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24. Februar 2010

Nachttischgeflüster (2)

Es gibt nichts Schöneres, als zwei Arbeitstage durch Computerärger zu verlieren, nun läuft der wieder halbwegs, dafür ging dann gestern mein Webseitenprovider in "Migration" mit Hardware. Ob sie wieder richtig läuft, checke ich jetzt nicht, denn Blogger hatte auch plötzlich einen Aussetzer. Im Moment geht Posten nur noch mit dem "alten" Editor. Da ist man doch reif fürs Bett!

Deshalb lädt die Autorin wieder großherzig ins Schlafzimmer, um ein gewisses Nachttischchen zu begutachten. Wer noch nicht weiß, wie es dort aussieht und was die nackten Wellensittiche dort mit Brigitte Bardot zu tun haben, der möge zuerst das Intro hier lesen. Hartgesottene und Wiederholungstäter bleiben da!

Die Autorin kramt verzweifelt nach der passenden intimen Musik - ich würde sagen, wir lassen einfach mal einen Tarkowskij-Film tönen, das könnte ganz gut hinkommen. Die nackten Wellensittiche ergreifen die Flucht und geben den Blick frei aufs Allerheiligste:

Obenauf das dünne Ding sind zwei DVDs mit Filmen. Andrej Tarkowskij: Das Opfer (1986), absolut medien, auf CD 2 ist ein Portrait des Cutters Michal Leszczylowsky über den Film, den Regisseur, mit Zitaten aus Tarkowskijs Buch "Die versiegelte Zeit", dem ich schon lange vergeblich nachjage. Sicher kein Film zum fröhlichen Abendessen, er ist nicht nur kurz vor seinem Tod fertiggeworden, sondern hatte ausgerechnet zwei Wochen nach Tschernobyl Premiere. Ein Film wie eine Vorahnung - es geht um eine atomare Katastrophe. Ich schaue ihn mir an, weil ich Tarkowskij-Fan bin und weil ich endlich gewisse Bilder wiederfinden muss. Aus einem Film, den ich einmal auf russisch sah und diese Bilder haben sich eingebrannt.

Vorsicht, russisch geht's weiter, allerdings in neuerer Übersetzung von Thomas Reschke, der mir bei der Übersetzung von Kotschergin schon positiv aufgefallen war. Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita, Sammlung Luchterhand. Aufmerksame Nachttischbeobachter werden feststellen, wenn mich ein Autor begeistert, müssen mehr Bücher von ihm her. Und diesen russischen Dr. Faustus soll man ja gelesen haben.

Einer, von dem ich bisher nur Ausschnitte gelesen habe, ist jetzt endlich auch dran. Es gibt so viele Autoren zu entdecken, die man angeblich kennt und doch nie gelesen hat. Anfangen werde ich mit Klaus Mann: Symphonie Pathétique, Edition Spangenberg. Irgendein freundlicher Vor-Leser hat zu den Kapiteln die Stellen der Symphonie verzeichnet - womöglich gibt es da Bezüge? Ich hasse es, wenn Leute in fremde Bücher schmieren, aber das könnte interessant werden. Für Outsider: Es handelt sich um einen Roman über Tschaikowsky.

Ist mir der Roman sympathisch, stürze ich mich ins trockenere Werk, die Autobiografie. Klaus Mann: The Turning Point. Der Wendepunkt, rororo. Hierbei handelt es sich um die Gesamtausgabe beider Fassungen. Nicht lange vor seinem Selbstmord hat Klaus Mann zur ersten Biografie noch einen Teil angefügt.

Nach so viel Pathos und Endzeitstimmung braucht Madame noch etwas Kurzweil. Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis, Diogenes. Das Buch ist ein typischer Marketingunfall, heißt wie heutzutage alles "Thriller" und beginnt aber stattdessen wie eine amüsant-ironische Erzählung, die wahrscheinlich zum Krimi wird. Und Kiew liegt auch nicht in Russland, sondern der Ukraine. Kein Wunder, dass Kurkows Bücher allesamt in unterschiedlichen Regalen einsortiert sind. Einer, der nicht in Schubladen passt, macht mich neugierig, der Königspinguin, der mit dem Hautakteur eine kleine Wohnung teilt, ebenso. Das Tier ist göttlich! Nur diese angeblich exotische Satire, dass ein Journalist Nachrufe schon vor dem Ableben für die Schublade verfasst, die ist zumindest im Westen seit meiner Volontariatszeit knallharte Realität.

Damit's mir nicht zu wohl wird, noch ein Bildungsbuch. Maurizio Calvesi: Futurismus. Taschen, Reihe Kunstgeschichte. Oder anders gesagt: Wenn man ständig darüber schreibt (s. Blog), sollte man sich auch mal in der Tiefe damit beschäftigen. Erstes Durchblättern: Fabelhafte Bilder, die meisten bisher ziemlich unveröffentlicht. Und scheinbar eine gute Einordnung in andere Strömungen der Avantgarde.

Nein, das ganz dicke Buch zuunterst ist kein Bildungsbuch. Es ist ein Lustbuch. Einmal kurz durchgeblättert, schon stand fest: das muss ich kaufen! John E. Bowlt: Moskau und St. Petersburg. Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900-1920, 642 Abbildungen, C. Brandstätter Verlag. Bowlt ist einer der bekanntesten Spezialisten für das Silberne Zeitalter und die Russische Avantgarde. Aber der Mann kann auch noch mitreissend schreiben, was man leider nicht von allen Kunstspezialisten behaupten kann. Das Buch ist umwerfend allein von der Bebilderung - und naja, ich lese sowas, wie andere Leute Geschichten über Serienmörder lesen - mit Hochspannung. Wenn ich mehr als ein Autorengeld hätte, würde ich mir auch noch die Bände über München, Berlin und Paris kaufen und alle Bücher von Bowlt obendrein. Antiquariat - ich komme!

Das muss reichen für vier Wochen. Wie immer sind all diese Betthupferl in der Stadtbibliothek Baden-Baden auszuleihen - aber erst, wenn ich sie ausgelesen habe. Und alles, was mir gefällt, bekommt dann auch eine Rezension. Lohnt sich doch, uralte und seltenere Bücher auszugraben!

Ob ich an einer Kyrillomanie leide, oder am Petersburgfieber? Ach was. Wahrscheinlich benutze ich nur die falsche Bibliothek in der falschen Stadt. Oder kann mal wieder Arbeit und Privatvergnügen nicht trennen?

23. Februar 2010

Virus? Wurm?

Falls ich von der Platte kippe, ich hab ein ekelhaftes Problem: Mein Computer fährt plötzlich von selbst herunter, und zwar ausgerechnet dann, wenn ich das System auf Viren scanne. Zuerst kommt die Meldung "soffice.exe" Programm wird beendet, dann "explorer.exe" Programm wird beendet und blubb, alles ist ausgeschaltet. Es gab mal vor jahren einen Virus, der solches verursachte, aber der hatte andere Meldungen.
Ich armer Computerdepp. Wie finde ich einen Virus o.ä., wenn mir das während des Scannens ständig passiert? Nicht, dass mir tolle Anleitungen hier etwas nutzen würden (ich bräuchte dann einen Computerdoktor, der schlauer ist als ich) - aber vielleicht weiß ja zufällig jemand, ob gerade irgendsoein Ausschalt-Viech unterwegs ist? Falls ich mich bis morgen vormittag nicht wieder hier bemerkbar mache, komme ich nicht mehr ins Internet.

22. Februar 2010

Mechanisches Ballett

Die meisten werden es bereits bemerkt haben: In losen Abständen empfehle ich rechts oben im Blog etwas aus dem Bereich Kunst zur fröhlichen Infizierung.
Zu Fernand Légers Experimentalfilm von 1924 möchte ich ein paar Worte verlieren, nicht nur, weil dieser Film auch in meinem Nijinsky-Buch vorkommt. Die Verbindung Légers, den die meisten "nur" als Maler kennen, zum Ballett kommt nicht von ungefähr. Auch er hat mit den Ballets Russes gearbeitet. Was er und sein Film mit diesen zu tun haben könnte, wird hier natürlich nicht verraten.

Der Film entstand in all seinen Vorplanungen (seit 1916) in einer Zeit, als man Betrachter bei ihren Emotionen packen wollte. Einfach Betrachten und Erfühlen - ohne großes Vorwissen, ohne lange Erklärungen. Wirken lassen...

Trotzdem sei zum Verständnis gesagt: Wir befinden uns in einer Welt, die einen völligen Umsturz erlebt hat, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. Tief gezeichnet sind die Menschen vom Ersten Weltkrieg, einer Katastrophe, in der Mensch und Maschine zum ersten Mal verschmolzen, um zur industriellen Tötungsmaschinerie zu werden. Wie viel Mensch bleibt da übrig? Maschinen sind überall, Elektrizität, Lärm, Werbeplakate, Massenmedien - die Menschen fühlen sich fast überfordert von der Bilderflut, dem Lärm, den nicht mehr natürlichen Geräuschen. Der Film als "rasendes" neues Medium macht sich plötzlich auch noch die Zeit untertan...

Im Film rast die Welt, aber im Einzelbild des Films lässt sich die Zeit überlisten, lassen sich Bewegungsabäufe entdecken, die in der Natur nicht sichtbar werden fürs menschliche Auge. Künstler exprimentieren mit Schnitttechnik, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Zur Überforderung durch die neue mechanisierte Welt gesellt sich Faszination. Die Mechanik hat eine eigene Schönheit, eine eigene Choreografie, scheint fast ein eigenes Leben zu entwickeln. Hoffnung kommt wieder auf. Raserei und Rausch angesichts der ungeheuren neuen Chancen. Wenn der Mensch einfach mit den Maschinen seinen ureigenen Tanz tanzte?
Es ist die Zeit der Futuristen. Die dann in ihrem Rausch und Traum vom neuen Menschen leider zu weit gehen - Europas menschenverachtende Diktaturen unterstützen.
Fernand Légers Film steht vor dieser Kippe. Noch ist alles möglich. Noch versucht der Mensch erst, diese seltsame, schnelle, neue Welt zu begreifen. Sucht seinen Platz, hin- und herschaukelnd in der Geschichte...

 Wer sich den Film anschaut, sollte auf die Trickfilmsequenz achten, eine Legetrickanimation eines Kunstwerks von Léger mit einem Holzmännchen, das stark an Charlie Chaplin erinnert. Diese Animation ist 1916 gedreht worden, in dem Jahr, als sich Nijinsky und Charlie Chaplin in Hollywood trafen und einer aus dem Freundeskreis der Ballets Russes den begeisterten Russen und Franzosen in Paris einen importierten Chaplin-Film vorführte. Das Chaplin-Fieber brach aus. Der Film wurde aus technischen Gründen nie gedreht, die paar Sekunden, die im Ballet Mécanique vorkommen, sind das einzige erhaltene Material.

Aber auch so ist der Experimentalfilm von 1924 eine technische Leistung, die wir uns kaum noch vorstellen können. Léger ließ sämtliche Sequenzen zuerst lose aufnehmen und entschied dann am Schneidetisch über eine "Choreographie" der Bilder, deren Längen an Einzelbildern abgezählt wurden. Film als Bildkunst, nein Synchronisationskunst - in jenen frühen Jahren. Leider war Georges Antheils Komposition weder spielbar noch synchronisierbar. Sechzehn Player-Pianos sollten da mit "Instrumenten" wie Flugzeugpropellern, Sirenen oder Tamtams zusammengebracht werden. Erst sehr viel später wurde seine Komposition rekonstruiert und auf CD eingespielt.
Den hochberühmten Man Ray an der Kamera sollte man auch nicht vergessen - derzeit wird er zu seinem 120. Geburtstag weltweit in Ausstellungen wiederentdeckt.

21. Februar 2010

Pippi oder Playmobil?

Prolog
Ich habe ja auch einmal Romane geschrieben, obwohl ich heute lieber meine reiferen Werke empfehle. Damals war ich noch als "richtige" Schriftstellerin anerkannt, denn richtige Schriftsteller haben gefälligst Romane zu schreiben. Heute bin ich écrivaine nur noch auf Behördenformularen. Leute, die Sachbücher schreiben, sind keine richtigen Schriftsteller - so reagieren sogar Autorenkollegen. Das kann ja jeder. Aber so richtige Sachbücher beherrsche ich eigentlich auch nicht, also diese Dinger à la "Sich mit dem inneren Moppel versöhnen" oder "Überlebende einer Schreibjunkie-Sekte" oder "Klimaerwärmung am heimischen Ofen mit Großmutters Brennesselrezepten". Ich kann das alles nicht.

Und jetzt habe ich ein Buch geschrieben, das kein richtiges Buch sein wird, weil man Töne auf CDs pressen wird. Und was bitte soll das für ein Genre sein, wenn plötzlich Wagnertuben durch den Text toben? Die Autorin steht am Scheideweg. Was kommt als nächstes? Sollte sie nicht langsam einmal beweisen, dass sie des "richtigen" Schreibens mit Plot und Figurenschieberei und zusammenhängender Handlung mächtig wäre? Roman oder nicht Roman, das ist hier die Frage! Faules Stück, reiß dich endlich am Riemen, klopfe täglich zwanzig Seiten eines aufregenden Boosters in die Tasten, tu endlich, wovon du nur immer redest. Dein neuer Stoff hat das Zeug zu 800 Seiten!

Dramaturg: Dieser Prolog soll die aussichtslose, zerrissene Situation der Autorin verdeutlichen, die im Abgrund eines inneren und äußeren Konflikts schier verröchelt.

