnehin zum Wellnesszentrum von Autoren und Leseratten. In der Stadtbibliothek arbeite ich derzeit am Ruf, als Autorin öffentliche Bibliotheken zu unterstützen, indem ich ständig Nachgebühren zahle - das wird mit schneefreien Straßen hoffentlich anders. Darum musste ich natürlich gleich wieder Lesestoff mitgehen lassen, unter anderem den Baden-Baden-Roman von Carsten Otte "Sanfte Illusionen".

Ein Altstadtbummel musste auch drin sein. Ich gehe gern in Baden-Baden einkaufen. Nicht in den Läden, in denen Schals aus pink- und giftgrün gefärbtem Zobel genäht sind oder ein T-Shirt dreistellige Summen kostet. Es gibt zum Glück noch die "normale" Stadt, allerdings mit einem unwahrscheinlich freundlichen Einzelhandel (oder habe nur ich das Glück?). Die Parfümerieverkäuferin, bei der ich mich für die schöne und geduldige Geruchsreisen-Beratung zu den Ballets Russes bedanken wollte, war leider nicht da.

Aber meinen Lieblingstee Marke Samowar bekam ich wieder und war nun doch zu neugierig, woher dieser feine rauchige Geschmack kommt, der so typisch ist für diese Mischung. Die Verkäuferin nahm sich Zeit, nahm mich auf eine Nasenreise nach China und zeigte mir, was die Russen einst importierten. Wir lachten über einen geräucherten Tee, der sie an Schwarzwälder Schinken erinnerte und den ich am ehesten in eine Pfeife stopfen würde. Und gute Beratung macht sich bezahlt. Natürlich verließ ich den Laden mit dem Geheimnis, das im Samowartee stecken mag: einem China Keemun Finest Chuen Ch'a.

Das ist das Gefährliche an dieser Stadt: sie verführt mich. Die eingefleischte Kaffeetrinkerin endet beim Teekauf. Die realistische Pragmatikerin fällt in der Lichtentaler Allee (Fotos) grundsätzlich ins 19. Jahrhundert und glaubt, Turgenjew oder Dostojewskij an der Kurpromenade tuscheln zu hören. Vor dem Viktoriahaus scheinen sogar die Länder zu wechseln. Manchmal ist Baden-Baden russisch, manchmal japanisch oder polnisch, dazu die Muttersprache badisch ... Manchmal ist Baden-Baden ein juwelenbehängtes Altenheim, dann jagt wieder eine übergroße Limousine die andere, im Schritttempo selbstverständlich. Wenn einem auf der Straße jemand bekannt vorkommt, weiß man nie genau, ob es sich um den Apotheker handelt oder um einen Prominenten. Ich falle von einem Extrem ins andere: plastiktaschenbepackte Arme oben an der Straße bei den Billigmärkten, Menschen in Maßklamotten mit Bodyguards unten an der Straße, wo die Nobelboutiquen liegen.

Vielleicht ist es das, was mich als Schriftstellerin reizt: ich habe die verquersten, verrücktesten und extremsten Welten an einem einzigen idyllischen Fleck. So wie die Müllhaufen in den Teichen am Augustaplatz und dessen am hellichten Tag flanierende Ratten kaum vermuten lassen, dass ein paar Minuten entfernt Millionen in einem der schönsten Casinos von Europa verspielt werden. Baden-Baden ist ideal für Autoren. Es bietet die nötige Ruhe fürs Nachdenken und traumhafte Plätze fürs Notieren. Wofür man sich anderswo schämt, das ist hier Programm: Menschen beobachten. In einer Stadt, in der Sehen und Gesehenwerden zum Alltag zählt, kann man hemmungslos dem schriftstellerischen Voyeurismus fröhnen - und geboten bekommt man einiges. Das Leiden hinter den mühsam aufrechterhaltenen menschlichen Fassaden ebenso wie erstaunliche Einfachheit im Gepränge. Unbeeindruckte Einheimische und schleimige Schmarotzer. Business, das sich am Dienstboten-Code des vorletzten Jahrhunderts orientiert. Gossenseelen in Maßschuhen und Schönheiten in Jeans.

