Für M.
Ja, dieser Beitrag ist einem lieben Menschen gewidmet, der mich zu Recht darauf aufmerksam gemacht hat, dass es in meinen Texten sehr viele leere Kühlschränke gibt. Das hat mich schon nachdenklich gemacht, denn wenigstens seit 1999 glaube ich, keinen leeren Kühlschrank mehr zu haben. Manche werden sich erinnern: In diesem Jahr waren wir durch den weihnachtlichen Orkan Lothar bis zu drei Wochen von Strom, oft Heizung und vor allem zivilisatorischen Segnungen wie Zapfsäulen und Supermarktkassen abgeschnitten - und viele Dörfer im Schwarzwald und den Vogesen mussten erst freigesägt werden. Seither hat jeder, den ich hier kenne, eine Notration, Campingkocher, Kerzen, Petroleumlampen und was man so braucht, wenn nicht einmal mehr elektronische Türen im Geschäft mehr öffnen. Woher also diese dummen leeren Kühlschränke?
Da sind zum einen die Figuren in dem Buch, das ich gerade übersetze. Die schieben ständig Hunger, manchmal so sehr, dass ich beim Schreiben für sie esse und nachfühlen kann, wie das ist, wenn man sich dann plötzlich auf nüchternen Magen ein Kaninchenragout an Weißwein schnorren kann oder Gedichte rezitiert, um ein Sandwich geschenkt zu bekommen. Dafür haben sie dann allerdings auch tüchtig Drogen getankt und gesoffen, dass selbst mir an der Weinstraße und im gleichen Land allein vom Lesen der Mengen schwindlig wird. Kühlschränke hatten die noch nicht, aber jeder von diesen Hungerleidern revolutionierte die Welt auf seine Art - und ein paar wenige wurden sogar noch zu Lebzeiten reich. Der Rest schnorrte und bettelte weiter.
Und ich treibe mich ja nicht erst seit kurzem in diesem Milieu herum. Seit vergangenem Jahr bewundere ich Sergej Diaghilew, der sein Leben lang (allerdings angesichts zunehmender Leibesfülle wohl eher ein Mythos) nur einen einzigen Anzug besessen haben soll, keinerlei Privatgeld hatte - und ständig auf Betteltour für seine geliebten Ballets Russes ging, die nicht nur Unsummen in die Kunst steckten, sondern auch zu einem der größten und revolutionärsten Kunstprojekte des 20. Jahrhunderts wurden. Überliefert ist der Glamour, wir kennen die überragenden Tanzleistungen, die schillernden Kostüme, die ausschweifenden Partys wie z.B. mit dem Aga Khan. Aber kaum einer erinnert sich, dass die Russinnen und Russen, die dann als Gäste mit Wollust Kaviar schaufelten und Champagner soffen, nur vorsorgten - sie waren bettelarm. Hätten sie Kühlschränke besessen, wären diese wohl die meiste Zeit leer gewesen.
Mein Kühlschrank war noch nie leer, unsere Gesellschaft ist zum Glück bis zu einer Grundversorgung fortgeschritten. Aber Zeiten, in denen man nur Spaghetti variiert, weil zufällig mal wieder alle Kunden auf einmal ihre Rechnungen nicht bezahlen oder "übersehen", kenne ich auch. Ich kenne Leute mit einer Galerie, die vordergründig ihre Künstler zum Essen einladen, damit die sich kennenlernen - und eigentlich, damit sie das Gesicht nicht verlieren, denn für viele ist es endlich einmal wieder eine richtige warme Mahlzeit. Ich selbst habe einmal ein Bild gekauft, weil der Maler mit mehrköpfiger Familie angeblich auf Totaldiät war, während ihm der Hunger in den Augen stand. Und ich sehe immer mehr leere Kühlschränke in der zusammengesparten Kulturwelt, wo einige wenige lobenswerte Sozialprojekte initiieren und sehr viele mit Fingern auf die Künstler zeigen: "Sollen sie doch was Ordentliches schaffen wie andere Leute auch."
Ach, und ich erinnere mich an meine Studentenzeit Anfang der Achtziger, wo es trotz Ferienjobs ein Festmahl für uns war, wenn es statt der allzu oft genossenen Tütensuppen zu einem Reissalat reichte. Mein leerer Kühlschrank damals war eine "Kühlschrankmitbenutzung" bei der alten Dame, wo ich zur Untermiete wohnte. Platz für eine Tupperschüssel und ein Paket Milch. Mehr war eh nicht drin, der Rest des Geldes ging für das zweifelhafte Mensaessen, Bücher, Heimfahrten und brutale Zimmermieten drauf. Und dann stand ich plötzlich fristlos gekündigt da, weil die alte Dame mich angeblich ertappt hatte, wie ich unterm Bett Zentner von Kartoffeln hortete und auf dem Schwarzmarkt verschacherte! Vier Wochen Kündigungsfrist und nirgends ein Loch frei. Zu gern hätte ich beim überstürzten Umzug in letzter Minute in eine andere Stadt die imaginären Kartoffeln mitgenommen!
Warum rede ich so oft von leeren Kühlschränken? Ich habe doch selbst gelernt, dass es auch in der größten Misere irgendwie weitergeht? Ich habe einen Verdacht. Angesichts leerer Kassen für Kunst und Kultur, die scheinbar so neu nicht sind (obwohl damals Mäzene sehr viel mehr zubutterten), fehlt mir nämlich etwas anderes. Mir fehlt der HUNGER. All die Künstler, über die ich arbeitete und arbeite, trafen nämlich auf einen ungestümen Hunger im Publikum, das sich körperlich satt durch Galerien bewegte, in Theater ging - auf der Suche. Diese Leute konnten sich alles leisten, sich jeden Abend auswärts amüsieren und manchmal waren sie sogar übersättigt vom Genuss. Aber genau dann trieb es sie ins Suchen, es trieb sie die Gier nach Außergewöhnlichem, nach Neuem, nach Mutigem. Und sicher war da auch ein Konsumgedanke dabei: Man wollte sich mit Feinstem vom Feinen vom anderen unterscheiden. Übersättigt waren sie nämlich auch von der aufkommenden Massenware, dem billigen Dutzendzeug. Das kauften die Touristen und die Ärmeren den Künstlern ab und die hatten wieder ein paar Sous für Farbe, für die "richtige Kunst". Aber für einen Erfolg wie den von Picasso, von Diaghilew oder Cocteau brauchte es Hungrige unter den Käufern, Menschen, die nach weit mehr hungerten als nach Haus und Besitz.
Und wie war das mit denen, die so oft am leeren Kühlschrank verzweifelten? Sie improvisierten, wie man im Polnischen so schön sagt. Manche versetzten ihre letzte Habe, andere klecksten Massenkrempel nebenher, viele schnorrten oder bettelten und manche verkauften sogar ihren Körper. Sie konnten nicht anders. Sie konnten keinen "ordentlichen Beruf" ausüben, obwohl einige das mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, meist mit weniger. Sie machten weiter, egal wie. Richtig vor die Hunde gehen würden sie erst, wenn sie die Kunst aufgaben. Tot waren sie erst, wenn ihnen nichts Neues mehr einfallen wollte. Die Avantgarde ist auch aus der Armut geboren - befördert von Käufern, Spendern und Mäzenen.
Vielleicht denke ich deshalb so oft an leere Kühlschränke, blitzblank und mit Ökosiegel, strahlend weiß und manchmal viel zu groß. Sie tauchen wie Alptraumgebilde auf, wenn ich Diskussionen von Kollegen verfolge, die sich endlos den Kopf zermartern, wie man ein Buch schreiben müsse, um schnell möglichst viele Verlagsverträge zu ergattern und bestmöglichst zu verkaufen. Die sich fragen, wie man den Leserinnen und seltener den Lesern noch mundgerechter, noch angepasster, noch glatter in seinen Texten entgegenkommen könne. Ich sehe dann in einen großen sterilen krankenhausweißen Kühlschrank und frage mich, wo all die Debatten stattfinden mögen, wie man mit einem Text LEBEN könne, der aus einem herausbricht, der fordert, der sich seinen Weg ins Leben manchmal sogar gegen den Autor erkämpft? Wo reden sich die Kollegen die Köpfe heiß vom Nicht-anders-Können, von der Hingabe und Leidenschaft? Wie entstehen heute mutige, neue, andere, einzigartige Texte entgegen aller Bestsellerformeln, Preisvergaberichtlinien, Literaturmoden, Lektorenstatistiken und Verlagscontroller-Forderungen? Bei denen zunächst die Schöpfung wichtiger ist als das Verlegen und Verkaufen?
DIESE wandelnden Kühlschränke (in jeder Kunstrichtung übrigens) möchte ich aus meinem Kopf bekommen. Ich möchte um keinen Preis zurück zu den leeren Schränken der Avantgarde, solch bitteres Hungern muss in modernen Gesellschaften nicht mehr sein. Aber irgendwie sehne ich mich nach mehr überquellenden geistigen Vorratskammern, wo alles wild durcheinander duftet und in allen Farben glüht.
Ich fürchte, ich habe ein Kühlschranktrauma...
Seiten
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29. November 2009
28. November 2009
Galeere
Feierabend. Die ersten hundert Seiten von 600 sind übersetzt (Rohdurchgang). Und Ende März muss ich komplett abgeben. Wenn ich mir den kurzen Februar anschaue, kommt Panik auf - ich werde mein Pensum erhöhen müssen.
Immerhin bin ich jetzt von der Lyrik zwischendurch erlöst, sofern sie bereits auf Deutsch herausgegeben wurde. Sofern nicht, muss ich selbst ran.
Eines habe ich gelernt: Sag niemals Nein: "Ich will keine literarische Übersetzerin werden." Seit hundert Seiten führe ich mich selbst ad absurdum. Deshalb darf ich jetzt auch den Feierabend zurücknehmen: "Komm, ein Espresso und dann noch mal drei Seiten, auch wenn das Hirn schon streikt, noch ein Wort und noch einen Satz - das alles nimmt die Panik ein wenig."
Übrigens, mit dem Original, obwohl nicht scharfkantig genug, könnte man jemanden erschlagen. Es ist auch groß genug, um fehlende Steine in einer Mauer zu ersetzen. Zum Glück lese ich es im Sitzen. Nicht auszudenken, wenn einem das beim Einschlafen aufs Gesicht fiele! Auf ein Neues, Feierabend ist später.
Immerhin bin ich jetzt von der Lyrik zwischendurch erlöst, sofern sie bereits auf Deutsch herausgegeben wurde. Sofern nicht, muss ich selbst ran.
Eines habe ich gelernt: Sag niemals Nein: "Ich will keine literarische Übersetzerin werden." Seit hundert Seiten führe ich mich selbst ad absurdum. Deshalb darf ich jetzt auch den Feierabend zurücknehmen: "Komm, ein Espresso und dann noch mal drei Seiten, auch wenn das Hirn schon streikt, noch ein Wort und noch einen Satz - das alles nimmt die Panik ein wenig."
Übrigens, mit dem Original, obwohl nicht scharfkantig genug, könnte man jemanden erschlagen. Es ist auch groß genug, um fehlende Steine in einer Mauer zu ersetzen. Zum Glück lese ich es im Sitzen. Nicht auszudenken, wenn einem das beim Einschlafen aufs Gesicht fiele! Auf ein Neues, Feierabend ist später.
27. November 2009
Gedenkminute
Gedenkminute für den politisch unabhängigen, kratzigen Journalismus mit Rückgrat in Deutschland.
Zumindest das ZDF hat sich heute erfolgreich und endgültig davon befreit, Chefredakteur Nikolaus Brender muss gehen, Roland Koch kann sich freuen. Einem Nachfolger kann man jetzt schon herzliches Beileid wünschen. Und folgerichtig titelt ein Kommentar im Spiegel von Markus Brauck:
Wer diesen Kommentar liest, erfährt, warum die Sache nicht nur Journalisten angeht, sondern jeden einzelnen Fernsehzuschauer und Demokraten. Wer wissen will, worum es eigentlich ging und geht, der findet die Affäre im Moment in so gut wie jeder Zeitung, etwa in der Süddeutschen. Und auch die Kommentare überschlagen sich derzeit, wie z.B bei Carta. Bei Twitter findet man aktuelle Nachrichten realtime unter den Hashtags #Brender und #ZDF. Der beste Kommentar dort war der Hinweis, dass man künftig die GEZ-Gebühren wohl als Parteienspende absetzen könne.
Tja, nach Kernprogrammen à la Kerner und Lanz ist jetzt eines sicher: Mit dem Zweiten kocht man besser!
Zumindest das ZDF hat sich heute erfolgreich und endgültig davon befreit, Chefredakteur Nikolaus Brender muss gehen, Roland Koch kann sich freuen. Einem Nachfolger kann man jetzt schon herzliches Beileid wünschen. Und folgerichtig titelt ein Kommentar im Spiegel von Markus Brauck:
"Deutschland ist jetzt Berlusconi-Land."
Wer diesen Kommentar liest, erfährt, warum die Sache nicht nur Journalisten angeht, sondern jeden einzelnen Fernsehzuschauer und Demokraten. Wer wissen will, worum es eigentlich ging und geht, der findet die Affäre im Moment in so gut wie jeder Zeitung, etwa in der Süddeutschen. Und auch die Kommentare überschlagen sich derzeit, wie z.B bei Carta. Bei Twitter findet man aktuelle Nachrichten realtime unter den Hashtags #Brender und #ZDF. Der beste Kommentar dort war der Hinweis, dass man künftig die GEZ-Gebühren wohl als Parteienspende absetzen könne.
Tja, nach Kernprogrammen à la Kerner und Lanz ist jetzt eines sicher: Mit dem Zweiten kocht man besser!
Nachttischgeflüster (1)
Eine Frau packt aus. Hemmungslos. Elke Heidenreich macht das äußerst medienwirksam mit ihren Freundschaften und der Ruf nach den omnipräsenten Autoren zum Anfassen wird immer lauter. Ab heute führe also auch ich öffentlich in sehr loser Abfolge in mein privatestes Heiligtum. Leider verfüge ich nicht über die für social-media-erprobte Autorinnen empfohlene Technik, sonst würde diese Artikelreihe in Zukunft von Videos und podcasts begleitet werden. Wenn aber alle, die nach Multimediawerbung dürsten, fleißig meine Bücher kaufen, kann ja in vielen Jahren werden, was nicht ist. So lange gibt es Kopfkino vom feinsten, typisch Schriftsteller eben ... Für die Podcastversion denken Sie sich bitte die Bilder weg. Sollten sie Downloadprobleme haben, konvertieren Sie bitte Ihre Festplatte in ein Hirn um.
Intro:
Irgendsoein schwül dahingehauchter französischer Erotikmusikfetzen, auf einer Großbildleinwand bewegen sich lasziv völlig unbekleidete Wellensittiche, im Vordergrund ersteht ein jugendlicher Klon von Brigitte Bardot und küsst etwa 1:30 min lang ein in Ziegenleder gebundenes Buch mit Goldprägung. CUT
1. Akt:
Thomas Gottschalk pfeift Brigitte Bardot und Elke Heidenreich auf ein durchsichtiges Wassersofa, in dem pinkfarbene E-Reader schwimmen. "Wollen wir uns nicht ein bißchen verlegen?", fragt er verlegen. Elke Heidenreich ruft: "Lesen!" Brigitte Bardot küsst ein in bordeauxfarbenen Samt gebundenes Buch. Die Wellensittiche tanzen Can-Can. CUT
2. Akt:
Mystische Gruselmusik. Die Kamera fährt durch düstere, ellenlange Gänge, in die der Requisiteur etwas zu viele Kunstspinnweben geklebt hat. Mrs Munster legt den Finger an die Lippen, kichert hysterisch und verrät flüsternd, man begebe sich nun direkt und ohne Teufelsschweife zum Nachttisch der Autorin. Quietschend öffnet sich ein eisenbeschlagenes Portal, es entquillt reichlich pinkfarbener Staub. CUT
3. Akt:
Ohne Geräusche (sorry podcaster!).