Die Heldin zieht aus zur Quest
Zuerst habe ich meine wabernde Idee anrecherchiert und nach Fachbüchern zum Thema gesucht. Ein äußerst kundiger Kollege hat mir außerdem versichert, dass ich zumindest die gängigen philosophischen und politischen Schriften im Original gelesen haben sollte, vor deren Hintergrund meine Figuren lebten. Dann fand ich sogar ein Buch aus einer uralten Backlist bei Suhrkamp, das nach Recherchezwang aussieht. Aber ich müsste es erst aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzen. Bin ich denn vom Affen gebissen? Könnte ich mir nicht lustig und bequem wie bei meinen Romanen Fantasiefiguren zum Frühstück einladen, damit die mir die Geschichte diktieren? Das schaff ich doch nie! Bin ich des Wahnsinns fette Beute?

Lektor: Shakespeare wird sich im Grab herumdrehen!

Die Heldin bewaffnet sich
Ganz langsam der Reihe nach. Es geht um zwei gelebt habende Typen, die mit anderen Typen, und die haben wieder mit Typen. Trara! Wenn das kein Konfliktpotential hat! Gelebt habender Nr.1 gegen gelebt habender Nr.2, suchen wir nach einer Nr.3 für noch mehr Spannung. "Love interest!", höre ich eine fiktive Lektorin schreien. Nr.1 hatte eine ziemlich tumbe Geliebte, die wohl nur im Bett gut war, und Nr. zwei war schwul. Beste Voraussetzungen für einen Roman um eine starke Frau. Ich war verloren. So würde ich nie eine echte Schriftstellerin. Doch traritrara, just in dem Moment stolperte ich über das Blog einer Schriftstellerin, die eine verblüffende Methode beschrieb.

Dramaturg: Hier muss mehr suspense rein!

Es ist verblüffend und lesenswert, wie Karla Schmidt bei ihrem Agenten zur Playmobil-Sitzung eingeladen wurde. So einer Art Familienaufstellung für Romanfiguren. Absolut faszinierend. Mir fiel ein, dass ich das auch schon mit Halmafiguren gemacht habe, der Fiesling war natürlich Gelb. Das Halma-Machwerk, ein echter Roman, kam auf 160 Seiten und verrottet seither in der Schublade, weil ich mich beim Halmaspielen unsäglich langweilte. Ich spiele so viel lieber "Mensch ärgere dich nicht", aber ich konnte doch schlecht alle Figuren killen oder einsperren? Sobald ich nämlich einen genauen Plot im Kopf habe, wird das Schreiben zum reinen Hausaufgabenmachen: stinklangweilig. Ich würde zu gern einmal bei einer solchen Psychoromanspielsitzung Mäuschen spielen. Aber ich würde mich nie und nimmer, auch nicht im gestörtesten Fall, einer Familienaufstellung anvertrauen - die sind ja nicht ganz unumstritten. Warum aber sperrte ich mich gegen die süßen Playmobilmännchen? Was sollte ich tun? Wie sollte mein neues Projekt je eine Form finden?

Dramaturg: Der Cliffhanger ist abgelutscht. Vielleicht erst mal Grundbegriffe des Handwerks lernen, he?

Turning Point: Die Sitzung
Kamerazoom auf Autorin: Die jammert und greint, man hört Wortfetzen "...wird aus mir nie..."
Sigmund Freud reißt die Tür auf und stürmt zum Kanapee. "Bei Gustav Mahler habe ich mich geweigert, bei dir kann nicht viel kaputtgehen, also erzähl mir aus deiner Kindheit! Ich sage nur Playmobil!" Er legt sich nieder.

Ich erinnere mich. Diese Plastikmännchen wurden erfunden, als ich schon lebte. Manchmal haben wir eins in eine Legovilla gesetzt, aber die waren so hart und kalt, Plastik eben. Ich habe Männchen aus Knete geknetet. Ich hatte auch eine Barbie und eine Petra (hahaha), die waren auch hart und kalt. Die hatte ich nur, weil ich ihnen schicke Klamotten schneiderte und häkelte, in irren Popfarben und weil ich faul war, manchmal auch einfach nur geklebt statt genäht. Da lag irgendeine frühe Störung in mir begraben. Ich spielte nie Familienaufstellung mit Ken. Ich entwarf schrille Klamotten. Als ich noch viel viel kleiner war, malte ich mit blauem Fettstift in jedes neue Bodenbelagsplättchen in Empfindlichgrau einen Strich. Fühlte sich besser an. Und zur gleichen Zeit malte ich auf ein rosa-blau-getupftes Schürzchen bunte Wasserfarbenkringel, bis die Schürze endlich wirklich schön war.

Freud zieht eine bedenkliche Schnute. Er sehe zwar, dass ich nie gelernt hätte, mit Puppen zu spielen...

Ich verheimliche ihm meine Plüschbären, Plüschhunde, Plüschäffchen und Knuddelpuppen und sage stattdessen:
- Stimmt, als ich einmal die Wahl zwischen einer Puppe und einem Mercedes Coupée aus Weichplastik hatte, nahm ich das Auto.
- Ob es mir möglich sei, die zu schreibende Geschichte als Auto zu betrachten, in das alle Figuren der Reihe nach einsteigen.
Ich sage ja, die spinnen, die Psychos...
- Ob es irgendeine Parallele zu meinem Recherchewahn in der Kindheit gegeben habe? Zu diesem Drang, die Wirklichkeit zu untersuchen und Tatsachen zu sammeln?

Das Kindheitstrauma
- Pippi Langstrumpf!
Natürlich lag der gute Sigmund auf meinem Kanapee auf der Leitung. Aber was tut man nicht alles als Privatpatient. Ich klärte ihn auf übers "Sachensuchen", eine Spezialität, die ich von Pippi übernommen hatte. Mit Wonne zog ich mit meinem größten Sandeleimer los und ging "Sachensuchen". Glitzernde Perlen von Kieswegen, wundersame Juwelen aus abgeschliffenen Glasscherben, tote Käfer, mumifizierte Pflanzenteile, weggeworfene Zettel mit Geheimbotschaften aus Zeitungen. Die Welt war eine Schatztruhe!

Sigmund Freud stand auf und stampfte auf. Wie Rumpelstilzchen keifte er, dass er immer an die falschen Patienten gerate. Allesamt therapieresistent. Aus mir würde nie eine Puppenspielerin werden. Was hätte das gegeben, wenn Pippi selbst Bücher geschrieben hätte! Er löste sich in Rauch auf.

Dramaturg: Das war "deus ex machina". So mogelt man sich nicht aus einem verfahrenen Plot!

Sachenschreiben
Ich war für immer gezeichnet. Eine Sachensucherin. Wenn überhaupt je etwas aus dieser Schreiberin werden würde, dann eine Sachenschreiberin. Wie Pippi würde sie sommerbesprosst dasitzen und vom Pferd erzählen, ohne Ordnung, ohne Hausaufgaben. Manchmal würde sie flunkern, was das Zeug hält, etwa in ihrem Blog. Damit keiner merkte, dass neben ihrem Schreibtisch nur ein riesiger imaginärer Sandeleimer steht, voller Schätze, die für andere nur Kieselsteine und Glasscherben waren. Reines Illusionsgewerbe. Sie würde so tun, als sei der mumifizierte Krebs lebendig, als könnten Ameisen auf einem Blatt übers Meer in andere Länder fahren, als würde man in einem leeren Schneckengehäuse Gewisper hören. Ja, so ließe sich das neue Projekt anlegen...

Dramaturg: Soll das ein Happy End sein? Jetzt hat sie sich wieder rausgemogelt! So wird aus der nie...!

20. Februar 2010

Mammutlesung

Rauher Hals und glatter Text
Ich bin eine elende Perfektionistin. Ein halbes Jahr "danach" wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, noch einmal letzte Hand an mein Nijinsky-Hörbuch zu legen. Und damit es sich auch wirklich anhören wird, habe ich es zwei Tage lang in Privatlesung nur für mich selbst durchgeackert. Manchmal musste ich über mich grinsen, wenn ich einen Satz fünfmal wiederholte, um schließlich ein kleines Wörtchen umzustellen - erst dann war ich zufrieden. Es gibt für Synästhesisten meiner Kombination nichts schlimmeres, als wenn ein Klang nicht stimmt (falsch gesetzte Kommata stechen z.B. kaltmetallisch in die Ellenbogen, igitt).

Nun ist es vollbracht, ein paar letzte Fehler sind gefunden, die Komposition scheint poliert, der Hals fühlt sich dafür leicht rauh an, so viel Sprechen sollte halt theoretisch richtig beatmet sein ... aber nebenher waren Bücher zu wälzen, Daten zu verifizieren. Kleinkram, aber lästig. Und jetzt lehne ich mich zurück, begieße das Ganze mit einem russischen Tee und grinse übers ganze Gesicht. Perfektionisten sind selten ganz zufrieden zu stellen. Aber ich bin tatsächlich der Meinung, das ist der beste Text, den ich je geschrieben habe. (Schlimm für meine anderen Texte, die jetzt in der Verdammnis heulen und zähneklappern).

Ich war das nicht!
Und wieder hab ich durch diese Mammutlesung etwas gelernt: Eine gewisse Geistesüberforderung, oder nennen wir es zu hoch hängende Messlatte, scheint recht gesund zu sein für solch ein Werk. Es gibt Stellen im Text, da frage ich mich ernsthaft, wie die Autorin das hingekriegt hat. Wie sie auf diese dramaturgischen Tricks und Kniffe gekommen ist. Etwa an der Stelle, als sie die Musik Strawinskys erklärt. Boah - auf einmal kapiere ich Strawinsky, sogar ohne Hören. Oder als sie, anstatt Nijinsky in irgendeinem Wahn zu beschreiben, ihn in einem Ballett zeigt, das seinen inneren Zustand viel besser widerspiegelt.

Das ist jetzt keine Angeberei: Ich wundere mich wirklich. Weil die Autorin noch kurz vor dem Projekt so gut wie keine Ahnung von Strawinsky hatte. Und weil sie sich jetzt, ein halbes Jahr danach, absolut nicht erinnern kann, in was für einer Trance diese Ideen entstanden sein könnten. Das liest sich, als habe es jemand anders geschrieben. Es findet sich ausgerechnet in den Passagen, als ich unter Recherche, Zeitdruck und nebenher laufendem Überlebenskampf fast zusammengebrochen wäre. Anscheinend erreicht man dann diesen berühmten Zustand, in dem alle Bedenken und inneren Zensoren ausgeschaltet werden und das Hirn endlich frei arbeiten kann. Nicht, dass man sich immer bis fast in die Erschöpfung arbeiten sollte - Nijinsky ist das beste Beispiel, wohin so etwas führen kann. Aber man sollte öfter auf sich selbst pfeifen! Keine Ahnung von Strawinsky? Pah, na und? Dann erst recht. Hören wir uns eben die Ballettmusiken an, bis wir sie auswendig können... machen wir uns kundig...

Alter Schinken
Noch etwas habe ich gelernt. Ein abgehangener Schinken, pardon Text, lässt sich noch viel besser servierfertig machen als ein blutiges Stück. Der Zeitdruck, unter den man manchmal im Verlagsgeschäft gesetzt wird, tut nicht jeder Art von Text gut. Im Abstand von einem halben Jahr fand ich nicht nur ein paar Tippfehler, die jedem Lektorat bisher entgingen (und die man beim Hörbuch nicht hört, aber ich bin ja Perfektionistin). Ich sehe auch die Geschichte mit viel mehr Wissen und aus dem Abstand heraus ausgewogener. Kann gnadenloser Sätze streichen und weiß die Wertigkeiten besser zu setzen, erkenne neue Zusammenhänge. Eine Korrektur in einem solchen Stadium lässt einen Text noch einmal wachsen. Weil man viel strenger mit sich selbst ist.

Trotzdem stehe ich jetzt mit diesem komischen Gefühl da, das andere Autoren offensichtlich auch kennen: ich kann den Text und mich irgendwie nicht verknüpfen. Ich war das? Ich bin mir da immer nie ganz sicher. Es fühlt sich an, als habe ich nur auf Einflüsterungen reagiert. Natürlich habe ich mich über ein Jahr lang mit Nijinsky unterhalten und seinen Peinigern Dinge an den Kopf geworfen, die man nicht nur wegen Persönlichkeitsrechten nicht abdrucken könnte. Aber da sprach noch so viel anderes mit mir: Filme, Kunstwerke, Musik.

Charlie Chaplin und der Flohzirkus der Figuren
Kürzlich habe ich mir noch ganz spät eine Doku über Charlie Chaplin angeschaut. Weil der genauso alt war wie Nijinsky. Und weil er und Nijinsky sich 1916 mehrmals trafen und offensichtlich sehr mochten. Charlie Chaplin kommt in meinem Buch auch vor und an einer recht verwegenen Stelle erzähle ich, was sich der Diktator Hynkel bei Nijinsky abgeschaut hatte. Als ich es schrieb, war es nicht mehr als eine Fährte, eine verwegene Theorie. Doch dann sah ich drei Sekunden Originalfilm in jener Doku, die mich glücklich jauchzen ließen - es war ein Privatfilm, wo man Charlie Chaplin sah, wie er jene Szene viele Jahre zuvor erfand und entwickelte. Dabei trug er ein Kostüm, das er sich bei den Ballets Russes abgeschaut hatte! Das sind die Momente, in denen leidenschaftliche Rechercheure Tränen in den Augen haben.

