Mauerfall: Flucht in den Osten

Es ist erstaunlich, welche persönlichen Geschichten beim Thema Mauerfall vor zwanzig Jahren (schon wieder so lang her!) zutage kommen. Ob man den Tag als positiv oder negativ erlebt haben mag, unstrittig ist, dass da auch innerlich einige Steine nicht mehr auf den anderen blieben. Komisch, für mich schien der Tag des Mauerfalls eine Katastrophe in einer Kette unguter Ereignisse zu sein, obwohl ich die positive politische Dimension erkannte. Ich freute mich für die anderen, aber ich hatte wenig Grund zur Freude.

Ein anderes Datum des Jahres 1989 hat nämlich mein Leben aufgemischt. Damals noch verheiratet, in der Wohnung von Freunden lebend, die für länger nach China gegangen waren, traf uns der vierte Juni 1989 mit voller Wucht. Peking war plötzlich näher als die DDR, das Massaker auf dem Tian'anmen Platz bedrohte Menschen, die wir persönlich kannten. Es war seltsam, Menschen, die dieser Hölle entronnen waren, Zuflucht bei sich selbst zu bieten.

Als wir dann auf dringender Wohnungssuche waren, fiel die Mauer, es überrollten uns Wohnungssuchende aus dem Osten, die Mieten stiegen ins Unbezahlbare, wenn überhaupt noch irgendwo ein Loch zu finden war. Da wurde mit den Bedürfnissen der Menschen gehörig geschachert und Reibach gemacht. Was habe ich gehadert mit den Trabikolonnen, die plötzlich alle im Westen bleiben wollten! Ich habe dann das Gleiche gemacht wie sie, bin abgehauen, hab in den Westen rübergemacht, über die Grenze, die offene. Frankreich war erfreulich still zu jener Zeit, die Preise waren vernünftig, weil die deutsch-deutsche Auswandererwelle am Rhein zum Erliegen kam. 1989 bin ich aus einem Land emigriert, das mir plötzlich zu konsumgeil wurde, zu teuer und auch ein wenig zu sehr im neuen Nationalrausch gefangen - während der Osten im Tausch gegen Bananen und Glaspaläste erfolgreich kolonialisiert und planiert zu werden schien.

Dann schlug die Wiedervereinigung noch einmal mit aller Härte zu. Eine westdeutsche Firma, die eben noch eine Stadt im Süden mit unmöglichen Neubauplänen aufgemischt hatte, beschloss plötzlich, umziehen zu müssen. In die neue Mitte, schließlich habe sich die Form Deutschlands verschoben. Und jene neue Mitte lag noch westlicher im Westen, aber sehr weit weg. Es blieb nur ein einziger Ausweg, Arbeitswege erträglich zu gestalten: Sich noch weiter weg versetzen lassen. Die Stadtpläne und Fremdenführer von Montreal in Kanada habe ich immer noch im Bücherregal. Innerlich waren die Schiffscontainer bereits gepackt. Die ewige Flucht in den noch westlicheren Westen.

Wieder machte die Geschichte einen Strich durch die Rechnung. Laut Arbeitgeber würde das neue Land so ähnlich sein: Sieht aus wie Kanada, fühlt sich an wie Kanada, ist nur kein Kanada drin, witzelte man. Neue Destination: Warschau, Polen. Es waren ja nicht nur Mauer und DDR-Grenzen gefallen - auch der alte Eiserne Vorhang hatte ausgedient. Natürlich hat Polen mit Kanada nicht viel gemeinsam, wenn es einem 1993 auch noch reichlich Pioniergefühl bot. Aber zu jener Zeit gefiel sich der Westen im Sendungsbewusstsein: dem Osten das Heil des Kapitalismus bringen.

So kam es jedenfalls, dass damals so viele "Ossis" in den Westen gingen und ich nach Träumen vom äußersten Westen im tiefsten Osten landete. Ich galt damit als Freak, als vollkommen bekloppt, und so mancher aus der ehemaligen DDR griff sich ans Hirn. Das tat ich auch, als ich 1993 zum ersten Mal die deutsche Botschaft in Warschau betrat, ein ehemaliger DDR-Bau, in dem noch die Löcher und Drähte für die Stasiüberwachung hingen, die alten Betonköpfe ihren Dienst taten, unfreundlich und bärbeißig wie eh und je. Da hatte man vergessen, aufzuräumen. Welch eine Wohltat, als ich ein paar Straßen weiter bei den Franzosen mit Espresso und einer wunderbaren Bibliothek und charmantem Lächeln empfangen wurde.

Aus zwanzig Jahren Abstand gesehen, war die "Katastrophe", die mich traf, mit das Beste, was mir im Leben passieren konnte - und Polen und der "tiefe" Osten ist immer eine mehr oder weniger heimliche Liebe geblieben. Aber die Wiedervereinigung ist ein Erfahrungsschatz, der mir fehlt. All das habe ich als Emigrantin von außen wahrgenommen, durch ausländische Medien von verpassten Chancen und verpassten gegenseitigen Offenheiten gehört. Seit 1989 habe ich nicht mehr in Deutschland gelebt, meinem Transitland zwischen Frankreich und Polen.