Wir blicken auf das Privateste im Intimsten, das Heiligste im Unheiligen, das heißersehnte, mit Mythen umrankte, vor den Medien bisher geheimgehaltene Nachttischchen einer Autorin! Trommelwirbel (podcaster, aufwachen, es geht los!) Zoom. Wir sehen alles, wirklich alles, ungeschönt, offen, ehrlich:
Ein grünes Bändchen von Michail Bulgakow: Hundeherz. Die Autorin wollte am Vorabend nur kurz hineinschauen, las 80 Seiten, las am Morgen, las beim Kaffee. Die Geschichte von einem Hund, der mit ungeahnten Folgen zum Menschen umoperiert wird, ist zwar eine politisch-gesellschaftliche Parabel, liest sich aber wie ein Krimi. Heimliche Gedanken der Autorin unter der Bettdecke: Wie machen das die Russen, ihre Figuren so lebensprall zu zeichnen und mich mit Haut und Haar in ihre Welten zu ziehen?
Ebenfalls schon entblättert, pardon angeblättert: Truman Capote: Kaltblütig. Die Autorin ist derzeit Capote total verfallen, findet, sein Kurzgeschichten-Portrait von Marilyn Monroe gehöre in jeden Journalistenunterricht und sein zauberhafter Roman "Die Grasharfe" unter jedes Kopfkissen. Heimlich denkt sie, da könne man viel für erzählende Sachbücher lernen.
Paul Auster: Mr. Vertigo hat die Autorin noch nicht ganz verführen können. Das liegt nicht daran, dass Mr Auster immer so finster und das Cover so kindisch aussieht. Nein, für seine Bücher braucht es irgendeine geheimnisvolle, noch nicht ergründete Laune.
Noch ein heimliches Spick- und Lernbuch zu erzählenden Sachbüchern, die sich als Romane verkleiden, hat sich die Autorin beschafft. Barbara Krause: Camille Claudel. Ein Leben in Stein. Eigentlich nur, weil Anne Delbée: Eine Frau. Camille Claudel nicht zu haben war. Gespannt zieht die Autorin die Bettdecke über dieses Buch - denn der Monsieur Rodin, der kommt auch in ihrem eigenen Nijinsky-Hörbuch vor, mit einer nicht ganz so heterosexuellen Attitude (was war Diaghilew eifersüchtig!).
Und noch so ein Kerl, den die Autorin schon fast verehrt. Wie ein Junkie hat sie schon fast alles weggelesen, was aus seinen Händen kommt und wünscht ihm eigennützig ein sehr langes Schriftstellerleben. Dieses Mal ist es sein Zweitling. Colum McCann: Der Himmel unter der Stadt. Schon sein Erstling war grandios. An diesem Schriftsteller spürt die Autorin, wie sich Neid positiv anfühlen kann: Solche Themen finden können, so schreiben zu können! Ach Schreibgötter, schenkt mir doch auch ein Stäubchen!
Fast ebenso andächtig hat sie auch eine Autorin verschlungen, der sie aber langsam böse wird. Vom Verlag ganz zu schweigen, der in einem der Titel den Mörder verrät, pfui. Die Autorin und ihr Kosmos um Adamsberg reißen sie von Geschichten und Sprache her mit. Aber in den neuesten Romanen wird das Muster ein wenig zu durchsichtig und spielt zu sehr mit den Bestsellertrends der großen Buchläden, als dass man dahinter noch Zufall vermuten könnte. Da waren die früheren Romane vielleicht manchmal unebener, aber auch lebendiger und unverbrauchter. Ob die grande dame wieder zur alten Form aufläuft, wird geprüft an Fred Vargas: Die dritte Jungfrau.
Abspann:
Haaaaaalt, noch nicht das Kino verlassen! Unsere unbekleideten Wellensittiche zeigen Ihnen jetzt noch einmal, was ein Beinwurf ist. Und wenn dann die freundlichen Damen in Pink Geld sammeln, während Eric Satie sich einen Hund klimpert, denken Sie bitte an die Situation deutscher Bibliotheken, die derzeit kaputtgespart werden. Jedenfalls muss unsere Autorin schon solche alten Schinken auf dem Nachttisch auftürmen...
Social Media: Participation is hip:
Drehen Sie Ihr eigenes Video. Lassen Sie Ihre Schwiegermutter ein Buch küssen. Zeigen Sie lesende Wellensittiche. Versenken Sie pinkfarbene E-Reader in der Badewanne und wetten Sie, dass diese Bücher Wasser überleben. Filmen Sie Bücher, Bücher, Bücher. Und nehmen Sie ein Buch mit ins Bett, aber schnarchen Sie nicht.
Pschtttthhh ... Geheimtipp: Sämtliche genannten Bücher sind gegen einen lächerlich geringen Jahresbeitrag in der Stadtbibliothek Baden-Baden auszuleihen und lagen garantiert auf einem echten Nachttisch einer echten Autorin. Manchmal kann man diese sehen, wie sie in Baden-Baden Kaffee trinkt oder in der Buchhandlung Strass ihre Bücher signiert oder beides. Pschttth.
Intro:
Irgendsoein schwül dahingehauchter französischer Erotikmusikfetzen, auf einer Großbildleinwand bewegen sich lasziv völlig unbekleidete Wellensittiche, im Vordergrund ersteht ein jugendlicher Klon von Brigitte Bardot und küsst etwa 1:30 min lang ein in Ziegenleder gebundenes Buch mit Goldprägung. CUT
1. Akt:
Thomas Gottschalk pfeift Brigitte Bardot und Elke Heidenreich auf ein durchsichtiges Wassersofa, in dem pinkfarbene E-Reader schwimmen. "Wollen wir uns nicht ein bißchen verlegen?", fragt er verlegen. Elke Heidenreich ruft: "Lesen!" Brigitte Bardot küsst ein in bordeauxfarbenen Samt gebundenes Buch. Die Wellensittiche tanzen Can-Can. CUT
2. Akt:
Mystische Gruselmusik. Die Kamera fährt durch düstere, ellenlange Gänge, in die der Requisiteur etwas zu viele Kunstspinnweben geklebt hat. Mrs Munster legt den Finger an die Lippen, kichert hysterisch und verrät flüsternd, man begebe sich nun direkt und ohne Teufelsschweife zum Nachttisch der Autorin. Quietschend öffnet sich ein eisenbeschlagenes Portal, es entquillt reichlich pinkfarbener Staub. CUT
3. Akt:
Ohne Geräusche (sorry podcaster!).
Wir blicken auf das Privateste im Intimsten, das Heiligste im Unheiligen, das heißersehnte, mit Mythen umrankte, vor den Medien bisher geheimgehaltene Nachttischchen einer Autorin! Trommelwirbel (podcaster, aufwachen, es geht los!) Zoom. Wir sehen alles, wirklich alles, ungeschönt, offen, ehrlich:
Ein grünes Bändchen von Michail Bulgakow: Hundeherz. Die Autorin wollte am Vorabend nur kurz hineinschauen, las 80 Seiten, las am Morgen, las beim Kaffee. Die Geschichte von einem Hund, der mit ungeahnten Folgen zum Menschen umoperiert wird, ist zwar eine politisch-gesellschaftliche Parabel, liest sich aber wie ein Krimi. Heimliche Gedanken der Autorin unter der Bettdecke: Wie machen das die Russen, ihre Figuren so lebensprall zu zeichnen und mich mit Haut und Haar in ihre Welten zu ziehen?
Ebenfalls schon entblättert, pardon angeblättert: Truman Capote: Kaltblütig. Die Autorin ist derzeit Capote total verfallen, findet, sein Kurzgeschichten-Portrait von Marilyn Monroe gehöre in jeden Journalistenunterricht und sein zauberhafter Roman "Die Grasharfe" unter jedes Kopfkissen. Heimlich denkt sie, da könne man viel für erzählende Sachbücher lernen.
Paul Auster: Mr. Vertigo hat die Autorin noch nicht ganz verführen können. Das liegt nicht daran, dass Mr Auster immer so finster und das Cover so kindisch aussieht. Nein, für seine Bücher braucht es irgendeine geheimnisvolle, noch nicht ergründete Laune.
Noch ein heimliches Spick- und Lernbuch zu erzählenden Sachbüchern, die sich als Romane verkleiden, hat sich die Autorin beschafft. Barbara Krause: Camille Claudel. Ein Leben in Stein. Eigentlich nur, weil Anne Delbée: Eine Frau. Camille Claudel nicht zu haben war. Gespannt zieht die Autorin die Bettdecke über dieses Buch - denn der Monsieur Rodin, der kommt auch in ihrem eigenen Nijinsky-Hörbuch vor, mit einer nicht ganz so heterosexuellen Attitude (was war Diaghilew eifersüchtig!).
Und noch so ein Kerl, den die Autorin schon fast verehrt. Wie ein Junkie hat sie schon fast alles weggelesen, was aus seinen Händen kommt und wünscht ihm eigennützig ein sehr langes Schriftstellerleben. Dieses Mal ist es sein Zweitling. Colum McCann: Der Himmel unter der Stadt. Schon sein Erstling war grandios. An diesem Schriftsteller spürt die Autorin, wie sich Neid positiv anfühlen kann: Solche Themen finden können, so schreiben zu können! Ach Schreibgötter, schenkt mir doch auch ein Stäubchen!
Fast ebenso andächtig hat sie auch eine Autorin verschlungen, der sie aber langsam böse wird. Vom Verlag ganz zu schweigen, der in einem der Titel den Mörder verrät, pfui. Die Autorin und ihr Kosmos um Adamsberg reißen sie von Geschichten und Sprache her mit. Aber in den neuesten Romanen wird das Muster ein wenig zu durchsichtig und spielt zu sehr mit den Bestsellertrends der großen Buchläden, als dass man dahinter noch Zufall vermuten könnte. Da waren die früheren Romane vielleicht manchmal unebener, aber auch lebendiger und unverbrauchter. Ob die grande dame wieder zur alten Form aufläuft, wird geprüft an Fred Vargas: Die dritte Jungfrau.
Abspann:
Haaaaaalt, noch nicht das Kino verlassen! Unsere unbekleideten Wellensittiche zeigen Ihnen jetzt noch einmal, was ein Beinwurf ist. Und wenn dann die freundlichen Damen in Pink Geld sammeln, während Eric Satie sich einen Hund klimpert, denken Sie bitte an die Situation deutscher Bibliotheken, die derzeit kaputtgespart werden. Jedenfalls muss unsere Autorin schon solche alten Schinken auf dem Nachttisch auftürmen...
Social Media: Participation is hip:
Drehen Sie Ihr eigenes Video. Lassen Sie Ihre Schwiegermutter ein Buch küssen. Zeigen Sie lesende Wellensittiche. Versenken Sie pinkfarbene E-Reader in der Badewanne und wetten Sie, dass diese Bücher Wasser überleben. Filmen Sie Bücher, Bücher, Bücher. Und nehmen Sie ein Buch mit ins Bett, aber schnarchen Sie nicht.
Pschtttthhh ... Geheimtipp: Sämtliche genannten Bücher sind gegen einen lächerlich geringen Jahresbeitrag in der Stadtbibliothek Baden-Baden auszuleihen und lagen garantiert auf einem echten Nachttisch einer echten Autorin. Manchmal kann man diese sehen, wie sie in Baden-Baden Kaffee trinkt oder in der Buchhandlung Strass ihre Bücher signiert oder beides. Pschttth.
25. November 2009
Sprachspaß
Heute ist der ideale Tag (knallblauer Frühlingshimmel, erdölschonend warm), um nichts zu tun. Scheinbar nichts zu tun. Ich gehe im Wald mit meinem Hund so für mich hin ... im Gepäck Proviant und Problemzettel. Ich muss sozusagen interkulturell über Sprachfehler und Humor nachdenken. Gar nicht so einfach, denn gerade in Sachen Humor unterscheiden sich die Mentalitäten grundlegend. Nach 20 Jahren Frankreich kann ich über gewisse Shows hier, in denen sich Erwachsene zu debilen Affen machen, immer noch nicht lachen, während meine Freunde schier abbrechen vor Gröhlen. Nach 20 Jahren Frankreich kann ich allerdings auch deutsche Comedy nicht witzig finden. Trotzdem müsste ich mich in die Funktionsweise von beidem eindenken können, falls ich solche Dinge übertrage.
Angefangen hat alles ganz einfach, beim Übersetzen: Eine Mutter, gebürtige Polin, schreibt ihrem illustren Dichtersohn auf Französisch, er möge endlich auf seine schauderhafte Rechtschreibung achten. Dabei macht sie selbst seltsame Fehler, die beim Lesen aber kaum auffallen. Das ist vergleichsweise einfach zu übersetzen: Verwechselt sie z.B. das Geschlecht, verwendet sie falsche Endungen? Und könnte der daraus "gebastelte" deutsche Text auch von einer Polin geschrieben worden sein?
Nicht so einfach ist das mit Picasso, von dem sicher schon jeder einmal zumindest Zitate gelesen hat. Was bin ich aber über seinen Briefen erschrocken, wie unverständlich die waren - zumindest in jungen Jahren. Picasso konnte nämlich zuerst so gut wie kein Französisch. Er traf sich in Paris zunächst in seiner spanisch-katalanischen Clique - heute würde man das ein Expat-Ghetto nennen. Mit dem Rest der Bevölkerung kommunizierte er mit Händen, Füßen und Pinsel...
An dieser Stelle entsteht für den Übersetzer ein Problem. Ich kann den Text schönen, das hehre Genie nicht antasten. Ich würde also einfach alle Fehler ausbügeln und Picasso im Deutschen "ordentlich" schreiben lassen. Das machen scheinbar viele Übersetzer, sonst wäre mir einer dieser wirklich drolligen und urkomischen Texte schon einmal untergekommen. Wie aber kann ich ihn so übertragen, dass ein deutscher Leser einen ähnlichen Effekt erlebt wie ein französischer? Selbst wenn ich mir jetzt drei Spanier mit schlechten Sprachkenntnissen kommen ließe - schrieb Picasso denn wie ein "typischer" Spanier oder Katalane im Französischen oder war er einfach nur er selbst und ganz anders? Wie weit kann man in der Nachbildung gehen, ohne dass es in Klamauk umkippt? Welche ganz anderen Bestandteile müssen die Sätze in der übersetzten Sprache haben, um verständlich zu bleiben?
Und dann gibt es noch eine Aufgabe, die mir viel viel schwerer fällt. Weil ich auch im Deutschen solche Arbeiten hasse: Titel finden, Schlagzeilen machen. Ich brauche dazu Zeit, Ruhe und Inspiration, die auf Knopfdruck nicht kommt (es sei denn, ich schriebe Klamauk). Schon früher in der Redaktion war ich keine von denen, die beim gemeinsamen Brainstorming die bereits buchstabenabgezählten Schlagzeilen herausbrüllen konnte. Da geht bei mir nichts mehr, Gruppenzwang, Findezwang, Blockade... Vordenken und dann ins Team - das geht.
Nun bin ich zwar bei der Vorarbeit allein, aber wir haben beschlossen, die Titel für unsere deutsch-französischen Texte mit feinen Wortspielen zu bilden. Vom Layout her dürfen sie nur sehr kurz sein. Gleichzeitig sollen sie neugierig machen, die Sinne ansprechen, nicht zu trocken wirken etc. pp. Wir werden sie nicht übersetzen, sondern im Team parallel miteinander arbeiten. Also: Wie packt man hier einen Franzosen und wie einen Deutschen - und sagt beiden trotzdem thematisch das Gleiche?
Da wäre z.B. von französischer Seite aus "la drole de guerre" (leide habe ich hier keine Sonderakzente, Dächlein aufs o). "drole" ist etwas Komisches, Seltsames, ja fast Spaßiges. Es geht um eine böse, ernsthafte, aber aus heutiger Sicht vollkommen verrückte Kriegsgeschichte, bei der sich jeder, der damals nicht dabei war, unwillkürlich an den Kopf greift. Im Französischen funktioniert der ironische Titel vorzüglich, er fordert zum Nachdenken heraus. Wie aber packt man die ach so ernsthaften Deutschen, die beim Thema Weltkrieg sofort Bewältigungsmienen aufsetzen und die ebenfalls nicht sehr rühmlich an der Sache beteiligt waren? Ein Titel mit "Schildbürgern" (für beide Seiten) würde perfekt passen, zumal da ja ein Schutzschild sprachlich mitschwingt. Aber das wäre eine offene Beleidigung - wer will schon Schildbürger genannt werden? Und schon hat man neben der Übertragung Befindlichkeiten zu untersuchen.