Es gibt noch mehr solche berühmten Leute in dem Hörbuch. Fast wie bei einer riesigen Party sitzen sie alle zusammen am Texttisch: Eine Dame namens Gabrielle, später Coco genannt, die sich während des Gastspiels der Ballets Russes in Monaco vom Hofparfumeur des Zaren Duftproben zeigen lässt und am fünften Tag des fünften Monats die Nummer Fünf wählt - ein Chefdesigner, der während der Vorstellungen eifrig zeichnet, die opulenten russischen Farben festhält, mit denen sein Chef Cartier dann in Juwelen handelt - ein Modeschöpfer, der sich bei Nijinskys Kostümen bedient und die Frauen vom Korsett befreit und in die berühmten Turbane und straußenfederngeschmückten Stirnbänder kleidet - Leute wie Sonia Delaunay-Terk, Pablo Picasso oder Juan Gris, die mit den Ballets Russes direkt zusammenarbeiteten.

Verrückt, wie viel Leben und Menschen und Zeit in lediglich 77 Seiten herumquirlen können. Ein kleiner Kosmos. Ein Kosmos, mit dem man einen Teil seines eigenen Lebens geteilt hat und der einem wahrscheinlich ein Leben lang als Geschenk bleibt. Irgendwie fühlt sich das alles plötzlich völlig unwirklich an, nicht von dieser Welt. Jetzt hoffe ich nur, dass es bei diesem Gefühl nicht bleibt...

Zeitmaschine oder Parallelwelten?
Ablenkung ist erst einmal angesagt. Aber wenn ich nächste Woche endlich meine Karte für das Gastspiel des Marijnsky-Theaters abholen werde, kann ich das nicht mehr als unberührter "normaler" Mensch in einer normalen Stadt tun. Vordergründig gehe ich ins Baden-Badener Festspielhaus. Innerlich kann ich die Dampflok hören, die in diesen ehemaligen alten Bahnhof einst einfuhr. Es stiegen aus die Herren Diaghilew, Nouvel, Strawinsky und Nijinsky, auf dem Weg ins Hotel Stephanie les Bains, das heute Brenner's Park Hotel heißt - und wo heute wieder die Russen absteigen. Ob der Pianist in der Hotelbar ahnt, dass auf dem Vorgängerflügel damals Strawinsky für dei Herrenrunde ausgerechnet Bach gespielt hat?

Nicht einmal das Konzert im Sommer werde ich mir "normal" anhören können - fing doch mit dem Marijnsky-Theater alles an. Dort trat der Schüler der damaligen Kaiserlichen Ballettschule von Sankt Petersburg zuerst auf, bevor die Ballets Russes 1909 zum Tourneetheater wurden und ihn aus Russland nach Paris lockten. Vorher aber, 1908, gab Diaghilew als erstes Opern, hatte die verwegene Idee, dem Westen russische Musik nahe zu bringen. Seine erste Premiere, die erste russische Oper außerhalb Russlands, gesungen vom weltberühmten Schaljapin, in den sich Nijinskys Schwester dann verliebte. Boris Godunov. Im Sommer 2010 in Baden-Baden. Wahrscheinlich habe ich mir als Kind einmal zu sehr gewünscht, eine Zeitmaschine zu besitzen...

19. Februar 2010

Kosmisch schön

Kann sich außer mir noch jemand erinnern, wie sich die Welt veränderte, als Sputniks im All herumflogen und die ersten knuddelig dicken, weißen Männchen auf dem Mond herumhüpften? Ich war damals noch ein Kind, aber groß genug, um den gigantischen Schritt der Menschheit zu spüren: Plötzlich war alles so klein und dieser blaue Planet von außen gesehen war so wunderschön. Es war, als habe jemand das Gefühl umgekehrt, das einen beim Betrachten eines nächtlichen Sternenhimmels überfällt: Der Betrachter wird zum Sandkorn, alles wird sandkornwinzig. Aber weil diese Sandkörner im Kosmos nun mal da sind, müssen sie auch irgendetwas Einzigartiges an sich haben.

Natürlich waren wir alle im Apollofieber, spielten mit Astronautenfiguren, schwärmten davon, eines Tages selbst zum Mond zu fliegen. Etwas später schrieb ich mir einen Brief in die Zukunft, ins Science-Fiction-Jahr 2000, an die uralte Frau, die ich dann sein würde - so fühlte sich das jedenfalls an. Wir hatten noch nicht lange einen Fernseher, schon allein dessen Technik schien ein Wunder. Aber dass wir dann auf dieser Mattscheibe mitverfolgen konnten, wie diese fernen Männchen auf dem Mond schwebten, das war einfach unfassbar und gigantisch. Auf einmal war da so viel Zukunft. So vieles war womöglich denkbar, worauf wir Ende der Sechziger nie kommen würden. Also musste man einfach immer nur weiterdenken...

Und jetzt bin ich noch älter als die uralte Frau aus dem Jahr 2000 und entdecke durch Zufall einen Astronauten, der aus dem All twittert: @Astro_Soichi (Die Bildlinks sind die mit "twitpic". Unteres Foto von Soichi durch Klicken am Originalort vergrößert anschauen).

Arabian desert.As I told you before, desert is beautiful. on Twitpic

Plötzlich ist dieses Gefühl aus der Kindheit wieder da. Diesmal ist es ein Mensch, der bei einer inzwischen eher unspektakulären Raumfahrt wohl sein Handy benutzt oder wie macht der das? Gibt's da oben ein Netz? Nein, das muss über ähnliche Verbindungen laufen wie damals das Fernsehen, per Satellit. Wurscht, klein Erdenmenschlein wundert sich noch über die Technik, da tippt der Astronaut schon seine nächste Message ein. Direkt für alle. Und was er uns aus dem All schickt, sind Bilder, wunderschöne Bilder. Endlich können wir wieder diesen wunderbaren Planeten von außen betrachten, auf dem wir sonst achtlos herumtrampeln. Das Staunen wieder lernen und die Zukunft...

18. Februar 2010

Befruchtung der Künste aus dem Osten

Des Künstlers Gelobtes Land?
Ich lebte einmal in einem Land, in dem mich einschließlich meiner Familie alle davor warnten, Künstlerin zu werden. Wenn ich naiv fragte, was an diesem Beruf so schlimm sein solle, kam als erstes die Antwort, es sei ein brotloser Beruf und darum nicht erstrebenswert - und als zweites, es sei kein angesehener Beruf, und darum eher verachtenswert. Dann zog ich aus in ein Land, das mich komplett verblüffte, weil Kunst und Kultur so eine Art Staatsziel waren und tüchtig gefördert wurden. Trotzdem traute ich mich noch nicht ganz, die ordentliche Welt des ordentlichen Geldverdienens zu verlassen.

Als ich 1993 für vier Jahre nach Polen ging, erlitt ich den schönsten Kulturschock meines Lebens. Er traf mich zeitgleich mit den Recherchen zu meinem ersten Buch, die ich im Westen ständig als etwas "Wertiges" durchsetzen musste. Dort hörte ich Sätze wie: Als Hobby ist das Bücherschreiben ja gut und schön, aber willst du das wirklich ernsthaft beruflich betreiben? Willst du dir das nicht nochmal überlegen? Vom diesem intellektuellen Kram kannst du nicht abbeißen! Vernachlässige bloß nicht deinen echten Beruf.

Nun saß ich also in Warschau, um mich herum Westler, die genau wussten, wie man Profite berechnet, ich selbst mit dem Erstentwurf eines Manuskripts beschäftigt, das keiner so richtig ernst nahm, zumal ich ja von einem Verlag bisher nur träumte. Aber sobald ich mich endlich auf Polnisch verständigen konnte, glitt ich in eine wunderbare neue Welt. Die Tatsache, dass ich viele Bücher las und mich schreibend durchs Leben bewegte, brachte mir plötzlich Sympathien ein. Da war nichts mehr zu hören von einem Abwägen zwischen vernünftigen und unvernünftigen, geldbringenden oder brotlosen Tätigkeiten. Statt Intellektuellenekel plötzlich Intellektuellenwertschätzung. Statt Herunterkochen auf den kleinsten gemeinsamen Dummnenner war da unersättlicher Hunger nach Bildung und Wissen. Kunst, alle Künste - das war etwas Wunderbares, Wertvolles, Wunderschönes und Wichtiges für die Gesellschaft, wollte sie nicht wieder so verdursten, wie das in Zeiten geschehen war, als man Intellektuelle gezielt ausgerottet hatte.

Niemand warnte mich mehr davor, "so eine" zu werden, ich bekam im Gegenteil bis zum Ermüden die Geschichte erzählt, man könne als "so eine" durchaus sogar im Parlament landen. Schriftsteller war ein angesehenerer Beruf als Banker oder Apotheker. Und Künstler als so staatstragend anerkannt, dass man ihnen eine verschwindend kleine Steuer als Förderung gönnte. Dementsprechend brodelte und kochte es damals in Warschau. Ich habe nie wieder eine derartige Lebendigkeit und Frische erlebt, in der sich Musik, bildende Kunst, Design und andere Künste entwickelten, jenseits von den im Westen üblichen "Schulen", Modetrends und Hypes. Damals, in den Neunzigern, konnte man in Polen sehr junge Talente entdecken und mit Sicherheit prophezeien, das aus ihnen einmal Großes werden würde (was sich auch in vielen Fällen bewahrheitet hat). Es war ansteckend, befruchtend, mit welcher Verve da experimentiert und geschaffen wurde. Ich selbst wurde dort endgültig fürs normale und ordentliche Leben verdorben und kam mit einer kleinen Sammlung Lyrik zurück, selbst geschrieben, auf Polnisch.

Ich kann nicht mehr sagen, wie es heute dort ist. Ich bin zu weit weg. Aber im Zentrum von Warschau entsteht ein Museum für moderne Kunst und jetzt passiert endlich das, wovon man in den Neunzigern nur träumen konnte, was man diesen Künstlern wünschte: Die Kunst streckt ihre Fühler aus in die Welt.

Kunst und Stadt als Lebensräume
In Warschau entstand das Projekt The Promised City, in dem sich Künstlerinnen und Künstler Gedanken machen um die Metropolen, in denen sie leben wollen oder nicht. Was für Städte erträumen wir, welchen Illusionen und Glücksversprechungen der Städte sitzen wir auf? Das Projekt ist kunstübergreifend, es gibt Filme, Theater, bildende Kunst, Literatur etc. - und es ist vor allem nicht auf Warschau beschränkt. The Promised City findet neben Warschau auch in Berlin und Mumbai statt.

In Berlin ist dieser Tage Ausstellungseröffnung von "Early Years" Im KW Institute for Contemporary Art.

Literatur-Kristallkugelschau
Ich selbst wage, was die Literatur betrifft, die Vorhersage, dass auch in dieser Kunst, auch und gerade jetzt die ganz große Befruchtung aus dem Osten kommt. Und damit meine ich Osten in einem sehr viel größeren Raum als nur Polen. Dort experimentieren Schriftsteller bereits seit Jahren viel lebendiger und mutiger mit neuen Erzählformen, als das im deutschen Verlagswesen möglich wäre. Längst befruchten sie sich mit Migrantenszenen in unterschiedlichen Ländern. In Übersetzung geschafft haben es zuerst einmal wieder die Amerikaner, deren Schreiben stark auf östlichen Erzähltraditionen aufbaut: Schriftsteller wie Jonathan Safran Foer oder Aleksandar Hemon wären zu nennen.

Die Direktimporte muss man im deutschsprachigen Buchhandel dann leider schon akribischer suchen. Mir selbst fielen vor vielen Jahren sprachlich die Polin Dorota Maslowska auf und inzwischen mit neuen Formen der Russe Eduard Kotschergin, die Ukrainerin Tanja Maljartschuk und die Polin Olga Tokarczuk.(Links führen zu meinen Rezensionen). Die letzten drei stehen für eine Art des Erzählens, die genau das schafft, worüber westliche Buchmacher nur diskutieren - sie wäre nämlich auch internetfähig, ja sogar i-phone-kompatibel. Anstatt sich in endlosen Stellvertreterdiskussionen dumm zu schwätzen und Gräben aufzubauen zwischen diesen und jenen Gesellschafts- und Zielgruppen, machen die Schriftsteller im Osten einfach, erzählen wie einst, als man noch am Lagerfeuer erzählte, und erzählen trotzdem so frisch und experimentell wie heute, dass man es auch als Portion elektronisch aufnehmen könnte. Hochliteratur als lesbares Er-Lebnis.

Es ist nicht einfach, solche Perlen aufzuspüren in einem Markt, der im Moment kopfscheu jedes Risiko und jede Neuerung vermeidet oder lieber Abschreiber statt Innovatoren hochjubelt. Ich hoffe aber, es gelingt mir noch öfter - der Schwerpunkt Osteuropa soll den Rezensionen erhalten bleiben. Zumindest ich glaube an die riesigen Chancen von Geistesbefruchtungen durch die Literaturen dieser Länder - und so langsam komme ich auch dahinter, welche Verlage solches wagen. Für Tipps diesbezüglich bin ich übrigens immer dankbar!

Wenn Kritik zum Plagiat wird

Geistreiches zum Thema, ab wann auch angebliche Kritik nur noch plagiiert, schreibt heute Umberto Eco in der Zeit. Tja, wenn auch Zeitungen nur noch abschreiben, wie sollen es Feuilletonisten dann noch lernen?

Rosen vermehren

Nach den Veilchen nun die Rosen - der Monat der schlimmsten Gärtnerarbeit steht kurz bevor. Und bei denen, die endlich gelernt haben, dass das Klima längst ein anderes ist als noch vor hundert Jahren, als man Rosen im Herbst schnitt, folgt bald eine schöne Arbeit. Sobald die winzigen Augen an den Rosenstielen etwas aufquellen, also in meinen Breiten etwa Anfang März, verschneide ich meine Rosen.