Und immer wieder Überraschungen, selbst für mich, die ich die Stadt von Kindesbeinen an kenne. Noch eine Gasse sollte es sein vor dem Heimfahren, nur noch eine kleine Gasse. Ein winziger Laden fiel mir auf, in den Schaufenstern Rosen, Nippes, Sammlerstücke. Ich war da noch nie. Was mag das für ein Laden sein, dessen Front aussah wie der Buchladen im Lavendelblues? Sogar Ölbilder hingen an den Wänden! Mein Blick fiel auf ein handgeschriebenes Schild. Das besagte in etwa, dass man sich häufig den Psychiater sparen könne, wenn man sich bei einem Friseur so richtig verwöhnen lasse. War ich nicht im Deadlinestress? Die Idee mit dem Psychiater kam genau richtig!

Wieder konnte ich nicht widerstehen, zumal es längst nötig war. Ich kam zum entspanntesten Haarschnitt seit Jahren, in einem Rosenambiente, das aus Dahlias Geschäft hätte stammen können. Ich begriff das nicht gleich, war einfach nur verzaubert und schwebte in einer anderen Welt. Erst auf der Heimfahrt durch besagten Tunnel fiel es mir auf, wie seltsam es doch ist, sich quasi im eigenen Roman die Haare schneiden zu lassen.

Das ist übrigens der Grund, warum ich in der Stadt dauerhaft nicht leben könnte: Ich fürchtete, irgendwann Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten zu können. Vielleicht habe ich aber auch nur Angst, aus Versehen berühmt zu werden. Wenn man es schon mit einem einfachen Unterhaltungsroman in eine Liste (ganz unten) mit Brahms, Gergiev und Twain schafft, das kann doch wirklich nicht normal sein! Aber vielleicht hilft dagegen auch der Friseur, der eigentlich ein Psychiater ist?

Frühlingsexplosion

Endlich wieder barfuß in Espadrilles und die berühmte Espadrille-Kauflust französischer Frühlingsanfänge. Endlich ist der Hund wieder müde zu bekommen und hechelt nach anderthalb Stunden Waldmarsch. Was habe ich in diesem Winter das Leben am Fuß der Vogesen verwünscht, weil man weniger mobil ist - jetzt weiß ich wieder, warum ich trotzdem nicht weggehe.

Wir haben einen bisher durch Elektrozaun abgesperrten Wald entdeckt, der auch von der offenen Seite nicht immer empfehlenswert ist. Er gehört zu einer Privatjagd und die Sonntagsjäger der Schickeria von Paris oder München sind nicht immer treffsicher, wenn sie im Dorfgasthaus genug gebechert haben. Heute war es dort verwunschen still, nur das Rieseln der Bäche und wild lustige Vogelstimmen sind zu hören. In den Sonnenstrahlen, die durch noch kahle Bäume dringen, tanzen die ersten Schmetterlinge. Das Gelb der Zitronenfalter, die Farben der Admirale wirken fast grotesk in der Natur, die am Morgen noch im Raureif steckte.

Der Hund erschnüffelt sich sichtlich begeistert Landkarten von Wildschwein- und Wildfährten, von Hasen und Kleingetier, das von den Feldern kommt. Die Markierungen der Böcke rieche sogar ich. Eine Brache leuchtet sonnengelb - zwischen den vertrockneten braunen Stielen der Kanadischen Goldrute recken sich Huflattichblüten in die Sonne, als gelte es, einen Bräunungswettbewerb zu gewinnen. Am Bach tragen die einjährigen Schößlinge maigrüne Moosbärte. Und bald ist mir sogar die Weste zu warm. Morgen wird man tagsüber bereits draußen sitzen können. Und der Garten schreit nach der Gärtnerin.

16. März 2010

Professionelle Gelassenheit

Eigentlich bin ich derzeit Gemüse. Und klopfe wartend auf den Schreibtisch, dass gewisse Mails eintreffen, ohne die ich nicht arbeiten kann. Ich müsste nämlich eigentlich noch weg. Und auch noch korrigieren. Und versenden und dies und das und zuunterst zuoberst.
Früher haben mich solche Situationen verrückt gemacht und ich habe das letzte aus mir herausgepresst, um festzustellen, dass ich immer die erste war und als einzige an Wochenenden arbeitete. Kollegen kennen Ähnliches von den Fahnenkorrekturen für Bücher - egal, ob gerade der Himmel herunterfällt, da heißt es ranklotzen im Affenzahn.