All dies werde ich jetzt auf einem Zettel mit mir führen, äußerlich so ausehen, als würde ich einen freien Tag genießen. Wer mir aus Versehen begegnet, wird sich vielleicht wundern, warum da jemand einem Hund alle möglichen Überschriften zuwirft, um auszutesten, wie sie klingen. Zwischendurch werde ich hoffentlich öfter stehenbleiben, um plötzliche Eingebungen zu notieren - die ich abends in den Computer eingeben kann. Also, über Langeweile kann ich wahrhaftig nicht klagen...
Angefangen hat alles ganz einfach, beim Übersetzen: Eine Mutter, gebürtige Polin, schreibt ihrem illustren Dichtersohn auf Französisch, er möge endlich auf seine schauderhafte Rechtschreibung achten. Dabei macht sie selbst seltsame Fehler, die beim Lesen aber kaum auffallen. Das ist vergleichsweise einfach zu übersetzen: Verwechselt sie z.B. das Geschlecht, verwendet sie falsche Endungen? Und könnte der daraus "gebastelte" deutsche Text auch von einer Polin geschrieben worden sein?
Nicht so einfach ist das mit Picasso, von dem sicher schon jeder einmal zumindest Zitate gelesen hat. Was bin ich aber über seinen Briefen erschrocken, wie unverständlich die waren - zumindest in jungen Jahren. Picasso konnte nämlich zuerst so gut wie kein Französisch. Er traf sich in Paris zunächst in seiner spanisch-katalanischen Clique - heute würde man das ein Expat-Ghetto nennen. Mit dem Rest der Bevölkerung kommunizierte er mit Händen, Füßen und Pinsel...
An dieser Stelle entsteht für den Übersetzer ein Problem. Ich kann den Text schönen, das hehre Genie nicht antasten. Ich würde also einfach alle Fehler ausbügeln und Picasso im Deutschen "ordentlich" schreiben lassen. Das machen scheinbar viele Übersetzer, sonst wäre mir einer dieser wirklich drolligen und urkomischen Texte schon einmal untergekommen. Wie aber kann ich ihn so übertragen, dass ein deutscher Leser einen ähnlichen Effekt erlebt wie ein französischer? Selbst wenn ich mir jetzt drei Spanier mit schlechten Sprachkenntnissen kommen ließe - schrieb Picasso denn wie ein "typischer" Spanier oder Katalane im Französischen oder war er einfach nur er selbst und ganz anders? Wie weit kann man in der Nachbildung gehen, ohne dass es in Klamauk umkippt? Welche ganz anderen Bestandteile müssen die Sätze in der übersetzten Sprache haben, um verständlich zu bleiben?
Und dann gibt es noch eine Aufgabe, die mir viel viel schwerer fällt. Weil ich auch im Deutschen solche Arbeiten hasse: Titel finden, Schlagzeilen machen. Ich brauche dazu Zeit, Ruhe und Inspiration, die auf Knopfdruck nicht kommt (es sei denn, ich schriebe Klamauk). Schon früher in der Redaktion war ich keine von denen, die beim gemeinsamen Brainstorming die bereits buchstabenabgezählten Schlagzeilen herausbrüllen konnte. Da geht bei mir nichts mehr, Gruppenzwang, Findezwang, Blockade... Vordenken und dann ins Team - das geht.
Nun bin ich zwar bei der Vorarbeit allein, aber wir haben beschlossen, die Titel für unsere deutsch-französischen Texte mit feinen Wortspielen zu bilden. Vom Layout her dürfen sie nur sehr kurz sein. Gleichzeitig sollen sie neugierig machen, die Sinne ansprechen, nicht zu trocken wirken etc. pp. Wir werden sie nicht übersetzen, sondern im Team parallel miteinander arbeiten. Also: Wie packt man hier einen Franzosen und wie einen Deutschen - und sagt beiden trotzdem thematisch das Gleiche?
Da wäre z.B. von französischer Seite aus "la drole de guerre" (leide habe ich hier keine Sonderakzente, Dächlein aufs o). "drole" ist etwas Komisches, Seltsames, ja fast Spaßiges. Es geht um eine böse, ernsthafte, aber aus heutiger Sicht vollkommen verrückte Kriegsgeschichte, bei der sich jeder, der damals nicht dabei war, unwillkürlich an den Kopf greift. Im Französischen funktioniert der ironische Titel vorzüglich, er fordert zum Nachdenken heraus. Wie aber packt man die ach so ernsthaften Deutschen, die beim Thema Weltkrieg sofort Bewältigungsmienen aufsetzen und die ebenfalls nicht sehr rühmlich an der Sache beteiligt waren? Ein Titel mit "Schildbürgern" (für beide Seiten) würde perfekt passen, zumal da ja ein Schutzschild sprachlich mitschwingt. Aber das wäre eine offene Beleidigung - wer will schon Schildbürger genannt werden? Und schon hat man neben der Übertragung Befindlichkeiten zu untersuchen.
All dies werde ich jetzt auf einem Zettel mit mir führen, äußerlich so ausehen, als würde ich einen freien Tag genießen. Wer mir aus Versehen begegnet, wird sich vielleicht wundern, warum da jemand einem Hund alle möglichen Überschriften zuwirft, um auszutesten, wie sie klingen. Zwischendurch werde ich hoffentlich öfter stehenbleiben, um plötzliche Eingebungen zu notieren - die ich abends in den Computer eingeben kann. Also, über Langeweile kann ich wahrhaftig nicht klagen...
24. November 2009
Gestohlene Zeit
Seit Wochen bin ich innerlich unleidlich, weil ich vor lauter Brotjobs nicht mehr zu einem eigenen Buchprojekt komme. Und eigentlich liegen meine Deadlines so eng, dass mir Angst und Bange werden müsste: im Dezember Abnahme der Europatexte, Ende März muss ein 600-Seiten-Buch übersetzt sein.
Heute Mittag ist es dann passiert.
Ich knipste brav die Lampe über dem Wörterbuch an, rief die Übersetzung auf, sicherte die Datei ab, schloss die Datei wieder und knipste die Lampe aus. Und dann machte ich es mir mit meinem Hund und einer dicken Papierkladde gemütlich und stahl Zeit. Auch auf die Gefahr hin, irgendwann Nachtschichten zusätzlich schieben zu müssen. Es ist eine Kladde, in die ich seit ein paar Jahren hineindenke. Aus der schon ein Rudiment von Romananfang entstanden war, der meine Verlegerin, die solches nicht verlegt, begeisterte. Irgendwann war der Romanbeginn jedoch so zurechtgewalkt worden, in Hoffnung auf ein Stipendium, in Hoffnung auf herkömmliche Verlage, dass ich ihn kurzerhand weggeworfen habe. So geht das nicht.
Und weil im Moment - glaubt man den galoppierenden Buch- und Verlagsnachrichten - ohnehin nichts mehr geht, wie es immer ging, ist sowieso alles egal. Der moderne Autor ist wieder frei. Und seit man in diesem Beruf anders als noch vor wenigen Jahren nicht mehr genug verdient, um sich zu ernähren, wächst die Freiheit ins Unermessliche, so zynisch das klingen mag.
Das im Hinterkopf bedenkend habe ich mir heute Zeit gestohlen und alle Freiheit dieser Welt genommen. Und einfach angefangen. Einen Roman, der kein Roman sein wird und frech das macht, was ich mit meinen "ordentlichen" Romanen nicht machen durfte. Es hat sich einfach geschrieben und es ergänzt sich so verrückt mit den Brotberufen. An die muss ich morgen wieder ran, ganz fleißig.
Aber ich bin endlich wieder in ganzer Mensch. Ich schwebe. Ich bin glücklich. Ich schreibe ein Buch.
Heute Mittag ist es dann passiert.
Ich knipste brav die Lampe über dem Wörterbuch an, rief die Übersetzung auf, sicherte die Datei ab, schloss die Datei wieder und knipste die Lampe aus. Und dann machte ich es mir mit meinem Hund und einer dicken Papierkladde gemütlich und stahl Zeit. Auch auf die Gefahr hin, irgendwann Nachtschichten zusätzlich schieben zu müssen. Es ist eine Kladde, in die ich seit ein paar Jahren hineindenke. Aus der schon ein Rudiment von Romananfang entstanden war, der meine Verlegerin, die solches nicht verlegt, begeisterte. Irgendwann war der Romanbeginn jedoch so zurechtgewalkt worden, in Hoffnung auf ein Stipendium, in Hoffnung auf herkömmliche Verlage, dass ich ihn kurzerhand weggeworfen habe. So geht das nicht.
Und weil im Moment - glaubt man den galoppierenden Buch- und Verlagsnachrichten - ohnehin nichts mehr geht, wie es immer ging, ist sowieso alles egal. Der moderne Autor ist wieder frei. Und seit man in diesem Beruf anders als noch vor wenigen Jahren nicht mehr genug verdient, um sich zu ernähren, wächst die Freiheit ins Unermessliche, so zynisch das klingen mag.
Das im Hinterkopf bedenkend habe ich mir heute Zeit gestohlen und alle Freiheit dieser Welt genommen. Und einfach angefangen. Einen Roman, der kein Roman sein wird und frech das macht, was ich mit meinen "ordentlichen" Romanen nicht machen durfte. Es hat sich einfach geschrieben und es ergänzt sich so verrückt mit den Brotberufen. An die muss ich morgen wieder ran, ganz fleißig.
Aber ich bin endlich wieder in ganzer Mensch. Ich schwebe. Ich bin glücklich. Ich schreibe ein Buch.
Maljartschuk: Neunprozentiger Haushaltsessig
Das Buch der Ukrainerin Tanja Maljartschuk ,"Neunprozentiger Haushaltsessig" (Residenz Verlag), ist mir in der Bibliothek wegen seiner ungewöhnlichen Aufmachung ins Auge gesprungen: Mit großen Stichen, außen sichtbar, fadengebunden; Schönschreibheftformat mit abgerundeten Ecken und ein Coverbild, das die wildesten Erinnerungen an kleinbürgerliche Siebziger weckt. Wer es liest, sollte allerdings nicht den gleichen Fehler machen wie ich und glauben, es handle sich um eine lose Kurzgeschichtensammlung. Die einzelnen Geschichten sind genau durchkomponiert und ordnen ein "Ich", das zwischen Mann und Frau, zwischen Kindheit und Erwachsensein changiert, in drei Welten ein.
Tanja Maljartschuk, 26 Jahre jung und laut Biografie "literarisch ungemein produktiv", erzählt von einem "Ich", das im ersten Teil des Buchs mit dem Titel "Stimmen" eine verunsichernde, seltsame Welt der Gegenwart durchwandert, in der alles möglich scheint, in der auch die letzten Grenzen und Begrenzungen fallen - bis hin zum Absurden. Wie ein Sog packt einen der Wunschtraum einer Frau, einen Schwanz zu haben. Verrückt, wie heftig sie sich das Anderssein herbeisehnt; entlarvend, wie gleichförmig die Welt geworden ist. Eine Welt, in der auch ein Mann seinen Platz finden muss, der so sehr liebt, dass er zum Muttermal seiner Geliebten wird.
Sanfter, mythischer und von einem altertümlichen Zauber kommen die Geschichten aus "Samagurka" (Teil 2) daher, diesem Dorf im Nirgendwo, in dem sich verwunschene Vergangenheit mit perspektivloser Zukunft vermischen, Rückständigkeit mit Hoffnung. Im dritten Teil, "Die Straße der Murawjow-Batterie", setzt sich diese gegensätzliche Stimmung fort, erzählt von einem "Ich", das als Kind die 1980er und 1990er in einer Stadtsiedlung der Ukraine erlebt.
Tanja Maljartschuks Figuren sind Gescheiterte, die sich ihren Ausweg schaffen, indem sie unvorhergesehen reagieren, nach außen hin womöglich absurd oder verrückt. Aber sie erfinden sich genau dadurch innere Überlebensräume. Zwischen Alkoholismus, Gewalt und bitterer Armut ist ihnen manchmal nur noch das geblieben, was den Menschen als solchen ausmacht: die innere Freiheit. Die Freiheit, von einem Moment auf den anderen welche Grenzen auch immer zu durchbrechen. Sie gehen einem nicht mehr aus dem Kopf, diese von der Welt Vergessenen, die in ihrem Umgang mit der Schwäche so stark werden. Da ist der ältere Junggeselle, der seine Einsamkeit nach dem Tod der Mutter mit Schwein und Hahn teilt und sich in letzter Konsequenz einen ganz eigenen Höhepunkt des Lebens schafft, während eine Bekannte aus amerikanischem Satellitenfernsehen von polizeilich verordneter Tierliebe im Westen erfährt. Oder die Ehefrau, die in ihrem ganzen Leben nicht aus dem Dorf heraus kam, weil hinter der Dorfgrenze das Fremde lauere und das Fremde der Tod sei. Mutig beschließt sie eines Tages, aus der Ehe heraus und zum Sterben zu gehen - und verändert nicht nur ihre eigene kleine überschaubare Welt.
Die Kurzgeschichten in Romanabfolge, in wohltuend knapper, klischeeloser und sachlicher Sprache erzählt, ziehen die Leser mit ihrer feinen Melodie in eine fremde Welt, in der das Leben selbst absurd geworden zu sein scheint. Sie werden zu großen Geschichten, weil diese Fremde nicht an der Ukraine festzumachen ist, weil sie in uns allen lauert. Es ist dieses Niemandsland, vor dem uns die Vernünftigen warnen, die lieber über das Sterben klagen, über die Orientierungslosigkeit und das unüberschaubare Chaos, das uns da draußen erwarten und vergiften könnte. Mit Tanja Maljartschuks Geschichtenkosmos treten wir einen Schritt von uns selbst zurück, von den vermeintlichen Sicherheiten und angeblich sicheren Errungenschaften. Wie die Frau, die zum Sterben hinauszieht, entdecken diejenigen, die zum Lesen ausziehen, dass auch im Fremden und Fremdsein Leben ist, mit all seinen Träumen, mit Hoffnungen und überbordender Fantasie.
Auf den ersten Blick erschien mir das Buch fast spröde, tief melancholisch und voller gedämpfter Emotionen. Doch dieser Eindruck verliert sich schnell, wenn man sich darauf einlässt, dass die leisen Töne, dass ein winziges augenblickhaftes Umkippen in der Stimmung die viel größere Wirkung verschaffen.
Das Buch hat mich an Erlebnisse Anfang der Neunziger in Polen erinnert, jener Zeit der ersten und rauschhaften Öffnung zum Westen. Wir verließen die Hauptstadt mit ihren nagelneuen Luxuseinkaufsgalerien aus Glas und Beton, wo Kaviar geschaufelt wurde und Edelboutiquen aus New York, Tokio und Paris ihre Dependancen eingerichtet hatten. Dann auf dem Land das Kontrastprogramm, die Realität: Bittere Armut, unvorstellbare Rückständigkeit, die Natur ein Paradies wie in den 1950er Jahren westlicher Heimatfilme. Ein heruntergekommener Weiler ohne Elektrizität und Wasseranschluss. Im Straßengraben vor den Häusern die jeweils einzige Kuh angekettet, die Rippen zählbar. Eine alte verkrümmte Frau, die sich nicht mehr aufrichten kann und doch so alt noch nicht ist, quält sich die Treppe hinab, wäscht sich die Hände im Rinnstein auf der Straße. Und dann lächelt sie, blickt auf ihre hungerleidende Kuh, schlurft mühsam über die Straße, reißt ein Bündel noch grünes Gras heraus, schlurft zurück und bereitet ihrer Kuh ein Abendmahl.
Etwa so, wie diese alte Welt auf die neue prallt, schreibt Tanja Maljartschuk. Sie zeigt die Realität schonungslos wie sie ist. Ein außenstehender Tourist würde vor so viel Perspektivlosigkeit in seine Glaspaläste zurückflüchten und über die Globalisierung jammern. Er würde nicht hinter die Fassade von Alkohol, Armut, Gewalt und Überlebenskampf blicken. Maljartschuk dagegen gelingt es, auch dem Gescheitertsten menschliche Würde zu geben und einer Welt scheinbarer Auswegslosigkeit die Kraft von Sehnsucht und Fantasie. Hinter all der Melancholie blitzt Schönheit hervor - und eine Idee davon, wie der Mensch sein könnte, wenn er sich nicht ständig selbst im Weg stehen würde. Diese Ukraine ist überall...