Der Vorfrühlingsschnitt hat Vorteile:
Im Winter genieße ich den Schmuck unterschiedlich gefärbter und geformter Hagebutten (und die Vögel genießen sie ebenfalls), die ich für Weihnachtsschmuck im Haus auch mal vergolde. Die Triebe fürs nächste Jahr werden nicht ausgelaugt, weil sie in einem warmen November oder Dezember womöglich vortreiben. Und die Frostschäden halten sich in Grenzen, weil man ja eh nachher schneidet. Wie ich das mache - darüber gibt es im Blog schon Beiträge, die man mit der internen Suchmaschine rechts im Menu aufspüren kann.

Heute geht es darum, den Rosenschnitt nicht wegzuwerfen. Jedenfalls nicht alles. Man kann nämlich daraus neue Rosenpflanzen ziehen! Allerdings nur unter einer Bedingung: Man macht das privat für sich oder verschenkt Pflanzen an Freunde. Rosenzüchtungen sind nämlich ähnlich wie andere Urheberprodukte gesetzlich geschützt und werden im gewerblichen Bereich lizensiert. Es ist also verboten, die Züchtungen anderer für gewerbliche Zwecke zu vermehren. Vorweg sei gesagt: Auch im privaten Bereich lohnt sich das Verfahren nur bei geduldigen Leuten, denn das Ergebnis braucht ein paar Jahre. Der Ungeduldige investiert dann doch lieber das Geld beim Gärtner - und da wird es jetzt höchste Zeit, neue Pflanzen zu kaufen.
Und was man heutzutage leider dazusagen muss: Schneiden Sie nicht in fremden Gärten herum, womöglich in öffentlichen Rosengärten. Bitten sie allenfalls die Gartenbesitzer freundlich, wenn sie bei der Arbeit sind, Ihnen etwas Stecklingsmaterial zu überlassen.

Zur Stecklingsvermehrung brauche ich:
Zu verschneidende Rosen
Eine scharfe, saubere Rosenschere
Genügend Töpfe mit einem humosen Torf-Sand-Gemisch (ich nehme lieber Erde-Sand)
Ein Bewurzelungshormon (gibt es als Pulver)

Am besten eignen sich Floribunda-Rosen, Zwergrosen, Bodendecker, manche Teehybriden, Wildrosen und botanische Sorten, Rambler und Kletterrosen.
Verwendet wird vom Rosenschnitt jeder Stiel von der Triebspitze ab, der gesund ist, keinerlei Pilze zeigt und gut ausgereift ist, also nicht zu schwach und dünn - aber auch nicht verholzt.

So vermehrt man mit Stecklingen:
Man schneidet etwa zwanzig Zentimeter lange Steckhölzer schräg ab, so dass genügend Augen unter der Erde bleiben - aus ihren Achseln wachsen die Wurzeln. Wer sich genau auskennt, kann die Bewurzelung mit einem leichten kreisförmigen Anritzen (desinfiziertes Messer) um die künftige Austrittsstelle beschleunigen - wer die Bewurzelung nicht kennt, sollte dies besser nicht tun.
Dann tauche ich die Stecklinge zuerst in Wasser und dann in das Hormonpulver und stecke sie sofort schön tief in die Erde. Die wird ordentlich angedrückt und bei frostfreiem Wetter (!) angefeuchtet. Manche Leute stülpen bei Kälte eine Flasche nachts über Stecklinge, damit habe ich keine Erfahrung, bisher ging es ohne, wenn man anfangs nicht zu viel gießt.

Da nicht alle Stecklinge angehen, kann man sie anfangs recht eng setzen, und zwar viele davon. Ganz wichtig ist die Kennzeichnung der Sorten, man vergisst das nämlich, wenn die zarten Pflänzchen nicht im ersten Jahr blühen! Im fortgeschrittenen Frühling werden die bewurzelten Stecklinge aus den Augen Knospen bilden, die anderen vertrocknen. Dann ist es Zeit, die guten sehr vorsichtig in eigene Töpfe zu setzen. Wegwerfen sollte man aber nur vertrocknetes Holz, so manche Sorte braucht nämlich einfach nur besonders lang. Die Töpfe können an einem geschützten Platz draußen bleiben.
Im Sommer ist es wichtig, die Pflanzen ausreichend zu gießen, allerdings auch nicht zu ersäufen. Im Winter bleiben die Töpfe draußen, müssen aber wegen ihrer Größe noch gut gegen Frost geschützt werden. Man kann dazu die Töpfe in einen großen Kasten mit Erde einsetzen, die Rosen werden mit Tannenreisig oder Frostschutzfolie bedeckt. Wichtig ist, dass man die Pflanzen bei Frost nicht gießt. Hilfreich sind Plastiktöpfe, die nicht wie Ton gefrieren und springen können.

Je nach Austrieb blühen die ersten Pflänzchen im zweiten oder dritten Jahr, natürlich noch zaghafter und kleiner als die Mutterpflanze. Man behält nur die stärksten Pflanzen (sie werden ja mal genauso groß wie die Mutterpflanze) und kann diese auch als Kübelrosen für Balkon oder Terasse erziehen (siehe Beitrag "Kübelrosen" im Blog). Natürlich brauchen sie bei Krankheiten oder Schädlingsbefall etwas mehr Pflege als ausgewachsene Rosen - aber etwa im fünften Jahr belohnen sie den geduldigen Gärtnern mit schönen Blüten. Wer diese Arbeit einmal gemacht hat und die Rückschläge und Schwierigkeiten kennt, wird künftig verstehen, warum mehrjährige Rosenzüchtungen im Laden nicht billig-billig sein können.Und natürlich lassen sich nicht alle Sorten per Steckling vermehren - es kann also gleich schiefgehen!

Rosen kann man außerdem durch Absenken (Kletterrosen, Rambler, Wildrosen), das komplizierte Okulieren oder durch Samen vermehren. Die letzten beiden Arten sind aber nur etwas für wirklich passionierte Gärtner...

Keine Gartentipps, aber dafür jede Menge Geschichten, Anekdoten und Kulturgeschichte der Rose, Rosenkunst und Rosenliteratur:
Petra van Cronenburg: Das Buch der Rose, Parthas Verlag Berlin

16. Februar 2010

Veilchenaugen

Heute nacht war ich im Traum auf einer Party. Kam ein völlig ungewöhnlicher Mann zur Tür herein und sagte nur: "Ich werde euch jetzt mal aufwecken." Ungewöhnlich deshalb, weil er von Kopf bis Fuß in maiquietschfroschgrünen Filz gekleidet war und die schönsten veilchenblauen Augen hatte, wirklich tief veilchenblau. Und erst dann stellte er sich vor: "Monsieur Printemps". Kein Wunder, dass beim Aufwachen tatsächlich die Sonne schien - endlich...

Endlich wieder freie Straßen, endlich Licht, da konnte ich als Freiberuflerin die Arbeit hinwerfen und ins Grüne fahren. Ein Traum. Hinter mir der Piedmont der Vogesen bereits teilweise aufgetaut mit grünen Flecken, vor mir noch dicker Schnee auf den höheren Vogesen - und am anderen Horizont, noch ebenso weiß, der Schwarzwald. In dem Moment wusste ich wieder, warum ich so gern in diesem Naturpark lebe, auch wenn sich zumindest die deutschen Freunde im Winter nicht auf die Straßen trauen. Aber wenn die Barbecuesaison wieder beginnt, dann fahren sie gern aufs Land, flüchten aus der Stadt und behaupten vollmundig, so wollten sie auch gern leben.

Madame hat dann unbedingt noch einkaufen wollen oder müssen, vor allem bunte Blumen. Und da ist ihr das passiert, was mit Einkaufszettel eigentlich nicht passieren sollte - einer von diesen üblen Lustkäufen, bei denen das Hirn aussetzt. Am Fischstand war's, der mit besonders vielen Herrlichkeiten lockte. Fein auch die Preise, für Künstlers Geldbeutel wie gemacht. Ich wollte gerade bestellen, da klickte irgendetwas in meinem Hirn um und ich hörte mich erstaunt sagen, dass ich bitte ein Zanderfilet wolle. Ein riesiges, einen ganz großen Lappen. Tatsächlich kam es aus Estland und tatsächlich war es fürchterlich teuer. Aber es war so wunderbar frisch, wenige Stunden zuvor erst in Rungis eingetroffen. Hach, war das eine Lust, noch Crème épaisse, breite Nüdle und Wein zu kaufen! Und weil das Filet so riesig ist, müssen zum Essen natürlich noch Freunde her.

Als ich dann heimfuhr und im Radio Boris Godunov ertönte (wie mach ich das nur immer?), fiel mir ein, dass dieses Wetter einfach ideal wäre, in Baden-Baden ein wenig Pseudoflorenzatmosphäre zu schnuppern und mir genüsslich meine Karte fürs Marinskij-Theater im Sommer abzuholen. Die geben den guten alten Boris.
Auf dem Heimweg hing dann schon überall Wäsche draußen und die Schneeglöckchen bohren sich bei mir durchs Weiß.
Da, wo ich herkomme, wirft man heute um Mitternacht die Winterhexe brennend in den Fluss und begießt ihren Tod. Und dann sollte sich endlich der wunderschöne maiquietschfroschgrüne Frühling durchsetzen, denn Familie Spatz bezieht schon wieder ihre Niststellen unterm Dach (inzwischen in mindestens vier Generationen und dreistöckig lebend).

15. Februar 2010

Das Zaudern beim Zitieren

Wahrscheinlich sieht man es mir im Blog an, ohne dass ich ein Video drehen muss: Ich schüttele in letzter Zeit immer häufiger den Kopf. Im Unterschied zu Leuten, die sich nur als Untermieter in demselben fühlen, bin ich nämlich in einem Alter, in dem mir die ganze Verantwortung für mein Hirn vor Augen steht. Nun bin ich seit Studienzeiten mit dem Urheberrecht und vor allem Zitatrecht aufgewachsen, habe korrektes wissenschaftliches und literarisches Zitieren und später journalistisches Zitieren gelernt. Man darf ja, wenn man es richtig macht. Und vor allem als Sachbuchautor kann man gar nicht umhin, es korrekt zu beherrschen - sonst würde man sich den eigenen Strick drehen.

Die meisten Leser ahnen gar nicht, wie oft man da als Autor schwitzt und hin und her überlegt. Und dass man nicht selten - wenn man nicht die Hegemann macht - ganze Passagen lieber umschreibt, ja sogar verzichtet. Bei meinem Hörbuch über Nijinsky wurde der Sachtext zur Herausforderung. Ein Sprecher kann keine Fußnoten aufsagen. In einem Hörbuch werden keine Quellen vorgelesen. Aber die Lösung ist einfach: Solch ein Apparat gehört ins Beiheft der CD, Ausreden, es sich einfach zu machen, gibt es auch hier nicht.

Nun hat Nijinsky selbst ein wunderbares "Tagebuch" geschrieben, aus dem man in solch einem Fall unbedingt zitieren muss - und sich also mit dem Zitatrecht auseinandersetzen. Im Text muss hörbar sein, dass jetzt hieraus zitiert wird. Nijinsky ist noch keine 70 Jahre tot - und selbst wenn er es wäre, liegen die Rechte an der Übersetzung bei Verlag. Sobald man daraus öfter als soundsovielmal zitiert, geht man den Weg der Anständigen: Beim betreffenden Verlag werden die Rechte eingeholt, sprich, man fragt ganz einfach, ob man darf.

In den meisten Fällen hat man als Autor aber gelernt, so geschickt und korrekt zu zitieren, dass es ohnehin erlaubt ist. Zwei Sätze allenfalls und auch keine halbseitigen, ansonsten muss man eben den eigenen Hirnschmalz anstrengen, um zu erzählen, was man aus dem anderen Werk gelernt hat. Und diese Sätze ordentlich zitiert, mit genauen Quellenangaben. Das ist nicht einfach juristische Spitzfindigkeit, sondern Dienst am Leser. Wer durchstöbert nicht gern auch einmal Fußnoten und Bibliografien, wenn ihn ein Thema gepackt hat? So werden zwei zitierte Sätze zum Appetithappen auf ein anderes Werk, das eigene Buch wird zum Diskurs mit anderen Autoren, zum Verweis, dass es nicht alleine steht und zufällig aus einem einzigen Hirn explodiert ist.

Dieser Apparat macht verdammt viel Arbeit, vor allem nachher im Lektorat. Ich sehe ein schönes Beispiel bei dem Buch, das ich derzeit übersetze. Da hat jemand Unmengen von Originalliteratur durchfahndet, schreibt daraus bisher völlig unbekannte und spannende Geschichten, aber fein säuberlich jedes einzelne Zitat belegt, jede Quelle genannt. Will ich nun über ein ähnliches Thema arbeiten, hilft mir ein solches Buch enorm, weil ich genau herausfinden kann, welche Quellen sich lohnen und welche ich mir sparen kann. Solch ein Buch wird zu einer Anleitung spannender Forschung und Vertiefung, zu einer Entdeckungsreise an Hintergründen. Ich gestehe, ich bin ein Bibliografie-Süchtling. Wenn mich ein Thema packt, will ich nicht nur ein Buch darüber lesen. Quellenangaben werden damit zur Verführung, zu einer Leitplanke auf unbekannten Straßen. Und es schmerzt mir im Herzen, wenn vor allem Verleger populärer Sachbücher Bibliografien platzsparend zusammenstreichen und damit Bücher entwerten.

