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30. Dezember 2009

Gute Vorsätze

Keine. Das hat nämlich auch all die Jahre vorher schon nicht geklappt. Aber ich kann verraten, was es im nächsten Jahr hier zu lesen geben wird:
  • Die Rezension eines ganz besonderen Stücks russischer Literatur, gleichzeitig ein Glanzstück von Übersetzerleistung. Wer in Berlin lebt, wird im Januar den Autor selbst erleben dürfen, der auch in seinem künstlerischen "Brotberuf" kein Unbekannter ist. Und für alle anderen werde ich mich um Einblicke in einen Verlag bemühen, der rare Trüffel hebt...
  • Mit einem unabhängigen Buchhändler (ja, die gibt es noch) werde ich mich über die Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit von Büchern und einiges andere unterhalten.
  • Vorstellen möchte ich außerdem einen regen Autor, der noch nie einen Verlag gebraucht hat, aber vom Schreiben bis Verkaufen auf absolute Profiqualität achtet und sich ein immenses Wissen selbst angeeignet hat.
Es lohnt sich also, wieder hier vorbeizuschauen.

Und bis dahin wünsche ich allen, die schon ein gutes Jahr hatten, noch ein gutes - und denen, die ein schlechteres hatten, ein besseres!
Aufwiederlesen...

29. Dezember 2009

Ausnahmezustand

Ausnahmezustand herrscht heute bei mir. Rote Augen, schwerer Kopf. Ich habe nämlich etwas gemacht, was ich als Kind immer genossen habe: Heimlich bis weit über die Schlafenszeit hinaus unter der Bettdecke gelesen, zum Glück mit ordentlicher Beleuchtung. Morgens gegen fünf Uhr war ich dann durch. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören - und wollte dann auch nicht aufhören.

Ich habe aus Neugier etwas gemacht, was ich - außer bei Harry Potter (mehr als vier Bände schaffte ich nicht) nie tue. Ich habe ein Buch für Jugendliche gelesen: "Das Projekt" von Alice Gabathuler. Ich wollte ausprobieren, ob man als Erwachsener noch Jugendbücher lesen kann - und wie sich diese Jugend von heute für eine irgendwann Halbjahrhundrige liest. Natürlich spreche ich als Erwachsene nicht auf die gleichen Dinge an. Da mag die Geschichte zuerst fast ein wenig fad und "normal" klingen.

Sie spielt in einem Internat, in dem die Welt der Superreichen mit wenigen normalbürgerlichen Externen zusammenprallt, obwohl alles versucht wird, die sozialen Unterschiede vor den Schulmauern zu lassen. Und wie das auch schon in meiner Schulzeit war, bilden sich Cliquen, sind sich manche gar nicht grün und machen sich nicht alle Lehrer beliebt. Die Klassenlehrerin stört das Geflecht der verkrusteten Antipathien ganz gehörig, indem sie mit den Schülern probt, was man sonst gern in ihrer Position müde gewordenen Managern antut: Zufällig zusammengewürfelte Teams sollen ein Projekt erarbeiten und ausführen, das sie in den "Ausnahmezustand" versetzt. Während Manager dem Befehl gehorsam folgen - sie haben ja Geld und Status zu verlieren - scheren sich die vier Kids des Problemteams keinen Deut um solche idiotischen Neuerungen. Sie kommunizieren nicht einmal.

Was Alice Gabathuler aus dieser scheinbaren Nichtsituation, aus der permanenten Weigerung entwickelt, ist verblüffend, spannend, und hat mir Alten dann den Schlaf geraubt. Ich glaube, das war der Effekt, Menschen wie in einem Reagenzglas eingesperrt zu erleben und zuzuschauen, wie sie sich da wieder herauswinden. Wie eine Schülerin vorher aufschrieb, sind sie im Ausnahmezustand auf sich selbst und ihr Inneres zurückgeworfen. Und da gärt und kocht es nicht nur tüchtig, es gibt auch einige kriminelle Verwicklungen, die die Gruppe schließlich wirklich in einen Ausnahmezustand versetzen, nämlich in akute Lebensgefahr. Außerdem schwelt da eine nicht minder drohende Gefahr für ein Gruppenmitglied, die sich keiner so recht vorstellen will. Wann würden ihm andere helfen und wie würde er selbst damit umgehen? Mehr will ich nicht verraten - außer dass ich Tina und die Knubbelknie von Anfang an ins Herz geschlossen hatte, ich hätte sie wohl auch als Jugendliche geliebt. Das Buch kann man Jugendlichen rückhaltslos empfehlen, es bietet Menscheln auf engstem Raum mit allen Gefühlen und Verstrickungen, es ist rasant und humorvoll, ja auch liebevoll den Figuren gegenüber geschrieben - und es fehlt wohltuend der pädagogische Zeigefinger.

Aber ich habe das ja als "Alte" gelesen. Manchmal war ich von Jessie mit ihrem Hang zum Nagellack genervt, als dann Drogen ins Spiel kamen, dachte ich zunächst, ach, nicht auch das noch. Aber dann fasste ich mich an der eigenen Nase und versuchte, in die Zeit zurückzudenken, als ich selbst sechzehn war. Verblüffender Effekt. Sollten Erwachsene öfter machen. So anders sind die Jugendlichen gar nicht! Die Jeansmarken heißen anders und wir hatten keine reichen Eltern und haben Jeans eben mit Tintenkillern und Bleiche entfärbt. Mit fünfzehn haben wir im Landschulheim die Lambrusco-Korbflaschen vor den Lehrern versteckt. Auch wir hatten erst mal nur im Kopf, wer in welche Clique aufgenommen wird, wer mit wem geht und wer wen aussticht.

Auch damals gab es Drogen, nur andere, in unserer Schule hießen sie Haschisch und LSD und mit siebzehn erlebten wir unseren ersten herointoten Klassenkameraden, Sohn aus reichem Hause, und einen, der im Dauertrip in die Psychiatrische kam. Und natürlich gackerten wir Mädchen längst auch nur noch über Kosmetik und tolle Klamotten, mit denen wir den Klassenschwarm bezirzen wollten und irgendwann auch manche Lehrer. Das mit der Kosmetik und dem heimlichen Schminken fing ja schon in der Grundschule an. Auch wir hatten sturzbürgerliche Eltern in der Klasse, die sonntäglich in der Kirche das gute Beispiel gaben und deren Kinder unter enormem Druck, unter Gewalt und anderen Dingen litten. So betrachtet, hat sich nichts verändert. Die heutige Jugend ist nicht besser oder schlechter als die damalige - und scheint Probleme auch nur mit kleinen Verschiebungen zu erleben.

Aber das ist nur oberflächlich. Wenn ich mir das Buch genauer anschaue, ist die Jugend darin sehr viel aufgeklärter, informierter und weniger naiv als wir damals. Die Freiheit, vieles zu tun, was uns oft unter hartem elterlichen Druck lange verboten war, erkauft sie sich mit dem Preis eines Verlusts. Es ist der Verlust einer allumfassenden, nicht sexuell gemeinten Unschuld. Da agieren fast schon kleine Erwachsene, die unseren elterlichen Druck durch einen eigengemachten zu ersetzen scheinen. Aber waren wir so anders? Haben wir nicht in der Pubertät neben unseren Weltschmerzgedichten noch ganz andere Hämmer versucht? Da wurden heimlich nachts Straßen gesperrt vor einer Behörde, um irgendeine politische Idee zu versinnbildlichen...

Das fällt mir auf an dem Buch. Auch wir haben uns aufgelehnt gegen die Erwachsenen, um uns selbst zu finden. Aber das war kein Kampf ums Bestehen im fröhlichen Markenland, das ging wirklich gegen das Establishment. Wir wollten gar nicht uns verändern, wir fühlten uns richtig (und litten trotzdem daran) - wir wollten die ganze Welt aus den Angeln heben und verändern. Wir hatten aber auch keinen Psychologieunterricht. Und wir hatten nicht all die Hilfsangebote und gesellschaftlichen Offenheiten zur Verfügung, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Damals litten Kinder still, ungehört und wenn es herauskam, auch von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Was ich damit sagen will: Dieses Buch macht mir als "Alter" richtig Mut. Es gibt mir das Gefühl, von den Jungen von heute eine Menge lernen zu können und unser Altengejammer gehörig zu relativieren. Jugend war wohl noch nie leicht, aber diese Jungen haben uns von damals einiges voraus: Sie sind in vielem wacher, flexibler, improvisationsfähiger. Sie lernen - ebenso wie wir damals - sich in einer für die Eltern völlig veränderten, oft unvorstellbaren Welt zu bewegen und zu bewähren.

Jedes Mal, wenn ein "Alter" mal wieder den Spruch loslässt von "früher war alles besser" oder Zukunftsschwarzmalerei betrifft, möchte ich ihm dieses Buch in die Hand drücken und sagen: "Alter, wann hast du denn das letzte Mal den Ausnahmezustand geprobt?"

Lesetipp:
Alice Gabathuler: Das Projekt, Thienemann Verlag
Alice Gabathulers Blog

28. Dezember 2009

best of

Schon wieder findet jemand meinen Jahresrückblick zu schwarz. Leute, was seid ihr für Harmonieküken im Eierkuchenparadies? Aber damit die ganz Empfindlichen unter uns auch endlich etwas zu lachen haben, bringe ich mal meine ganz persönliche "best of"-Liste, die wunderschöne Lichtblicke in ein stinknormales Autorenleben gestattet.

Vom Buch zum Bettbild
Verlagsverkauf steht an. Nicht schon wieder, denkt das gebrannte Kind. Meine beiden ersten Bücher gingen - nach gutem Erfolg - schon an einem Neubesitzer zugrunde, der ganz frische dritte hat endlich in diesem Jahr die Rechte zurückgegeben. Dann das Happy End: Die Verlegerin übernimmt den Verlag selbst. Wieder hat ein Buch überlebt. Und ich kann mir die Rechte für meine ersten beiden Bücher endlich übers Bett hängen.

Vom Buch zum Film
Auch nach einem Jahr gelingt es nicht, ein Projekt zu verkaufen, das selbst mein Agent für "heiß" hält. Der erste Erdölrausch in Europa, Spiegel für eine Zeit der Gier und des Zockens, bis sich plötzlich der globale Markt etwas verschob und alles abstürzte, Neues entwickelt werden musste. Die Autorin hat fast zehn Jahre recherchiert und sitzt auf einem Schatz historischer Fotos. (Ich sag das so frei, weil ich es begraben habe und falls ein billiger Hausautor meine Bewerbungsunterlagen nacharbeitet - die Idee kam vor weit über einem Jahr von mir). Dann kam die Krise und der Ölpreis stieg. Jetzt musste das doch Thema sein!
Autorin und Agent konnten die Absagen nicht glauben, denn Idee und Probetext fanden alle gut. Nicht immer explizit, aber alle redeten in eine Richtung: "Das nimmt keiner unserer Leser einer Frau ab. Einem Mann ja. Wenn sie wenigstens in einem verwandten Fach promoviert hätte." Oder "Wo der Ölpreis so hoch ist, können wir doch unseren Lesern keine so harten Themen geben, die brauchen Tröstliches." Oder: "Erdölgeschichte ist doch kein Thema!" Spaß: Während die Verlage reihenweis zauderten, fiel das internationale Fernsehen ein (leider nicht bei mir). Jetzt ist das Thema von den Schnelleren gegessen. ARTE war auch dabei. Gut's Nächtle, liebe Verlage.

Vom Buch zur Bühne
Feinster Verlagskontakt für ein feines Lieblingsprojekt. Ich möge doch bitte, bevor man an eine echte Zusammenarbeit denken könne, in Großstadt X zu einem Gespräch vorbeikommen, am Soundsovielten. Absage der Fahrt durch die Autorin - ich hätte für die weite Reise zwei Monate hungern müssen, war vollkommen blank (damals lebte ich noch vom Bücherschreiben, haha). Nie wieder vom Verlag gehört. Dann der Bauchtrotz: Warum das Zeug als Buch drucken? Das kann man doch spielen! Autorin schreibt nächtens eine szenische Lesung für die Bühne und engagiert sich selbst als Hauptdarstellerin, Kostümfrau, Klinkenputzerin etc. Die Premiere ist ein voller Erfolg und bringt mehr Besucher als jede Lesung. Aber alle wollen das Script kaufen! Plan: Bei mehr Zeit und Kraft wird das neu aufgemöbelt, dann werden Veranstalter gesucht und drucken kann man das auch selbst. Denn welcher Verlag kauft schon Bühnenstücke, die einmal ein Buch werden sollten?

Vom Inland ins Ausland
Interessante Idee. Die kauft mir kein deutscher Verlag ab, denke ich sofort, weil ich den Markt kenne. Und die Verlage, die könnten oder würden, gibt es schon fast nicht mehr. Dann ein Zufall, noch jemand mit der Idee in Frankreich. Wir vergären gerade gemeinsam: ein zweisprachiges Buch. Und voilà - Frankreich ist für solche Themen offener. Jetzt fehlt nur noch die Zeit, weil beide Autorinnen nicht wenig Brotjob zu erledigen haben. Wir hecken aber schon aus... Warum immer im "eigenen" Land veröffentlichen?

Na, liebe Freunde rosiger Lebenschmonzetten, ist das nicht herrlich? Flexibel sein, improvisieren - irgendwie wird das schon. Was mich ein wenig erschreckt, ist nur die Tatsache, dass sich so viele Bücher in völlig andere Formen auflösen und mich das eigentlich gar nicht mehr wundert. Aber ich lasse im Brotberuf ja auch schon meine Texte auf Acrylglas dampfen und in Holz ritzen... Der Bedarf an erzählten Geschichten und guten Texten ist groß, sehr groß sogar - nur irgendwie woanders.

Gestern erzählte mir dann ein Freund, ein Bekannter sei voll aus dem Musik-Biz ausgestiegen, dem ginge es richtig gut. - Was der denn mache? - Na, der sitzt allein auf der Bühne und liest. - Und das funktioniere? - Ja, der hat so im Schnitt tausend Zuhörer. - Und der liest Bücher vor? - Nö, Texte, einfach Texte ohne Bücher. Die Leute sind verrückt danach.

Merke: 2010 den Bekannten fragen, wie man zu tausend Zuhörern kommt. Dann lese ich auch ganz ohne Buch.
Notiz: Überlegen, ob ich mich eines Tages noch BUCHautorin nennen darf. Vielleicht bin ich längst eine WALDautorin?

Erkenntnis

Ein fehlerhaft veröffentlichter Text kann durch eine gute Übersetzung gewinnen.