Und vielleicht können solche jungen osteuropäischen Stimmen eines Tages sogar die westliche Nabelschau durchbrechen und anstiften zu Büchern, in denen ein "Ich" gar nicht von sich erzählt, sondern von Menschen und der Liebe - und dem, was uns hält, wenn nichts mehr zusammenhält. Mehr Übersetzungen dieser Art wären zu wünschen!
Tanja Maljartschuk: Neunprozentiger Haushaltsessig, aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe, Residenz Verlag
Kleiner Tipp: Wer gern osteuropäische Literatur liest, wird beim Residenz-Verlag auch andersweitig fündig!
Tanja Maljartschuk war unlängst in Wien, Fotos und ein Vortragstext von ihr über die Ukraine und den Westen kann man hier herunterladen (rechts im Menu)
Tanja Maljartschuk, 26 Jahre jung und laut Biografie "literarisch ungemein produktiv", erzählt von einem "Ich", das im ersten Teil des Buchs mit dem Titel "Stimmen" eine verunsichernde, seltsame Welt der Gegenwart durchwandert, in der alles möglich scheint, in der auch die letzten Grenzen und Begrenzungen fallen - bis hin zum Absurden. Wie ein Sog packt einen der Wunschtraum einer Frau, einen Schwanz zu haben. Verrückt, wie heftig sie sich das Anderssein herbeisehnt; entlarvend, wie gleichförmig die Welt geworden ist. Eine Welt, in der auch ein Mann seinen Platz finden muss, der so sehr liebt, dass er zum Muttermal seiner Geliebten wird.
Sanfter, mythischer und von einem altertümlichen Zauber kommen die Geschichten aus "Samagurka" (Teil 2) daher, diesem Dorf im Nirgendwo, in dem sich verwunschene Vergangenheit mit perspektivloser Zukunft vermischen, Rückständigkeit mit Hoffnung. Im dritten Teil, "Die Straße der Murawjow-Batterie", setzt sich diese gegensätzliche Stimmung fort, erzählt von einem "Ich", das als Kind die 1980er und 1990er in einer Stadtsiedlung der Ukraine erlebt.
Tanja Maljartschuks Figuren sind Gescheiterte, die sich ihren Ausweg schaffen, indem sie unvorhergesehen reagieren, nach außen hin womöglich absurd oder verrückt. Aber sie erfinden sich genau dadurch innere Überlebensräume. Zwischen Alkoholismus, Gewalt und bitterer Armut ist ihnen manchmal nur noch das geblieben, was den Menschen als solchen ausmacht: die innere Freiheit. Die Freiheit, von einem Moment auf den anderen welche Grenzen auch immer zu durchbrechen. Sie gehen einem nicht mehr aus dem Kopf, diese von der Welt Vergessenen, die in ihrem Umgang mit der Schwäche so stark werden. Da ist der ältere Junggeselle, der seine Einsamkeit nach dem Tod der Mutter mit Schwein und Hahn teilt und sich in letzter Konsequenz einen ganz eigenen Höhepunkt des Lebens schafft, während eine Bekannte aus amerikanischem Satellitenfernsehen von polizeilich verordneter Tierliebe im Westen erfährt. Oder die Ehefrau, die in ihrem ganzen Leben nicht aus dem Dorf heraus kam, weil hinter der Dorfgrenze das Fremde lauere und das Fremde der Tod sei. Mutig beschließt sie eines Tages, aus der Ehe heraus und zum Sterben zu gehen - und verändert nicht nur ihre eigene kleine überschaubare Welt.
Die Kurzgeschichten in Romanabfolge, in wohltuend knapper, klischeeloser und sachlicher Sprache erzählt, ziehen die Leser mit ihrer feinen Melodie in eine fremde Welt, in der das Leben selbst absurd geworden zu sein scheint. Sie werden zu großen Geschichten, weil diese Fremde nicht an der Ukraine festzumachen ist, weil sie in uns allen lauert. Es ist dieses Niemandsland, vor dem uns die Vernünftigen warnen, die lieber über das Sterben klagen, über die Orientierungslosigkeit und das unüberschaubare Chaos, das uns da draußen erwarten und vergiften könnte. Mit Tanja Maljartschuks Geschichtenkosmos treten wir einen Schritt von uns selbst zurück, von den vermeintlichen Sicherheiten und angeblich sicheren Errungenschaften. Wie die Frau, die zum Sterben hinauszieht, entdecken diejenigen, die zum Lesen ausziehen, dass auch im Fremden und Fremdsein Leben ist, mit all seinen Träumen, mit Hoffnungen und überbordender Fantasie.
Auf den ersten Blick erschien mir das Buch fast spröde, tief melancholisch und voller gedämpfter Emotionen. Doch dieser Eindruck verliert sich schnell, wenn man sich darauf einlässt, dass die leisen Töne, dass ein winziges augenblickhaftes Umkippen in der Stimmung die viel größere Wirkung verschaffen.
Das Buch hat mich an Erlebnisse Anfang der Neunziger in Polen erinnert, jener Zeit der ersten und rauschhaften Öffnung zum Westen. Wir verließen die Hauptstadt mit ihren nagelneuen Luxuseinkaufsgalerien aus Glas und Beton, wo Kaviar geschaufelt wurde und Edelboutiquen aus New York, Tokio und Paris ihre Dependancen eingerichtet hatten. Dann auf dem Land das Kontrastprogramm, die Realität: Bittere Armut, unvorstellbare Rückständigkeit, die Natur ein Paradies wie in den 1950er Jahren westlicher Heimatfilme. Ein heruntergekommener Weiler ohne Elektrizität und Wasseranschluss. Im Straßengraben vor den Häusern die jeweils einzige Kuh angekettet, die Rippen zählbar. Eine alte verkrümmte Frau, die sich nicht mehr aufrichten kann und doch so alt noch nicht ist, quält sich die Treppe hinab, wäscht sich die Hände im Rinnstein auf der Straße. Und dann lächelt sie, blickt auf ihre hungerleidende Kuh, schlurft mühsam über die Straße, reißt ein Bündel noch grünes Gras heraus, schlurft zurück und bereitet ihrer Kuh ein Abendmahl.
Etwa so, wie diese alte Welt auf die neue prallt, schreibt Tanja Maljartschuk. Sie zeigt die Realität schonungslos wie sie ist. Ein außenstehender Tourist würde vor so viel Perspektivlosigkeit in seine Glaspaläste zurückflüchten und über die Globalisierung jammern. Er würde nicht hinter die Fassade von Alkohol, Armut, Gewalt und Überlebenskampf blicken. Maljartschuk dagegen gelingt es, auch dem Gescheitertsten menschliche Würde zu geben und einer Welt scheinbarer Auswegslosigkeit die Kraft von Sehnsucht und Fantasie. Hinter all der Melancholie blitzt Schönheit hervor - und eine Idee davon, wie der Mensch sein könnte, wenn er sich nicht ständig selbst im Weg stehen würde. Diese Ukraine ist überall...
Und vielleicht können solche jungen osteuropäischen Stimmen eines Tages sogar die westliche Nabelschau durchbrechen und anstiften zu Büchern, in denen ein "Ich" gar nicht von sich erzählt, sondern von Menschen und der Liebe - und dem, was uns hält, wenn nichts mehr zusammenhält. Mehr Übersetzungen dieser Art wären zu wünschen!
Tanja Maljartschuk: Neunprozentiger Haushaltsessig, aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe, Residenz Verlag
Kleiner Tipp: Wer gern osteuropäische Literatur liest, wird beim Residenz-Verlag auch andersweitig fündig!
Tanja Maljartschuk war unlängst in Wien, Fotos und ein Vortragstext von ihr über die Ukraine und den Westen kann man hier herunterladen (rechts im Menu)
22. November 2009
Alte Augen
Warum nicht mal das Blog als Ratgeber für mich selbst missbrauchen. Vielleicht wissen andere Vielleser und Vielschreiber eine Lösung meines Problems oder erleben Ähnliches?
Ich bin in meinem Alter bereits mit zwei Brillen gesegnet. Seit ich brav auf Energiesparlampen umgerüstet habe, bekomme ich beim Arbeiten ein Problem, das ich bisher nicht hatte: Extrem schnell ermüdende und oft brennende Augen. Und ich habe den Eindruck, das das meiner Sehschärfe auch nicht besonders gut tut. Ganz zu schweigen davon, dass das leichenhafte Aussehen der Besucher in diesem Licht der Novemberlaune auch nicht gerade förderlich ist. Ich bin eher der Typ, der sich im Winter in einem hell strahlenden Spiegelsaal wohlfühlt...
Nun benutze ich schon modernste Energiesparlampen, die nicht "vorglühen", sondern sofort da sind. Leider muss ich bei Übersetzungsarbeiten ständig zwischen Bildschirm und Papier (Notizen / Wörterbuch / Originaltext) hin und her springen. Das ermüdet sowieso leichter. Aber nach zehn Seiten - das Gehirn könnte weitermachen - wollen die Augen nicht mehr so richtig. Wegen dieser verdammten Funzeln.
Irgendwelche Tipps? Gibt es eigentlich Tageslichtleuchten mit einem Spektrum, das natürlichem Sonnenlicht entspricht? (In den Neunzigern priesen die Skandinavier so etwas mal an). Umrüsten auf Halogen oder Neonröhren? Freue mich über hilfreiche Tipps, aber Firmen- und Produktwerbung wird gnadenlos ausgesiebt.
Ich bin in meinem Alter bereits mit zwei Brillen gesegnet. Seit ich brav auf Energiesparlampen umgerüstet habe, bekomme ich beim Arbeiten ein Problem, das ich bisher nicht hatte: Extrem schnell ermüdende und oft brennende Augen. Und ich habe den Eindruck, das das meiner Sehschärfe auch nicht besonders gut tut. Ganz zu schweigen davon, dass das leichenhafte Aussehen der Besucher in diesem Licht der Novemberlaune auch nicht gerade förderlich ist. Ich bin eher der Typ, der sich im Winter in einem hell strahlenden Spiegelsaal wohlfühlt...
Nun benutze ich schon modernste Energiesparlampen, die nicht "vorglühen", sondern sofort da sind. Leider muss ich bei Übersetzungsarbeiten ständig zwischen Bildschirm und Papier (Notizen / Wörterbuch / Originaltext) hin und her springen. Das ermüdet sowieso leichter. Aber nach zehn Seiten - das Gehirn könnte weitermachen - wollen die Augen nicht mehr so richtig. Wegen dieser verdammten Funzeln.
Irgendwelche Tipps? Gibt es eigentlich Tageslichtleuchten mit einem Spektrum, das natürlichem Sonnenlicht entspricht? (In den Neunzigern priesen die Skandinavier so etwas mal an). Umrüsten auf Halogen oder Neonröhren? Freue mich über hilfreiche Tipps, aber Firmen- und Produktwerbung wird gnadenlos ausgesiebt.
Drehbuch - Schnelldurchlauf
Es gab beim BR mal dieses legendäre Dossier, wie Drehbücher funktionieren, von Aristoteles über die mythische Heldenreise bis zum Dreiakter. Das war dann irgendwann verschwunden. Und jetzt ist es wieder da, für alle, die sich schwafelige Schreibratgeber sparen wollen: Hier zeigen die Autoren die Links.
Athena ist jetzt ein Mann
Zugegeben, die Dame war nicht der Weisheit letzter Schluss. Wer als Autor oder Übersetzer online bei der VG Wort melden wollte und sich nicht rechtzeitig ins System namens Athena eintrug, kam ein Jahr lang nicht ins Elysium. Zum Trost galoppierte dann ab und zu METIS vorbei, ein Füllhorn namens Sonderausschüttung.
Das soll sich jetzt ändern, die Göttinnen sind abgeschafft. Ab sofort heißt der einzige Eingang zur VG Wort TOM (= Texte online melden). Vordergründig gibt der irdische Heros den Anschein, endlich sei alles vereinfacht, durchsichtig und verstehbar. Aber er wird Athena erst nach und nach ablösen. Fein: Mit TOM kann man jetzt sogar richtige alte Papierformulare bestellen. Die darf man mit Füller oder Kugelschreiber handschriftlich in Blockbuchstaben...
Und sich danach in den undurchdringlichen Onlinezählerdschungel begeben, der bei ausreichender Internettätigkeit eine Autorenassistentin allein beschäftigen würde.
Meldeschluss ist der 31.12.2009. Erfahrungsgemäß lohnt es sich, nicht auf dem letzten Drücker stecken zu bleiben.
Und ich werde jetzt einmal austesten, ob mein uraltes Göttinnen-Passwort auch den irdischen Helden gnädig stimmen wird. Das Zählersystem ist für Autoren weiterhin katastrophal. Kleiner Gag am Rande: Bei der Sonderausschüttung darf man auch von Menschen gelesen werden, die via Suchmaschine zum Artikel finden - die werden vom Zähler dagegen fein aussortiert.
Noch eine feine Erkenntnis: Texte "auf eigenen Webseiten" sind bei der Sonderausschüttung grundsätzlich nicht meldefähig. Pech für alle, die journalistisch in eigener Verantwortung arbeiten oder so dumm sind, Leseproben ihrer Bücher auch noch selbst anzubieten.
Allen Kolleginnen und Kollegen viel Spaß beim Pfriemeln. Der fängt schon bei den Teilnahmebedingungen (pdf) an:
"Für den Abschluss der einmaligen Teilnahmeregistrierung ist ein Drucker erforderlich."
Das soll sich jetzt ändern, die Göttinnen sind abgeschafft. Ab sofort heißt der einzige Eingang zur VG Wort TOM (= Texte online melden). Vordergründig gibt der irdische Heros den Anschein, endlich sei alles vereinfacht, durchsichtig und verstehbar. Aber er wird Athena erst nach und nach ablösen. Fein: Mit TOM kann man jetzt sogar richtige alte Papierformulare bestellen. Die darf man mit Füller oder Kugelschreiber handschriftlich in Blockbuchstaben...
Und sich danach in den undurchdringlichen Onlinezählerdschungel begeben, der bei ausreichender Internettätigkeit eine Autorenassistentin allein beschäftigen würde.
Meldeschluss ist der 31.12.2009. Erfahrungsgemäß lohnt es sich, nicht auf dem letzten Drücker stecken zu bleiben.
Und ich werde jetzt einmal austesten, ob mein uraltes Göttinnen-Passwort auch den irdischen Helden gnädig stimmen wird. Das Zählersystem ist für Autoren weiterhin katastrophal. Kleiner Gag am Rande: Bei der Sonderausschüttung darf man auch von Menschen gelesen werden, die via Suchmaschine zum Artikel finden - die werden vom Zähler dagegen fein aussortiert.
Noch eine feine Erkenntnis: Texte "auf eigenen Webseiten" sind bei der Sonderausschüttung grundsätzlich nicht meldefähig. Pech für alle, die journalistisch in eigener Verantwortung arbeiten oder so dumm sind, Leseproben ihrer Bücher auch noch selbst anzubieten.
Allen Kolleginnen und Kollegen viel Spaß beim Pfriemeln. Der fängt schon bei den Teilnahmebedingungen (pdf) an:
"Für den Abschluss der einmaligen Teilnahmeregistrierung ist ein Drucker erforderlich."
20. November 2009
Schreiben kann jeder
Ich glaube, ich habe schon einmal die Anekdote über den PR-Kunden erzählt, der in letzter Sekunde absprang mit den Worten: "Ich glaube, ich lasse das meine Sekretärin schreiben. Die kann auch tippen und bezieht sowieso ihr Gehalt. Sie muss ich extra zahlen und Sie schreiben ja auch bloß."
Treffen mit Leuten, die in Sachen PR, Kommunikation und Texten unterwegs sind... Die Anekdoten, die wir uns zu erzählen haben, sind haarsträubend bis lustig, haben aber alle drei "Erkenntnisse" gemeinsam:
Die wertvolle Broschüre
Da ist die Organisation X, die bei einer heimischen Druckerei nicht ganz billig Broschüren herstellen ließ, die sie ebenfalls nicht ganz billig an ganz normale Menschen verkaufen will. Um Geld zu sparen, hat man den Dorfchronisten texten lassen und der hat das gründlichst besorgt. Bis zum Holzpreis von 1622 und der Aussage des Schultheiß von 1758 alles drin, was Außenstehende nicht interessiert; endlose Bandwurmsätze engstens gedruckt, die Bilder schlampig eingescannt. Fazit: Heulen und Zähneklappern über die bösen Leute, die dafür keine 5 Euro (!) hinblättern wollen.