Zitat- und Urheberrecht zwingen mich als Autorin dazu, mich nicht auf den Lorbeeren anderer auszuruhen, sondern Eigenes zu schaffen. Wie oft zaudere ich im Schreibfluss, lösche die Anführungszeichen wieder und sage mir: Dazu könntest du dir eigene Gedanken machen, fällt dir denn selbst nichts ein? Hat ein Text allzu viele Quellenangaben, ist das für mich immer ein kritisches Zeichen: Dann rutsche ich entweder in einen akademischen Stil, den ich als Buch nicht verkaufen kann, weil ihn zu wenige verstehen oder goutieren könnten. Oder ich bin schlicht auf die schiefe Bahn der Bequemlichkeit geraten, habe mein Hirn abgeschaltet, schöpfe nicht mehr selbst. Da hilft nur, das Ganze noch einmal zu schreiben.

Quellenangaben sind nicht nur Service und Verführung für die Leser. Quellenangaben sind ein Dankeschön an die Urheber, eine Respektbezeugung für die Arbeit, die sie sich vor mir gemacht haben. Quellenangaben stellen mein Werk ins richtige Licht, weil sie die Verflechtungen und Denkschritte sichtbar machen, weil sie beweisen, dass nichts ohne die anderen gedacht werden kann, dass es so viel Neues nicht gibt. Aber dass derart kenntlich gemachte Wege wie Wanderkarten für die Nachfolgenden sind, Anleitungen, ebenfalls andere Wege auf Altvertrautem zu gehen, individuelle Wege durch einen teilweise bekannten Dschungel. Quellenangaben sind eine Erinnerung daran, dass kein Autor allein steht, kein Ego so groß sein kann, dass es allein genüge. Modern gesagt: Quellenangaben sind auch eine Art "Social Media" und Sharing-Kultur.

Medienkompost

Heute gibt's mal wieder Sampling von empfehlenswertem Stoff aus Zeitungen und Blogs, den berühmt-berüchtigten Medienkompost:

"Fräulein Hegemann", wie sie nun allerorten genannt wird, bezaubert immer noch die Medien. In der Frankfurter Rundschau versucht ein Feuilletonist die Selbstkritik und scheitert fulminant daran, dass er seinen Namen nicht preiszugeben wagt und in der Schlussfolgerung auch nur auf den alten Karren aufspringt. Es ist halt schwer, in der Jubelmenge zu "Des Kaisers neue Kleider" aufzustehen...

Dafür spricht im Buchmarkt endlich mal ein Anwalt Klartext. Verlagsjurist Rainer Dresen redet über die Selbstbedienung an fremden Texten am Beispiel Lindner und Hegemann und sagt zu ersterem:
"Es geht hier immerhin um einen Betrug gegenüber dem eigenen Verlag und um eine Urheberrechtsverletzung gegenüber dem Ursprungsverlag und dessen AutorIn."
Er erklärt, was ein Plagiat ist, was im Urheberrecht zu beachten ist und wo man sich tatsächlich bedienen dürfte. Dieser Artikel sollte Pflichthausaufgabe für jeden Schreibenden sein und endlich pseudojuristische Stammtischdefinitionen und Geschwurbel, wie sie zum Fall derzeit kursieren, ad absurdum führen.

Zwangshausaufgabe für Journalisten dürfte Stefan Niggemeiers Blogbeitrag "Wozu noch Journalismus?" sein (der durch die causa Hegemann ja neue Aktualität gewinnt). Und man sollte ihn wirklich in seinem Blog lesen und nicht in der SZ - die Blogversion ist nämlich fehlerfrei "gedruckt".

Und im Talkabout Blog lernen wir dass all das Gesülze um Dialog in Social Media ein Irrtum war, jedenfalls für Unternehmen. Egoshooting, Propaganda und Manipulation wären eigentlich die Gerätschaften der Stunde, lese ich heraus. Im Anfang war das Wort und das kam bekanntlich immer von oben...

Eine Personalie: Nachdem Suhrkamp eine Menge Mitarbeiter nicht mitgenommen hat nach Berlin, wird es in Frankfurt eine neue Agentur geben. Die ehemalige Veranstaltungsorganisatorin von Suhrkamp, Adrienne Schneider, gründet eine Lesungs- und Veranstaltungsagentur für Autoren. So etwas auf professionellem Niveau fehlt in der Tat noch viel zu sehr. Denn wie ich aus Selbsttest weiß, kann man gerade als Schriftsteller so ziemlich jede allgemeine Eventagentur getrost vergessen.

Diese Lesetipps sind ein Resampling eines Samplings aus Twittertweets (schönes Wort) über Meldungen über Artikel über... Früher nannte man das "Stille Post". Die gleiche Presse, die derzeit Hegemanns Selbstbedienungsfreuden hochjubelt, will ein Leistungsschutzrecht durchdrücken, nach dem solche Beiträge wie dieser kriminell würden. Aber noch darf man Zeitungen linken. Pardon, ver-...

14. Februar 2010

Von Malern, Musikern und Dichtern

Zur sonntäglichen Gemütlichkeit möchte ich wieder einmal fernab von Hypes und Trends gute, manchmal auch ältere Bücher empfehlen, gnadenlos subjektiv ausgesucht und selbst für gut befunden (Ich schreibe nicht nur selbst, ich lese auch selbst). Diesmal die Kurz-und-Knapp-Version.

Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. Insel Verlag
Zu Rilke muss man nichts mehr sagen - aber wer ihn so gern liest wie ich, findet in diesem Buch in gutem Preis-Leistungs-Verhältnis eine Gesamtausgabe seiner Gedichte auf Dünndruckpapier. Hilfreich: Das Register nach Gedichtanfängen und Titeln und eine Zeittafel zu Rilkes Leben und Arbeiten. Kurzum: Für Fans ein Muss.

Kerstin Decker: Mein Herz - Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Propyläen Verlag.
Vorweg: Ich liebe Else Lasker-Schülers Werke. Und ich habe auch schon eine ältere Biografie über sie in der Bibliothek. Diese Neue ist so gut und sticht derart von allem ab, was ich bisher überhaupt als Biografie gelesen habe, dass ihr eigentlich eine längere Rezension gebührt (kann ich vielleicht nachholen). Kerstin Deckers Buch kann grundsätzlich als Beispiel gelesen werden, wie man eine brillante Biografie schreibt, die einfühlsam und respektvoll mit ihrer Figur umgeht und trotzdem objektiv und kritisch bleibt. Und sie ist eines jener seltenen Beispiele, dass man Sachtexte erzählerisch und auf literarischem Niveau verfassen kann.

Dazu kommt, dass das Leben der Dichterin parallel zum Niederschlag in ihrem Werk erzählt wird, wobei die Originalzitate kursiv gedruckt sind. Damit beleuchtet die Biografie zusätzlich Unverständliches oder Vergessenes in Else Lasker-Schülers Texten und macht mit Hintergründen etwa zu den Fantasienamen realer Personen bekannt. Am Ende hat man nicht nur eine faszinierende Frau und ein hochdramatisches Leben kennengelernt, sondern auch wichtige Texte von ihr, die endgültig auf den Rest neugierig machen. Prädikat: "Ich gäbe was drum, wenn ich so schreiben könnte".
Allerdings vermisste ich bei diesem liebevoll gestalteten dicken Buch ein praktisches Lesebändchen.

Der Blaue Reiter, Minibuch, Prestel Verlag (ISBN 978-3-7913-3363-2)
Hier handelt es sich nicht um den großen Ausstellungskatalog, sondern um ein kleines Minibüchlein (deshalb die ISBN), das aus demselben entstanden ist. Ideal für die tägliche Inhalationsdosis Kunst aus der Handtasche oder als buntes Mitbringsel statt Blumen. Eine kleine Einleitung und Bilder von Marc, Kandinsky, Münter, von Jawlensky, Macke und Klee in sehr guter Druckqualität. Farbenrausch für zwischendurch.

Joe Jackson: Ein Mittel gegen die Schwerkraft. Musikalische Wanderjahre. Satzwerk Verlag
Als mir jemand diese Autobiografie des Musikers empfahl, winkte ich zuerst ab - man kennt ja die üblichen Promiautobiografien bis zum Erbrechen. Diese ist wahrscheinlich deshalb in einem unbekannteren Verlag erschienen, weil sie genau dieses Erbrechen nicht verursacht und eigentlich auch viel mehr ist: Ein wunderbares Buch über die Liebe zur Kunst / Musik und das Wesen des Künstlerdaseins. Joe Jackson benutzt sein Leben bis zum Durchbruch eigentlich nur als roten Faden, um sich Gedanken über das Schaffen und Schöpfen, den Kunstbetrieb, die Marketingmaschinerie und vor allem das Durchhalten, Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Gehen, die bittere Armut, die Fehlschläge zu machen. Und diese Gedanken sind so profund, dass mein Exemplar mit Bleistift bekritzelt ist. Zitierwürdiges findet sich fast in jedem Absatz.

Ein Muss für alle, die sich in die Welt der Kunst begeben, die an ihr leiden oder an der "anderen" Welt außerhalb; für alle, die sich fragen, warum sie dieser bekloppten Berufung nachgehen und warum manche Leute einfach mehr brauchen als Atmen und Essen. Und dieses Buch kann man lesen, ohne je etwas über Joe Jackson gehört zu haben, ohne etwas von Musik zu verstehen. Spontanzitat von S. 86:

"...unsere Kultur so sehr von Vermarktung und Werbung bestimmt wird, dass uns allen inzwischen die Denkweise von Marktingstrategen näher ist als beispielsweise die von Künstlern. Wir neigen dazu, auf die Märchen der Marketingleute hereinzufallen, dass wenn etwas nicht sauber in irgendeine Kategorie passt, dass es dann auch kein Publikum dafür gibt..." In jenem Abschnitt geht es dann weiter um Zielgruppengewäsch und Idiotisierung des Publikums, Autoren kommt das sicher bekannt vor. Und damit sei noch eine Warnung ausgesprochen: das Buch ist etwas für Leute mit sehr eigenem Kopf, egal, in welcher Kunstrichtung sie arbeiten. Es ermuntert dazu, ihn auszuformen. Auch Musikern rückt es den Kopf zurecht - da wird nicht mehr in Schablonen gedacht zwischen Klassik und Pop oder Rock, da wird überlegt, was die einen von den anderen lernen könnten und wie es sich in Zwischenräumen lebt. Die Autobiografie kann aber auch ein Geschenk sein für Nichtkünstler, damit sie diese verstehen lernen - und für Joe Jackson Fans sowieso.

13. Februar 2010

Schriftsteller-Eiszeit

Gestern spät habe ich mir eine Wiederholung von Harald Schmidts Show angetan - einfach um mir ein eigenes Bild von Helene Hegemann machen zu können. Dass der Dialog nicht rühmlich war, wusste ich bereits aus den Medien. Ich fand die Sache allerdings nicht peinlicher als Fernsehen sonst (peinlichst und völlig unmöglich dagegen der Umgang mit dem Urautor Airen). Und weil ich mir einrede, ich sei so herrlich abgebrüht den eigenen beiden Branchen gegenüber (Buchwelt und Journalismus), werde ich dann auch mal leicht zynischer als der normale Endverbraucher. Es kam mir spontan der Gedanke, dass selbst Helene Hegemann nebst Buch eine perfekte Inszenierung sein könne - womöglich um eine Taschengeldwette und Bestsellers Lohn.

Aber ich bin ja ach so abgebrüht - also konnte es das nicht gewesen sein, was mich so sehr erschreckte. Nachdem ich vorher "Metropolis" genossen hatte, war mein Blick leicht verschoben. Das ist dieser Film um den Marionettenfäden ziehenden Vater. Und da gab es dieses Zitat, dass zwischen Hirn und Hand ein Herz gehöre. Und plötzlich wusste ich, was mir in all der heißgeredeten Aufregung um Autorin und Buch fehlte. Was waren wir mit Siebzehn noch leidenschaftlich gewesen. Wie haben wir unser erstes Selbstgeschriebenes geliebt!

Helene Hegemann spricht von ihrem Buch, als gehöre es nicht ihr, als habe jemand Fremdes in einem Vorgang automatischen Schreibens einen Fremdkörper hervorgebracht, von dem die Autorin selbst noch nicht weiß, was sie davon zu halten habe. Da sind Erinnerungslücken, Beziehungslosigkeit und eine gewisse Kälte dem eigenen Werk gegenüber. Man vergisst als Autor in der Aufregung vor der Kamera ganz schnell eigene Inhalte, aber seine Leidenschaft für ein Werk, die Idee dahinter, die Beweggründe, dass man unbedingt dieses und kein anderes schreiben musste - die vergisst man nie. Man vergisst nur selten die Kämpfe um den perfekten Text, die Passion, die zum Leiden am Text werden kann - und die glücklichen Momente des Gelingens, die jede Droge ersetzen.

Heute Morgen lese ich die Stellungnahme von Jens Lindner, dessen Buch der Piper Verlag jetzt wegen der Plagiatsvorwürfe vom Markt genommen hat. Irgend etwas hat Lindner falsch gemacht, dass er nicht derart im Rampenlicht steht, womöglich gehen bei ihm zuhause weniger berühmte Feuilletonisten aus und ein, womöglich hat er nur die falsche Haarlänge. Denn seine Methode ist im Prinzip die gleiche. Von seinen Aussagen im Buchmarkt her hätte man ihn gemeinsam mit Helene Hegemann zu Harald Schmidt einladen können. Ich zitiere Lindner aus dem Buchmarkt, Hervorhebungen von mir:
"Mangels eines schlüssigen Plots habe ich mich an der Story von Janet Evanovichs „Einmal ist keinmal“ entlanggeschrieben. [...] Im Stil der witzigen, rasanten Leseprobe weiter zuschreiben wäre kein Problem gewesen, aber einen Plot zu entwickeln, dazu hätte es Wochen oder gar Monate gebraucht, schließlich gehe ich einer Vollzeitbeschäftigung nach..."
 Wenn das wirklich eine neue Generation Schriftsteller sein sollte, wie uns das Feuilleton weismachen will, dann hätte der Markt die Menschen geschaffen, die perfekt seine Mechanismen widerspiegeln. Dann gingen künftig Schriftsteller gebeugt zur Maschine Moloch, drehten an den großen Zeigern für den Profit, den die da oben absahnen - wären nur noch Hand, kaum mehr Hirn, weil abgearbeitet, müde und verzweifelt. Anschließend schlurften solche Schriftsteller müde und teilnahmslos von Interview zu Interview, gefangen in den Mechanismen der sie zerfetzenden Medienwelt. Bücherschreiben als Akkordarbeit, Texte schaffen als unliebsame, entfremdete Arbeit, weil man meint, zu müssen, oder weil man womöglich von der Welt oben träumt, den Ewigen Gärten der reichen Söhne, wo man alles wohlfeil haben kann, einschließlich des nächsten gelangweilten F**ks.