Lediglich

Verlagsumzüge sind derzeit hip. Und mit so manchem Umzugswagen fährt dann auch das alte Image davon. "Lediglich Bücher zu machen, das ist zu wenig" sagt jetzt Stefan Lübbe vom nicht mehr ganz so gleichnamigen Verlag im Börsenblatt. Lediglich Bücher... Es wird heftig umstrukturiert.

Mein kleiner Finger sagt: Ganz schnell "Lavendelblues" kaufen! Ich habe nämlich schon Wetten laufen, wann er verramscht werden wird... Na ja, vielleicht auch besser meine besseren Bücher kaufen ;-)
Hier fehlt mir ein neuer Tag: "author's delight".

27. Dezember 2009

Schwarzjahr, Blaurausch

Immer diese Jahresrückblicke

Normalerweise schreibe ich für Freunde und Blogleser um diese Zeit einen "Jahresbrief", eine Art Rückblick und Ausblick. Seit einiger Zeit bemerke ich jedoch das How-are-you-Syndrom. Wer "how are you" sagt, will nicht wirklich eine Antwort. Wer "wie geht's" nuschelt, ist entsetzt, würde man ihm die Wahrheit sagen. Nichtssagende Begrüßungfloskeln sind daraus geworden, übrigens sogar im Französischen, wo das durchaus mal anders war. Auf den Ehrlichen, Kritischen drischt die harmoniesüchtige Meute dann ein, er hat sie aufgeschreckt, wolle ja nur jammern, verschwimme im Selbstmitleid. Selbstschutz, weil man ja beginnen könnte, ebenfalls die dunklen Dämpfe zu sehen, die aus den Gesellschaftsspalten wabern.

Schwarzjahr

Ich verzichte also in diesem Jahr darauf, die ganze Wahrheit zu erzählen, denn die letzten beiden Jahre waren aus unbeeinflussbaren Gründen für mich schwarz-schwarz-schwarz. Und nein, mit "DER Krise" hat das alles nichts zu tun, die Krise ist ja hausgemacht, hat sich vor vielen Jahren schon angekündigt, sogar in meinem zweiten Roman kommt sie vor und das ist lange her. Wir haben es einfach wie beim "how are you" gehalten: Weggeschaut, nichts hören wollen.Wir leiden an einer geistigen Krise. Aber wir haben - materiell und in Ruhmkategorien gemessen - weniger zu verlieren, als wir befürchten. Wir haben dennoch so viel wie noch nie zu verlieren: uns selbst!

Und genau das war Thema meines letzten Jahres: Völlige Anpassung an eine gesichtslose, austauschbare Norm für Erfüllungsgehilfen durch Selbstverleugnung - oder Ich-selbst-Bleiben und kraftzehrendes, verrücktes Schwimmen gegen den Strom mit unsicherem Ausgang. Zwar war noch keiner auf letzterer Seite des Stroms gewesen, aber alle erzählten mir, dort lägen abgrundtiefe Wasserfälle, tödlich.

In der harten Schule Polens in den frühen Neunzigern habe ich gelernt, was ich 2009 brauchte:
Wenn nichts mehr geht, ist es nämlich Zeit, Schluss zu machen. Schluss mit der Krisensituation. Wenn alle kopflos und sicherheitskonfus nach rechts rennen, überlebt man am besten, wenn man sich nach links schleicht, sein Ding macht und heftig improvisiert. Auch auf die Gefahr hin, dass man zunächst unsichtbar bleibt. Ich bin mit Pink Floyd großgeworden, wir haben The Wall mitgegröhlt, weil wir ans Abreißen von Mauern glaubten...

Der erste Schritt ins kalte Wasser war elend eisig. Aber wenn man einigermaßen aufmerksam lauscht, bemerkt man, dass man dabei nie allein ist. Da sind nicht nur die anderen Mutigen, die vorsichtig den Zeh ins Wasser tunken und Angst vor den angeblichen Wasserfällen haben. Wenn man einmal mit beiden Füßen im Nass steht, begegnen einem plötzlich seltsame "Naturereignisse", die einem Mut und Kraft geben. Besondere Menschen, die plötzlich auftauchen. Die richtigen Bücher zur richtigen Zeit. "Zu-Fälle".

Dann mein Projekt über die Ballets Russes - ich hätte Diaghilew umarmen können. Was hatte der Mensch geschaffen, bis auf die Nachwelt, nur weil er an eine Sache glaubte, sich nicht hineinreden ließ, dickköpfig war bis zum Eklat! "Ah Monsieur, das hat man noch nie gemacht, das ist unmöglich!", sagte man ihm in der Administration der Pariser Oper. Wem kommt dieser Satz nicht bekannt vor? Und dann verfielen sie dem Zauber des ganz Neuen, des Ungewöhnlichen, des Risikos. Nicht dass ich mich mit so einem vergleichen könnte, aber ein Vorbild dieser Art macht Mut, zumal der Mann die Kraft besaß, trotz persönlicher Armut Millionen zu bewegen. Warum schauen wir starr wie ein Rehkitz auf die Beutegeier, anstatt mehr Augenmerk auf Vorbilder und Mutige zu lenken?

Wenn man sich dann langsam an die Temperatur im kalten Wasser gewöhnt hat, kommt manchmal die kochende Wut - und das wärmt und spornt erst recht zum Schwimmen an. Wut macht mich trotzig: "jetzt erst recht" - und schließlich kreativ. Barrieren? Mit dem Kopf durch. Auf der anderen Seite stehen die Palmen...

So ein Schwarzjahr, das einen zwingt, die eigenen ausgetretenen Pfade zu verlassen und darüber nachzudenken, wie sicherheitsgeil man selbst schon verkommen ist, endet im Blaurausch. Gefährliche Sache. Es handelt sich dabei um eine Blickwinkelverschiebung, gegen die weder Brillen noch Laser helfen. Plötzlich sieht man alles in einem anderen Licht. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war und vieles steht auf dem Kopf. Man arbeitet sich mit letzter Kraft durch Stromschnellen und ist von Glück beseelt, weil man es geschafft hat. Soll der Wasserfall kommen, den fliegt man eben hinab.

Wie soll ich das erklären? Gewisse schwarze Zeiten bergen eine ungeheure Zukunftskraft. Wenn Vertrautes explodiert, macht das zunächst Angst - aber es befreit auch, es macht Platz für Neues, Erstarrungen geraten in Bewegung. Gewitter reinigen. Manchmal ist es besser, ein System implodiert schnell, als dass es langsam und unsichtbar über Jahre hinweg Schaden anrichtet. Schließlich haben wir Jahrzehnte Zeit gehabt, die Krise kommen zu sehen, haben fleißig an der Gier mitgearbeitet. Es gärt. Manches ist gefährlich. Eine instabile Situation kann immer kippen, aber sie ist lebendig. Ich habe das Gefühl, selten sind so viele Menschen ein ganz klein wenig aufgewacht. Man diskutiert, denkt nach. Weit werden die Wege sein, aus der Bequemlichkeit zu kommen. Viel wird noch zu bereden sein, aber manche handeln bereits.

Blaurausch

Warum Blaurausch? Weil mir in der Schwärze von 2009 in einer Ausstellung ein Zitat auf einer riesigen Wand ins Auge fiel:
"Wir werden aber nicht müde, es zu sagen und noch weniger müde, die neuen Ideen auszusprechen und die neuen Bilder zu zeigen, bis der Tag kommt, wo wir unseren Ideen auf der Landstraße begegnen."
Als dieser Satz veröffentlicht wurde, kämpften Künstler für das Überleben und Erwachen von Seelen gegen den "Alpdruck der materialistischen Anschauungen" - mit Kunst. Es kämpften Künstler ums nackte Überleben und um die Durchsetzung neuer Ideen gegen die etablierten, plüschig und miefig gewordenen Salons. Im Jahr darauf sorgte Nijinsky mit Choreografie und Tanz seines Faun für einen Eklat unter den Großbürgerlichen, den Angepassten, für den ersten Bühnenskandal der Welt. 1911 erschien obiger Satz von Franz Marc im neugegründeten "Blauen Reiter". Der Maler, der in der Kunst schnödem Materialismus Geistiges entgegensetzen wollte, hieß Wassilij Kandinsky.

Zeiten und Situationen ändern sich, aber Vergangenheit kann immer auch ein Spiegel sein für die Gegenwart, eine Reibungsfläche. Wir müssen nicht alle Fehler wiederholen. Wir können lernen. Lernen, wieder zu staunen und zu wagen, zu spielen und zu experimentieren.

Der Wasserfall auf der unbekannten Seite des Flusses war schon in der Vergangenheit nur eine Schimäre. Falsche Gefahren aufzubauen und Angst zu schüren, ist ein Machtmittel. Es hält die Leute klein und still, lässt sie kopflos re-agieren statt agieren. Es lenkt so schön von der Hauptsache ab. Solche Wasserfälle entpuppten sich durch die ganze Geschichte hindurch immer wieder als Blendungen. Heute knallen sie gnadenlos durch die Medien auf uns herab: Schweinegrippe oder Klimakatastrophe, Web 2.0 oder zu schnürende Politikerpakete - wer blickt noch durch? Sollen wir denn noch durchblicken? Dürfen wir denn noch Zeit zum Querdenken haben?

Was würde passieren, wenn wir uns in Stille vor eine blaue Wand setzen würden, ohne Handy, ohne Internet, in Stille? Halten wir Stille noch aus? Haben wir noch Blau ins uns?

Auch das hat schon Franz Marc gesagt, dass es erst Zukunft gäbe,
"wenn die Modernität aufgehört haben wird, den Urwald der neuen Ideen industrialisieren zu wollen."
Mein Wunsch für 2010:
Nehmen wir unser Denken endlich wieder selbst in die Hand. Machen wir endlich mal wirklich BLAU (Mutige können das anklicken).

update:
Never waste a crisis - da denkt noch jemand BLAU.

26. Dezember 2009

Was für ein Zapp!

Hiermit oute ich mich noch einmal als Fan von Zappadonghausen, einem Ort in der zugigen Schweiz mit der Widerstandskraft eines gewissen gallischen Dorfes und dem Charme von Entenhausen. Und das kommt alles nur durch die Hauptbewohner, eine gewisse Frau Zappadong (mit einem übrigens ganz gefährlichen Beruf), die ihren Mr. Doorman featured, und in einem ganz seltsamen, riesigen, hotelartigen Haus wohnt, das sie unlängst in die Erde versenkt hat. Was ich außerdem herausgefunden habe: Es gibt darin einen Panikraum, in dem man allerhand schräges Gesindel trifft. Und vornehmlich um die Weihnachtszeit kommt Onkel Vladimir, der mir schon richtig ans Herz gewachsen ist, weil er mit einer wunderbaren Nonchalance Uran schmuggelt und nun auch noch nach schwarzen Löchern sucht. Kurzum, eine Familie, wie sie sich jeder unter den Tannenbaum wünscht.

Jetzt hat Frau Zappdong aus einem geheimnisvollen Ort eine Postkarte geschickt und darin gibt's per Link etwas zu lesen, was ich ALLEN verordnen will. Weil da so schön kurz und knapp formuliert ist, woran unsere "zivilisierte" Konsumwelt krankt und wie man das ganz einfach anders machen könnte. Vermeidung des Panikraums pur, hier nachzulesen.

Und werte Frau Zappadong, wenn ich mal so nonchalant und unverschämt sein dürfte wie Onkel Vladimir, dann würde ich mir für die Zukunft irgendwann den Zappadong-Comic wünschen oder ein Best-of für Fans oder einfach noch viel viel mehr aus diesem seltsamen Haus, das nur noch einen Meter über die Erde schaut.

Ihre Fans Petra, Asterix, Obelix und Donald

Bald Klorollenschreiber?

Wer länger hier mitliest, hat sich wahrscheinlich schon mindestens fünf mal die Anekdote anhören müssen, wie mich meine Mutter als ungefähr Fünfjährige besorgt zum Arzt schleifte, weil ich nicht "normal" mit meinen Wachsstiften umging. Anstatt brav wie alle anderen schöne bunte Bilder für Mama zu malen (was ich natürlich auch tat), kritzelte ich nämlich massenhaft Papier mit einem seltsamen Krikelkrakel in Linien voll. Und das Schlimme: Ich war kaum zu stoppen. Weil ich noch nicht schreiben und lesen konnte, hatte ich schnell mal eine "Geheimschrift" erfunden, um all die Geschichten aufzuschreiben, die mir Schmetterlinge und Tulpen erzählten. Der wunderbare Arzt verordnete mir damals Tapetenrollen und mindestens drei mal täglich deren Benutzung. Seither schrieb ich meine Geheimschrifttexte als Meterware herunter.

Als ich größer wurde, gab es Klopapierrollen mit aufgedruckten Witzen zu kaufen, das war damals absolut hip. Siehste, sagte ich mir, falls aus dir mal nichts werden sollte, kannste immer noch als Klopapierrollenbeschrifter gehen. Rollenerfahrung hatte ich ja bereits. Jetzt bin ich ganz groß, aus mir ist tatsächlich nichts Gescheites geworden, aber die Schreibaussichten laut Deutschlandfunk sind noch prunkiger als damals. Der titelte nämlich kürzlich: "Stapelware vor Kompetenztapete".
Meine Mutter fragt sich ja heute noch, was mit mir kaputt war. Jetzt kann ich die Krankheit endlich benennen: Kompetenztapeten-Durchfall!

Das Sendescript unter dem Link empfehle ich nur ganz Hartgesottenen, welche die Perversitäten aushalten, denen wir Autoren in Zukunft immer stärker ausgeliefert sind. Ich empfehle ihn außerdem den Aufklärung suchenden Lesern, die sich danach ihre Bücher lieber bei Verlagen direkt bestellen oder im unabhängigen Buchhandel - so viel Öko darf sein zum Artenschutz bald aussterbender Autoren. Und selbstverständlich ist er ein gefundenes Fressen für Typen wie mich, die bei solchen Zukunftsschauen immer lauter lachen und sich denken: Profithaie, passt auf, dass ihr euch nicht bald ganz böse gegenseitig überflüssig macht. Für Tapeten brauchen wir euch nämlich nicht mehr - das kann jedes Kind allein!

24. Dezember 2009

Antiprogramm

Psssst, ich bin eigentlich in Urlaub. Aber der muss noch, weil ich weiß, wie viele Menschen dieser Tage grässlich leiden und wie viele nicht laut zugeben mögen, dass Weihnachten weit hinter ihren Illusionen hinterherhinkt. Das Problem mit dem Hinken haben Journalisten nun berechnet und kommen zu dem Schluss, dass der Weihnachtsmann schlicht dauersturzbesoffen ist.