Facebooking
Kunde Y hat an billigsten Dumpingautor einen Textauftrag vergeben, der gekonnte Fachrecherche und besonders sinnenansprechende Aufbereitung verlangte. Willige Autoren dieser Art finde man ja zuhauf bei Facebook, sagt er, aber jetzt stimme das da nicht und dort und klinge vollkommen hölzern und austauschbar. Jemand nennt ihm einen Spezialisten für genau diese Art Text, der wohnt sogar um die Ecke. Aber der nimmt doch viel mehr Geld als der bei Facebook!
Klatschbase vom Dienst
Kannst du nicht für uns twittern? Du machst das doch eh täglich für dich. Was, welche Strategie? Was wir erreichen wollen? Welche Themen wir haben? Was wir den Menschen bieten möchten? Wozu solche Fragen, du schwätzt doch auch einfach drauflos und das klingt ganz lebendig. Ach, du denkst dabei nach??? Und das kostet was für Firmen? Wieso Zeitaufwand? Wieso Werbestrategie, Twitter ist doch für Jedermann?
Soziale Wesen von Natur aus
Ich habe Ihre Internetarbeit begutachtet. Sie machen das ganz ordentlich, da kann man sich einiges abschauen. Wissen Sie was, ich mache das jetzt auch alles, Blog, Facebook, Twitter, Texten, Kontakten, das volle Programm. Man sieht ja, Sie machen das auch mal so locker nebenbei. Ich könnte das dann nicht nur für mich machen, sondern auch Firma Z anbieten, also noch PR für die machen. Erzählen Sie mir doch nicht, dass man da was gelernt haben muss! Zeitaufwand, pah! Wieso sitzen Sie denn neben Ihrer Arbeit ständig im Internet? Was, Lernen und Üben für Kunden? Was lernen Sie denn da, Sie schreiben doch nur! Das kann doch jeder.
Automatikmodus
Vereinigung V hat sich jahrelang in Sachen Fotos für PR und Werbemittel an einem vor 20 Jahren aufgebauten Uraltarchiv aus Laienfotos bedient. Vor zehn Jahren hat noch keiner gemeckert. Inzwischen kommen von Kunden auch schon mal spitze Bemerkungen über die Mode von annodunnemals auf den Bildern, die längst verschwundenen Landschaftsmerkmale und die eigenartige technische Qualität. Aber ein Fotograf ist doch so teuer, der will ja auch noch Geld für das, was jede Digitalkamera automatisch macht!
Qualität ist im Endeffekt billiger!
All diese Geschichten haben eigentlich ein Happy End. Gut, da gibt es die absolut Unbelehrbaren , die sich in Zeiten von Bedienermentalität und Internet wundersam vermehren - aber für die arbeitet auch keiner gern. Bleiben die Doppelinvestoren: alle oben Genannten suchen nämlich jetzt krampfhaft endlich nach Profis, die das Kind retten sollen, das längst in den Brunnen gefallen ist. Sie wollen nicht wieder hereinfallen, diesmal soll alles stimmen. Und na ja, dann zahlt man eben.
Diese Menschen hätten eine Menge Geld sparen können, wenn sie gleich richtig in professionelle Arbeit investiert hätten. Denn Qualität, die ihren Preis hat, funktioniert auch. Menschen, die ihr Metier gelernt haben, liefern in der Tat andere Ergebnisse als Hobbyisten. Und das macht sich im Endeffekt bezahlt, weil es beim Endverbraucher ankommt.
Meine Tipps:
Lesetipp zum Thema: Die Protextbewegung
Treffen mit Leuten, die in Sachen PR, Kommunikation und Texten unterwegs sind... Die Anekdoten, die wir uns zu erzählen haben, sind haarsträubend bis lustig, haben aber alle drei "Erkenntnisse" gemeinsam:
- Schreiben kann jeder. So viele Analphabeten gibt es schließlich nicht.
- Fotografieren kann jeder. Heutzutage macht das sowieso der Apparat.
- Ergo: Muss ich für Text oder Foto keine Profis beauftragen und es wäre die Arbeit auch nicht wert.
Die wertvolle Broschüre
Da ist die Organisation X, die bei einer heimischen Druckerei nicht ganz billig Broschüren herstellen ließ, die sie ebenfalls nicht ganz billig an ganz normale Menschen verkaufen will. Um Geld zu sparen, hat man den Dorfchronisten texten lassen und der hat das gründlichst besorgt. Bis zum Holzpreis von 1622 und der Aussage des Schultheiß von 1758 alles drin, was Außenstehende nicht interessiert; endlose Bandwurmsätze engstens gedruckt, die Bilder schlampig eingescannt. Fazit: Heulen und Zähneklappern über die bösen Leute, die dafür keine 5 Euro (!) hinblättern wollen.
Facebooking
Kunde Y hat an billigsten Dumpingautor einen Textauftrag vergeben, der gekonnte Fachrecherche und besonders sinnenansprechende Aufbereitung verlangte. Willige Autoren dieser Art finde man ja zuhauf bei Facebook, sagt er, aber jetzt stimme das da nicht und dort und klinge vollkommen hölzern und austauschbar. Jemand nennt ihm einen Spezialisten für genau diese Art Text, der wohnt sogar um die Ecke. Aber der nimmt doch viel mehr Geld als der bei Facebook!
Klatschbase vom Dienst
Kannst du nicht für uns twittern? Du machst das doch eh täglich für dich. Was, welche Strategie? Was wir erreichen wollen? Welche Themen wir haben? Was wir den Menschen bieten möchten? Wozu solche Fragen, du schwätzt doch auch einfach drauflos und das klingt ganz lebendig. Ach, du denkst dabei nach??? Und das kostet was für Firmen? Wieso Zeitaufwand? Wieso Werbestrategie, Twitter ist doch für Jedermann?
Soziale Wesen von Natur aus
Ich habe Ihre Internetarbeit begutachtet. Sie machen das ganz ordentlich, da kann man sich einiges abschauen. Wissen Sie was, ich mache das jetzt auch alles, Blog, Facebook, Twitter, Texten, Kontakten, das volle Programm. Man sieht ja, Sie machen das auch mal so locker nebenbei. Ich könnte das dann nicht nur für mich machen, sondern auch Firma Z anbieten, also noch PR für die machen. Erzählen Sie mir doch nicht, dass man da was gelernt haben muss! Zeitaufwand, pah! Wieso sitzen Sie denn neben Ihrer Arbeit ständig im Internet? Was, Lernen und Üben für Kunden? Was lernen Sie denn da, Sie schreiben doch nur! Das kann doch jeder.
Automatikmodus
Vereinigung V hat sich jahrelang in Sachen Fotos für PR und Werbemittel an einem vor 20 Jahren aufgebauten Uraltarchiv aus Laienfotos bedient. Vor zehn Jahren hat noch keiner gemeckert. Inzwischen kommen von Kunden auch schon mal spitze Bemerkungen über die Mode von annodunnemals auf den Bildern, die längst verschwundenen Landschaftsmerkmale und die eigenartige technische Qualität. Aber ein Fotograf ist doch so teuer, der will ja auch noch Geld für das, was jede Digitalkamera automatisch macht!
Qualität ist im Endeffekt billiger!
All diese Geschichten haben eigentlich ein Happy End. Gut, da gibt es die absolut Unbelehrbaren , die sich in Zeiten von Bedienermentalität und Internet wundersam vermehren - aber für die arbeitet auch keiner gern. Bleiben die Doppelinvestoren: alle oben Genannten suchen nämlich jetzt krampfhaft endlich nach Profis, die das Kind retten sollen, das längst in den Brunnen gefallen ist. Sie wollen nicht wieder hereinfallen, diesmal soll alles stimmen. Und na ja, dann zahlt man eben.
Diese Menschen hätten eine Menge Geld sparen können, wenn sie gleich richtig in professionelle Arbeit investiert hätten. Denn Qualität, die ihren Preis hat, funktioniert auch. Menschen, die ihr Metier gelernt haben, liefern in der Tat andere Ergebnisse als Hobbyisten. Und das macht sich im Endeffekt bezahlt, weil es beim Endverbraucher ankommt.
Meine Tipps:
- Überlegen Sie sich gründlich und in Ruhe, welche Ziele Sie mit welchen Medien erreichen wollen, wie groß Ihr Budget ist und ob Sie das Projekt womöglich subventionieren / fremdfinanzieren lassen können.
- Rechnen Sie viel Zeit für die Vorbereitung. Sponsoren und Mäzene findet man genau dann nicht, wenn man sie erst in der heißen Projektphase sucht.
- Vergleichen Sie weniger reine Preise, sondern Menschen und ihre Arbeit. Suchen Sie in Ruhe die passenden Profis aus. Sie würden einen Beerdigungsredner nicht als Clown für einen Kindergeburtstag engagieren und Texte für einen gastronomischen Prospekt nicht von einem Mathematikprofessor schreiben lassen. Warum also unprofessionelle Texte drucken und dann einstampfen müssen, wenn Sie gleich das verkäufliche Projekt kaufen könnten?
Lesetipp zum Thema: Die Protextbewegung
18. November 2009
Autorennetzwerke
Nur wer präsent ist, wird gelesen
Wer sich von bezahlten Riesenstapeln der Massenware in Buchhandelsketten schon einmal erschlagen fühlte und ein eher rares Buch vergeblich dort gesucht hat, der weiß, Indie-Verlage haben es schwer gegen die Giganten im Buchmarkt. Noch schwerer hat es eine Gruppe von Menschen, über die kaum einer spricht: die Indie-Autoren (Indie kommt wie in der Musik von "independent"). International betrachtet, reicht die Definition weit: vom Autor, der bei etablierten Indie-Verlagen veröffentlicht, bis zum Selbstverleger. Im deutschsprachigen Raum macht man dagegen Unterschiede zwischen seriös verlegt und selbst bezahlt verlegt.
Die Probleme beider Gruppen sind jedoch die gleichen: Bücher, die im Buchhandel nicht präsent sind, werden nicht gekauft. Bücher, die im Buchhandel nicht präsent sind, werden meist nicht rezensiert und wieder nicht gekauft. Bücher, die nicht rezensiert werden, werden im Buchhandel weniger bestellt. Man kann diesen Teufelskreis nach allen Seiten tanzen, konkret bleibt die Katastrophe für den Autor übrig. Die Marktkonzentration im Buchhandel und ein nach althergebrachten Mechanismen funktionierendes Feuilleton sorgen dafür, dass immer mehr wunderbare, lesenswerte Bücher einfach nicht mehr sichtbar sind - ergo trotz aller Arbeit, Liebe und Sorgfalt kaum gelesen werden. Der Effekt greift ja selbst bei Konzernen - wer keinen Spitzentitel erwischt, hat Pech gehabt.
Autorennetzwerke für Werbung?
Autoren im Ausland denken längst darüber nach, wie man aus dieser Misere herauskommen könnte. Denn wo die herkömmlichen Werbemittel und Informationskanäle, vielleicht sogar Verlage versagen, böte sich doch das kostenlose bis preiswerte Internet an, in dem auch Einzelstimmen gehört werden. So sie denn etwas zu sagen haben. Im Indie Author Blog (via namenick) macht sich April Hamilton Gedanken, wie sich Autorennetzwerke bilden könnten, um das für KollegInnen zu tun, was sich bei einem selbst im großen Stil nicht schickt: Werbung machen, Bücher verkaufen.
April Hamilton bringt es auf den Punkt: Die Zeit der hoffnungsvollen Warterei auf andere sei vorbei. Wenn jedem Indie-Buch die gleiche Chance gegeben würde wie einem Mainstream-Buch, hätten wir im Nu wieder Vielfalt und Originalität, schreibt sie in "An Indie Call To Action" und listet acht Tipps für Autorennetzwerke auf.
Die Buchpatenschaft
Die Idee dahinter klingt einfach: Jeder Autor ist auch Leser. Und übernimmt so eine Art Werbepatenschaft für ein Indie-Buch seiner Wahl, das er besonders liebt. Und dann macht er das, was große Werbeabteilungen in Verlagskonzernen für kleine Bücher nicht leisten wollen und kleine Verlage mangels großer Werbeabteilung nicht leisten können. Dieser Autor rezensiert also das ausgesuchte Buch an allen nur erreichbaren Stellen im Internet, stellt es in Social Media vor (und zwar gekonnt gemacht), verschenkt es, empfiehlt es allüberall, nämlich im Internet wie im Leben. Alles schon mal dagewesen? Nein, denn jetzt kommt der Clou: die Vernetzung. Mit dem empfohlenen Autor oder Verlag, durch gegenseitige Links. Immer und überall verlinkt.
Die Vorteile
Die Idee hat meiner Meinung nach zwei Vorteile: Es hat ja immer ein "Geschmäckle", wenn ein Autor seine eigenen Bücher allzu tüchtig anpreist. Und es wäre reichlich pervers, sich selbst zu rezensieren, auch wenn das bei einigen Autoren auch schon gang und gäbe ist. Kommt nicht gut: Der hat es aber nötig, sagt man dann. Wer KollegInnen rezensiert und bewirbt, kommt in diesen Verdacht nicht. Finden sich so fünf Autoren, verpufft das ganze jedoch, wenn sie vereinzelt bleiben. Sind sie intensiv verlinkt, dreht sich auch die Werbung im Kreis und fällt die gute Tat für andere auf einen selbst zurück. Lesen sie zufällig auch noch gegenseitig ihre Bücher, intensiviert sich der Effekt.
Verbesserungsvorschläge
Trotzdem glaube ich, dass dieser allgemeine Ansatz bei der Struktur des deutschsprachigen Buchmarkts verpuffen würde. Und der Spruch "die haben es aber nötig" kann auch auf eine Gruppe fallen, die allzu platt versucht, sich gegenseitig in irgendwelche Verkaufscharts zu hieven. Ich hätte dazu ein paar persönliche Anregungen:
Ich halte das, was im angelsächsischen Raum längst praktiziert wird, hierzulande leider noch für Zukunftsmusik. Ich muss nur schauen, wie viele bekannte Autoren in meiner Twitter-Timeline als Karteileichen verschimmeln. Sie sind nicht übers Experimentierstadium hinausgekommen, viele haben nur über sich und ihre dritte Tasse Kaffee erzählt und sich dann gewundert. Die Möglichkeiten echter Kommunikation und Vernetzung lagen brach, also kam auch nichts zurück.
Vernetzung unter Autoren gegen die Marktmacht der Giganten kann nur funktionieren, wenn Schriftsteller es schaffen, ihren Hintern aus dem einsamen, ach so bequemen Kämmerlein zu heben. Wenn sie es schaffen, KollegInnen nicht mehr als Konkurrenten eifersüchtig zu beäugen, sondern ihre Kräfte gemeinsam zu bündeln. In Kleinstgruppen, in denen man sich grün ist und gern gegenseitig beflügelt, kann das funktionieren. An solche Aktionen im richtig großen Stil glaube ich nicht, dazu habe ich schon viel zu viele eifersüchtige Keilereien und Intrigen in sogenannten Autorennetzwerken erlebt. Aber wer weiß, vielleicht genügt auch in Zukunft die pure Hoffnung, Qualität werde sich schon irgendwann durchsetzen? Vielleicht glauben wir weiter ans Gutenachtmärchen, mit einem langen Atem sei heutzutage alles, wirklich alles zu schaffen?
Was meinen die KollegInnen zu solchen Ansätzen, was die Leserinnen und Leser?
Wer sich von bezahlten Riesenstapeln der Massenware in Buchhandelsketten schon einmal erschlagen fühlte und ein eher rares Buch vergeblich dort gesucht hat, der weiß, Indie-Verlage haben es schwer gegen die Giganten im Buchmarkt. Noch schwerer hat es eine Gruppe von Menschen, über die kaum einer spricht: die Indie-Autoren (Indie kommt wie in der Musik von "independent"). International betrachtet, reicht die Definition weit: vom Autor, der bei etablierten Indie-Verlagen veröffentlicht, bis zum Selbstverleger. Im deutschsprachigen Raum macht man dagegen Unterschiede zwischen seriös verlegt und selbst bezahlt verlegt.