Kein Wunder: Bei so viel Langeweile, Abgeschmacktheit und Unbeteiligtsein, bei so viel Entfremdung von der schriftstellerischen Arbeit, die man womöglich noch nie im Leben wirklich geleistet hat, da wirkt einem der Griff zum Diebstahl nur noch wie Mundraub, und ein wenig Sattwerden in so einem innerlichen Hungerleben muss doch gestattet sein, sagt man sich - Plagiat als Hungerschrei. Plagiat als letztes Mittel zum Auffüllen dieser eiskalten Leere, die sich in einem breitmacht.

Auffällig ist mir, dass man sich dann aber bei denjenigen Schriftstellern bedient, die Gefühle haben und zeigen, die ihr Schriftstellerleben mindestens und das echte womöglich auch mit Leidenschaften im doppelten Wortsinne er-leben. Und das hat wohl seine guten Gründe. Von Anbeginn der Menschheit ist das Geschichtenerzählen kein Job, zu dem einen der Schamane verknackt hat, weil Papa das größte Mammut erlegt hat oder Sohnemann nicht als Erntehelfer zu gebrauchen war. Geschichtenerzählen ist mehr als nur ein Beruf, es ist eine Berufung, die sich zwischen Herzen abspielt, obendrein Hirn und Hände verlangt. Schreiben verschlingt in der Regel den gesamten Menschen. Etwas berührt mich, ich schaffe andere Welten, diese wiederum berühren die Leser. Schriftstellern ist eine Liebeskunst.

Bücher die bleiben, die alle Hypes und Moden überleben, sind in der Regel Bücher mit einer eigenen Seele. Solche Bücher beißen sich einem im Herzen fest. Das ist nicht die Pseudoberührung durch Schockwellen, Empörung oder Promivibrationen, sondern ein dramaturgisch fein komponierter Kosmos, der über die gesamte Palette menschlicher Berührungsformen verfügt. Ein gutes Buch, das überdauert, ist selten nur schrill, sondern leise und laut, voller Crescendi und kunstvollem Leiserwerden. Solche Bücher leben. Sie entwickeln ein Eigenleben. Man kann sie immer und immer wieder lesen, jedes Mal liest man aus ihnen etwas anderes heraus, in jedem Lebensalter vermögen sie, einem etwas zu geben. Das kommt daher, dass ein Schriftsteller in jedes Buch ein wenig Leben hineingibt. Er haucht den bewegungslosen tönernen Figuren seiner Geschichten den eigenen Atem ein.

Seit Hegemann und Linder und wer weiß wie vielen noch, gibt es unter den Schriftstellern neben den Schöpfern nun also auch Demiurgen. Es ist die Handwerkergeneration, die gelernt hat, dass man, sobald der Nachbar mit einem Mercedes protzt, sich den gleichen auf Pump vor die Haustür stellen kann. Auch das Haus lässt sich auf Pump erstellen und mit dem Vermögen, das man selbst nicht besitzt, lässt sich vortrefflich im Rampenlicht gesellschaftlicher Anerkennung zocken. Fürs Nachahmen braucht es kein eigenes Herz, Hauffs Erzählung "Das kalte Herz" lässt heftig grüßen, ein Buch ist eine Ware ist eine Ware ist eine Ware ... etwas zum Zocken.

"Der Mittler zwischen Hirn und Hand muss das Herz sein." So schrieb es Thea von Harbou ins Drehbuch von Metropolis. Kitsch und Quark von gestern?

Lesetipp:
Anatol Stefanowitsch über die Spiegelung eines Plagiats in der Erschaffung von Wörtern

11. Februar 2010

Gedenkminute

Aus gegebenem Anlass möchte ich hier eine Gedenkminute in Textformat abhalten. Wer an dieser Gedenkminute fürs deutsche Feuilleton, den Preis der Leipziger Buchmesse und die Rechtsverluderung in der Buchbranche teilnehmen möchte, braucht nur den hier angeschlossenen Text zu plagiieren, ohne eine Quelle zu nennen:

Weit hinten, hinter den Wortbergen, fern der Länder Vokalien und Konsonantien leben die Blindtexte. Abgeschieden wohnen Sie in Buchstabhausen an der Küste des Semantik, eines großen Sprachozeans. Ein kleines Bächlein namens Duden fließt durch ihren Ort und versorgt sie mit den nötigen Regelialien.

Es ist ein paradiesmatisches Land, in dem einem gebratene Satzteile in den Mund fliegen. Nicht einmal von der allmächtigen Interpunktion werden die Blindtexte beherrscht – ein geradezu unorthographisches Leben. Eines Tages aber beschloß eine kleine Zeile Blindtext, ihr Name war Lorem Ipsum, hinaus zu gehen in die weite Grammatik.

Der große Oxmox riet ihr davon ab, da es dort wimmele von bösen Kommata, wilden Fragezeichen und hinterhältigen Semikoli, doch das Blindtextchen ließ sich nicht beirren. Es packte seine sieben Versalien, schob sich sein Initial in den Gürtel und machte sich auf den Weg. Als es die ersten Hügel des Kursivgebirges erklommen hatte, warf es einen letzten Blick zurück auf die Skyline seiner Heimatstadt Buchstabhausen, die Headline von Alphabetdorf und die Subline seiner eigenen Straße, der Zeilengasse. Wehmütig lief ihm eine rethorische Frage über die Wange, dann setzte es seinen Weg fort. Unterwegs traf es eine Copy. Die Copy warnte das Blindtextchen, da, wo sie herkäme wäre sie.
Gehetzt sah er sich um. Plötzlich erblickte er den schmalen Durchgang. Blitzartig drehte er sich nach rechts und verschwand zwischen den beiden Gebäuden. Beinahe wäre er dabei über den umgestürzten Mülleimer gefallen, der mitten im Weg lag. Er versuchte, sich in der Dunkelheit seinen Weg zu ertasten und erstarrte: Anscheinend gab es keinen.
Überall dieselbe alte Leier. Das Layout ist fertig, der Text lässt auf sich warten. Damit das Layout nun nicht nackt im Raume steht und sich klein und leer vorkommt, springe ich ein: der Blindtext.

Es packte seine sieben Versalien, schob sich sein Initial in den Gürtel und machte sich auf den Weg. Als es die ersten Hügel des Kursivgebirges erklommen hatte, warf es einen letzten Blick zurück auf die Skyline seiner Heimatstadt Buchstabhausen, die Headline von Alphabetdorf und die Subline seiner eigenen Straße, der Zeilengasse. Wehmütig lief ihm eine rethorische Frage über die Wange, dann setzte es seinen Weg fort. Unterwegs traf es eine Copy. Die Copy warnte das Blindtextchen, da, wo sie herkäme wäre sie zigmal umgeschrieben worden und alles, was von ihrem Ursprung noch übrig wäre, sei das Wort "und" und das Blindtextchen solle umkehren und wieder in sein eigenes, sicheres Land zurückkehren. Doch alles Gutzureden konnte es nicht überzeugen und so dauerte es nicht lange, bis ihm ein paar heimtückische Werbetexter auflauerten, es mit Longe und Parole betrunken machten und es dann in ihre Agentur schleppten, wo sie es für ihre Projekte wieder und wieder mißbrauchten.
Und wenn es nicht umgeschrieben wurde, dann benutzen Sie es immer noch.

Eine Autorin spinnt

Gestern fragte mich ein Kollege, wie ich das mache, solche Texte in die Tasten zu klopfen, ob ich womöglich Äthanol zu Hilfe nähme. Ich musste lachen, denn meine Droge war härter: Ich übersetze fleißig an einem Buch, in dem einer fleißig Äther schnüffelt. Das und eine Teesorte namens "Samowar" plus ein geschenkter Tag wegen einer ausgefallenen Konferenz reichten mir völlig.

Denn ich hatte mir morgens vorgenommen: Betrachte diesen als "gestohlenen" Tag. An solchen Tagen gönne ich mir "freies Herumspinnen", das in Wirklichkeit einen tieferen Sinn hat. Ich löse damit nämlich schriftstellerische Probleme. So gehe ich ja mit einem neuen Buchprojekt schwanger, habe aber einfach noch keine adäquate Form dafür. Andere nehmen in solchen Fällen Ratgeber zur Hand oder fragen Kollegen, wie sie dieses Problem lösen würden. Ich begebe mich auf die Suche nach meiner Geschichte und versuche, sie wenigstens ein paar Minuten stillhalten zu lassen, damit ich sie direkt befragen kann.

Weil Geschichten aber leider quecksilbrig sind und einem ständig Nasen drehen, nähert man sich ihnen am besten heimlich von der Seite, herumhüpfend und lustig mit etwas anderem beschäftigt. So kamen die gestrigen Texte zustande, nachdem ich Tränen über unseren schönen BHL gelacht hatte. Und wie der Hirnforscher sieht, stehlen sich dann unversehens Fetzen aus der eigenen Geschichten ein, deshalb wimmelt es in diesem Blog immer mal wieder von Russen. Ich fürchte, solange ich sie noch nicht in ein eigenes Buch sperren kann, machen sie sich immer wieder selbstständig. Wie mein heißgeliebter Wassilij, der in der Realität ein echtes dramaturgisches Problem darstellt.

Schön ist bei dieser öffentlichen Form des Herumspinnens, bei dem eher an einen Faden gedacht werden darf als an die übliche Bedeutung, dass alle irgendwie ihren Spaß haben. Derweil verknüpfen sich dann meine Assoziationen, Gespräche, Antworten und Reaktionen. Als dann bei Twitter jemand in einem Kompliment von Genreüberschreitungen sprach, kam plötzlich wieder die innere Glühbirne hervor. Und beleuchtete etwas, das ich zu obigem Kollegen gesagt hatte, bezüglich völlig neuer Formen aus der osteuropäischen Literatur. Heureka. Da genügt ein einzelner spinnerter Tag, um den größten dramaturgischen Knoten zu lösen.

Das Ergebnis ist so neu und ungewöhnlich, dass ich es erst einmal testen muss. Ich sehe jetzt schon gewisse Lektoren erstarren, weil die passende Schublade fehlt. Und genau deshalb könnte diese Form für meine zu erzählenden Geschichten die richtige sein. Wollen jetzt alle wissen, woran ich herumdenke? Neugierig?

Nun, das ist so: Mein Projekt besteht sozusagen aus zwei Geschichten, die zwar inhaltliche Parallelen haben, aber nur einen winzigen Berührungspunkt. Und das, was ich erzählen möchte, ist zu verstreut, zu punktartig, als dass sich daraus ein Roman machen ließe. Selbst für ein erzählendes Sachbuch blieben große Lücken zu überwinden, die man dann herkömmlich mit Wissensvermittlung stopfen würde. Gestern kam mir dann die Idee, das "Genre" des erzählenden Sachbuchs extrem wörtlich zu nehmen. Ich erzähle hier so vieles locker herunter, als säßen wir bei Tee oder Kaffee oder meinetwegen auch Äthanol - und keiner schreit auf, dass Wissen weh täte oder Bildung Beulen verursache. Warum eigentlich nicht diese Samowartante als Person in ein Sachbuch nehmen? Die könnte sich dann BLAU faseln, ohne dass einer merkt, was ihm da alles untergeschoben wird...

10. Februar 2010

Süße Siebzehn...

Jaja, jetzt lachst du über den Literaturbetrieb, spricht meine innere Stimme in schneidendem Ton, aber geh in dich, was hast du mit süßen Siebzehn getrieben? So mal rein literarisch gesehen!
Mir fallen spontan Dürrenmatts alte Dame ein und die Theatergruppe in der Schule, in der ich ein nachträglich hineingeschriebenes Dorfweib mit losem Maul spielen sollte, obwohl ich vor Schüchternheit verging.
Was noch?
Da war dieses gereimte Epos aus Hexametern, etwa drei Schreimaschinenseiten lang, das ich ernsthaft bei der Zeitung einschickte, um veröffentlicht zu werden. Es war ein tragisches Epos um einen Schüler, der bei der jährlichen Preisverleihung im Schleim der Heuchler erstickt. Ich bekam jedes Jahr diesen Preis, eine Veröffentlichung bekam ich nicht. Der leitende Redakteur bewies dagegen zweifach Humor. Das erste Mal, als er freundlich ablehnte, weil die Zeitung leider ihren Redaktionsrichtlinien gemäß nichts Gereimtes annehmen könne. Das zweite Mal, als er Jahre später zufällig mein Ausbilder wurde und in herzliches Lachen ausbrach, weil er die Autorin des Epos wiedererkannte.