Warum das mit ihm und der happy family schon weit vor Ostern so ein Kreuz ist, erklärt Alexei Makartsev in einem köstlichen must read Article: "Alles im Fluss". Very british dann auch die Bastelanleitung, wie man zumindest Teile der Familie, wenn sie denn nicht mehr so happy ist, wieder loswerden kann: Trennung per Facebook. Ich finde, das hat was, denn so kann man das Altmaterial gleich recyclen.

Happy X...

22. Dezember 2009

Nahrungskette

Manchmal grusle ich mich vor meinen eigenen Vorhersagen. Die Branchenblätter machen es nun öffentlich ... heute das Börsenblatt: Es ist die Rede davon, dass Verlage nicht nur weniger Titel einkaufen werden, sondern sogar welche streichen. Midlist und unbekanntere Autoren können sich schon einmal warm anziehen: "Käufer für Titel unbekannter Autoren zu begeistern, bleibt dem engagierten Kleinbuchhändler überlassen."
Das kleine bißchen weihnachtlichen Horror kann sich das Ende der Nahrungskette hier abholen. Guten Appetit!

Ich denke, das ist ein feiner Anlass, hier ein wenig Urlaub einzuläuten (Kommentare werden ich wahrscheinlich trotzdem geben und vielleicht auch trotzdem bloggen, wie das halt so ist, wenn man trotzdem arbeiten muss), sprich, bis Jahresende wird das hier etwas lahmer laufen. Madame strampelt sich nämlich in ihren Brotjobs ab, würde gern mal wieder ein Buch schreiben und bekommt die rechte Idee für den Stapel an der Kasse nicht gebacken, sondern nur so abstruses "engagierte Kleindingens"-Sachen, von denen mir die Vernünftigen abraten und zu denen die Verrückten zuraten.

Und deshalb gibt's im nächsten Jahr ein Interview mit einem engagierten Buchhändler, ein Interview mit einem engagierten ... wird noch nicht verraten ... und jede Menge Gegenwind und Ideen von feinen, mutigen, engagierten Klasse-statt-Masse-Leuten - nebst Rezensionen von Büchern, die einfach viel zu gut sind, um sie in Riesendiscountern zu verramschen. Napoleon war auch klein.

Und weil ich Hanukka immer vergesse und Ramadan und Weihnachten und Ostern und den Tag der ausgeschlüpften Maikäfer, mach ich's kurz und schmerzlos:
Danke fürs Mitlesen in diesem Jahr. Noch mehr Dank fürs Kommentieren, das einem das Gefühl gibt, wenigstens nicht ins NICHTS zu tippen und vor allem schöne Inspirationen und Kontakte beschert. Danke fürs Wiederkommen nach Schreibpausen.

Und vielleicht kann ich Ihnen über den Jahreswechsel mitgeben, was ich ständig so wortreich zu sagen versuche: Schauen Sie der drohenden Apokalypse aufdringlich ins Gesicht. Sie hat bisher immer den Schwanz eingezogen und sich getrollt. - Und es kommt immer anders, als alle sagen.

Geheimzeichen

Alles ist gerade so schön wunderlich weihnachtlich und selbst Erwachsene tun so, als würden sie an den buckligen Weihnachtsmann von nebenan glauben. Kennen Sie das: Sie ahnen nichts Böses, parken zufällig mal perfekt ein und plötzlich landet eine grüngepunktete Feder auf ihrer Windschutzscheibe? Einfach so, ohne vorher anzuklopfen. Ein Zeichen? Aber bitteschön wofür? Für die nächste Vogelgrippe eine Warnung oder einfach nur eine Einladung, das Leben einmal federleicht zu nehmen?

Ich hörte heute im Radio von einem, der Akupunktur an Geigen setzt, meine Nachbarskinder glauben aus irgendeinem verrückten Grund immer noch, dass Schneemänner Karottennasen haben müssten - und dann gibt es diese Leute, die alles in Kreisen sehen, also auch ohne Alkohol; ich meine, denen kann man vor die Füße pfeffern, was man will, es kommt Beziehungssalat heraus. Du hast vergessen, Öl einzukaufen - vielleicht geht in deinem Leben doch nicht alles wie geschmiert, wo hakt es denn? Du hast Atembeklemmungen gehabt? Nimmt dir der Typ vielleicht die Luft?

Ich glaube ja nicht an solchen Kram. Das heißt, ich glaube, dass man aus allem Verbindungen konstruieren kann. Jemand, der schon früh morgens vom Chef eine Rüge erfährt, sollte sich überlegen, wie tief er heimlich vor dem Frühstück mit dem Finger in den Honigtopf fährt. Und wenn es plötzlich regnet, bin ich doch eindeutig selbst schuld, weil ich 1. den Regenschirm vergessen habe oder 2. den Regenschirm mitgenommen habe. Ich glaube an die Willkürlichkeit von Zeichen und ihre künstlerische Verrücktvernetzung.

Also habe ich vorgestern zum Spaß einen Roman geprobt, den ich garantiert nicht schreiben möchte. Weil der Probetext in Venedig spielte, legte ich Gustav Mahler auf. Nix mit Zufall. Ich weiß ja noch, was meine Finger tun. Aber genau mit dem letzten Punkt in Venedig dödelte diese verdammte Visconti-Stelle los... Ich machte noch einen Punkt. Kein Entrinnen. Der Text war und blieb, Mahler dödelte. Also las ich noch ein wenig im Romanstoff herum... las über Boris Godunow... (nein, das ist nicht der Typ, der kürzlich illegal im Nachbarhaus untergekommen ist, sondern ein Typ, den ein gewisser Mussorgsky...)

Ablenkung. Twitter. Jemand ballert mir das Buch eines Petersburger Schriftstellers entgegen. Jemand anderes bewirft mich mit Petersburger Bahnhofsbildern, dass es eine Reiselust ist. Ich nehme mir vor, endlich in Baden-Baden Prospekte mitzunehmen, immerhin treten mir dort die Petersburger auf die Füße und brummen die Billigflieger über meine Birne. Dann sage ich mir: Nein, es darf nicht sein. Nein, ich will nicht. Und können kann ich schon gar nicht. Ich werde NIE einen verdammten Roman schreiben, der teilweise im verdammten Petersburg spielen würde.

Aber man ist ja Perfektionist. Also drucke ich mir gestern den Probetext für das garantiert nicht zu Schreibende aus und finde ihn gar schauerlich. Klasse, erlöst. Feierabend. Ratzfatzweg! Doch irgendein Schweinehund in mir greift trotzdem noch mal hin, fängt an zu korrigieren, umzuschreiben. Findet Gefallen, Melodie. Nebenher läuft das Radio, weil ich eigentlich nicht arbeiten wollte. Lekoriere diesen Kram von diesem Typen, der einmal Boris Godunow...

Im Radio knödelt ein Bass. Außergewöhnlich gut. Außergewöhnlich russisch. Ich werde aufmerksam, vergesse meinen Text und bin gebannt. "Sie hören heute... blablabla... Boris Godunow in einer historischen Aufnahme mit.... erinnernd an den großen Schaljapin.".

MERDE. Ich denke tatsächlich in Großbuchstaben. Mit diesem blöden Schaljapin hat alles angefangen, was ich nicht anfangen will. Ums Verrecken nicht, blöd müsste ich sein. Aber die haben kein Erbarmen, dudeln ihren Boris in den Äther und ich komme nicht an den Ausschaltknopf, weil ich einen Text lektoriere, den ich nie schreiben will und an dem eigentlich nur Boris Godunow schuld ist.

Was mach ich jetzt? Kann mir mal bitte jemand diese grüngepunktete Feder aus dem Gesicht nehmen? Kennt jemand ein Gegenmittel? Sozusagen eine Antipest gegen Petersburger Viren und venezianisches Sterbegedöns? Kann ich irgendwo schnell eine Ausbildung zur Beamtin machen oder mich impfen lassen?

Eben, das ist es. Hätte ich nicht Radio gehört, hätte mir Boris nicht in die Ohren gedröhnt. Ich hätte diesen dämlichen Text korrigiert und einfach weggeworfen... Stattdessen liegt er jetzt da. Aufdringlich wie ein russischer Bass. Zu Hilfe! на помощь!

20. Dezember 2009

Wozu Verlage? (Teil 2)

Auch hier nur schlaglichtartig - man könnte eine Doktorarbeit schreiben. Ich erzähle einfach mal aus meiner eigenen Arbeit, damit wird klar, dass es sich hier nur um eine klitzekleine Auswahl handelt.

Rechte abklären
Sachbuch: Kitzlige Sache, das mit den Rechten. Nicht jeder Autor ist mit einem spezialisierten Anwalt befreundet. Da sind zum einen die Persönlichkeitsrechte: Eine Tochter von Nijinsky und Enkel leben noch. Man kann also z.B. über deren Mutter nicht lustig flockig von der Leber weg schreiben, sondern muss darauf achten, Persönlichkeitsrechte nicht zu verletzen. Ein Verlag hat in der Regel die größere Erfahrung und wird auch abwägen, welches Risiko er eingehen kann - im Ernstfall ist er mein Ratgeber.

Dann sind Abdruckrechte einzuholen und gegebenenfalls Honorare dafür zu zahlen. Immer dann, wenn ich das Zitatrecht überschreite, aber auch für Fotos, die zudem recherchiert werden müssen. Das nimmt einem normalerweise der Verlag ab - ich kann also befreit schreiben. Da ich selbst beruflich solche Archivrecherchen betreibe, kann ich ermessen, wie viel Arbeit z.B. in der Bebilderung des Rosenbuchs lag. Hier hat nicht nur jemand im Verlag tief in Archiven gewühlt, sondern auch noch genau meinen Text gelesen und wirklich darauf passende Bilder ausgesucht - und die Rechte beschafft und bezahlt. Ich selbst habe dann aus einer größeren Auswahl nur noch die Endauswahl getroffen und kann mich befreit zurücklehnen: alles erledigt, alles rechtens. Und die Bebilderung passt perfekt. Hat Kunstdruckqualität.

Manchmal hat man Pech und irgendwer führt einen Prozess - siehe Tannöd. Vor allem, wenn man einen Erfolg gelandet hat, steigt die Neigung zur Anklagerei, viele wollen etwas vom Kuchen abhaben und manchmal ist vielleicht wirklich ein Fehler unterlaufen. Würde mein Buch im Selbstverlag oder im PoD-Verfahren erscheinen, könnte ich schauen, wo ich allein bleibe. Ist es in einem seriösen Verlag erschienen, wird dieser hinter mir stehen und hat vielleicht sogar eine eigene Rechtsabteilung, die mich unterstützt. Die berät auch mal lange im Voraus bei kritischen Fragen.

Lesungen
Noch so eine Sache: Ich schätze es sehr, wenn mich ein Verlag bei meinen Lesungen unterstützt. Das ist nicht selbstverständlich, ich kenne eine Kollegin, die bei einer großen Lesung ohne Bücher dastand - der Verlag hatte schlicht vergessen zu liefern, obwohl die Lesung seit Monaten immer wieder besprochen worden war. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass mehrere Verlage nebeneinander auf dem Lesetisch eines vielseitigen Autoren liegen möchten. Ich habe Glück - mit meinem Rosen- und Elsassbuch muss ich mich um nichts kümmern, einfach die Adressen weiterleiten oder den zuständigen Buchhändler nennen. Wenn ich komme, ist der Büchertisch fertig, alles wird geregelt, oft werden die Bücher auch zeitlich rund um das Ereignis verkauft. Und das, obwohl ich recht selten in Buchhandlungen lese, sondern freie Veranstaltungen plane - ein Mehraufwand für den Verlag. Wer je selbst eine Lesung organisieren musste und den Verkauf obendrein, der weiß, wie viel Arbeit und auch geschäftliches Risiko einem da abgenommen wird (abgesehen davon, dass ich als Autorin gar keine Bücher verkaufen darf).

Es ist auch von Vorteil, die wichtigsten Verlagsmitarbeiter persönlich zu kennen und längerfristige Beziehungen zu knüpfen. Vielleicht passt das nächste Manuskript nicht ins Programm, aber das übernächste. Vielleicht wird man angesprochen, ob man nicht eine Idee in einer bestimmten Richtung in der Schublade habe (dafür brauchen wir Autoren unsere Schubladen, Portfolio genannt). Oder man kommt durch die Zusammenarbeit auf eine genau passende Idee. Und wieder entsteht ein Buch.

Qualität des Lektorats
Dann habe ich eine Leistung schätzen gelernt, die absolut nicht in jedem Verlag üblich ist - wir haben bereits an verschiedenen Stellen gehört, dass beim Lektorat oft heftigst gespart wird. Mein Rosenbuch hat z.B. nicht einfach "nur" ein Lektorat bekommen, sondern ein sogenanntes Fachlektorat. Der Lektor saß mit meinem Manuskript in der Unibibliothek und hat akribisch jede meiner Behauptungen auf Richtigkeit und Logik überprüft. Manchmal gab es wissenschaftlich mehrere Möglichkeiten, dann haben wir uns für eine entschieden, die mir am wahrscheinlichsten scheint. Natürlich werden nicht alle Leser dieser Auswahl folgen mögen, natürlich ist auch ein Fachlektorat nicht vor Fehlern gefeit. Ich war aber schon froh, dass da jemand in Sachen Theologie, Geschichte oder Chemie und Genetik wirklich nachpüfte, ob ich nur vom Pferd erzähle... Und ich war positiv überrascht, aus diesem Fachlektorat noch Zitate und Hinweise zu erhalten, die mir nach ausführlicher Recherche noch nicht bekannt waren. Ein derart bearbeitetes Buch gibt man gern in die Hände der Leser. Ein Autor allein kann das nie und nimmer leisten - und Fachlektorate selbst einkaufen? Die sind teuer.

Kurzum: Verlage werden in Zukunft absolut nicht überflüssig werden. Was sich verändern wird, sind die immensen Leistungsunterschiede, die man immer genauer vergleichen muss. Und jeder Autor sollte sich im Vorfeld fragen, welche Verlagsleistungen ihm unverzichtbar scheinen und welche eher unwichtig. Tatsache ist auch, dass man mit einem Verlag ein Team bildet, als Autor also nicht die Hände in den Schoß legen sollte und sagen: macht mal. Hier erweist sich die Professionalität des Autors - ist er mehr als nur eine "Schreibmaschine"? Denn auch das vergessen die meisten Laien: Professionelle Autoren leisten sehr viel mehr als nur das Schreiben eines Manuskripts. Sie müssen aber bei einem seriösen Verlag auch keine unbezahlten Fremdarbeiten übernehmen, als da wären Grafik, Lektorat oder Vertrieb u.ä.

Die im Artikel genannten Bücher sehen Sie rechts im Menü. Und wenn sich jemand fragt, wieso ich so viel schreibe, dass man mit Lesen schier nicht nachkommt: Dieses Blog macht über die Feiertage Urlaub. Also bleibt genug Zeit zum langsamen Lesen... nur keine Eile!