Ich werde jetzt meinen Text korrigieren; ausgeschlafen, weil ich ihn über Nacht habe "abhängen" lassen (anstatt ihn gestern nachts noch fertig zu machen). Und meine Abfahrt steht fest. Klappt es vorher, gut. Klappt es nicht, fahre ich auch. Der Mensch hat nur zwei Beine und ein Gehirn. Lebenszeit ist begrenzt, auf 24 Stunden pro Tag.

Als ich gestern mit jemandem über dieses Gefühl sprach, wenn zuerst eine Menge Zeit ins Land geht und dann immer alles auf die letzte Minute erledigt werden muss, ohne Berechnung, dass Außergewöhnliches dazwischenkommen könnte, bekam ich die Antwort: "das ist immer so".
Muss "es" immer so sein? Müssen Freiberufler wirklich immer Gewehr bei Fuß stehen, bereit, sich für eine gewisse Zeit wie eine Zitrone auspressen zu lassen, währenddessen und danach unfähig, das Wichtigste zu erledigen: das Leben?

Natürlich haben wir diese Berufsform meist gewählt, weil wir bei regelmäßigem Büroschlaf eingehen würden. Irgendwie brauchen wir das Durchpowern und Ranklotzen auch, denn es beflügelt. Nur - wenn wir es übertreiben, macht es irgendwann flügellahm. Wenn wir es zur Normalität erklären, drehen wir an einer Teufelsspirale, die uns irgendwann auffrisst. Burnout nennt man das dann bildreich. Wenn man den hat, ist man selbst zum Büroschlaf nicht mehr fähig. Und weil ich den mal beinahe hatte - habe ich umgelernt.

Man macht sich gern selbst glauben, dass man Aufträge verlieren könnte, wenn man nicht "funktioniert". Und wenn einem ständig erzählt wird, dass die Konkurrenz groß sei, übertrifft man sich selbst, um besser und schneller als alle anderen zu sein. Mit dem Ergebnis, dass man irgendwann wirklich auf dem Müll landet, denn schnelle Arbeit ist nie so gut wie sorgfältige Arbeit. Aber ich muss doch, mir bleibt nichts anderes übrig, sagen viele. Wirklich?

Ich habe den Wahnsinn einmal bei einem Publikumsverlag mitgemacht. Für meinen ersten Roman nahm ich mir als Anfängerin noch neun Monate Zeit, eine Schwangerschaft sozusagen. Beim zweiten Roman hatte ich weniger Zeit, aber mehr Routine, falls man das bei einem Zweitling behaupten darf. Da wurde mit angedient, ich müsse zwei Monate früher abgeben. Die Gründe waren massiv, als würde das Buch sonst gar nicht erscheinen können, ach das Programm, das immer schuldige Programm. Als wäre ich sehr viel langsamer als alle anderen KollegInnen, die ja Schlange standen, man kennt das, um einen zu ersetzen. Den zweiten Roman schrieb ich also pflichtschuldig in einem bösen Witz von Zeit.

Ich schaffte es, schlief nur drei bis vier Stunden, arbeitete Tag und Nacht. Kochen konnte ich mir die letzten Wochen kaum noch etwas Ordentliches, selbst das Büchsenöffnen und Wärmen war schon Mühsal, bei der ich fast einschlief. Freunde, Leben - Fremdworte. Irgendwann war ich sogar zu erschöpft, einen Telefonhörer zu stemmen. Ich gab pünktlich ab. Musste erleben, dass jetzt andere Prouktionsbeteiligte keine Zeit hatten, in Urlaub gingen und das Buch nicht mehr Werbung bekam als das erste - nämlich gar keine. Und wieder kam der Druck mit pünktlicher Fahnenkorrektor, als ich eigentlich längst beim Arzt hätte sitzen müssen.

Da bin ich aufgewacht. Warum muss man eigentlich einen Roman in vier Monaten herunterreißen? Tut das einem Buch gut? Wer sich wundert, warum ich meine Romane nie empfehle: Ich sehe die Schwächen. - Und wird man wirklich ersetzt, wenn man drei Monate länger braucht? Das wollte ich doch mal sehen.