Die Probleme beider Gruppen sind jedoch die gleichen: Bücher, die im Buchhandel nicht präsent sind, werden nicht gekauft. Bücher, die im Buchhandel nicht präsent sind, werden meist nicht rezensiert und wieder nicht gekauft. Bücher, die nicht rezensiert werden, werden im Buchhandel weniger bestellt. Man kann diesen Teufelskreis nach allen Seiten tanzen, konkret bleibt die Katastrophe für den Autor übrig. Die Marktkonzentration im Buchhandel und ein nach althergebrachten Mechanismen funktionierendes Feuilleton sorgen dafür, dass immer mehr wunderbare, lesenswerte Bücher einfach nicht mehr sichtbar sind - ergo trotz aller Arbeit, Liebe und Sorgfalt kaum gelesen werden. Der Effekt greift ja selbst bei Konzernen - wer keinen Spitzentitel erwischt, hat Pech gehabt.
Autorennetzwerke für Werbung?
Autoren im Ausland denken längst darüber nach, wie man aus dieser Misere herauskommen könnte. Denn wo die herkömmlichen Werbemittel und Informationskanäle, vielleicht sogar Verlage versagen, böte sich doch das kostenlose bis preiswerte Internet an, in dem auch Einzelstimmen gehört werden. So sie denn etwas zu sagen haben. Im Indie Author Blog (via namenick) macht sich April Hamilton Gedanken, wie sich Autorennetzwerke bilden könnten, um das für KollegInnen zu tun, was sich bei einem selbst im großen Stil nicht schickt: Werbung machen, Bücher verkaufen.
April Hamilton bringt es auf den Punkt: Die Zeit der hoffnungsvollen Warterei auf andere sei vorbei. Wenn jedem Indie-Buch die gleiche Chance gegeben würde wie einem Mainstream-Buch, hätten wir im Nu wieder Vielfalt und Originalität, schreibt sie in "An Indie Call To Action" und listet acht Tipps für Autorennetzwerke auf.
Die Buchpatenschaft
Die Idee dahinter klingt einfach: Jeder Autor ist auch Leser. Und übernimmt so eine Art Werbepatenschaft für ein Indie-Buch seiner Wahl, das er besonders liebt. Und dann macht er das, was große Werbeabteilungen in Verlagskonzernen für kleine Bücher nicht leisten wollen und kleine Verlage mangels großer Werbeabteilung nicht leisten können. Dieser Autor rezensiert also das ausgesuchte Buch an allen nur erreichbaren Stellen im Internet, stellt es in Social Media vor (und zwar gekonnt gemacht), verschenkt es, empfiehlt es allüberall, nämlich im Internet wie im Leben. Alles schon mal dagewesen? Nein, denn jetzt kommt der Clou: die Vernetzung. Mit dem empfohlenen Autor oder Verlag, durch gegenseitige Links. Immer und überall verlinkt.
Die Vorteile
Die Idee hat meiner Meinung nach zwei Vorteile: Es hat ja immer ein "Geschmäckle", wenn ein Autor seine eigenen Bücher allzu tüchtig anpreist. Und es wäre reichlich pervers, sich selbst zu rezensieren, auch wenn das bei einigen Autoren auch schon gang und gäbe ist. Kommt nicht gut: Der hat es aber nötig, sagt man dann. Wer KollegInnen rezensiert und bewirbt, kommt in diesen Verdacht nicht. Finden sich so fünf Autoren, verpufft das ganze jedoch, wenn sie vereinzelt bleiben. Sind sie intensiv verlinkt, dreht sich auch die Werbung im Kreis und fällt die gute Tat für andere auf einen selbst zurück. Lesen sie zufällig auch noch gegenseitig ihre Bücher, intensiviert sich der Effekt.
Verbesserungsvorschläge
Trotzdem glaube ich, dass dieser allgemeine Ansatz bei der Struktur des deutschsprachigen Buchmarkts verpuffen würde. Und der Spruch "die haben es aber nötig" kann auch auf eine Gruppe fallen, die allzu platt versucht, sich gegenseitig in irgendwelche Verkaufscharts zu hieven. Ich hätte dazu ein paar persönliche Anregungen:
- Man vernetze sich in passenden Gruppen, für die sich ein gemeinsames Konzept erstellen lässt. Fünf Krimiautoren finden leichter eine Strategie als eine Gruppe aus Vampirromanautorin, Hochliterat und Sachbuchautorin.
- Man nehme nur Bücher, die man wirklich liebt. Werbung und PR im ehrenamtlichen Engagement füreinander verpufft unglaubwürdig, wenn man nur aus Sympathie für die Kollegen handelt oder gar aus Gruppenzwang.
- Qualität statt Quantität gilt auch in der erfolgreichen Buch-PR.
- Man tausche nicht nur Rezensionen, sondern auch Know-how und Kontakte aus. Beispiel: Zwei Kollegen mit zwei und drei Pressekontakten machen fünf Pressekontakte für beide. Solche Gruppen funktionieren natürlich nur, wenn alle geben und nicht einer nur nimmt.
- Warum sollten sich nur Autoren mit Autoren vernetzen? Bereits jetzt funktionieren Communities, in denen sich Leser und Autoren treffen, wo Leser über Bücher debattieren und Autoren an Leserrunden teilnehmen. Das Konzept ließe sich für jeden Indie-Bereich übernehmen.
- Oder man vernetzt sich thematisch, buchübergreifend? Via Social Media ließen sich unterschiedlichste Menschen zusammenbringen, die das gleiche Thema interessiert. Beispiel Petersilienbücher. Ansprechen könnte man Gärtnereien ebenso wie Botaniker, Veranstalter mit Parks oder von Petersilienfesten, Gastronomen und Hobbygärtner, Kochfreaks und Küchengerätehersteller. Und warum dann nicht gemeinsam mit anderen Petersilienautoren ein Petersilienfestival oder eine kleine Tournee auf die Beine stellen?
- Man kann sich auch mit Tauscharbeit vernetzen. Nicht jeder Autor hat PR gelernt. Warum nicht Grüppchen bilden aus Menschen, die unterschiedliche Bereiche beherrschen? Der eine dreht you-tube-Videos, der nächste kennt Pressearbeit... und was kann der Autor für diese Gruppenmitglieder tun? Womit kann er sich revanchieren? Kann er vielleicht Bücher eintauschen, Texte für andere schreiben, lektorieren?
- Wenn es mit der Tauscharbeit nicht klappt: Eine Gruppe Menschen bringt gemeinsam eher finanzielle Mittel auf als ein einzelner. Eine Gruppe könnte sogar an gemeinsames Fundraising denken. Warum sich nicht gemeinsam eine PR-Agentur oder ähnliches gönnen?
Ich halte das, was im angelsächsischen Raum längst praktiziert wird, hierzulande leider noch für Zukunftsmusik. Ich muss nur schauen, wie viele bekannte Autoren in meiner Twitter-Timeline als Karteileichen verschimmeln. Sie sind nicht übers Experimentierstadium hinausgekommen, viele haben nur über sich und ihre dritte Tasse Kaffee erzählt und sich dann gewundert. Die Möglichkeiten echter Kommunikation und Vernetzung lagen brach, also kam auch nichts zurück.
Vernetzung unter Autoren gegen die Marktmacht der Giganten kann nur funktionieren, wenn Schriftsteller es schaffen, ihren Hintern aus dem einsamen, ach so bequemen Kämmerlein zu heben. Wenn sie es schaffen, KollegInnen nicht mehr als Konkurrenten eifersüchtig zu beäugen, sondern ihre Kräfte gemeinsam zu bündeln. In Kleinstgruppen, in denen man sich grün ist und gern gegenseitig beflügelt, kann das funktionieren. An solche Aktionen im richtig großen Stil glaube ich nicht, dazu habe ich schon viel zu viele eifersüchtige Keilereien und Intrigen in sogenannten Autorennetzwerken erlebt. Aber wer weiß, vielleicht genügt auch in Zukunft die pure Hoffnung, Qualität werde sich schon irgendwann durchsetzen? Vielleicht glauben wir weiter ans Gutenachtmärchen, mit einem langen Atem sei heutzutage alles, wirklich alles zu schaffen?
Was meinen die KollegInnen zu solchen Ansätzen, was die Leserinnen und Leser?
17. November 2009
Grenzgängerei
Dann will ich mal das Geheimnis lüften, was es ständig im Wald zu tun gibt und woran ich arbeite, wenn ich nicht gerade Bücher schreibe oder eines übersetze.
Stichwort Grenzwald: Genauer gesagt handelt es sich um die Orte Nothweiler (Pfalz) und Wingen (Elsass), also den Naturpark Pfälzer Wald und den Parc régional des Vosges du Nord, die beide Biosphärenreservat der UNESCO sind (gemeinsame Webseite, dt / fr.). Die Zollgrenzen und Schlagbäume im Wald sind seit Schengen zwar verschwunden, das Gebiet liegt aber auf französischem und deutschem Boden.
Das Projekt: Zwischen beiden Gemeinden soll in deren Auftrag ein Rundwanderweg entstehen, der den Einheimischen wie den Touristen zweisprachig das Phänomen der Grenzüberschreitungen näherbringen soll - in Themen wie Geschichte, Kultur, Natur etc. Ein Handbuch in Broschürengröße wird die Installationen vor Ort ergänzen und vertiefen. Dabei legen wir viel Wert auf Erlebnischarakter statt pädagogischem Zeigefinger. Gefördert wird das Projekt durch Pamina 21.
Das Team: Wir - das ist ein nicht nur perfekt zweisprachiges, sondern auch bikulturelles Grüppchen. Die aufwändige Koordination auf Europaebene und bei den Kommunen erledigt Josiane Podsiadlo. Andreas Mischke von Amides entwickelt alles, was mit Kommunikation, Design, Layout, Fotografie etc. zu tun hat. Dazu gehört, dass bei diesem Konzept nicht die üblichen gewohnten viereckigen Tafeln in der Landschaft stehen werden, sondern künstlerisch gestaltete Objekte. Mato Suss ist die Künstlerin, die sie entwirft und sich von Landschaft und Inhalten inspirieren lässt. Und Petra van Cronenburg (D) arbeitet zusammen mit Josiane Podsiadlo (F) an allem, was Dokumentationsrecherche, Texten und Übersetzen betrifft.
Der grenzüberschreitende Weg: Im nächsten Frühjahr bereits zu erwandern, komplett ... wir arbeiten auf Hochtouren.
So klingt das also, wenn man das Projekt knapp und knöchern darstellt. Die eigentliche Arbeit ist unwahrscheinlich komplex und (be)reich(ernd), weil sie im ständigen - mehrsprachigen - Dialog mit Landschaft und Menschen stattfindet. Dazu gehört auch, dass man sich intensiv mit der Geschichte und Kultur der Region beschäftigt, aber auch mit Themen wie Natur- und Landschaftsschutz und nachhaltigem Tourismus, mit kommunalen und politischen Strukturen ebenso wie mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Mentalitäten. Kommen die beruflichen Orientierungen im Team dazu, die sich fabelhaft ergänzen - und das Arbeiten mit verschiedenen Medien der Kommunikation.
Kurzum, das ideale Kontrastprogramm zum Schriftstellern im einsamen Kämmerchen - perfekte Erdung nach Buchfiktionen. Und zwischen meiner Arbeit als Buchautorin und Übersetzerin bildet das eine passende Brücke, von den Inspirationen ganz zu schweigen. Ich witzle schon jetzt: Bücher verramschen Verlage heutzutage oft schon nach wenigen Monaten und Ebooks werden auch einmal ganz schnell vom Händler gelöscht. Die Texte, die ich jetzt schreibe, sollen dagegen Unwetter und Winter überstehen ... das ist doch mal was. Und dass mich das Thema Grenzgängerei nicht nur hier im Blog ständig zwickt, sondern auch im Hinterkopf unter dem Stichwort Literatur, braucht nun nicht mehr zu verwundern.
Den Wasgau, wie man das Burgenland zwischen Elsass und Pfalz auch nennt, kann man übrigens nebst Rezept mit Kastanien und einem für Kougelhopf in meinem Elsassbuch erleben - siehe die hemmungslose Werbung rechts im Menu.
Notiz: Das Foto im letzten Beitrag zeigt die Aussicht von der Straße, die auf Pfälzer Seite nach Nothweiler hinaufführt (zum Vergrößern anklicken)
Stichwort Grenzwald: Genauer gesagt handelt es sich um die Orte Nothweiler (Pfalz) und Wingen (Elsass), also den Naturpark Pfälzer Wald und den Parc régional des Vosges du Nord, die beide Biosphärenreservat der UNESCO sind (gemeinsame Webseite, dt / fr.). Die Zollgrenzen und Schlagbäume im Wald sind seit Schengen zwar verschwunden, das Gebiet liegt aber auf französischem und deutschem Boden.
Das Projekt: Zwischen beiden Gemeinden soll in deren Auftrag ein Rundwanderweg entstehen, der den Einheimischen wie den Touristen zweisprachig das Phänomen der Grenzüberschreitungen näherbringen soll - in Themen wie Geschichte, Kultur, Natur etc. Ein Handbuch in Broschürengröße wird die Installationen vor Ort ergänzen und vertiefen. Dabei legen wir viel Wert auf Erlebnischarakter statt pädagogischem Zeigefinger. Gefördert wird das Projekt durch Pamina 21.
Das Team: Wir - das ist ein nicht nur perfekt zweisprachiges, sondern auch bikulturelles Grüppchen. Die aufwändige Koordination auf Europaebene und bei den Kommunen erledigt Josiane Podsiadlo. Andreas Mischke von Amides entwickelt alles, was mit Kommunikation, Design, Layout, Fotografie etc. zu tun hat. Dazu gehört, dass bei diesem Konzept nicht die üblichen gewohnten viereckigen Tafeln in der Landschaft stehen werden, sondern künstlerisch gestaltete Objekte. Mato Suss ist die Künstlerin, die sie entwirft und sich von Landschaft und Inhalten inspirieren lässt. Und Petra van Cronenburg (D) arbeitet zusammen mit Josiane Podsiadlo (F) an allem, was Dokumentationsrecherche, Texten und Übersetzen betrifft.
Der grenzüberschreitende Weg: Im nächsten Frühjahr bereits zu erwandern, komplett ... wir arbeiten auf Hochtouren.
So klingt das also, wenn man das Projekt knapp und knöchern darstellt. Die eigentliche Arbeit ist unwahrscheinlich komplex und (be)reich(ernd), weil sie im ständigen - mehrsprachigen - Dialog mit Landschaft und Menschen stattfindet. Dazu gehört auch, dass man sich intensiv mit der Geschichte und Kultur der Region beschäftigt, aber auch mit Themen wie Natur- und Landschaftsschutz und nachhaltigem Tourismus, mit kommunalen und politischen Strukturen ebenso wie mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Mentalitäten. Kommen die beruflichen Orientierungen im Team dazu, die sich fabelhaft ergänzen - und das Arbeiten mit verschiedenen Medien der Kommunikation.
Kurzum, das ideale Kontrastprogramm zum Schriftstellern im einsamen Kämmerchen - perfekte Erdung nach Buchfiktionen. Und zwischen meiner Arbeit als Buchautorin und Übersetzerin bildet das eine passende Brücke, von den Inspirationen ganz zu schweigen. Ich witzle schon jetzt: Bücher verramschen Verlage heutzutage oft schon nach wenigen Monaten und Ebooks werden auch einmal ganz schnell vom Händler gelöscht. Die Texte, die ich jetzt schreibe, sollen dagegen Unwetter und Winter überstehen ... das ist doch mal was. Und dass mich das Thema Grenzgängerei nicht nur hier im Blog ständig zwickt, sondern auch im Hinterkopf unter dem Stichwort Literatur, braucht nun nicht mehr zu verwundern.
Den Wasgau, wie man das Burgenland zwischen Elsass und Pfalz auch nennt, kann man übrigens nebst Rezept mit Kastanien und einem für Kougelhopf in meinem Elsassbuch erleben - siehe die hemmungslose Werbung rechts im Menu.