Wer noch mehr zum Thema will: Richard K. Breuer beschreibt in einem Jahresrückblick das Strampeln von Kleinstverlegern respektive Autoren und die Marktkonditionen: "Der Schwanz, der in die Katze beißt".


update:
Weil in einem Kommentar J.K. Rowling angesprochen wurde - hier ein englischer Artikel über vier berühmte Autoren, die das Schreiben nicht aufgaben - und wie das so kam mit dem Berühmtwerden. Natürlich warten wir jetzt alle, dass unser Buch im rechten Moment dem Richtigen auf den Kopf fällt!

Wozu Verlage? (Teil 1)

Als meine Freundin gestern hörte, wie lange es im Schnitt selbst mit Literaturagentur dauert, bis sich ein Verlag zum Kauf eines Manuskripts entscheidet (und andere derweil ablehnen) und bis das gute Stück fertig bearbeitet, gedruckt und im Handel gelandet ist, musste sie jappsen. "Wieso tust du dir das an, das kannst du doch heutzutage sofort selbst drucken!" Als ich ihr erklärte, wie viel Zeit, Geld und professionelle (!) Arbeit ich in Selbstgedrucktes investieren müsste, um annähernd den gleichen Erfolg zu haben, jappste sie noch einmal.

Die meisten Laien glauben, ein Verlag verbessere ein wenig "herum", drucke - und fertig. Manche wissen, es gibt in größeren Verlagen eine Presseabteilung und irgendwelche Ober- und Oberoberlektoren oder so etwas ähnliches. Grafik, Vertrieb, das ordnen auch viele einem Verlag zu. Was aber Verlage im Hintergrund noch so alles tun, wissen selbst manche Kollegen nicht. Ich will einmal einige dieser Facetten beleuchten. Alle Beispiele sind willkürlich und spontan gewählt und keine Qualitätsurteile.

Die bekannteren Vorteile:

Qualitätsstandard und Stammleser
Verlage garantieren einen gewissen Qualitätsstandard, der natürlich wie in jedem Unternehmen auch einmal unterlaufen oder übertroffen werden kann. In der Regel weiß ich jedoch als Leser, dass ich weder mit einem Tagebuch von Tante Erna behelligt werde (es sei denn, sie ist Promi) noch das selbstverliebte Psychogesäusel von Hempel über eine Fliege an der Wand ertragen muss (es sei denn Hempel hat in Leipzig studiert, sorry, der Kalauer musste sein). Ich muss mich also nicht durch das wühlen, was im Internet wuchert: Dilettantismus. Manche Verlage haben sogar ein derart scharf gezeichnetes Qualitätsprofil, dass sie damit bekannt wurden, Beispiele wären die Diogenes-Krimis, die Dumont Bildungsreiseführer oder die bunten Bilder von Taschen. Während es bei den Riesenverlagen eher wabert (ob der historische Roman bei Random House oder rororo erscheint, ist letztlich egal geworden), stehen vor allem kleinere Verlage für ein ausgeklügeltes, sehr eigenes Programm (nehmen wir mal den Verbrecherverlag, Konkursbuchverlag oder Voland & Quist).

Für den Leser ist der Vorteil klar: Als Krimifan brauche ich Kinderbuchverlage gar nicht erst anzuschauen. Darin liegt auch der Vorteil für Autoren: Mit einer Kochlöffelkulturgeschichte treffe ich am ehesten im Kochbuchverlag oder im Verlag mit schrägen Kulturgeschichten auf potentielles Publikum. Komme ich derart passend unter, muss ich nicht - wie im Selbstverkauf - von vornherein Streuverluste in großer Höhe einplanen. Anders ist das bei weniger eingrenzbaren Projekten, etwa der Liebesgeschichte auf dem englischen Schloss, die so viele machen. Da braucht es dann einen Werbeapparat - und das kostet richtig viel Geld.

Finanzierung und Wirtschaftlichkeit
Hier sieht man einen Vorteil, den die wenigsten beachten: Ein Verlag finanziert ein Buch, nicht der Autor! Der bekommt im Gegenteil natürlich auch einen Vorschuss (in aushandelbarer Höhe und nicht immer) und Tantiemen von den verkauften Büchern. Auch wenn das im Vergleich zu "ordentlichen" Berufen jämmerlich wenig ist, gibt es doch Ellenbogenfreiheit für die Arbeit. Vor allem werde ich als Autor vom Verlag für meine Arbeit bezahlt - und nicht etwa umgekehrt.

Hier sitzt ein Vorteil und gleichzeitig ein Nachteil für den Autor. Verlage müssen nämlich wirtschaftlich denken, haben eine Verantwortung als Firma, auch gegenüber den Angestellten. Erna und Hempel können mit selbstgestrickten Projekten auf die Nase fallen, das ist dann ihr Privatproblem. Wird mein Manuskript von einem Verlag gekauft, weiß ich also, dass dieser sich genügend Erfolg damit ausrechnet, um wirtschaftlich zu sein. Ich schreibe nicht in den Wind. Ich kann mir vorstellen, dass der Verlag dafür auch einiges tun wird, er will ja schließlich auch etwas einnehmen. Schön so weit. So war das früher überall. Das ist das Ideal. Und je niedriger die Finanzkraft des Verlags, desto mehr muss er sich da anstrengen (wobei natürlich keiner vor Misswirtschaft gefeit ist).

Nun gibt es aber zunehmend das Phänomen, das in Autorenkreisen als "Altpapier" bezeichnet wird (das Feuilleton berichtete zur Buchmesse über Schredderaktionen). Konzerne machen das bei Trendthemen. Herrscht z.B. seit Jahren der absolute Hype für Liebesromane, die an der Börse spielen, kaufen diese zu den meist extrem teuren Bestsellerlizenzen aus dem Ausland extrem billige Fleißschreiberlein aus dem Inland ein. Plötzlich schreibt jeder vierte aus Frankfurt Börsenliebesromane, mindestens einen pro Jahr - und das bei jedem großen Verlag. Unternehmerisch gesehen dient das als "Füllmasse".

Das ist wie bei der Shampoofirma, die vielleicht vier wirklich tolle Shampoos kreiert hat. Um sich aber zur Nr. 1 am Markt aufzublasen und Regalflächen in den Discountern großflächig zu besetzen, muss sie noch viel mehr Shampoos auf den Markt werfen, die eigentlich keiner braucht. Sie kann ja nicht daherkommen wie der Popelkonkurrent, der eben noch den Russenmarkt bestückt hat. Das Shampoo für halbmittelkurzes fettiges Haar an Montagen dient also lediglich dazu, das Antifettshampoo noch massiver in den Handel zu drücken. Wird es unverhofft zum Renner, hat man sich als Nr. 1 wieder bestätigt und schlachtet die Sache aus, solange es geht. Ein Glücksfall, denn man hat dafür ja fast nichts investiert, schon gar keine Werbung. Bleibt es wie erwartet im Regal liegen, kommt es ins Recycling und der nächste Produktmanager darf sich bewerben. Traurig muss man nicht sein, denn man hat ja dafür fast nichts investiert.

Der Kunde merkt den Unterschied nicht. Im Idealfall glaubt er, dringend ein Shampoo für Haare an Montagen zu benötigen. Denn wenn so viele Flaschen davon im Regal in bester Reichweitenlage stehen, müssen doch ganz viele Menschen so etwas benötigen? Dann ist es doch irgendwie "in"? Ausprobieren, bevor Tante Erna schneller ist...
Für den Autor sieht es schwieriger aus: Er ahnt nämlich nicht, ob er "echt" eingekauft wurde oder als "Altpapier". Er weiß auch vielleicht nicht, dass man heutzutage sehr genau hinschauen muss und abwägen -  und dass man sich in dieser Hinsicht sogar den Verlag aussuchen muss. Kann man nicht, weil man froh sein muss zu veröffentlichen? Kann man. Nein sagen kann man immer. Veröffentlichen muss man nicht um jeden Preis.

Alles ein Märchen? Nein, immer wieder nachzulesen in Branchenblättern und dem großen Feuilleton. Ich selbst kenne eine Sachbuchautorin, deren Taschenbuch nach sage und schreibe vier Monaten verramscht wurde - sie hatte nicht "ihr" Buch geschrieben, sondern einen Trend nach Auftrag bedient, in dem sie als Newcomer völlig unterging. Vier Wochen später gab es die nächsten Neuerscheinungen. Ich kenne einen Romanautor, Trendthema, der es auf immerhin 500 verkaufte Exemplare im ersten Jahr in einem Konzern brachte und trotzdem noch einen zweiten und dritten Vertrag bekam! Dann war er weg vom Fenster, Altpapier (mit guter Eigen-PR und ordentlichen Verkaufs-Kanälen kann man diese Auflagenhöhe im Eigenverkauf erreichen).

Es gibt also in der Tat inzwischen Grenzen, wo einem zumindest verkaufstechnisch ein Verlag nicht mehr zwingend das bringt, was früher getan wurde. Allerdings muss ich mir überlegen, ob ich das Notwendige im Eigenverlag selbst professionell leisten kann. Und ob ich neben der Schreibarbeit die Zeit habe.
Auf der anderen Seite habe ich natürlich auch im Vorfeld die Möglichkeit, mich nicht unbedingt altpapierverdächtig zu machen ... aber das ist wiederum eine Kunst... Und ein bißchen, wie alles in diesem Beruf, Roulette.
Mein Tipp, die Schredderrate eines Verlags zu überprüfen, ist übrigens ganz einfach:
1. In der Online-Büchersuche schauen, ob Trendbücher von deutschsprachigen Autoren nach einem Jahr noch lieferbar sind (oder zweien - je nach Thema)
2. Je gepflegter und umfangreicher die Backlist, desto besser für den Autor und das Überleben eines Buchs.

Im nächsten Teil die eher unbekannteren Vorteile...

19. Dezember 2009

Denken light

Es machen sich noch mehr Menschen um die Verflachung der Buchwelt Gedanken. Und nicht nur um diese. Für einen besinnlichen Sonntag empfehle ich Julie Zehs sprachlich wie inhaltlich brillanten Artikel "Selbstgewählte Dummheit" in der WELT.

Und noch eine kleine Ankündigung in eigener Sache: Auch zufällig heute ging ein Rezensionsexemplar an mich, das ich wahrscheinlich im Januar besprechen werde. Ich kann jetzt so viel verraten: Es ist ein Beispiel für Verlegermut - aus einem Verlag, von dem selbst ich bis dahin noch nie gehört habe (Schande für mich). Und es ist ein Buch, das man früher in einem der ganz großen Verlage vermutet hätte, übersetzt von... nein, ich verrate nicht mehr, erst muss ich ja lesen. Aber die Perlen scheinen heutzutage doch plötzlich ganz woanders herumzukullern als dort, wo man sie vermutet!

Frust? Nein: Leidenschaft!

Es ist doch vertrackt - ich denke, ich schreibe einfach Tatsachen auf und gerate bei Twitter in den Verdacht, nur meinen persönlichen Frust über den Buchmarkt herauszulassen. Ich solle mir doch einen anderen Beruf suchen, wenn ich so unzufrieden wäre, meinte da jemand sogar. Woher kommt dieser seltsame Eindruck? Schwelge ich zu wenig in der Öffentlichkeit? Bringe ich zu wenig Happy End in mein Blog? Oder haben eher die anderen Schwierigkeiten, den nackten Tatsachen ins Gesicht zu sehen? Gleichzeitig bekomme ich Mails von Kolleginnen und Kollegen, die sich bedanken, dass endlich jemand schonungslos ausspricht, was Sache ist. Und da höre ich von ihren Erfahrungen - und ihrer Angst, das selbst vor Kollegen einzugestehen: Man wolle sich nicht angreifbar machen und keine Schwächen eingestehen. Dabei sage ich auch nicht mehr, als längst im Buchreport, Börsenblatt oder Feuilleton zu lesen ist - ich lese berufsbedingt als Journalistin vielleicht nur mehr Fachartikel als andere.

Falls das schon einmal jemandem aufgefallen sein sollte: Ich schreibe in meinem Blog überhaupt nichts über meine eigenen Verlage, sonst könnten sich die Ärmsten nämlich vor unverlangt eingesandten Manuskripten noch weniger retten. Ich schreibe auch nichts über meine Arbeit diesbezüglich, weil Arbeitsverhältnisse in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben. Schon von daher können meine Artikel keinerlei persönliche Betroffenheiten wiedergeben. Wenn ich hier berichte, dass Verlage mir als Frau gewisse Dinge nicht abnehmen wollten oder Themen nicht gewagt werden, dann handelt es sich ausschließlich um Verlage, denen ich meine Manuskripte nicht verkauft habe, wohlweislich - Manuskripte, die dann doch von anderen veröffentlicht wurden oder, ebenfalls aus eigener Entscheidung, absichtlich in der Schublade ruhen.

Was ich hier über den Buchmarkt schreibe, ist jedem Insider bekannt und kann mit offenen Augen aus jeder Zeitung gelesen werden. Es ging durch das gesamte Feuilleton, dass in Verlagskonzernen auch A-Ware immer schneller und erbarmungsloser als Altpapier geschreddert wird; es sorgte in allen Medien für Aufmerksamkeit, als die Geschäftspraktiken von Buchketten von innen untersucht wurden und eine Verlegerin anonym (aus Angst) gestand, wie man sie zur Subventionierung einer Rolltreppe "überreden" wollte. Dass Verlage seit einem Jahr ganz sicher und eigentlich schon seit zweien extrem zurückhaltend und riskoscheu beim Ankauf von Manuskripten geworden sind, weiß ebenfalls jeder wache Autor - und nicht nur ich werde Kollegen kennen, denen es in diesem Jahr zum ersten Mal richtig schlecht ging. Wer Zeitung liest, wird auch von der Misere einzelner kleinerer Verlage gelesen haben, wird von Ammanns Verlagsaufgabe gehört haben - die Marktkonzentration ist ein Problem. Wer glaubt, ich ließe nur persönlichen Frust ab, der lese Artikel wie diesen im Börsenblatt oder diesen im Buchreport, Links, die mir Kollegen zusenden, wenn sie meine Beiträge gelesen haben.