Da ist noch etwas, sagt die Stimme, etwas Verdrängtes! Stell dich endlich deiner kriminellen Vergangenheit!
Owei. Tatsächlich. Mit süßen Siebzehn brauchte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Rechtsanwalt. Außerdem sollte ich von einer ziemlich erlesenen Schule fliegen, fristlos und schön rechtzeitig vor dem Abitur. Und ich sollte verklagt werden. Damals lernte ich eine Menge juristischer Fachbegriffe und was Texte anrichten können.

Ich hatte getan, was andere wahrscheinlich schon mit 15 tun. Weil ich zu dieser Zeit an einer Art Schreibmanie litt (siehe Epos), schrieb und zeichnete ich für eine Schülerzeitung. Und wahrscheinlich, weil ich süße Siebzehn war, konnte ich nie ganz ernst bleiben. Ich schrieb also eine in meinen Augen fulminante Satire auf unseren Lateinlehrer, der sie einerseits deftig verdient hatte und andererseits war sie fast zu schade für so einen. Und weil ich damals ein sehr braves und wohlerzogenes und vorsichtiges Kind war, vermied ich natürlich, seinen Namen zu nennen und strich sogar noch schnell ein paar Sätze, die Rückschlüsse auf seine Person erlaubt hätten. So viel weiß man mit süßen Siebzehn.

Dann bekam ich die teuerste Grippe meines Lebens. Als ich nämlich wieder gesund war, wurde ich zum Schuldirektor zitiert. Ich verstand nicht gleich, was passiert war. In meiner Abwesenheit hatten sich die wohlerzogenen Jungs und Macher des Blatts auf Werbewirksamkeit in den Medien besonnen. Die Schülerzeitung war neu, wir brauchten Abnehmer. Also gingen die Jungs her, druckten meine Satire mit vollem Lehrernamen inklusive der gestrichenen Passagen. Und schwärzten dann - sehr nachlässig und lesbar - eben jene Passagen in feiner Handarbeit. Die Zeitung bekam ein riesiges "ZENSIERT" aufs Cover und wurde wegen der angeblichen Zensur nicht auf dem Schulgelände, sondern dem Schlosshof verkauft. Das Ganze hatte in der Tat etwas Jakobinisches, die Auflage war in Nullkommanichts verkauft.

Meine Eltern liefen Spießruten in der Stadt. Wildfremde Menschen auf dem Markt gratulierten ihnen zu ihrer missratenen Tochter. Endlich sei mal raus, was das für einer sei, dieser Lehrer. Und wenn es auch nur eine Siebzehnjährige gesagt habe. Hoffentlich koste ihn das den Kopf bei der Wahl.

Das hatte die kleine Satirikerin nämlich nicht bedacht. Der Mann war für irgendeine Wahl aufgestellt. Der war nicht einfach nur Lehrer. Wer jetzt lachte, lachte nämlich politisch. Und es lachten alle außer mir, weil der Lehrer seine Schülerin verklagen wollte. Die Schulexkommunikation hatte er bereits eingereicht. Mein einziges Glück waren meine Grippe, meine Unwissenheit und gute Absicht - und dass die Verantwortlichen aus gutem Hause waren. Aber an mir sollte das Exempel statuiert werden.

Was dann abging, war nervlich gesehen brutal, zumal die heiße Phase der Prüfungen begonnen hatte, die bereits fürs Abitur zählten. Ich hatte schon Bauchweh, wenn ich nur das Haus verlassen sollte, die Geschichte ging durch die ganze Stadt. Plötzlich lud mich der erste Lehrer feixend zum Kaffee ein, falls ich Hilfe bräuchte und so... Der beste Anwalt der Stadt legte sich für mich ins Zeug, meine Eltern hätten ihn nie bezahlen können - diesen Fall übernähme er nur zu gern, mit größter Freude und honorarfrei. Noch mehr Lehrer luden mich feixend zum Kaffee ein: Dem haben Sie's aber gegeben... Und dann kam einer vom Konkurrenzgymnasium. Er sei sozusagen eine offizielle Abordnung. Also, wenn da jemand von dieser Schule fliegen sollte, dann sei der Platz bei ihnen bereits reserviert. Solche Schüler nähmen sie mit Kusshand. Begabung sei ihnen wichtiger als Duckmäusertum.

Ich kam noch einmal glimpflich davon. Besagter Lehrer erreichte eine Gegendarstellung, in der wir wortwörtlich zu wiederholen und zu wiederlegen hatten, was ursprünglich geschwärzt worden war. Spätestens jetzt lachten alle. Meine Eltern mussten 300 Mark Schmerzensgeld an ihn zahlen - für ihre Verhältnisse damals eine große Summe. Über Schulausschluss sprach keiner mehr, der Direktor verkniff sich ein Grinsen und erklärte, dass das Hausrecht nicht greife, weil die Zeitung gar nicht in der Schule verkauft worden war. Bei der Ehefrau des besagten Lehrers bekam ich bessere Noten- und ihr Gatte schuf die Kritikpunkte langsam etwas bei sich ab. Ich glaube, der Mann hat noch viele viele Jahre das Vergnügen mit dieser Schule gehabt. An den dreihundert Mark hoffentlich auch. In der Politik habe ich ihn später nicht getroffen, denn sonst hätte er womöglich von mir interviewt werden können, als ich echte Journalistin geworden war. Eine, die gelernt hatte, wie weit man gehen darf. Die aber auch Bescheid wusste über Verhältnismäßigkeiten.

Ich war süße siebzehn und ich hatte einen Anwalt. Und ich habe absolut nichts für mein Leben gelernt, wie man sieht. Ich schreibe immer noch Satiren. Nur die Hexameter habe ich nach einem fruchtlosen Versuch aufgegeben.

Anruf aus einem Großverlag

Gestern rief bei mir der Programmchef eines Großverlags an. Jeder Autor weiß, wie aufregend das ist, kommt es doch allzu selten vor. Umso aufgeregter war ich, als ich mich in diesem Hause noch gar nicht beworben hatte. Der Programmchef, nennen wir ihn sicherheitshalber mit Decknamen Tristan Zar, schien kaum an sich halten zu können:

- Die Idee, die Ihrem Exposé zugrunde liegt, die Zeit, die Personen ... wie soll ich mich ausdrücken ...

Ich wusste, was nun kommen würde. Übersetzt heißt das: Die Programmkonferenz hat beraten und ist der einhelligen Meinung, dass wir ein anderes Buch von Ihnen nur allzu gern gekauft hätten. Das sagen wir Ihnen so offen, weil wir wissen, dass sie nur das eine haben.

- Sehen Sie, wir müssen mit der Zeit gehen. Sie sind schon relativ alt. Was Sie an Recherche vorhaben, ist Arbeit für drei. Gewiss, diese Berühmtheiten machen etwas her, aber wären Sie bereit, sich in Latex...? Nicht, dass ich Ihnen zu nahe treten möchte, aber wir müssen VERKAUFEN!

Wie er sich das in diesem Falle vorstelle, fragte ich freundlich, weil man als Autor besser erst die Entscheider kommen lässt, bevor man sein Werk verteidigt.

- Da sind richtig gute Sachen drin: Russland. Eine Autorin in Frankreich. Kunst. Daraus können wir was machen! Waren Sie schon mal bei einem Literaturcasting? Oder kennen Sie BHL? Hätten Sie vielleicht Connections zu den Kreisen von Herrn Hegemann? Was? Sie schweigen? Sind Sie wenigstens ein Arbeiterkind, verdammt noch mal!?

- Warum das?

- Ganz einfach, weil die großen Nummern in der Branche immer schneller platzen. Wir brauchen jetzt Gegenwind, was für die Moralisten, die Altvorderen, die Ausdrucker und Papierfreaks. Qualität ist gefragt. Diesmal schlagen wir sie alle. Sie sind also Arbeiterkind! Haben sich verdammt viel Bildung im Schweiße Ihres Angesichts erarbeitet. In Brenners Park Hotel in Baden-Baden Klos geputzt, na wenn das nicht die literarische Sensation des Jahres ist! Dann kennen Sie sicher auch Anna Netrebko! Was, die war damals noch nicht...? Dann schreiben Sie verdammt noch mal ihr Libretto ab und die Merkel in den Roman rein! Was, das wird gar kein Roman? Ein erzählendes Sachbuch? Das ist ja klasse, dann nehmen wir die Dialoge von Wagner dazu. Aber an Ihrer Autorenpersönlichkeit müssen wir arbeiten. Petersburg und graue Haare, das wirkt aufs Publikum insgesamt verdammt frostig. Haben Sie nicht zum Ausgleich einen berühmten Papa?

Ich erinnerte ihn an die Geschichte mit dem Arbeiterkind. Und sagte, dass mir gewiss noch etwas einfallen würde, aber es ginge doch nun vornehmlich um mein Manuskript, in dem etwa die Kunst...

- Ich wollte Ihnen das erst später sagen. Wie soll ich das ausdrücken, uns kommt das Dadaistische etwas zu kurz, diese Parallele zur heutigen Zeit, wissen Sie, das Ablehnen der Wertesysteme, diese völlige Zerstörung von mehr als nur einem Urheberrecht. Hebeln Sie diese Urübler aus. Bringen Sie KRIEG über die Leser, ANARCHIE, verfassen Sie Urinansammlungen in den Feuchtgebieten literarischen Fäkalseins!

- Mein Buch spielt lange vor DADA.

- Seien Sie doch nicht so kleinlich. DADA war immer und überall. Werfen Sie die Leserinnen in die Schützengräben der Hochliteratur, werden Sie trivial im Hochgeistigen und trinken Sie verdammt noch mal mehr davon. Es ist doch wurscht, was im Buch steht, wir müssen VERKAUFEN. Wir wollen Ihnen ja auch nur helfen, sich besser zu vermarkten.

Endlich hatte ich begriffen, was er wollte. Plötzlich schien ich neben mir zu stehen und nahm fassungslos wahr, was ich in den Telefonhörer hinein entwarf. Ich wurde nicht einmal rot beim Lügen.

- Herr Zar, ich hätte eine Idee, zugegeben, eine einigermaßen verwegene. Schauen Sie, der BHL, also der Bernard-Henri Lévy, der kennt doch diesen brillanten Philosophen...

- diesen Botul, der über Kants Sexleben...?

- Genau. Und jetzt kommt das große Geheimnis. Ich hab das aus eingeweihten Kreisen in Frankreich...

- Ah, könnte es sein, dass wir doch noch zusammenkommen? Geheimnis ist immer gut! Reden Sie!

- Sie behalten das aber für sich! Jean-Baptiste Botul ist ein Nachfahre von A. S. Lagail und hat sich kürzlich mit Herrn Hegemann getroffen, um eine Castingshow für Möchtegernliteraten auf der Bühne zu inszenieren. Die Idee hat Botul bei Milena Moser geklaut. Und dann haben Botul und Lévi beim Tischerücken Lagail beschwören wollen und der Kerl hat einfach eine blonde Jungschriftstellerin sich aus Schall und Rauch manifestieren lassen, aber dann fuchtelte der blöde Kant dazwischen und schrie wie am Spieß, er hätte auch lieber Hasch geraucht und diese Christine Dingens (die oder die?) überlegt jetzt, ob sie nicht ein Buch über die Wechseljahre schreiben soll.

- Ich sehe noch nicht ganz, was das...

- Ich will Ihnen nur einen Überblick geben, in welche wichtigen Kreise wir vorstoßen könnten. Vor allem, wenn wir schon mal Anna Netrebkos Merkel-Libretto abschreiben. Starke Frauen, Sie wissen...

(Schmatzen)

- Wir machen das so: Ich beschaffe Ihnen einen waschechten Russen aus total armen Kreisen. Und wenn ich an Ihren Namen denke, lüge ich nicht, wenn ich sage, dass dessen Familie schon mit dem Zar zu tun hatte und in der Zeit der russisch-französischen Freundschaft damals, also ... klingelts bei Ihnen?

(Schweigen)

- Botul! Jean-Baptiste Botul, wenn das kein französisierter russischer Name ist! Und jetzt taucht der lang verschollene Wassilij Botul auf, sein wunderbarer Zwillingsbruder, der die ganze gesammelte Merde dieser Familie aufdecken wird. Stellen Sie sich die Folgen für die europäische Philosophie vor, das bedeutet einen Erdrutsch des Daseins, des Seins an sich und jeder Ontogenese in ihrer jetztletzigen Jetztzeitigkeit! Was ist da ein kleines Plagiat dagegen, ein Urheberrechtsrülpslein, heben wir doch das ganze System aus den Angeln! Wassilij Botul schreibt ein Buch, in dem Kunst vorkommt und...

- und Anna Netrebko singt bei der Buchpremiere im Festspielhaus, da haben wir das gefundene Fressen fürs Feuilleton, aus der Hand werden Sie uns fressen, vielleicht bekommen wir noch eine Videobotschaft von Putin und der Lévy muss natürlich kommen, wir verkaufen vorab eine Lizenz nach Frankreich...

- ... dann sollten wir Carla nicht vergessen.

- Welche Carla?

- Na, die singt auch. Unsere First Lady. Die könnte vielleicht gleich ihren Mann mitbringen. Damit wäre das Buchprojekt auf europäischer Ebene förderfähig.

- Klasse, klasse, klasse. Aber kann dieser Wassilij Botul denn überhaupt vorlesen?

- Der wird den ganzen Abend schweigen. Wir schieben das auf die Castingshow. Die hätten erstmals einen Taubstummen zum Superstar gekürt, um dem kreischenden Klangteppich der Medien etwas entgegenzusetzen. Meditation statt Medienagitation.

- Solche Autoren wie Sie sollten wir öfter haben. Das ist gut, richtig gut, das hat was von dieser Onto-Genesis, also diesem ganzen Seinszeug und Dasein und Hierbleiben. Das ist gut, trifft den Nerv der Genervten. Und das Buch nennen wir "Les 136 extases de la volupté"!