Notiz: Das Foto im letzten Beitrag zeigt die Aussicht von der Straße, die auf Pfälzer Seite nach Nothweiler hinaufführt (zum Vergrößern anklicken)
16. November 2009
Brotjobben
Was macht eine Autorin, wenn sie nicht gerade Bücher schreibt? Gute Frage, denn die Autorin hat schon seit Wochen keine Zeit gehabt, an einem eigenen Buchprojekt zu arbeiten. Als Freiberufler füllt man den Kühlschrank besser mit sogenannten "Brotjobs", will heißen, Bücher bringen einem heutzutage nicht mehr nur keine Butter aufs Brot.
Den heutigen "Brotjob" liebe ich ganz besonders, wenn dafür auch die Buchübersetzung liegenbleiben muss. Aber es ist ein Kontrastprogramm, das einem herrlich den Kopf vom Computer wegrückt und zeigt, wo das wahre Leben spielt - und wie.
Draußen ist es grau, düster, nass. Tief hängen die Wolken am Berg und abends wird das in den Tälern und Waldstreifen wieder wabernde Nebel bringen. Ich prüfe meine Klamotten auf Regenfestigkeit, warm ist es ja. Dann werden die Wanderstiefel abgekratzt, ein ganzes Möhrenbeet könnte man in der schweren Tonerde anpflanzen. Da muss Platz her für rote Vogesensandsteinerde. Ist die Landkarte im Rucksack? Habe ich das Notizbuch dabei? Schnell noch einen Einkauf tätigen und auf dem Weg darüber nachdenken, welche Fragen gestellt werden müssen.
Unser Team trifft sich in einem winzigen, völlig abgelegenen französischen Dorf, um über winzige Pisten in ein ebenso winziges deutsches Dorf zu fahren, wo wir uns mit Menschen treffen, die etwas über die Geschichte, Natur und Kultur erzählen können. Am Gründungstag der UNESCO geht es ins deutsch-französische Biosphärenreservat. Was wir uns ausgedacht haben und woran wir arbeiten, wer "wir" ist und welche Dörfer wir besuchen, das werde ich verraten, wenn ich wieder zurück bin aus der Idylle. Nun ist es ja offiziell und im nächsten Jahr werden es die Bewohner und Besucher dieser Region nutzen können.
Den heutigen "Brotjob" liebe ich ganz besonders, wenn dafür auch die Buchübersetzung liegenbleiben muss. Aber es ist ein Kontrastprogramm, das einem herrlich den Kopf vom Computer wegrückt und zeigt, wo das wahre Leben spielt - und wie.
Draußen ist es grau, düster, nass. Tief hängen die Wolken am Berg und abends wird das in den Tälern und Waldstreifen wieder wabernde Nebel bringen. Ich prüfe meine Klamotten auf Regenfestigkeit, warm ist es ja. Dann werden die Wanderstiefel abgekratzt, ein ganzes Möhrenbeet könnte man in der schweren Tonerde anpflanzen. Da muss Platz her für rote Vogesensandsteinerde. Ist die Landkarte im Rucksack? Habe ich das Notizbuch dabei? Schnell noch einen Einkauf tätigen und auf dem Weg darüber nachdenken, welche Fragen gestellt werden müssen.
Unser Team trifft sich in einem winzigen, völlig abgelegenen französischen Dorf, um über winzige Pisten in ein ebenso winziges deutsches Dorf zu fahren, wo wir uns mit Menschen treffen, die etwas über die Geschichte, Natur und Kultur erzählen können. Am Gründungstag der UNESCO geht es ins deutsch-französische Biosphärenreservat. Was wir uns ausgedacht haben und woran wir arbeiten, wer "wir" ist und welche Dörfer wir besuchen, das werde ich verraten, wenn ich wieder zurück bin aus der Idylle. Nun ist es ja offiziell und im nächsten Jahr werden es die Bewohner und Besucher dieser Region nutzen können.
Raum für Indies?
Lesenswert: Das Spiegel-Interview mit John Cusack, dem Star aus "2012" - in dem es erfreulich wenig um den Film geht. Cusack spricht über die Veränderungen der Filmbranche durch den direkten Publikumseinfluss via Internet und das Versagen der Kritiker in den Medien. Er glaubt, die Chancen für Qualität und Indie-Produkte würden dadurch steigen. Und findet:
Anmerkung: Dieser Werbebeitrag für den Spiegel wäre mit dem neuen Leistungsschutzrecht für Verlage nicht mehr möglich oder kostenpflichtig.
"Wenn du sehr erfolgreich bist, wollen sie eine Marke aus dir machen. Aber du bist ja nur so erfolgreich geworden, weil du ein sehr starkes Individuum bist."Er bringt einige Gedanken, die man durchaus auf die Buchbranche und das Schreiben von Büchern übertragen darf.
Anmerkung: Dieser Werbebeitrag für den Spiegel wäre mit dem neuen Leistungsschutzrecht für Verlage nicht mehr möglich oder kostenpflichtig.
14. November 2009
Die Rache des Autors
Es hat ja so kommen müssen. Als hätte ich es geahnt. Wie bereits mehrfach berichtet, übersetze ich bis März einen etwa 600seitigen Ziegel von Buch aus dem Französischen ins Deutsche. "Richtige Literatur" würde ich nicht übersetzen wollen, das war von Anfang an klar, Sachbücher vorzugsweise. Und weil das jetzige schon von den Fachwörtern her meinem absoluten Steckenpferd entgegen kommt (Kunst), schien alles im Lot. Es ist zwar ein "erzählendes" Sachbuch, aber der Stil eher klar und schnörkellos.
Hätte ich nur nicht phasenweise derart über den Autor gelästert! Etwa wenn sein Stil vom Klaren und Deutlichen ins Phrasenhafte kippt und Ellipsen verwendet, die man so im Deutschen nicht schreiben kann. Ab und zu fluche ich auch schon einmal, wenn der Autor wieder eines seiner beliebten Witzlein reißt, die ich manchmal auf Anhieb nicht etwa deshalb missverstehe, weil mein Wörterbuch Lücken hätte, sondern weil der Witz an meinem Humor abprallt. Das tut er manchmal auch an dem meiner französischen Freunde und dann heißt es, mit viel Empathie zu überlegen, worüber man lachen soll und wie man das im Deutschen hervorkitzelt.
Noch benutze ich ein Papierband mit dem Konterfei des Autors, um die Zeilen schnell wiederzufinden. Aber ich habe wohl zu laut gelästert. Sein Konterfei zwinkerte mir heute frech zu, diebisch frech. Wart nur, schien es zu sagen, mit mir wirst du noch deine helle Freude haben, von wegen, du übersetzt keine Literatur! Ich zeig dir jetzt, was eine Harke ist...
Plötzlich dreht der Mann auf. Strickt selbst abenteuerliche Metaphern, zitiert aus uralten Briefen und Gesprächen - alles noch kein Problem. Aber ich blättere um und hole tief Luft. Passagenweise kursiv gesetzter Text. Die Passagen werden immer länger. Ich ahne Übles. Ich ahne richtig. Mein Autor macht es sich bequem, zitiert aus den Werken eines berühmten französischen Schriftstellers und Dichters, der sich auch auf Französisch reichlich surreal liest.
Im Normalfall erfindet man längere Zitate älterer Literatur als Übersetzer nicht neu, sondern orientiert sich an deutschsprachigen Ausgaben. Jener Literat ist so berühmt, dass ich sicher war, seine gesammelten Werke in deutscher Sprache in einem ganz bekannten Verlag zu finden. Fehlanzeige. Gähnendes Schweigen selbst in der deutschen Nationalbibliothek. Aus absolut unerfindlichen Gründen ist ausgerechnet dieser Literat bis auf ein paar Gedichte nie ins Deutsche übersetzt worden. Unglaublich.
So wird man ins eiskalte Wasser geworfen. Morgen werde ich mich vorsichtig, ein wenig ehrfurchtsvoll und hoffentlich mit dem richtigen Sprachgefühl an jene Kursivstellen wagen.
Aber das Papierband mit dem fies grinsenden Konterfei des Autors, das werfe ich jetzt weg. Und ersetze es durch ein Lesezeichen, das mich nicht auslachen kann.
PS: Der Autor steckt an. Wer die schräge Metapher findet, gewinnt eine goldene Waschmaschine.
Hätte ich nur nicht phasenweise derart über den Autor gelästert! Etwa wenn sein Stil vom Klaren und Deutlichen ins Phrasenhafte kippt und Ellipsen verwendet, die man so im Deutschen nicht schreiben kann. Ab und zu fluche ich auch schon einmal, wenn der Autor wieder eines seiner beliebten Witzlein reißt, die ich manchmal auf Anhieb nicht etwa deshalb missverstehe, weil mein Wörterbuch Lücken hätte, sondern weil der Witz an meinem Humor abprallt. Das tut er manchmal auch an dem meiner französischen Freunde und dann heißt es, mit viel Empathie zu überlegen, worüber man lachen soll und wie man das im Deutschen hervorkitzelt.
Noch benutze ich ein Papierband mit dem Konterfei des Autors, um die Zeilen schnell wiederzufinden. Aber ich habe wohl zu laut gelästert. Sein Konterfei zwinkerte mir heute frech zu, diebisch frech. Wart nur, schien es zu sagen, mit mir wirst du noch deine helle Freude haben, von wegen, du übersetzt keine Literatur! Ich zeig dir jetzt, was eine Harke ist...
Plötzlich dreht der Mann auf. Strickt selbst abenteuerliche Metaphern, zitiert aus uralten Briefen und Gesprächen - alles noch kein Problem. Aber ich blättere um und hole tief Luft. Passagenweise kursiv gesetzter Text. Die Passagen werden immer länger. Ich ahne Übles. Ich ahne richtig. Mein Autor macht es sich bequem, zitiert aus den Werken eines berühmten französischen Schriftstellers und Dichters, der sich auch auf Französisch reichlich surreal liest.
Im Normalfall erfindet man längere Zitate älterer Literatur als Übersetzer nicht neu, sondern orientiert sich an deutschsprachigen Ausgaben. Jener Literat ist so berühmt, dass ich sicher war, seine gesammelten Werke in deutscher Sprache in einem ganz bekannten Verlag zu finden. Fehlanzeige. Gähnendes Schweigen selbst in der deutschen Nationalbibliothek. Aus absolut unerfindlichen Gründen ist ausgerechnet dieser Literat bis auf ein paar Gedichte nie ins Deutsche übersetzt worden. Unglaublich.
So wird man ins eiskalte Wasser geworfen. Morgen werde ich mich vorsichtig, ein wenig ehrfurchtsvoll und hoffentlich mit dem richtigen Sprachgefühl an jene Kursivstellen wagen.
Aber das Papierband mit dem fies grinsenden Konterfei des Autors, das werfe ich jetzt weg. Und ersetze es durch ein Lesezeichen, das mich nicht auslachen kann.
PS: Der Autor steckt an. Wer die schräge Metapher findet, gewinnt eine goldene Waschmaschine.
13. November 2009
Es lebe das Schwein
Nach trüber Kulturuntergangsstimmung und bei frühlingshaften Temperaturen heute einfach mal etwas zum Mitsingen:
12. November 2009
Faule Fische fliegen
Endlich. Endlich haben wir in Frankreich mal wieder richtig etwas zum Lachen und Faule-Fische-Werfen! Sarkozys Glamourleben wurde aber auch gar zu langweilig. Gestern hat sich der französische Präsident noch mit der deutschen Bundeskanzlerin getroffen und beide haben einen auf Völkerfreundschaft und Freiheit gehoben. Zu dumm, dass gestern dann ausgerechnet in jenem Dorf, das nach wie vor den dummen Römern standhält, der kleine freche Idefix laut gebellt hat. Daraufhin jodelt Troubadix von seinem Baum ins Land: "Idefix hat dem Majestix ans Bein gepinkelt, das ist Majestixbeleidigung, pfui!" Woraufhin sämtliche Hunde in jenem Dorf und von Kleinbonum bis Roma laut kläffen: "Bellen ist die Natur der Hunde, weg mit den Maulkörben, wir leben in einem Land der Freiheit! Wollt ihr etwa alle zu dummen Römern mutieren?"
Es kocht in Frankreich. Weil Idefix nur laut gebellt hat, was alle Wildschweinesser heimlich denken. Und weil jetzt der Fischhändler mit seinen Freunden für den Majestix, der eigentlich auch Kaiser von Rom sein könnte, heftig mit faulen Fischen um sich schlägt. Das lassen sich die Wildschweinesser natürlich nicht bieten und schlagen zurück. Schon droht ein heiliger Hinkelsteinkrieg: "Was wird man zukünftig noch in Stein meißeln dürfen? Und sind zehn Euro Preisgeld bei der Hundeschau Schweigegeld genug?"
Die Literaturnation hat ihren Literaturskandal. Angefangen hat es mit einer bekannten, bereits preisgekrönten Literatin, Marie N'Daye. Die machte das, was Merkel und Sarkozy angeblich wünschen: Sie zog 2007 nach Berlin und schreibt dort in französischer Sprache feine Bücher. Und wie das bei Literaten so ist, die auch noch interviewt werden, ist sie nicht still umgezogen, sondern hat gesagt, sie ziehe unter anderem auch deshalb nach den Wahlen weg, weil sie das neue Frankreich mit seinen neuen Politikern als monströs empfinde. Hat keinen gestört damals. War ja nur irgendeine Schriftstellerin, eine Schwarze, eine Frau, ad acta damit.
Jetzt hat die Frau nach dem Prix Femina aber auch noch den begehrtesten und berühmtesten französischen Literaturpreis verliehen bekommen: den Prix Goncourt. Der ist zwar nur mit symbolischen zehn Euro dotiert, aber mit jeder Menge Ehre. Zu wenig Schweigegeld eigentlich, oder? Das neue Frankreich unter Sarkozy empfindet sie nämlich immer noch als monströs.
Jetzt schreit der UMP-Abgeordnete Eric Raoult auf und fordert ein "devoir de réserve" für Schriftsteller, insbesondere für preisgekrönte. Das bedeutet "Pflicht zur Zurückhaltung" und meint nichts anderes als einen öffentlichen Maulkorb, was politische Meinung und Kritik am System Sarkozy betrifft. Dass diese Forderung kommt, wundert zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Denn eben hat der Präsident eine Werbekampagne lanciert, die den Franzosen die Grande Nation wieder in einer Größe schmackhaft machen soll, die sie längst nicht mehr hat. Die Schlagworte von der nationalen Identität und den Verpflichtungen dem Land gegenüber sollen von der derzeitigen Krise und Malaise bei den Bürgern ablenken. Und irgendwie geht die Kampagne neuerdings ständig in die Hose...
Raoult ist kein Unbekannter mit seiner Meinung. Mit Schwarzen hat er seine Probleme, mit Sozialhilfeempfängern sowieso, mit Leuten, die ihre Meinung sagen, noch mehr. Er verteidigt auch schon mal lautstark den tunesischen Präsidenten, weil der einen kritischen Le-Monde-Journalisten ausweisen lässt. Geht ja nicht an, dass dann eine Schriftstellerin Kritik übt in einer freiheitlichen Demokratie. Da müssen Mittel und Wege dagegen her.
Marie N'Diaye hat Kulturminister Mitterand aufgerufen, Stellung gegen Raoult zu beziehen. Mitterand war bisher nicht dazu bereit, weil er der Meinung ist, in einem freien Land dürften beide Seiten frei ihre Meinung sagen. Und plötzlich sagen alle ihre Meinung. Die Politik mischt sich ein. Segolène Royal überspringt mit einem Interview das Schweigen des Kulturministers. Bernard Pivot aus der Jury des Prix Goncourt spricht Eric Raoult jede Kenntnis des Kulturlebens ab und hält einen Maulkorberlass für Schriftsteller für "sinnlos". Wer die Zeitungsberichte verfolgt, fällt von der Groteske ins Absurde: großes Theater.
Und die Intellektuellen, die Raoult abfällig als "intellos" bezeichnet, die gehen natürlich auf die Barrikaden. 1789 hat Frankreich der Welt vorgemacht, was Freiheit bedeutet, zu der auch das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört, die Pressefreiheit, die Freiheit der Kunst. Hart erkämpft wurden diese Rechte gegen die absolutistischen Herrscher - und solche Errungenschaften machten einst die Größe der Grande Nation aus. Auch das gehört zur nationalen Identität Frankreichs: Stolz sein zu können auf all diese demokratischen Werte und Menschenrechte und Freiheiten, sie darum mit allem Nachdruck zu verteidigen. Denn die Demokratie von heute wird nicht, wie so gern vorgegeben, von außen bedroht, sie wird Schrittchen für Schrittchen von innen ausgehöhlt. Von Menschen, die sich auch noch als Demokrativertreter wählen lassen und gewählt werden.