Warum schreibe ich so oft über die dunklen Seiten des Berufs, auch auf die Gefahr hin, mich selbst angreifbar zu machen? Es gibt dafür einfache Gründe:
  • Immer wieder werde ich mit der irrigen Meinung von LeserInnen konfrontiert, ein Schriftsteller habe mit der ersten Veröffentlichung ausgesorgt und lebe mindestens mit Swimmingpool im Reichenhimmel auf Erden. Dieser durch Promiberichte entstandenen Boulevardisierung möchte ich mit der Realität entgegenwirken.
  • Ich möchte aber auch den rosigen, völlig abstrusen und vollmundigen Versprechungen sogenannter Pseudoverlage entgegenwirken, die glauben machen, wenn man als Autor ordentlich Geld löhne, werde man garantiert schnell reich und berühmt und habe einen Job wie Zuckerschlecken. Nein, hat man nicht. Man hat weniger Geld nach so einer Dummheit, das ist alles.
  • Ich glaube fest daran, dass man diesen wahnsinnigen und wahnsinnig schönen Beruf nur durchhält, wenn man offenen Auges auch die Abgründe anblicken kann. Keinem Ballettschüler wird verschwiegen, dass man sich auf dem Weg zur Primaballerina die Füße blutig tanzt und Schmerzen aushalten muss. Warum sollen wir Älteren angehenden Autoren etwas vormachen? Nur, damit sie nachher noch schlimmer aus ihren Illusionen geschreckt werden? Ich wäre froh gewesen, wenn mit mir jemand von Anfang an schonungslos offen geredet hätte - ich hätte mir einige Umwege sparen können.
Das klingt in unserer heutigen Welt vielleicht unglaubhaft und frustriert und verrückt: Aber das Schöne an diesem Beruf ist die sich langsam ausbildende Fähigkeit, gleichzeitig völlig realistisch und desillusioniert auf die Zustände schauen zu können - und doch Träume und Visionen entwickeln zu können. Ich möchte frech behaupten, dass sich so Träume öfter realisieren lassen, weil es nicht bei der reinen Spinnerei bleibt. Täglich muss ich mich damit auseinandersetzen, wie ich sie Schritt für Schritt ins Leben bringen könnte. Wer weiß, wie ein System funktioniert, kann dieses Wissen nutzen.

Schriftstellersein kann eine der härtesten Berufungen sein, der Weg dahin und vor allem der Weg des Bleibens verlangen einen ähnlich hohen Preis wie von einem Spitzensportler, von einem Konzertpianisten, von einem Schauspieler oder Dirigenten. Über diesen hohen Preis will niemand mehr reden, die Castinggesellschaft will träumen, will auch "nach oben", am besten über Nacht und möglichst bequem.

Wen interessiert es, dass Konzertmusiker zunehmend Drogen nehmen, weil die Anforderungen des modernen Konzertbetriebs unmenschlich geworden sind? Wen interessiert es, dass manche wirklich guten Schauspieler einfach aus betriebspolitischen Gründen nicht an die richtigen Rollen kommen? Wer mag hinschauen, dass Doping von denen gefördert wurde, die immer noch tollere Stars wollten, die übersättigt waren von rein menschlichem Sport? Warum also davon reden, welche Felsbrocken Autoren wegzuräumen haben, bis eine Idee zum verkauften Buch geworden ist? Die wenigsten möchten wissen, dass hinter den schnellen Erfolgsgeschichten der ganz großen Bestsellerautoren oft jahrelange Maloche und manchmal sogar Misere verborgen bleibt, weil es sich in der PR nicht so gut macht.

Vielleicht ist es Leidenschaft? Wenn man angesichts des Dunkels sagen kann: Und ich liebe diesen Beruf doch und vielleicht gerade deshalb - weil er nicht so einfach und glatt ist, wie ihn viele sich wünschen. Schreiben hat viele Parallelen zum Leben: Man hat mit Schicksalsschlägen fertig zu werden, die einem Situationen und Außenstehende zufügen. Man hat gegen sich selbst zu kämpfen, vor allem gegen diesem faulen und bequemen Schweinehund, der verblendet glaubt, das nächste Manuskript bringe den Durchbruch, mit Trompeten und Fanfaren. Und irgendwann, nach einiger Erfahrung, gerät man in den nächsten Zwiespalt: Man wird zum härtesten Kritiker seiner Selbst, zum absoluten Schwarzmaler - und leidet genau an dieser Eigenschaft manchmal wie ein Hund.

Doch das ist wie beim Schauspieler, wie bei der Primaballerina: Erst wenn ich genau weiß, welcher Schritt falsch war, wenn ich genau spüre, in welcher Nuance ich nicht ganz auf meiner Höhe war, erst dann kann ich mich perfektionieren und lernen. Ich muss meine Stärken kennen, muss wissen, wo meine Talente liegen, sonst überstehe ich die harten Zeiten nicht. Aber noch besser muss ich meine eigenen Begrenzungen sehen, muss die Hindernisse von außen klar erkennen. Denn in diesem Beruf muss ich die Messlatte immer wieder ein Stückchen erhöhen. So hoch, dass ich ein wenig Angst bekomme; keine lähmende, aber Angst, die die Größe des Vorhabens erkennt. So hoch, dass es nicht bequem und idyllisch und lustig ist, darüber zu springen, weil ich sonst nachlässig werde und nachlasse. Aber auch nur so hoch, dass ich mit Arbeit an mir selbst den Absprung tatsächlich schaffen kann.

Und das, liebe Leserinnen und Leser, ist nun wirklich meine ganz und gar persönliche Auffassung meines Berufs. Man kann auch ganz andere haben und keiner denkt da gleich. Ich bin mir sogar sicher, man könnte es einfacher haben...

Das war jetzt fast so schnell wie Gedankenübertragung, eben entdeckt: Jan Delay schreibt in der FAZ "Wie werde ich Superstar" unter anderem über das nötige Realitätsbewusstsein und die Kenntnis der Tücken. Lesenswert!

18. Dezember 2009

Thementod

Ich habe einmal in einer Autorengruppe für emotionalen Aufruhr gesorgt, weil ich wissen wollte, wie das so mit dem Musenkuss sei. Ich würde ja so manchem dauergeküssten Kollegen gern die Muse ausspannen, was aber macht man, wenn da ein richtiger Unsympath von Muserich plötzlich ans Fenster klopft? Und könnte man nicht für die verkannten Genies, die jahraus, jahrein deprimiert warten, weil sie keiner küssen will - könnte man für die nicht eine Art Singleclub einrichten? "Seit seiner Kindheit vom Schriftstellerberuf träumender, gestandener unveröffentlichter Autor, frische 55 Jahre alt, zehnbändiges Tagebuch und zwanzig Romananfänge in der Schublade, sucht Bestsellermüschen für den ersten Zungenkuss." Muse, ach Muse...

Ich sage allen Ungeküssten eins: Musenküsse sind auch nicht besser als Hundeküsse. Ich muss zwar immer quietschen und lachen, wenn ich mit letzterem geweckt werde, wische mir aber anschließend doch übers Gesicht. Und manchmal, wenn ich eine Muse heransprinten sehe, schreie ich wie Lucy (war's Lucy?) im Angesicht von Snoopy: "Iiiih, giftiger Hundekuss, schnell heißes Wasser und Jod!"

Gestern bekam ich wieder so einen überflüssigen Schlabberschmatz - leider nicht vom Hund. Ich sichtete meine beim Buchhändler erstandene Wundertüte, in der unter anderem das unten beschriebene Wunderwerk über Kandinsky lag (traumhaft!!!) - und so einiges andere, passend zu meinen schlimmsten Kulturgelüsten. Ich lese dann mal so alles ein wenig an. Und plötzlich war da ein Bild (historisch belegt): Drei Frauen beweinen einen Toten, sein letzter Geliebter stürzt sich verzweifelt ins Grab. Das war ganz großes Kino, zumal es in Venedig auf der Todesinsel stattfand.

Und dann sprachen alle Bücher plötzlich aufgeregt miteinander. Hart am Pathos, aber ganz große Kunst- und Kulturgeschichte. Eine Figur, die in ihrer Zerrissenheit förmlich danach schrie, Hauptfigur zu werden. Eine Figur, deren Abgründe und Eigenheiten mir ebenso vertraut schienen wie meine eigenen. Die Schauplätze - Hollywood kann das auch nicht besser. Klamotte, Bühnenausstattungen, alles vom Feinsten. Die drei Weinenden am Grab drehten sich plötzlich um, hatten ein eigentümliches Lächeln auf den Lippen und erinnerten mich an meine Vorabiturarbeit: Hattest du nicht schon einmal ein Jahr für dieses Ambiente "gelebt" und geschrieben?

Es war der Stoff, aus dem die Träume eines Schriftstellers sind. Eigentlich viel zu groß, mir aber eben seit meinem achtzehnten Lebensjahr vertraut. Die drei Frauen kamen immer näher, lachten jetzt. "Wir sind deine Musen!", sagten sie und gaben mir gleichzeitig einen laut quietschenden Kuss. Ich schwebte im siebten Himmel. Ich war elektrisiert. Plötzlich fügte sich alles wie ein Mosaik zusammen. Innere Bilder überschwemmten mich, ich hatte die stärkste Anfangsszene, die ich mir vorstellen konnte, schon zuckte der Bleistift in meiner Hand. Und wie das Künstler angeblich so machen, entwarf ich fieberhaft die ersten Ideen auf einer Serviette.

Und dann störte mich mein Hund, weil er nach draußen musste. Minus acht Grad können einen verdammt schnell zur Besinnung in blauer Liebesglut bringen (ja, die meine war "benoisblau", nicht kandinskyblau, großer Unterschied!). Als ich wieder drinnen im Warmen war, blickte ich meine Buchschätze an und die Frauen standen wieder am Grab und drinnen lag diesmal kein Mensch, sondern mein Thema. Es kommt halt nicht so gut, wenn man ein Buch schreiben will, dass drei andere schon längst brillant geschrieben haben. Drum, wenn die Muse oder der Muserich kommen: Trau, schau, wem!

16. Dezember 2009

Was Verlage leisten

Es kommt immer häufiger auch in den Medien die Frage auf, ob sich manche Verlage nicht langsam selbst überflüssig machen. Prominente Autoren in den USA gehen dank neuer technischer, bezahlbarer Möglichkeiten schon versuchsweise eigene Wege.

Nun finde ich, dass Verlage längst nicht überflüssig sind, weil sie Vieles leisten, was ich mir als Autor nicht leisten müssen möchte. Das fängt bei der teuren Bildrechtebeschaffung für Sachbücher an und hört bei professionellen Zuarbeiten auf, die ich sonst einzeln selbst einkaufen müsste (Lektorat, Grafik, Druck etc.)
Zufällig bin ich nun auf eine Webseite gefallen, die mir vermitteln will, warum Verlage so wichtig sind: Was Verlage leisten. Dahinter steckt die "Geschäftsstelle des Verlegerausschusses im Börsenverein des Deutschen Buchhandels".

Und wie ich rechts die Suchwortwolke erblicke, jauchze ich: Da steht ja ganz genau das, was ich von einem Verlag erwarte, endlich sagt das mal jemand laut! Die wollen das Gleiche wie ich!

Man sollte nie die Rechnung mit Realsatire machen.

Klicken Sie mal den Tag "Autorenbetreuung".
Klicken Sie mal das wunderfeine "Suche nach dem Besonderen und Innovativen".
Warum habe ich das eigentlich geahnt?

update:

Ich SCHWÖRE, zum Zeitpunkt meines Beitrags waren beide Tags jungfräulich LEER (sind die Direktlinks bei mir immer noch und die Innovationen auch).
Ich habe aber den Beitrag getwittert, Stichwort virale Information...
Das muss man dem Börsenverein lassen, er ist schneller, als die Linktatütatas das erlauben. Wenn ich mir jetzt noch etwas zu Weihnachten wünschen könnte: Unter Autorenbetreuung verstehen wir Autoren ein bißchen etwas anderes. Nicht, dass ich keinen Verlag kennen würde, der das nicht vortrefflich beherrscht - nur ist Autorenbetreuung mehr als Lizenzhandel, Meinungen und Lektorat.


Hihi, jetzt bin ich mal gespannt, welche Heinzelmännchen hier herumlesen. Schön'Ahmd!

Viele Leben

Eigentlich könnte ich zufrieden meine Hände in den Schoß legen und mich freuen. Mein Text über Nijinsky, wohlweislich als "Annäherung" konzipiert, ist längst fertig und ist auch schon von einem Spezialisten und Kritiker gelesen, der nur zwei Rechtschreibfehler in Eigennamen auszusetzen fand. Dass der Text jetzt noch "abhängt", müsste mich nicht stören. Und auch wenn ich mich weiterhin für Nijinsky interessiere - da ist genug andere Arbeit auf 24 Stunden zu verteilen.

Stattdessen lässt es mich nicht los. Ich könnte ja in letzter Sekunde noch etwas Aufregendes finden. Oder herausfinden, dass ich mich total geirrt habe. Das Urteil des Kritikers sollte mich beruhigen. Aber es ist wie ein Zwang. Und so entdeckte ich kürzlich die damals nicht erhältliche Autobiografie von Nijinskys Schwester in irgendeiner englischen Buchhandlung online. Plötzlich erscheinen Diaghilews autobiografische Notizen, die man irgendwie erst posthum und spät entdeckt hat, in deutscher Übersetzung. Anstatt mich abends bei feiner Bettlektüre zu entspannen, lese ich fieberhaft den Riesenklops (um die 600 oder 700 Seiten) von Bronja Nijinska, mit Bleistift. Und hole demnächst Diaghilews Texte.

Habe ich mich grundlegend geirrt? Gibt es neue Erkenntnisse?
Ja, ich habe einen Fehler entdeckt, den keiner bemerken würde, weil er selbst in Zeitungsartikeln unrecherchiert wiederholt wird - und weil es wahrscheinlich außer ein paar Freaks niemanden interessiert. Nijinsky hatte als Kind einen beinahe tödlichen Unfall, lag fünf Tage im Koma. Passiert war es durch das, was man früher "einen dummen Jungenstreich" nannte, durch eine lebensgefährliche Mutprobe, bei der seine Konkurrenten sich rächen wollten. Nun gibt es eine Biografie Nijinskys, geschrieben von "seinem Freund", die ich, wie viele andere, zu Rate zog. Der Bösewicht wird namentlich genannt, der Unfall als krimineller Anschlag gewertet und der kleine Nijinsky, der trotz allem niemanden verpfeift, als schweigsam hingestellt, als unterdrücktes Kind, als einer, der sich im Sozialverhalten nicht so sehr zu bewegen weiß wie auf der Bühne. Außerdem sei seine Hüfte gebrochen gewesen, er habe trotz allem wieder tanzen können.

Kaum der Rede wert, wenn nicht daraus Psychiater Argumente geschöpft hätten, die "Schizophrenie" (die meiner Meinung nach etwas anderes war) sei damals schon sichtbar gewesen, womöglich einer Kopfverletzung (!) geschuldet. Akribisch rekonstruiert selbst ein Psychiater in einer ansonsten brillanten Biografie aus den Ereignissen die Qualen eines Kindes, das nicht akzeptiert wird von seinen Mitschülern. War das Nijinsky? Und muss man seinem "besten Freund" nicht glauben? Wo kann ein Autor noch nähere Quellen finden?