- Aber darum geht es in dem Buch doch gar nicht. Außerdem ist der Titel von A. S. Lagail geklaut. Das geht doch nicht.

- Und wie das geht! Wir klauen den Titel eines Autors, den es nicht gab und der eigentlich ein Anarchist war und dann steht im Buch völlig eigener Text von Ihnen und kein bißchen Lagail. Das wird die Revolution, ein Plagiat eines Plagiats, das keins ist und vorgibt, Text zu sein! Eine Seinsverwirrung, die sich Descartes in seinen kühnsten Haschischträumen nicht hätte vorstellen mögen!

- Sie meinen, ich kann das Buch so schreiben, wie ich es vorhatte, einfach so, ohne jede Änderung?

- Ja, seien Sie doch nicht so begriffsstutzig! Natürlich können sie das, interessiert doch kein Aas, was da drinsteht. Aber Sie haben uns eben die beste Verkaufsmasche geliefert. Schaffen Sie uns diese Botulbrüder her und der Lévy soll vorab was Nettes zum Buch sagen, fürs Feuilleton. Das Manuskript ist gekauft.

- Darf ich bemerken, dass ich es noch gar nicht geschrieben habe? Was Sie in der Hand halten, ist ein Exposé...

- Ach egal. Sind Ihnen 288 Seiten recht? Wozu noch Bücher schreiben, wenn man Bücher VERKAUFEN kann?!

Anmerkung der Redaktion: Die Links verdeutlichen Anspielungen. Links auf die FAZ habe ich mir verkniffen. Die mag das nicht. Weil sie so sehr hinter dem Urheberrecht steht. Bis vor kurzem.

update:
Leider keine Satire: Helene Hegemann ist für den Leipziger Buchpreis nominiert (die meisten, die auf sie hereinfielen, sitzen auch in der Jury). Ich finde, das hat Applaus verdient - jetzt wissen wir nämlich endgültig, was von der deutschen Kritiker- und Preiskultur zu halten ist.
Dafür hier ein lesenswerter Artikel über "Intertextuelle Illusionen" oder wie das Feuilleton Urheberrechtsverletzungen schönredet. Man lasse sich dabei auf der Zunge zergehen, dass meist die gleichen Zeitungen ein Leistungsschutzrecht durchdrücken wollen.

8. Februar 2010

Nebenberuf: Kommunikator

Umwälzungen in der Buchbranche
Eben habe ich es wieder aus berufenem Munde gehört: So wie derzeit wird es in der Buchbranche nicht weitergehen. Eigentlich, so der Fachmensch, ginge ja derzeit überhaupt nichts richtig. Die einen seien dabei, mit hemmungslosem Ausreizen von Massengeschmack den Karren an die Wand zu fahren, weil der elfte geklonte Hackfleischklops plötzlich Übelkeit beim Hackfleischverbraucher verursacht. Und die anderen hätten mit ihren Gourmetfeinheiten noch das Problem einer gewissen Unsichtbarkeit, was bekanntlich zu finanziellen Überlebensengpässen führen kann. Aber wie wir alle aus der freien Wirtschaft wissen: Selbst ein gewisser Lebensmittelbilligdiscounter bietet inzwischen Gourmetprodukte und Bioware an.

Ich will mich nicht im Kristallkugellesen versuchen, obwohl das, worum es geht, durchaus etwas von einem Besuch bei der Wahrsagerin hat. Alle an der Entstehung von Büchern Beteiligten wissen ganz genau, es muss in Zukunft neue Kanäle und Medien geben, welche die herkömmlichen Methoden nicht ersetzen, sondern ergänzen. Wohl dem, der rechtzeitig dabei ist und schon mal übt, bevor die Sache richtig ins Geld gehen könnte.

Social Web für Kontakt mit Lesern?
Einer dieser Kanäle heißt Internet, neumodisch und speziell gemeint ist das Social Web. Der Begriff "social" verrät, was gemeint ist: Jede Tätigkeit online, die auf Interaktivität und Kommunikation abzielt. Der gute alte Kontakt zu Menschen also, an die man virtuell oft schneller, billiger und kilometersparender im Internet herankommt. Gemeint sind z.B. Blogs mit Austausch und nicht Blogs mit abgeschalteter Kommentarfunktion. Gemeint sind all die Kommunikations- und Vernetzungstools, aber auch der Wissenaustausch wie bei Wikipedia, der Austausch von Videos oder Podcasts. Und der Holtzbrinckkonzern hat nun in München eine Veranstaltung zum Thema aufgezogen, wo der Nutzen von Social Media speziell für Buchleute diskutiert wurde.
Einen guten Überblick über die Ergebnisse dieses Tages gibt es im Literaturcafé und im Buchreport-Blog. Sehr lesenswert: Der analysierte Selbstversuch eines Autors. Alle Links auf einen Blick beim Veranstalter.

Fazit der Veranstaltung: Einen genauen Kosten-Nutzenvergleich kann man derzeit nicht aufstellen. Es fehlen nicht nur Messmethoden, sondern auch konkrete Ergebnisse. Als PR-Frau im Nebenberuf kann ich nur sagen: Das hat man bei herkömmlichen PR-Methoden auch nur bedingt. Und wenn ich an einer gedruckten Presseaussendung arbeite, sind die Ergebnisse nicht unbedingt berauschender, als wenn ich online Kontakte nutzen würde.

Meine Meinung nach noch laufendem Selbstversuch:

Social media allgemein:
  • Man muss nicht alles machen und nicht alles beherrschen. Beim zwanglosen Herumspielen in der Vielfalt kann man jedoch entdecken, welcher Kommunikationstyp man ist - und was einem liegt.
  • Social Media sind intuitiv und schnell einsetzbar. Aber wie jedes Kommunikationsinstrument will der Umgang gelernt sein. Und dann sollte man auch irgendwann eine Strategie entwickeln, sich Ziele setzen, um über den netten Zeitvertreib und Zeitfresser zu handfesteren Ergebnissen zu kommen.
  • Das Thema Datensicherheit interessiert offenbar nur wenige - ich finde, Information und Aufklärung sollten auch hier sein. Tatsache ist, dass die meisten kostenlosen Social Media Systeme hemmungslos und ewig konserviert Daten sammeln und in einer Weise verwenden, dass einem getrost schlecht werden darf.
  • Klasse statt Masse! Wer nach Klickzahlen, Followers, Friends und sonstigen "Umsätzen" schielt, ist nicht nur von gestern, sondern hat menschliche Kommunikation nicht begriffen.
  • Social media sind nur so gut oder schlecht wie die Menschen, die sie benutzen.
  • Egozentrik kommt nur kurzfristig und nur in gewissen Kreisen gut. Nachhaltig wird die Sache erst im Dialog und Austausch.
  • Noch kostet das Ganze "nur" Zeit und Selbstausbeutung (außer bei kostenpflichtigen Netzwerken).
  • Social Media funktionieren nur durch Austausch, Dialog, Vernetzung, Verlinkung etc. Auch hier: Klasse statt Masse.
  • Lügen, Getue und Fassade fallen ziemlich schnell auf. Empfehlenswert ist ein Öffentlichkeitsgesicht (man stellt halt nicht alles ins Web), das möglichst authentisch gelebt werden sollte. Statt Werbeblubberblasen lieber ein Mensch.
Social Media aus Autorensicht:
  • Strategie, Planung und Disziplin sind extrem wichtig, denn Dienste wie Facebook oder Twitter sind extreme Zeitfresser. Man sollte sich zuerst fragen: Was will ich erreichen? Wie kann ich es erreichen? Wie viel Zeit habe ich dafür übrig? Und welche Plattform kommt meinen Zielen am ehesten entgegen?
  • Ich glaube nicht, dass ich durch meine Internetaktivitäten nennenswert mehr Bücher verkauft habe (das werde ich Ende März an den Abrechnungen sehen). Ich glaube nicht einmal, dass ich meine Leserinnen und Leser anspreche - sondern eher andere Branchenleute. Wenn überhaupt etwas im Gespräch sein sollte, dann nicht meine Titel, sondern mein Name. Passend zum Thema "Markenbildung" Autor... Eine Binsenweisheit deshalb: Man sollte mit Klarname tätig sein.
  • Speziell bei Twitter fallen Kontakte zu Branchenleuten (nicht nur KollegInnen) leicht, einige bleiben durchaus auch "real life" hängen. Man spricht sich in Social Media leichter an, entdeckt hochinteressante Leute (falls man auf Klasse statt Masse schaut). Ideal auch für Fragen und Hilfeleistungen aller Art. Völlig abgehängt: Feuilleton und in weiten Teilen Presse. Die folgen meist nur sich selbst und werden eines Tages übel erwachen, wenn sie weiter so im eigenen Sud schwimmen. Fazit: In Zukunft wird Kommunikationskompetenz entscheidend sein. Egoticker sind von gestern.
  • Viel spannender für den Kontakt zu Lesern und Einblicke ins Buchmachen finde ich Multimedia. So spannend, dass ich mich schon technisch einlerne. Dazu reicht eine Autorenwebseite oder ein Blog - und dann kann ich überlegen, was ich via Video oder Podcast vermitteln könnte (wofür es dann wiederum Plattformen wie youtube gibt). Aber auch das sollte professionell sein oder zumindest ausreichend Trash-Charme haben! Und da lassen sich dann auch feine Mitmachaktionen ausdenken. In diesem Bereich könnten Autoren von sich aus tätig werden.
  • Meine Pläne: Endlich einmal meine Stimme zu konservieren oder vielleicht sogar einen Auftritt auf Video. So wird man nicht nur Veranstalter leichter überzeugen können, sondern kann auch Menschen glücklich machen, denen die Lesung zu weit weg ist. Live-Streaming wäre ein Zukunftsthema (eigentlich wäre das Aufwändigere aber Sache von Verlagen).
  • Plattformen wie Facebook oder Twitter eignen sich besonders gut für Spezialisten und Spezialthemen. Social media haben etwas Fragmentiertes, Allrounder wie ich kommen da nicht so gut. Ich müsste mich, um an Leser zu gelangen, in Rosenbereichen genauso herumdrücken wie in Tourismus und Gastronomie oder bei Ballettomanen - für einen Menschen mit zwei Händen, zwei Beinen und einem Hirn unmöglich. Und die Schnittmengen wären hier einfach zu klein, als dass es sich lohnen könnte. Leute, die nur Krimis schreiben, nur Diätratgeber oder nur Fantasy haben es hier sehr viel einfacher! Mischtypen müssen sich knallhart nach ihrem USP fragen. Und da glaube ich, kommt man mit einer professionellen Webseite, die gut eingebunden ist in ein Netz und vielleicht multimedial - sehr viel weiter. Im Moment.
  • Man sollte nie sagen: Das ist nichts für mich. Techniken, Bedürfnisse und Inhalte ändern sich derzeit so schnell, dass in zwei Monaten alles ganz anders aussehen kann.
  • Bevor man sich in Arbeit stürzt, empfiehlt sich eine Analyse des eigenen Publikums (z.B. bei Lesungen etc.) Ich habe z.B. einen sehr großen Anteil an Lesernnen, die nicht internetaffin sind, Bücher auch fast ausschließlich im Laden kaufen. Das bedeutet, ich kann zwar im Internet vielleicht neue Schichten ansprechen, sollte jedoch unbedingt die Nicht-Onliner weiter pflegen. Herausforderung der Zukunft: Vernetzung von Offline und Online als Kultur des Austauschs.
Mein ganz persönliches Fazit:
AutorInnen, die dank Spitzentitel u.ä. Platzierungen eh schon fleißig von Verlagen und Buchhandlungen beworben werden, können zwar dank Social Web Fangemeinden pflegen - aber eigentlich bringt das nicht viel Zusatznutzen. Dann doch lieber gleich den nächsten Bestseller nachschieben!

AutorInnen, die in Stapeln und auf Sondertischen in Buchhandelsketten stark präsent sind, sind das über die Verlage meist auch im Internet. Auch hier schätze ich Social Media eher als nettes Zusatztool ein, als dass es vom Aufwand her gerechtfertigt wäre.

Social Web ist im Moment die einfachste und preiswerteste Lösung fürs Sichtbarmachen von unsichtbaren Büchern. Also den Perlen, die nicht im Buchsupermarkt ausliegen, die am Feuilleton vorbeigehen, die ein sehr spezielles Lesepublikum ansprechen.
Aber man muss sich im Klaren sein, dass Social Media indirekt sehr wohl Kosten verursacht (Manpower, Arbeitszeit) und noch mehr Arbeit am Sichtbarmachen verlangt als herkömmliche Formate.

Unbedingt empfehlen möchte ich vor dem Start ein kurzes Einlernen ins Medium oder die Plattform. Viele geben in der Anfangsphase auf, weil sie das Ding schlicht nicht zu bedienen wissen. Während des lustigen Experimentierens darf dann die zweite Phase kommen: Man lernt intensiv über Vorteile, Nachteile und Möglichkeiten des gewählten Mediums - Material gibt es in Hülle und Fülle im Netz. Beherrscht man die Sache dann ausreichend, sollte die Disziplin greifen. Mit einer Stunde täglich kann man hinkommen, wenn man sich nicht verzettelt. Wer zeitweise solche aufwändigen Artikel schreibt wie ich, darf dann noch ein Stündchen aufschlagen.
Ob das Ganze nur Seifenblase oder Selbstbetrug ist, werde ich im April berichten.

Was mir absolut fehlt: Qualitätsplattformen für Hochwertiges und Besonderes - und echte Alternativen zum großen Feuilleton. All das existiert bereits für Lesefutter, warum nicht auch für Erlesenes?