Heute setze ich eisern meine eigenen Termine. Wenn etwas nicht geht, geht es nicht. Wenn ein Buch nur deshalb nicht erscheinen soll, weil die Autorin nicht bereit ist, drei Monate schneller zu arbeiten als vorgesehen, dann stimmt etwas Grundlegendes nicht. Können Sie mal das und das in einer Woche? Ja, ich kann das, aber in vierzehn Tagen, weil ich davon acht Tage an etwas anderem arbeite. Basta. Frau Sowieso war in Urlaub und konnte daher nicht? Ach wie schade, jetzt kann ich gerade nicht, hätten Sie mich früher gefragt. In drei Wochen hätte ich einen Termin frei.

Das klappt, klappt bestens. Und als ich für meine Übersetzung unlängst kleinlaut Verlängerung erbeten habe, erlebte ich die große Überraschung: Ich war noch extrem schnell. Ich liege auch mit Verlängerung in der Zeit. Ein Kollege erzählte, wie auf dem Romansektor bei Übersetzungen gleich soundsoviel Verlängerung eingerechnet wird. Nur Kleindoofie auf dem Billigsektor, das Sklavenarbeiterle, schafft sich krank und sagt nie Nein, weil es diese angeblich vor der Tür stehenden tausenden Konkurrenzsklaven fürchtet. Und nie gelernt hat, das Zauberwort zu sagen, das Lebenserhaltende: NEIN.

Die Welt muss sich nicht schneller drehen als die eigene DNA. Nicht, dass ich nicht ochse wie eine Verrückte, wenn ich verschiebe oder Nein sage oder Termine mit Luft plane. Aber ich ochse nicht mehr über meine körpereigene Energie hinaus. Sollen sie doch die Konkurrenten reinlassen, her damit, sollen die sich totarbeiten. Und siehe da, ein Wunder: da draußen vor der Tür steht gar keiner. Die drei Hanseln, die sich in der Ecke herumdrücken, sind Nichtprofis, die mit Dumpingpreisen punkten. Wer die nimmt, hat meine Arbeit nicht verdient. Gute Arbeit hat ihren Wert - und sie braucht ihre Zeit.

Und die dehnt sich plötzlich, wenn man so denkt. Warum eigentlich ungeduldig auf andere warten, die sich verspäten? Solche Löcher lassen sich bestens auffüllen: mit Ruhe und Entspannung. Rennautos überholen auch nicht ständig, sondern werden zur Wartung in die Werkstatt gebracht. Das Beste geben, nicht das Letzte - das reicht völlig aus.

Und wie ist das mit der Konkurrenz? Ein ehemaliger Konzernchef, der sein Leben lang nur geschuftet hat, hat mir einmal etwas gesagt, das mir zum Programm wurde: Du musst dich nur fürchten, solange du austauschbar bist, solange du etwas machst, was alle anderen ganz genauso machen. Dann zählt der Schnellere, der Billigere. Arbeite daran, etwas anders zu machen, suche nach dem Einzigartigen in deiner Tätigkeit, nach einer ganz eigenen Kombination, spezialisiere dich. Und dann strebe darin nach höchster Professionalität.

Recht hat er gehabt. Anfangs verliert man Auftraggeber oder Verträge nach dieser Methode. Aber genau da trennt sich die Spreu vom Weizen. Irgendwann kommen die interessanten Kunden, diejenigen, die Qualität zu schätzen wissen, die selbst Qualität produzieren. Ja, auch heute noch. Und für die schiebt man dann die Überstunden mit Lust und malocht - weil man sich in dieser Arbeit selbst wiederfindet. Vor allem aber schafft man sich dadurch Freiräume und ein ordentliches Energiemanagement, so dass man auch in Jahren noch arbeiten kann.

Und plötzlich erkennt man, dass es berühmte Autoren gibt, die an einem Roman mehrere Jahre gearbeitet haben. Die hat auch keiner durch billige Auftragsschreiber ersetzt. Und bei der Arbeit in der freien Wirtschaft hört man plötzlich von einem Kunden, der abgesprungen war und mit dem Dumping-Dienstleister voll auf die Nase fiel.

Entspannt werde ich jetzt meine Mails checken, meinen Text lektorieren, absenden - und fort fahren.