2 Kommentare:

  1. Bei mir fing der Polentick schon früher an. Beschrieben habe ich das im Buch so:
    "Mit schöner Regelmäßigkeit ging ein Aufschrei durch meinen Freundes- und Bekanntenkreis, wenn ich auf die Frage, wohin ich im Sommer fahre, „nach Polen“ antwortete. Die Heimat meiner Familie hätte ich doch nun gesehen, die 22 Jahre nach Kriegsende eher zufällig wiedergefundenen Verwandten besucht, und das müsse es nun sein.
    Als ich einige Zeit später auch noch verkündete, einen Polen heiraten zu wollen, hielten mich alle für ein wenig verrückt. Und man war erstaunt, dass mein Zukünftiger nicht keuleschwingend und in Felle gewandet auftrat und er auch noch abstritt, dass in seiner Heimatstadt Warschau die weißen Bären auf den Straßen herumliefen.
    Mit Enthusiasmus hatte ich von Polen erzählt, von der tollen Landschaft geschwärmt und den offenen, überwältigend gastfreundlichen Menschen in ihrer so schwierigen Lebenssituation in den 70er und 80er Jahren. Hören wollte das kaum jemand, alles was östlich der Elbe lag, interessierte meine westdeutschen Altersgenossen nicht. Polen wurde irgendwo kurz vor Sibirien verortet, war aber dennoch nicht weit genug entfernt, um exotische Reize zu verströmen, außerdem galt Polen als rückständig, arm und langweilig, manchen auch als deutschfeindlich.
    So gab es, als mein Mann und ich uns Jahre später trennten, immer noch Zeitgenossen, die meinten, unsere Scheidung sei darin begründet, dass Polen und Deutsche eben doch nicht so richtig miteinander könnten."

    Ein bisschen anders war es bei mir also schon, aber irgendwie doch nicht unähnlich. Ich habe damals nicht ganz in Polen gelebt, aber immer wieder für längere Zeit, ahbe diese irre Übergangsphase dort hautnah erlebt, dieses Gefühl, dass ein ganzes Land irgendwie zu schweben schien und die Sommer auf eine unvergleichliche Art zelebrierte. Wie unwichtig wurde schnell eine Stereoanlage, kein schickes Auto oder eine Riesenwohnung! Ich möchte diese ersten Nachwendejahre in Polen nicht missen. Niemals! Das war eine umwerfende Erfahrung.

    Gruß,
    Brigitte

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  2. Serdecznie dziękuję, Brigitte! Danke fürs Teilen dieser wunderbaren Geschichte. Da kommen so viele Erinnerungen hoch und Parallelen. An die üblen Polenwitze und das Bedauern und Verrückterklären der deutschen Freunde. Ganz seltsam: Die französischen Freunde bewunderten den Schritt, beglückwünschten, schwärmten ... naja, das Elsass gilt für die Pariser ja auch schon als Vorland von Sibirien. Es ging da wirklich eine Grenze durch die Köpfe.

    Ja, diese quirlige Aufbruchstimmung in Warschau, jeden Tag eine neue kleine Revolution, manchmal fast nicht mehr auszuhalten, nicht mehr fassbar, eine Stadt zwischen extremer Manie und schwärzester Depression, nervenzerrend. Und doch so LEBENDIG und mitreissend wie nichts zuvor. Die weißen Nächte im Sommer - ein Lebensprogramm in Turbointensität...

    Menschen, Herzen, überwältigende Gastfreundschaft - und beruflich der Kampf gegen die altkommunistischen Betonköpfe, gegen das Patriarchat ("dear Sir" nannte mich meine Bank), immer wieder das Organisieren und Improvisieren an allem vorbei, das einen (be)hinderte.

    Nicht vergessen werde ich auch die Angst, den Zynismus der Verdrängung, wenn auf dem Heimweg das Bombenräumkommando wieder einmal die Straße absperrte oder irgendeine ausländische Mafia das Lieblingsrestaurant mit Granaten beehrte. Was sind wir mutig dort essen gegangen, aus Protest gegen die Gewalt, was haben wir gewitzelt über die schrankförmigen "Kellner", die uns mit Kalaschnikoffs schützten. Ausnahmezustand als Alltagsprogramm.

    Und den Kopf hat es einem zurechtgerückt, ja. Ich erinnere mich noch an Telefone, die wochenlang bei Regen nicht funktionierten oder weil die noch ärmeren Ukrainer mal wieder das Kupferkabel aus der Straße gegen Zloty eingetauscht hatten. Wie relativ wird da die Suche nach dem noch hipperen Handy. Wie winzig das Pseudoproblem.

    Arm war es, bitter arm, daneben teurer und verrückter als Tokio und New York. Mit meiner Medienagentur kam ich auf den irren Monatsverdienst von 100 Zloty, damals 60 oder 80 Mark? Aber die Menschen noch nicht glattgebügelt, noch nicht konsumkonform (das soll heute anders sein?) mit einer wild blubbernden, spannenden Kunst- und Kulturszene.

    Alles in allem war das eine ganz große Lebensschule für mich, eine die mich das Krisengeschwätz von heute gelassener anhören lässt. Und trotzdem hat es mich auch schwindlig gemacht, wurde ich krank am ewigen brutalen Kampf unterm Marlboro-Man, der damals alles unter seinen überdimensionalen Werbeplakaten begraben hat.

    Die Rückkehr war nicht leicht. Ich glaube, ich brauchte mindestens ein Jahr, um den Kulturschock zu verarbeiten, den mir der Westen zufügte. Heute muss man für solche Erfahrungen SEHR viel weiter reisen...

    Grüße von Petra

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