Nur liest sich die ganze Sache in den Erinnerungen der kleinen Schwester ganz anders - wobei zwischen Erleben und Aufschreiben sehr viel Zeit verging. Bronja berichtet nämlich von drei Kumpels, die Nijinsky in die Pfanne hauen wollten - und siehe da, der "beste Freund" ist einer von ihnen! An ihm lässt sie nicht viel gute Haare, er habe sich nachträglich zum Freund stilisiert, damit etwas Ruhm auf ihn fiele. Mit dem "Täter" und einem dritten hat er gemeinsame Sache gemacht. Schlimmer noch, die drei Rabauken waren Nijinskys "Clique", wegen der er langsam Schulschwierigkeiten bekam. Sein Betragen ließ zu wünschen übrig. Hat er sich beweisen müssen als Junge, wie es einige homophobe Autoren nachher gern gesehen hätten? Bronja erzählt, wie er unter der Trennung von Vater und Bruder litt. Wie er einfach seinen Schmerz herausgekämpft hat. Scheidungskinder werden manchmal schlechter in der Schule, Jungen wie Mädchen. Und er war nicht braver als die anderen.

Da ist nichts spürbar von einem "gestörten" Jungen, von "fehlgeleiteten" Emotionen, psychischen Problemen. Dieser Junge ist so normal wie jeder andere auch in seinem Alter. Und er hat weder eine Kopf- noch eine Hüftverletzung - laut Bronja erhielt er einen beinahe tödlichen Magenschlag und muss lange eine besondere Diät einnehmen. Als er später Vegetarier wird und Fleisch vor Ballettübungen im Magen nicht erträgt, erklärt ihn seine Frau für verrückt, die Ärzte wollen darin ernsthafte Anzeichen für die Schizophrenie sehen und nachfolgende Autoren schlagen in die gleiche Kerbe. Keiner denkt darüber nach, dass neben geistigen Überlegungen, die bei ihm von Tolstoi inspiriert sind, tatsächlich körperliche Probleme eine Rolle spielen konnten. Und jener "beste Freund"? Nijinsky bricht kurz darauf völlig mit seiner Clique. Nicht verschreckt und stumm, sondern mutig.

Welcher Nijinsky ist nun DER Nijinsky? Eine Schwester müsste es doch besser wissen als ein Kumpel, der sich einschleimen will in den Abglanz des späteren Weltstars? Soll man all ihre Versionen übernehmen? Sie ist doch am nächsten an ihm dran?

Nein, denn sie ist "nur" seine Schwester. In der Schulzeit wachsen sie durch die militärische Ordnung der Ballettschule fast getrennt auf, Mädchen und Jungen ist jeder Wortwechsel strengstens untersagt im Internat, selbst beim Pas de Deux. Sie sehen sich kaum noch. Und als Schwester ist sie verstrickt in die Familienprobleme, hat ihre eigene Sicht. Kann sie in den Bruder wirklich hineinschauen? Auf wessen Seite steht sie? Welche Intention verfolgt sie beim Erzählen von "Tatsachen"?

Es fällt auf, dass Bronja Nijinska eine Menge erzählt, aber gewissen Themen völlig auslässt. Fast nebenbei erfahren wir, dass der ältere Bruder nach einem Fenstersturz aus dem dritten Stock Probleme hat. Er ist brav, umgänglich und macht mit den Geschwistern Hausmusik, ist überhaupt musikalisch sehr begabt, schafft aber seit dem Sturz die Schule nicht mehr. Dann gerät er durch unglückliche Umstände ein Jahr lang in die Hände von Fremden, wird gehalten wie ein Tier, geschlagen, gequält. Danach ist er scheinbar nicht mehr derselbe. Bronja deutet an, dass er Wutausbrüche hat und in ein "Sanatorium" muss, weil es gefährlich sei, mit ihm zu leben. Das "Sanatorium" ist eine Irrenanstalt. Nijinsky liebt den Bruder innig, vermeidet aber allzu viele Besuche. Mutter und Schwester sind einmal die Woche dort. Mehr erfahren wir nicht. Der Bruder ist ausgelöscht, kommt nicht mehr vor. Genauso wie der Vater nur durch die Brille eines kleinen Mädchens erscheint, das an seine Liebe glauben will. Dieser Vater hatte den Bruder in die Hände der Fremden gegeben.

Wer also ist das Kind Nijinsky, würde man die persönlichen Betroffenheiten Bronjas abziehen? Was bleibt, wenn man untersucht, wo sie schönt, wo sie ihre eigenen Wirklichkeiten schöpft, um selbst zu überleben? Wann verdrängt sie? Was weiß sie wirklich? Warum betont sie jenen ersten romantischen Kuss zwischen Nijinsky und einem sich fast aufdrängenden Nachbarsmädchen so intensiv, sieht aber nicht, dass Nijinsky immer und immer wieder Männerfreundschaften sucht, von zu Hause ausreißt zu den Zigeunern, den Kosaken, wo er aufzublühen scheint, sein Temperament ausleben kann.

An Nijinskys Lebenspartner Diaghilew werden sich dann endgültig alle Geister scheiden. Da reichen die Urteile vom bösen Vergewaltiger bis zur kunstbesessenen Vaterfigur, mal wird er weggeschwiegen, mal als Ausrutscher des später verheirateten Nijinsky gedeutet. Nicht nur in den noch prüden Zeiten der Avantgarde, die nicht umsonst neue Geschlechter- und Liebesentwürfe gegen den Mief der Bourgeoisie geprobt hat. Auch in recht neuen Untersuchungen. Bisexualität, Homosexualität, das sind auch heute noch Peinlichkeiten für manche Autoren, wenn sie sich nicht darum herumlügen können. Und die muss man dann wieder gegen den Strich bürsten: Was verdrängen sie, was verschweigen sie? Schreiben sie eher über eigene Ängste als über die Realität? Solche Bücher strotzen vor Ideologie, manchmal fanatischer Ideologie, aber die von schwulen Autoren manchmal genauso. Nijinsky und Frauen, auch noch? Undenkbar.

Ich werde morgen wohl Diaghilews eigene Worte abholen können. So lange hat sie keiner lesen wollen, dass sie erst im Oktober erschienen. Was wird er über seine große Liebe erzählen? Wie wird er die anderen Beteiligten sehen? Was für ein Nijinsky erwächst aus seinen Worten? Schon aus Bronjas Erzählungen wird deutlich: Diaghilew war nicht das Monster, das manche aus ihm machen wollen, nur weil sie Nijinsky lieber "ordentlich" gesehen hätten. Diaghilew war eine schillernde, faszinierende Persönlichkeit. Wie sah er sich selbst?

Annäherungen. Ein Mensch, selbst wenn er heute noch lebte, bleibt als Persönlichkeit immer im Fluss. Wir sehen in den Berichten anderer immer nur Facetten. Und selbst wenn wir jemanden persönlich interviewen können: das bleibt eine Momentaufnahme, bestimmt von Fragestellungen, von Umständen, von der Intention des Interviewenden und Interviewten. Was wir über einen Menschen lesen, ist nicht der Mensch. Es ist ein Bild von vielen, ein Bild, das sich der Autor macht. Und darum verrät so eine Biografie oft mehr über den Autor als über das Subjekt. Der Autor schreibt seine eigene Zeit hinein, sich selbst, seine Ängste, Illusionen, Wünsche und Erwartungen.

Es ist ein Werk im Fluss, das nie fertig sein kann. Irgendwann muss man einen Schlussstrich setzen und mit der erreichten Momentaufnahme leben lernen. Aber auf dem Weg dahin darf man immer wieder kritisch hinterfragen, forschen, nachdenken... Und dann passiert manchmal etwas, das erklären könnte, warum solche Themen einen nicht mehr loslassen: Man beginnt, sich selbst in Frage zu stellen.

(PS an Medienleute: nicht abschreiben, beauftragen Sie mich! Urheberrecht, gelle...)

15. Dezember 2009

Zum Mit(m/l)achen

Von meinen derzeit drei Jobs war ich heute einmal wieder mit einer Übersetzung beschäftigt. Lyrik, so recht etwas für den Anfänger...
Auch auf die Gefahr hin, mich öffentlich mit meiner Methode zu blamieren, weil Superprofis das womöglich gaaaaanz anders machen: Ich schreibe zuerst im Schritt 1 eine Wort-für-Wort-Übersetzung, um zu verstehen. Im nächsten Schritt prüfe ich Reime und Versmaß des Originals, den Tonfall etc. Und im dritten und letzten Schritt versuche ich, aus der Übersetzung von Schritt 1 etwas nachzudichten, das Schritt 2 berücksichtigt. Bis zum tatsächlichen Endtext habe ich dann jede Menge über mich selbst zu lachen. Und ich finde, über meine blödeste Schöpfung von heute darf auch mal mitgelacht werden.

Schritt 1

Ein winziger Vogel
Auf der Schulter eines Engels
Singen sie das Lob
Auf den netten Rousseau

Schritt 2

Reimschema: a b b a
Anmutung: Liedhaft, der berühmte Dichter war ganz offensichtlich betrunken (kein Witz)

Schritt 3, erster Versuch

Ein winziger Piepmatz
Auf Engelsschulter sitzt
Und das Lob piepst
Auf Rousseau-Schatz

Hej, lachen, nicht gröhlen! Wer kann es besser? (Das frag ich nur, um nachher heimlich von den Inspirationen zu zehren...)

Klimamärchen


Im Moment ist es die letzte Rose in meinem Garten (Foto eben gemacht), eine Red Parfume - aber wenn es wieder eine Warmphase geben sollte, öffnen sich noch ein paar Knospen von anderen Sorten. Neuerdings wuchert aber etwas anderes ganz heftig. Plötzlich zeigen sie mit den Fingern auf meine Rosen, Städter meist und Leute ohne Ahnung von Natur, und dann reden sie ganz aufgeregt: "Da kann man die Klimaerwärmung sehen! Rosen im Dezember, wenn das nicht schon die Vorboten der Klimakatastrophe sind!"

Mir bleibt dann nur nachsichtiges Grinsen, denn dank der Panikmache in den Medien sind solche Leute mit vernünftigen Argumenten nicht mehr zu überzeugen. Wir haben in geschützten Lagen in unseren Breiten IMMER Rosen im Dezember. Würden wir keine haben, sollten wir uns eher Sorgen machen. Seit ungefähr zwanzig Jahren lebe ich hier, seit zwanzig Jahren schneide ich noch an Weihnachten frische Rosen vor dem Fenster an der Südseite. Früher klagten die Leute, dass es einfach kein richtiges Weihnachten mehr gebe. Heute beschreien sie eine Klimakatastrophe.

Mit die ältesten Weihnachtsbäume (neben Erzgebirge und Schlesien) sind im Elsass belegt. Die allerersten waren nicht etwa mit bunten Kugeln geschmückt, sondern mit Äpfeln - und Rosen! Der alte Lebensbaum blühte zur Wintersonnenwende besonders schön, verhieß mit den kürzer werdenden Nächten die Hoffnung auf wieder erneut keimendes Leben. Und nachdem die Kaltperiode des Mittelalters endlich überwunden war, ließen sich in jenen Breiten auch tatsächlich Rosen schneiden. Weil das Elsass zu großen Teilen jedoch aus Bergen und weniger verwöhnten Lagen als an der Weinstraße besteht, hat man die Rosen dort schnell haltbarer gemacht, nämlich aus Papier gebastelt (Meine Basteltipps). Es gibt Richtung Rheinebene und an der Weinstraße immer noch Rosen im Elsass im Dezember - verdammt kalt ist es heute obendrein.

Wenn Sie Rosen im Winter schneiden oder verschenken, gibt es Tricks, dass sich Knospen noch öffnen und Blüten länger frisch bleiben. Wickeln sie die Rosen (wie alle Blumen) beim Transport in schützendes Zeitungspapier (Plastik und Zellophan werden kalt, laufen leicht an und lassen die Blumen nicht atmen). Kurz bevor Sie die Rosen in die Vase stecken, müssen Sie die Stiele noch einmal schräg anschneiden, auch wenn das bereits gemacht wurde. Stellen Sie die Stielenden jetzt sofort in heißes (!) Wasser - und zwar so lange, bis keine Blasen mehr von der Schnittfläche aufsteigen. Und dann ebenso schnell ins kalte Wasser in die Vase! Geben Sie dem Vasenwasser etwas Backpulver zu, das wirkt wie Blumenfrisch. Und stellen Sie die Rosen nicht sofort in ein überheiztes Zimmer und nachts eher kühl.

Der Trick mit dem heißen Wasser hilft auch müden Blumen aus dem Laden wieder auf. Physikalisch ist das ganz einfach zu erklären: Blumen, die an der Schnittfläche zu lange Luft bekommen haben, verwelken schneller. Das heiße Wasser treibt einen Großteil des Lufteinschlusses heraus, daher die Blasen.

Genießen Sie Ihre Rosen im Dezember, falls Sie in solch gemäßigtem Klima wohnen wie ich - und lassen Sie sich von diesen herrlichen Blumen keine Furcht vor der Zukunft einjagen!

Weihnachtsgeschenk in letzter Minute gesucht? Vielleicht das hier?

14. Dezember 2009

Püppi oder Pippi?

Manchmal gibt es Untersuchungen in den Medien, wo man sich fragt, ob die Leute einfach nichts Dümmeres zu tun haben, der Volontär wieder den Füllartikel vergeigt hat oder die Welt noch zu retten ist. "Der Freitag" hat diesmal statt zum Volontär zum Guardian gegriffen (Crossmedia? Crossposting?) und bringt den nicht ganz lachstofffreien Selbstversuch von Viv Groskop an ihren drei- und sechsjährigen Kindern. Früher waren ungenehmigte Versuche an lebenden Menschen noch nicht gestattet, heute testet man an zwei Kindern weltweit Feminismus aus. Ist das eigentlich noch ein SELBSTversuch?

Es geht um Erwachsenenüberlegungen, die wahrscheinlich Kinder- und Jugendbuchautoren längst zum nächtlichen Zähneknirschen bringen, weil ja auch Lektorinnen meist LektorINNEN sind (wo bleibt in Verlagen die Männerquote?) und kürzlich erst dieser unsägliche deutsche Verlag kleine rosa Prinzessinnen züchten wollte. Viv Groskop möchte das Gegenteil, Feminismus ab Fünf, und Pippi Langstrumpf ist auch dabei, wenn es darum geht: Mit welchen Büchern infiltrieren wir unsere Kinder zur perfekten Ideologie? Zuchtmittel Text. Den sogenannten "Test" gibt's hier.

Mich lässt er kopfschüttelnd zurück. Ich komme aus jener Generation, die dank ihrer vorkämpfenden Muttergeneration Anfang der Achtziger noch einmal richtig militant auf die Straße gehen konnte gegen schreienden Sexismus (auch gegenüber Männern) und eine schreiend ungerechte Lohn- und Karriereverteilung unter den Geschlechtern (da haben wir sichtbar versagt). Unser Traum war eine Menschheit, in der man sich auf Augenhöhe und mit gleichen Chancen begegnen konnte, als Mensch. Emanzipation, also Befreiung, war immer auch eine Befreiung der Männer von ihren Zwängen. Natürlich kämpften wir dafür, dass die vergessene, damals nicht offen stattfindende Frauengeschichte endlich wieder belebt wurde, dass Gegengewichte entstanden. Aber auch wenn wir gern über unser eigenes Geschlecht Bücher lasen, so doch vornehmlich dann, wenn die Hauptfigur ein MENSCH war.

Da stehe ich nun, heute zufällig im lila Pulli, im Geist Feministin im Ursinn nach wie vor - und überlege, ob es nicht endlich wieder an der Zeit wäre, auf die Straße zu gehen. Ich bin nämlich so eine, die Pippi Langstrumpf verehrt hat und ich würde zuallererst Pippi von den blöden eingebildeten Erwachsenen befreien wollen, die sie zum ideologischen Futter degradieren wollen. Ich habe mir damals verkehrtherum Nägel in die kurzen rothaarigen Zöpfe gesteckt, Sommersprossen hatte ich sowieso, und dann ging es mit der Straßenclique zum "Sachensuchen." Egal ob Männlein oder Weiblein, Anführer waren die Gewinner im Bogenweitschießen, Robin Hood als Fernsehserie lässt grüßen. Pippi, das war nicht Emanzipation vom Nachbarsjungen, das war Emanzipation von Erwachsenen, die uns sagen wollten, wie wir zu sein hatten. Brauchen wir nicht eher mehr Kinder- und Jugendbücher, die Kinder für voll nehmen in ihrer eigenen Welt und ihnen diese Befreiung verschaffen?

Laut all dieser komischen Untersuchungen müsste ich völlig verquer sein. Ich habe die Bücher der unmöglichen Enid Blyton ohne Schaden verschlungen (und die Frau dahinter interessiert mich bis heute nicht), ich konnte mich mit Asterix identifizieren, reiste mit John Silver auf die Schatzinsel und wollte damals natürlich Pirat werden. Mein Geschlecht war mir dabei immer reichlich egal, warum sollte ich darüber nachdenken? Das war ähnlich doof, wie darüber nachzudenken, dass Piraten Kriminelle seien. Wenn ich Pirat werden will, werde ich Pirat. Ich habe mich im Lauf der Jahre mit einer ganzen Menge charaktervoller Männerfiguren identifiziert und langweile mich heute noch tödlich über Frauenbüchern. Natürlich verschlang ich die Biografien besonderer Frauen, aber in diesem bemühten "Wir brauchen keine männlichen Maler, Frauen malen auch toll" habe ich mich nie wiederfinden können. Ich würde auch heute als Frau lieber mit dem Vorbild Obama als mit dem Vorbild Merkel Präsidentin werden wollen. Ich möchte behaupten, ich bin in den Achtzigern deshalb auf die Straße gegangen: auf dass endlich Menschheit in ihrer gleichwertigen Vielfalt einkehre.

Und jetzt ist mir wieder nach Demonstrieren. Ich würde gern in Lektoraten eine Männerquote einführen, damit die Auswahl von Manuskripten nicht mehr allein in Frauenhand liegt und auch Männer endlich wieder lesbare Bücher präsentiert bekommen. Dafür würde ich ein paar von den männlichen Profitrechnern an den Schalthebeln der Macht gern mal durch Frauen austauschen und sehen, was passiert. Ich würde das riesige Lügengebäude mit den Pseudonymen aufdecken wollen, damit endlich öffentlich wird, wie viele Männer Herz-Schmerz-Schmalz unter Frauennamen schreiben und wie viele Frauen bei ernsthaften Themen einen Männernamen brauchen, um ernstgenommen zu werden. Ich würde auf Spruchbändern publizieren, für wie blöd manche Buchmacher die Frauen unter den Leserinnen halten und für wie analphabetisch die Männer. Das wäre doch mal Emanzipation!

Und dann würde ich die männliche Hauptfigur im Roman wieder einführen. Quote, meine Damen, Quote. Denn mich erfüllt es als freie, selbstständig denkende Frau mit Grauen, wenn ich massenweis austauschbar die sogenannte "starke" Frau vor mir habe, die über hunderte Seiten zwischen den karge Mahlzeiten im buntgeschönten Mittelalter lustig und anschaulich vergewaltigt wird, um am Schluss doch nur wieder dem Märchenprinzen an die breite Brust zu sinken und fröhlich und alle sexuelle Unbill vergessend ein Kindlein nach dem anderen gebärt. Ich will mich nicht identifizieren mit starken Weibern, die glauben, zur Menschwerdung gehöre das perfekte Führen einer Lanze und die Fähigkeit, dem nächsten Speerträger schmachtend in die Arme zu sinken.

Da haben die Männer uns offensichtlich viel voraus - die haben wahrscheinlich am eigenen Leib gelernt, wie verachtenswert Krieg und Gewalt sind. Ja, meine Damen! Neuere Branchenuntersuchungen zeigen, dass Krimis für Leserinnen immer perverser und blutrünstiger werden müssen. Schauen Sie sich mal an, was Ihre nette Nachbarin von nebenan teetrinkend liest, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Da werden die Leichenteile in der Küche herumgeschoben und Schwiegerväter ermordet, dass es eine Pracht ist, Serienkillerkitzel, perverse Schweine. Als Truman Capote den ersten Tatsachenroman um einen Mord an einer ganzen Familie schrieb, stürzte sich die entsetzte Welt noch furienhaft auf ihn. Heute erledigen das freundliche Skandinavierinnen mit weißen Manschetten zwischen Hauptgang und Nachtisch. Und die Leserinnen, hauptsächlich Frauen, lassen sich damit ein wenig die Füße kitzeln...

Kurzum: Wir brauchen wieder Menschen in Büchern. Richtige lebensvolle Menschen, die nicht in Schubladen einzuordnen sind, die sich nicht ideologisch korrekt benehmen und sich vielleicht auch nicht so oft überlegen, ob sie Frau oder Mann sind und wie sie sich denn nun für oder wider verhalten sollten. Die solch eine Lebensgröße besitzen, dass sie Frauen wie Männern etwas zu sagen haben.

Und sollten Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht prädestiniert sein, solche Menschen zu schaffen? Ein guter Schriftsteller kann sich nicht aufs Geschlecht ausreden, auch nicht auf Alter und sonstige Zustände. Wir müssen uns in ALLE hineinversetzen können, in Kinder und Sterbende, Männer und Frauen, Böse und Gute, Verrückte und Normale, Menschen eben. Diese Fähigkeit nennt man Empathie. Und die geht uns verloren, wenn wir nur noch Abziehbilder schaffen oder Geschlechter ideologisch aufladen - sei es in die eine oder andere Richtung.

Huch, hätte nicht gedacht, dass ich mich auf mein Alter noch einmal so ereifern kann. Und das als Frau in Hosen...

A-kriecherei

Er ist zweiundsiebzig, rüstig und kann sich herrlich entrüsten. Über Autoren und den Schreibbetrieb zum Beispiel:
"Autoren sollen sich durchbeißen, wütend sein, verzweifeln, aber nicht diesem ganzen Juryverein in den Arsch kriechen."
Und wenn er beklagt, dass moderne Autoren sich ins Private flüchteten, dann sieht er doch eine große Zukunft für nachhaltiges und endlich wieder sinnsuchendes Schreiben. Sofern die Autoren wieder ihren eigenen Hintern hochbekämen...

Das gesamte Interview mit Claus Peymann (nicht nur für Dramatiker) gibt es in der Berliner Morgenpost.

13. Dezember 2009

Blut-Hirn-Schranke

Ich begreife seit heute das Prinzip der Blut-Hirn-Schranke in einem völlig neuen Sinn. Es gibt ja Leute, die vermuten, Schriftsteller hätten ein verändertes Gehirn im Vergleich zum "Normalzustand". Ja, haben sie: Schriftsteller haben nämlich zusätzlich eine Text-Hirn-Schranke, eine Art Überlebensmechanismus, der dafür sorgt, dass nicht zu viel Text ins Hirn eindringt.

Wieder habe ich nur sieben Seiten französischen Text in neun Seiten deutschen übertragen und kann mich kaum ausreden, dass da einige Zitate von Kandinsky dabei waren. Ich wollte mein Quantum steigern und es ging nicht. Der Autor pflegt gerade wieder das, was ich seinen Vom-Auge-durch-die-Brust-Stil nenne (er hat ungefähr vier verschiedene Stile) - sprich, ich muss aus ellenlangen Partikeln von Sätzen eine logische Reihenfolge rekonstruieren, die wieder einmal zeigt, wie gnadenlos geradeaus die deutsche Sprache funktioniert, während das Französische lustig Pirouetten dreht.

Irgendwann könnten die Augen, die Hände, der Rücken vielleicht noch, aber das Hirn fließt über. Ich könnte noch so schön weiterarbeiten, habe genug Zeit, aber der Sinn verknotet sich in den Windungen. Nichts geht mehr, Erschöpfung, als würde ich Berge hochrennen. Die Text-Hirn-Schranke greift...

Und ich komme mir mal wieder so richtig dumm und lahm vor und frage mich, wie man diesen grauen schwabbeligen Nichtmuskel trainieren könnte. Bitte jetzt nicht wie meine Freundin sagen, ich solle weniger im Blog schreiben. Das sind meine Denkpausen, das ist Abschalten pur. Und es ist vor allem im Moment der einzig freie Text, den ich schreiben kann - neben all den verordneten Texten.
Also, falls jemand einen Tipp hat, wie man noch schneller noch mehr übersetzt, immer her damit! Es würde sogar der Trost helfen, dass andere Übersetzer auch nicht mehr als 100 Seiten pro Tag schaffen. Owei - jetzt habe ich schon den gleichen Hahaha-Humor wie der Autor, den ich verknete... Sollte da doch etwas ins Blut gegangen sein?

update:
Stelle fest, ich habe erst kürzlich Ähnliches gejammert. Ich verspreche, wenn ich einmal mit etwa 90 in Rente gehen werde, Urlaub auf jener geheimnisvollen Insel zu beantragen, auf die alle Leute nur das Beste aller Bücher mitschleppen. Oder ich gestehe, dass ich das Spiel mit der Blut-Hirn-Schranke so drollig fand. Ach was. Ich mach heute einen freien Tag.

12. Dezember 2009

Belohnung

Im Sommer habe ich mich zum ersten Mal in einen Klops verliebt. Ich schwärme ja schon lange für Kandinsky (ungefähr seit meiner Schulzeit) und bin auch mal so verrückt, seine deutsch-russischen Aufzeichnungen auf Französisch zu kaufen, um sie dann Wort für Wort zu genießen. Ich renne ihm in jede erreichbare Ausstellung nach. Und dann traf ich diesen Klops im Sommer in einem Schaufenster...

Der arme Buchhändler, der das Mammutwerk halten musste, während ich genüsslich blätterte, mit leuchtenden Augen! Ich weiß nicht, wie viele Kilos "Klops" wiegt, aber die Maße sind beachtlich mit 42 cm Höhe. Kein Buch, das man im Bett liest, mit ausgestreckten Armen über die Nase gehalten. Aber einfach ein Wunderwerk fürs Leben.

Lange habe ich mit mir gehadert und gespart. Und beschlossen, das ist der richtige Jahresabschluss für eine brotlose "Künstlerin" für ein Jahr harte Maloche an der Kunst (Kandinsky kommt auch in meinem letzten Buch vor). Nächste Woche hol ich's mir ... was bin ich aufgeregt! Wahrscheinlich bin ich dann tagelang nicht mehr ansprechbar und schwebe gelb und blau und gepunktet durch die Luft.

Ein MUSS für alle Liebhaber von Wassilij Kandinsky, Ausstattung und Druckkunst vom Feinsten, ein Prachtband, der diese Bezeichnung absolut verdient, ein Buch voller Leben fürs Leben:

KANDINSKY, Hrsg. Friedel / Hoberg, erschienen bei Prestel / Random House

Hier noch ein Artikel über die dazugehörige Ausstellung, die im Lenbachhaus stattfand - und hier rümpft "Die Welt" ein wenig die Nase über so komische Leute wie mich, die in Ausstellungen strömen und Kataloge kaufen...

11. Dezember 2009

Killerapplikation

Es gibt eine neue Killerapplikation: Weihnachten im Weihnachtswiwawunderland Elsass. Nein, ich wiederhole jetzt nicht die herzumschwemmenden Texte, die ein Heer von Auftragsautoren schon im Hochsommer schreibt. Es müsste schließlich langsam jedem auf dieser Erde klar sein, dass das süße Jesuskind vom elsässischen Office de Tourisme und der Vereinigung der Gastronomen in einem quietschbunten Fachwerkhaus unterm natürlich von den Elsässern erfundenen Tannenbaum geboren wurde (Beweis Beweis Beweis). Früher war das noch eine Jungfrau mit Lichterkranz - und weil es heute kaum noch Jungfrauen im entsprechenden Alter gibt, lässt man seit einigen Jahren stilechte amerikanische Plastikweihnachtsmänner an Dachrinnen hochklettern.

Vor lauter von Bürgermeistern selbstherrlich verordnetem Schmuck in "jedem Haus" und üppiger Nachtbefeuerung mit billigem französischen Atomstrom mag es umweihnachteten Touristen entgehen, dass das Elsass eigentlich ein multireligiöses Land ist, in dem noch echte Juden und echte Muslime und echte Was-weiß-ich-noch-alles-oder-gar-nichts fröhlich auf der Straße herumlaufen. Ja, manche Nichtchristen stehen gesellschaftlich derart unter Druck, dass sie heimlich schon im Oktober Christstollen kaufen und bei Sprachtrainern das Wort "Bredlebacke" üben, um ja nicht aufzufallen. Wer nämlich nicht mitmacht, wird gelyncht. Anders fühlt sich das blöde Gefrage seit zwanzig Jahren nämlich nicht an.

Und nun wird Weihnachten im Wiwawunderland zur echten Killerapplikation. In den Supermärkten, wenn man nicht gerade in der Mittagspause einkauft, kann man die Endzeitstimmung regelrecht spüren. Noch ist es nicht auszumachen, ob es in diesem Monat nur einen Krieg geben wird oder ob die Weihnachtsmänner ein Terrornetz bilden, um die Welt gnadenlos in Kunstschnee zu ersticken. Jedenfalls wird gehamstert bis zum Erbrechen. Und dass die Ware schon am 23.12. abläuft, ist auch egal, da ist ja noch offen zum letzten Panikkauf. Krise ist erst mal abgeschaltet, die Summen an den Kassen schlagen sogar die Dollarzeichen in den Augen eines Dagobert Duck k.o.

Noch einen Killereffekt birgt das Essen. Die sogenannten "Lebensmittel". Viel Leben ist in ihnen nicht mehr zu spüren, spätestens mit diesem Weihnachten hat die Grande Nation ihren Ruf als Gourmetland endgültig verspielt. Die Mikrowellenmamies hauen sich um eingeschweißten, mit künstlichen Aromen gewürzten fertigen Bredleteig, für den man leider noch einen echten Backofen braucht. Dann ein Griff zu den fertig in Aspik angerichteten Vorspeisen, für die man nicht einmal mehr Geschirr einsauen muss, das Plastikschüsselchen ist bei 4.95 pro Portion gleich dabei. Und irre, man kann heute schon kaufen, was man am 25.12. auf den Tisch stellt! Convenience. Was man letztes Jahr noch selbst machen musste, kommt frei Fabrik ins Haus, abgepackt und bis Ostern haltbar. Wer auf sich hält, geht lieber an den teureren Traiteursstand, wo die Verkäuferin frech die Packungen von der gleichen Fertigware abreißt. Frisches kaufen? Frisches kochen? Selbst würzen? Fast unmöglich, wenn man nicht in der Großstadt oder neben einer Markthalle lebt oder in Deutschland beim Bauern einkauft.

Jingle bells und Weihnachtsüße werden aus den Lautsprechern gerülpst, ich werde angerempelt, in die Hacken getreten, begegne leeren Blicken, genervten Blicken, bösen Blicken aggressiven Blicken. Und als ich vor mich hingrinse und ein wenig vor mich hin pfeife, gelingt es mir in letzter Sekunde, einem Gesicht auszuweichen, dem ich nicht mal tagsüber unterm Tannenbaum begegnen wollte. Welch ein Hass! Die Killerapplikation setzt sich durch, der feine Weihnachtsterror der vergangenen Jahre hat sein Werk getan und endlich wird spürbar, dass Weihnachten im Elsass nicht weit entfernt ist von einem kollektiven Amoklauf. Oh du fröhliche. Lasset uns in dieser heiligen Nacht hienieden von dannen gehen. Oder so ähnlich.

Und dann empfängt mich die Bäckerin mit allvorweihnachtlichem Wehklagen. Nichts sei mehr so wie es war, die Menschen böse, genervt, aggressiv, egozentrisch, rücksichtslos (ich habe mir nicht alle Bezeichnungen merken können). Nur noch Geld Geld Geld und Konsum Konsum Konsum und jeder wolle was von einem und man dürfe nichts vom anderen wollen und wo ist die Wärme und Liebe und alles weg. Nur noch Plastik, künstliche Aromen, künstliches Lächeln und wären die Tage doch hoffentlich jetzt schon herum! Und ob ich denn schon alles eingekauft und vorbereitet hätte?

Fast, sage ich mit einem Lächeln, in der nächsten Woche bunkere ich Vorräte, damit ich die Endgestressten, die Einkaufenden kurz vor dem Exitus, nicht mehr ertragen müsse - und dann hole ich nur noch frisches. Wie ich so entspannt ins Fest gehen könne, das sei ja kaum möglich. Ich lächle noch mehr und erzähle ihr, dass Weihnachten für mich die ruhigste Zeit im Jahr sei. Denn dann packe ich meinen Rucksack mit leckeren Sächelchen, heißem Tee und feinem Hundefutter - und gehe mit Hund auf Bergwanderung. Es gibt nichts Schöneres, als Weihnachten im Wald zu sein, weit weg von oben auf die hektischen kleinen Ameisen zu schauen, die Streitereien unterm Weihnachtsbaum nicht zu hören.

Der Bergwald ist dann einsam wie nie, zutraulich kommt das Wild heraus - und man kann sich vorstellen, wie schön die Welt ohne den Menschen sein kann. Friedlich, still. Nie vergesse ich den Duft von Schlüsselblumentee im Frost, blumig, intensiv und sich weit verbreitend. Und das Glück meines Hundes, der Spaß hat, endlich mehrere Stunden am Stück laufen zu können. So einen Bergmenschen hätte er gern das ganze Jahr. Und wenn wir dann ausgeruht und glücklich heimfahren, begegnen sie uns immer öfter. Die Rettungsdienste, die Gendarmerie, die in diesen Tagen so oft wie sonst nie ausrücken müssen, weil die Killerapplikation Weihnachten manchmal fast oder wirklich tödlich wirkt.

Wie machen Sie das?, fragt mich die Bäckerin. Ich mache einfach, sage ich. Aber das ist doch das Fest der Liebe, das kann man doch nicht ausfallen lassen!, sagt sie. Ich kann das ganze Jahr lieben, sage ich, auch ohne Fest.

10. Dezember 2009

Was ist Kunst?

Bei meiner kleinen, von Frank Peters Blog inspirierten Serie zum Thema "Was ist Kunst" möchte ich gern spielerisch und schräg an die Sache herangehen. Kunst ist für alle da, in der Steinzeithöhle hat keiner ein Diplom vorzeigen müssen, ob er mitreden darf. Natürlich kann jeder von uns ein Lexikon zur Hand nehmen und dann über die Artikel diskutieren. Werden wir dadurch schlauer? Denn schon wenn ich nach deutscher Kunsterziehung in der Schule einen Larousse aufschlage, staune ich:
L'ART / KUNST = Die Fähigkeit und Gewohnheit, etwas zu machen.
Aha. So einfach ist das. Und dann folgt ein Rattenschwanz an weiteren Definitionen.
Ich selbst habe mich nie Künstlerin nennen wollen. Wenn ich ein Bild gemalt habe, habe ich herumgekleckst aus Spaß. Als ich als Kind Bratsche gelernt habe, schrammte ich unlustig darauf herum, weil ich lieber Klavier gespielt hätte. Einmal habe ich einer Steinstele ein Gesicht gegeben, einfach weil sie zu schwer war, um sie wegzuwuchten. Irgendwann habe ich ein Sachbuch geschrieben. Ich stehe manchmal auf einer Bühne. So viele Künste - aber doch keine Kunst?

In Frankreich habe ich umgelernt, "auteur-artiste" zu meinem Beruf zu sagen, denn als ich das noch nicht machte, gab es Missverständnisse. Ämter wollen alles genau wissen: Schreiben Sie Werbetexte, Libretti, Artikel, was machen Sie eigentlich? Plötzlich war das, was ich machte, "Kunst". Aber ich fühlte mich immer noch nicht als Künstlerin. Damals schrieb ich gerade experimentehalber "heitere Frauenromane", bei denen der Verlag anmeldete, dass er noch eine Sexszene vor Seite XX wünschte. Kunst? Für mich war das handwerkliches Aufbauen von Backsteinen. Gewiss, nicht jeder konnte gerade Mauern errichten, aber deswegen war das noch lange keine Kunst für mich. Ist man Künstler, weil einem ein Amt das bescheinigt? Sind wirklich alle Buchautoren auch Künstler?

Inzwischen bin ich regelmäßig bei einer Künstlerberatung, die hier Pflicht ist, wenn man keine ordentliche Firma mit ordentlichen Waren gründet. Sehr hilfreich, weil ich ja nicht wusste, wie Künstler in Frankreich so leben und arbeiten. Ich ging brav und interessiert hin und schüttelte innerlich den Kopf: Jetzt soll ich da von meinem Hörbuchprojekt über Nijinsky mit Musik und Text erzählen und wieder dieses blöde Wort "auteur-artiste" aufschreiben, aber das kann doch jeder, ich bin doch keine Künstlerin! Die junge Frau, meine Beraterin, grinste immer belustigter, schwieg eine Weile und schaute mich dann ganz ernst an.

Und wusch mir gehörig den Kopf. "Wissen Sie was? Sie müssen endlich akzeptieren lernen, dass Sie eine Künstlerin sind. Damit werden Sie nämlich den Rest Ihres Lebens zurechtkommen müssen."
Das klang arg nach Lebenslänglich ohne Bewährung. Die Angeklagte versuchte einen Einspruch: "Aber ich könnte doch einen ganz normalen Job, irgendwo angestellt und..."
"Vergessen Sie's. Sie können das und werden krank daran."
Und dann sagte sie etwas von wegen "andere innere Struktur und Denkweise". Ist Kunst eine Kopfkrankheit? Dachte ich so anders? - Ich solle mir nur einfach mal zuhören, wenn ich über meine Projekte redete, meinte sie und grinste.

Zuerst war ich stinkwütend auf die Frau, weil sie sich in meinen Augen erdreistete, mich lebenslänglich zu etwas "Anderem" zu verurteilen. Heute bin ich froh darum, dass mir das endlich mal jemand ins Gesicht gepfeffert und damit einen Damm eingerissen hat. Seither lerne ich ständig "Andere" kennen, spannende Menschen - und arbeite in komischen "anderen" Jobs, die ich mir vorher nicht einmal hätte vorstellen können. Und plötzlich passiert Eigenartiges: Dadurch, dass ich dauernd anders auf Dinge schaue, Dinge anders wahrnehme, als man das brav in der Schule gelernt hat, überfallen mich neue Ideen haufenweise. Aber bin ich jetzt Künstlerin? Ist das Kunst, was ich mache?

Als Autorin habe ich ein übles Laster, nennen wir es beschönigend Berufskrankheit: Ich beobachte Menschen. Natürlich benutze ich dazu auch meine Ohren. Am liebsten bei Menschenansammlungen.
Museum Frieder Burda, Blauer-Reiter-Ausstellung. Zwei Frauen um die 55 vor einem Kandinskybild, das einen Zug vor Murnau zeigt. Schwarze Elektromasten vor leuchtenden Farben. (Bild anschauen)

Die eine Frau hat einen Museumskopfhörer auf und lässt sich sagen, wie man das Bild betrachtet und was solche kunstpädagogischen Hörstücke einem an Schlauheiten eben zu sagen haben. Ihr Gesicht ist aufmerksam, sehr ernst, als wohne sie der Beisetzung eines hohen Politikers bei. Ab und zu nickt sie langsam, verstehend, aber ihre Augen sagen das Gegenteil: Sie kann es nicht nachfühlen.

Im Gesicht ihrer Freundin zuckt es. Die Frau wackelt hin und her, geht ganz nah ans Bild und wieder weit weg, sucht sich dann einen festen Standpunkt und es zuckt immer mehr und dann lacht sie laut. Sie platzt heraus. "Das ist ja toll, das macht richtig tschtschtsch tschtschtsch! Und guck mal die Farben da an, da hat Kandinsky auch gelacht!"

Ein Ruck durch die Menge. Pikierte Blicke, vermeintliche Kunstkenner gehen auf Abstand, gesetzte Damen strafen die lachende Frau mit Blicken, die wahrscheinlich nur noch Grautöne wahrnehmen. Und die lacht weiter und sagt: "Das ist kein Bild, das ist ein Rhythmus!" Und jetzt schüttelt die Freundin sie mahnend am Arm, legt sich den Kopfhörer um den Hals, der weiter analysiert, und sie redet im Kopfhörerton auf die andere ein: "Wie kannst du nur so respektlos...!" Es folgt eine Vorlesung, was Kandinsky für eine Bedeutung gehabt habe, einschließlich aller Jahreszahlen, gut auswendig gelernt, und wie man das Bild im Kontext seines Schaffens, unter Analyse der und der Punkte...

Die lachende Frau wird ernst, ein wenig grauer im Gesicht, schaut ihre Freundin staunend an und sagt kleinlaut: "Wenn du meinst. Das habe ich alles nicht gewusst. Schade, das war so ein spaßiges Bild. Ich sollte mir vielleicht auch so einen Kopfhörer holen."

Ich bildete mir ein, wäre Kandinsky anwesend gewesen, er hätte in diesem Augenblick vielleicht geweint. Vielleicht auch die lachende Frau von ihrer wissenden Freundin weggezogen. Ich behaupte steif und fest: Die lachende Frau hatte dieses "gewisse Etwas". Die hat mehr verstanden als die Pädagogische. Und wenn man sie gelassen hätte, wären ihr vielleicht noch viel mehr erstaunliche Gedanken gekommen. Wenn man sie gelassen hätte, hätte sie vielleicht irgendwann selbst zum Pinsel gegriffen und noch mehr gelacht. Nicht auszudenken, wie vielen Menschen das "Anderswahrnehmen" abgeekelt, abtrainiert wird. Man nimmt ihnen die Kunst weg und stellt sie auf ein Podest. Man. Man macht. Man darf. Man macht nicht.

Jetzt können wir hergehen in so ein Museum und den Leuten Etiketten auf die Stirn pappen. Kleben wir dem Künstler doch ein "Künstler" auf die Stirn, weil man das machen darf, wenn er einer ist - und der reisst es vielleicht wieder herunter, weil er sich damit nicht wohl fühlt. Klebt es der Museumswärterin auf die Stirn, weil die diese wunderbare Handbewegung macht zum Weiterleiten. Dann haben wir noch Etiketten mit "Kunstkenner" - auf wen kleben wir die? Noch mehr Schildchen zu vergeben: "Nichtversteher", "Unbeeindruckter". Die ernste Freundin will der Lachenden den "Nichtversteher" aufkleben. Ich laufe mit "Unbeeindruckter" auf die Zimtzicke im Pelzmantel zu, die sich so laut über die Lachende mokiert hat, man benehme sich doch nicht so. Ein professoral wirkender Mensch greift selbst nach "Kunstkenner", ein Kind klebt auf die Ernste den "Nichtversteher" und die Lachende lacht noch mehr und ruft: "Ich will Kunstwärter sein, malt ein neues Schild, ich will mit diesen Bildern eine Nacht lang schlafen!"

Tja, ich bin jetzt irgendwie verwirrt, zwischen Realität und Fiktion und Kunst und Künstler und der Angst der Leute vor beidem, dieser üblen, anerzogenen Angst, nicht das Richtige zu sagen, nicht das Richtige zu wissen, sich womöglich "daneben" zu benehmen. Dürfen nur Künstler daneben treten?
Was passiert eigentlich, wenn einen jemand fragt, was Kunst ist - und man fängt einfach an, laut zu lachen?