In solchen Zeiten wird es immer wichtiger, dass überhaupt noch jemand den Mund aufmacht. Wir Deutschen haben schmerzhaft gelernt, wohin Schweigen und Mitläufertum führen können. In Frankreichs eisigem Kulturklima wachen derzeit reihenweise Intellektuelle auf: Es ist wieder an der Zeit, nachzudenken, öffentlich Stellung zu beziehen, Rückgrat zu beweisen. Wo Literaten von Politikern mit Maulkorb bedroht werden, lohnt es sich wieder, auf den gesellschaftspolitischen Aspekt von Literatur zu schauen. Zumal dieser Maulkorb bis nach Berlin reichen soll.
update:
Immer wieder spannend, Medien verschiedener Länder zu vergleichen. In Deutschland gestern schien man den Vorfall eher amüsiert als nette nebensächliche Anekdote zu betrachten. Für die Kreativen in Frankreich ist es dagegen mal wieder ein Einblick in den Abgrund - Künstler und Kulturschaffende haben seit etwa zwei Jahren immer weniger zu lachen unter der neuen Politik...
Es kocht in Frankreich. Weil Idefix nur laut gebellt hat, was alle Wildschweinesser heimlich denken. Und weil jetzt der Fischhändler mit seinen Freunden für den Majestix, der eigentlich auch Kaiser von Rom sein könnte, heftig mit faulen Fischen um sich schlägt. Das lassen sich die Wildschweinesser natürlich nicht bieten und schlagen zurück. Schon droht ein heiliger Hinkelsteinkrieg: "Was wird man zukünftig noch in Stein meißeln dürfen? Und sind zehn Euro Preisgeld bei der Hundeschau Schweigegeld genug?"
Die Literaturnation hat ihren Literaturskandal. Angefangen hat es mit einer bekannten, bereits preisgekrönten Literatin, Marie N'Daye. Die machte das, was Merkel und Sarkozy angeblich wünschen: Sie zog 2007 nach Berlin und schreibt dort in französischer Sprache feine Bücher. Und wie das bei Literaten so ist, die auch noch interviewt werden, ist sie nicht still umgezogen, sondern hat gesagt, sie ziehe unter anderem auch deshalb nach den Wahlen weg, weil sie das neue Frankreich mit seinen neuen Politikern als monströs empfinde. Hat keinen gestört damals. War ja nur irgendeine Schriftstellerin, eine Schwarze, eine Frau, ad acta damit.
Jetzt hat die Frau nach dem Prix Femina aber auch noch den begehrtesten und berühmtesten französischen Literaturpreis verliehen bekommen: den Prix Goncourt. Der ist zwar nur mit symbolischen zehn Euro dotiert, aber mit jeder Menge Ehre. Zu wenig Schweigegeld eigentlich, oder? Das neue Frankreich unter Sarkozy empfindet sie nämlich immer noch als monströs.
Jetzt schreit der UMP-Abgeordnete Eric Raoult auf und fordert ein "devoir de réserve" für Schriftsteller, insbesondere für preisgekrönte. Das bedeutet "Pflicht zur Zurückhaltung" und meint nichts anderes als einen öffentlichen Maulkorb, was politische Meinung und Kritik am System Sarkozy betrifft. Dass diese Forderung kommt, wundert zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Denn eben hat der Präsident eine Werbekampagne lanciert, die den Franzosen die Grande Nation wieder in einer Größe schmackhaft machen soll, die sie längst nicht mehr hat. Die Schlagworte von der nationalen Identität und den Verpflichtungen dem Land gegenüber sollen von der derzeitigen Krise und Malaise bei den Bürgern ablenken. Und irgendwie geht die Kampagne neuerdings ständig in die Hose...
Raoult ist kein Unbekannter mit seiner Meinung. Mit Schwarzen hat er seine Probleme, mit Sozialhilfeempfängern sowieso, mit Leuten, die ihre Meinung sagen, noch mehr. Er verteidigt auch schon mal lautstark den tunesischen Präsidenten, weil der einen kritischen Le-Monde-Journalisten ausweisen lässt. Geht ja nicht an, dass dann eine Schriftstellerin Kritik übt in einer freiheitlichen Demokratie. Da müssen Mittel und Wege dagegen her.
Marie N'Diaye hat Kulturminister Mitterand aufgerufen, Stellung gegen Raoult zu beziehen. Mitterand war bisher nicht dazu bereit, weil er der Meinung ist, in einem freien Land dürften beide Seiten frei ihre Meinung sagen. Und plötzlich sagen alle ihre Meinung. Die Politik mischt sich ein. Segolène Royal überspringt mit einem Interview das Schweigen des Kulturministers. Bernard Pivot aus der Jury des Prix Goncourt spricht Eric Raoult jede Kenntnis des Kulturlebens ab und hält einen Maulkorberlass für Schriftsteller für "sinnlos". Wer die Zeitungsberichte verfolgt, fällt von der Groteske ins Absurde: großes Theater.
Und die Intellektuellen, die Raoult abfällig als "intellos" bezeichnet, die gehen natürlich auf die Barrikaden. 1789 hat Frankreich der Welt vorgemacht, was Freiheit bedeutet, zu der auch das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört, die Pressefreiheit, die Freiheit der Kunst. Hart erkämpft wurden diese Rechte gegen die absolutistischen Herrscher - und solche Errungenschaften machten einst die Größe der Grande Nation aus. Auch das gehört zur nationalen Identität Frankreichs: Stolz sein zu können auf all diese demokratischen Werte und Menschenrechte und Freiheiten, sie darum mit allem Nachdruck zu verteidigen. Denn die Demokratie von heute wird nicht, wie so gern vorgegeben, von außen bedroht, sie wird Schrittchen für Schrittchen von innen ausgehöhlt. Von Menschen, die sich auch noch als Demokrativertreter wählen lassen und gewählt werden.
In solchen Zeiten wird es immer wichtiger, dass überhaupt noch jemand den Mund aufmacht. Wir Deutschen haben schmerzhaft gelernt, wohin Schweigen und Mitläufertum führen können. In Frankreichs eisigem Kulturklima wachen derzeit reihenweise Intellektuelle auf: Es ist wieder an der Zeit, nachzudenken, öffentlich Stellung zu beziehen, Rückgrat zu beweisen. Wo Literaten von Politikern mit Maulkorb bedroht werden, lohnt es sich wieder, auf den gesellschaftspolitischen Aspekt von Literatur zu schauen. Zumal dieser Maulkorb bis nach Berlin reichen soll.
update:
Immer wieder spannend, Medien verschiedener Länder zu vergleichen. In Deutschland gestern schien man den Vorfall eher amüsiert als nette nebensächliche Anekdote zu betrachten. Für die Kreativen in Frankreich ist es dagegen mal wieder ein Einblick in den Abgrund - Künstler und Kulturschaffende haben seit etwa zwei Jahren immer weniger zu lachen unter der neuen Politik...
Journalismus statt Content
Es raschelt, nein, es brennt im Zeitungswald. Gehetzt wird ausgehungertes Freiwild, Journalisten genannt. Manche werden von vermögenden Jagdpächtern gehalten, mit vermeintlichen Ruhmleckerchen geködert, während sie schon die Generation Praktikum als Treiber für die fröhliche Sonntagsjagd anlernen. Manche vom Freiwild fristen ihr Dasein schon längst im Dickicht von Buy-out-Verträgen und radikal gekürzten Honoraren. Und neuerdings trampeln auch noch Blogger im Wald herum und schrecken das Wild auf, weil sie nicht auf den ausgewiesenen Gehwegen bleiben wollen. Schon erwägen die Besitzer der lukrativen Jagdpachten ein Leistungsschutzrecht. Es knallt im Blätterwald.
Hier schreibt eine, die es besser hat. Nach einem Volontariat und der Ausbildung zur Redakteurin Mitte der Achtziger bin ich endlich so alt, dass ich schon mindestens zwei Medienkrisen und jede Menge technischer Umwälzungen überlebt habe. Schlimmer noch: Ich bin jetzt seit rund einem Vierteljahrhundert Freiwild, also freie Journalistin - und beanspruche diese Berufsbezeichnung immer noch, weil für mich Journalismus kein "Job" ist, sondern eine Lebenshaltung. Überlebt habe ich, weil ich schon im zweiten Jahr meines Berufs meinen eigenen Querkopf lebte, so viel wie möglich an Neuem dazulernte, ausprobierte - mit einem Praktikum beim Radio fing das an und dem Kopfschütteln von Kollegen: Wie kannst du als gelernte Printjournalistin zum Radio gehen, bist du meschugge?
Inzwischen muss ich mir noch ganz andere Sachen anhören. Auf Partys sagt man als Journalist besser nicht mehr laut, welchen Beruf man hat. Man könnte genauso gut durch die Menge brüllen: "Hey Leute, ich geh anschaffen und hab Spaß dabei!" Oder man wird, noch bevor man das Buffett erreicht, das unsereins zum Überleben oft nötig hat, von allen Seiten fast totgeprügelt, wird verantwortlich gemacht für Versäumnisse, Unmoral oder Gier der Verleger. Der Journalist ist für die Leserinnen und Leser heutzutage immer genau der Repräsentant eines Berufes, den die Allgemeinheit gerade verabscheut. Und während sie den Sündenbock durchs Dorf treibt, feiern die Verleger ganz woanders.
Unglaubwürdig? Dann schaue man, welche seriöse Diskussion sich beim Kulturmanager entsponnen hat, der schrieb:
Wer seine letzten Illusionen bezüglich des Journalismus verlieren will, der lese die brillante Rede, die der freie Journalist Tom Schimmeck beim Mainzer Mediendisput gehalten hat - das ist die nackte Wahrheit, die Lage, in der wir Journalisten versuchen, ordentliche Arbeit mit Überlebenszwang zu koppeln.
Ich habe gut reden. Denn ich habe mich längst ausgekoppelt. Mich hat das System schon bei der letzten Medienkrise nicht mehr richtig ernährt. Was heißen will: Stundenzahl und erwirtschaftete Honorare standen in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zueinander, Buy-outs machten die bisher übliche Mehrfachverwertung, nach der sich ja die schlechten Honorare richteten, so gut wie unmöglich. Damals, in den Neunzigern, stiegen viele wunderbare Journalisten aus, einige wurden tatsächlich Weinhändler, viele landeten in der PR-Branche oder schulten komplett um. Ich lehnte derweil meinen ersten Buy-out-Vertrag ab, verlor damit den Auftragspartner und schrieb stattdessen ein Buch, das mir einen völlig neuen Textvermarktungskosmos eröffnete - von Hilfsarbeiten für Fernsehteams bis hin zu gut bezahlten Vorträgen. Ich lernte weiter.
Und lebe immer noch. Lebe nur deshalb, weil ich seit Jahren nicht mehr für Zeitungen geschrieben habe (pervers, aber wahr). Welchen vernünftigen Grund sollte ich auch haben, für lächerliche Zeilenhonorare von oft weit unter einem Euro brutto in Demutshaltung Klinken zu putzen und auch noch dafür auf die Knie zu fallen, dass ein Verleger meinen Text unendlich oft zum eigenen Profit verwerten kann, ohne mir davon etwas abgeben zu müssen? Dies ungefragt sogar so weit treiben kann, wie es Elke Heidenreich passiert ist, die sich plötzlich bei zweifelhaften Verlagen wiederfinden musste? Warum sollte ich mir einen abmalochen und meinen Geist anstrengen, wenn ich beim Spargelstechen als ungelernter Erntehelfer schneller mehr verdienen könnte? Wie ich haben viele gedacht. Sind abgewandert, haben der Generation Praktikum den Platz überlassen und denen, die heute um ihre Anstellung bangen müssen, weil sich die Ausmusterung von Qualität zugunsten von Profit rächt.
Wie macht man das, als Journalist ohne Verleger zu überleben? Es gibt keine Pauschaltipps, weil kein Journalist gleich ist. Aber es gibt Menschen, die noch für Texte bezahlen - in Nischen, die man beherrschen sollte, in die man sich einlernen muss - auch mit all ihren technischen Vorraussetzungen. Da ist der freie Journalist natürlich noch mehr Unternehmer als bisher. USP, Unique Selling Point, heißt das Zauberwort: Was kann ich besonders gut, was andere nicht können? Was mache ich anders, interessanter? Was interessiert mich persönlich ganz besonders? Und wenn ich einer von den eher Austauschbaren bin - wie kann ich eine mir gemäße Nische finden? Man muss diese Denke erst wieder lernen, weil sie einem durch mangelnde Wertschätzung im Medienbetrieb meist abtrainiert wurde: Die eigenen Stärken entdecken und ausbauen.
Solches Schreiben bedeutet nicht automatisch einen Abgang in die PR. Man darf durchaus Journalist bleiben und eine Ethik haben. Manchmal findet man seine Nische nur, wenn man die angelernte Brille einmal weglegt. Mir ging das so. Jahrelang haderte ich damit, Lebenszeit mit dem Erwerb der schrägsten Kenntnisse vertan zu haben, die doch mit Journalismus und deutschen Texten so gar nichts zu tun hätten. Immer wieder Fremdsprachen, Leben im "falschen" Land, Bücher, abseitige Interessen. Die Korrespondenten hockten in Paris und für französische Blätter reicht mein Stil nicht. Blind wie ein Huhn zerbrach ich mir den Kopf.
Und dann hat jemand mich gefunden. Ausgerechnet im "falschen" Land, ausgerechnet mit den Sprachen, in denen ich nicht schrieb und ausgerechnet über eins meiner Bücher. Gesucht wurde jemand, der "es" journalistisch drauf hatte, der aber auch absolut bikulturell denken und arbeiten konnte, den Dialog mit den Lesern führen, für Leser arbeiten. Heute schreibe ich meine deutschen Texte - und Übersetzungen aus dem Französischen - zusammen mit einem fabelhaften deutsch-französischen Team in Frankreich. Ohne Verleger. Lange hat Journalismus nicht mehr solchen Spaß gemacht. Und vor allem einen Sinn gehabt: Wir arbeiten für die Verständigung beider Nachbarländer. Diese Arbeit ist auch so reichhaltig, dass irgendwann einmal ein neues Buch daraus entstehen könnte...
Mir gibt das die Freiheit, als Journalistin zusätzlich zu bloggen. Für umme. Aber wenn ich mir ausrechne, was ich von einer Zeitungsredaktion für eine Buchrezension bezahlt bekäme, wie unfrei ich obendrein wäre, dann lache ich einmal heftig und verschenke diesselbe lieber gleich direkt an die Leser. Zugegeben, Zeit und Geld reichen im Blog nicht für tiefere Recherchen - also muss ich mich auf weniger aufwändige Themen konzentrieren. Ich höhle damit ein System aus, das auf Einnahmen angewiesen ist, dessen bin ich mir bewusst. Ich würde die gleiche Buchrezension sofort einer Zeitung zur Verfügung stellen, wenn diese endlich Journalismus wieder angemessen bezahlen und wertschätzen würde und nicht hinter meinem Rücken Geld mit meinen Artikeln bei Dritten machen würde. Wenn Journalisten bloggen, geschieht das manchmal auch aus Protest gegen ein System, das Freie am langen Arm verhungern lässt. Und das längst am eigenen Gehabe, an seiner Haltung gegenüber den Menschen marode geworden ist, die Inhalte liefern und konsumieren.
Ich empfehle wärmstens zur Hintergrundlektüre die Links in diesem Beitrag.
Fortsetzung folgt...
Teil II berichtet von einem französischen Online-Projekt (kein Print), das in kürzester Zeit schwarze Zahlen schrieb, weil es gegen jeden Leistungsschutz mit seinen Journalisten völlig neue Wege geht.
Hier schreibt eine, die es besser hat. Nach einem Volontariat und der Ausbildung zur Redakteurin Mitte der Achtziger bin ich endlich so alt, dass ich schon mindestens zwei Medienkrisen und jede Menge technischer Umwälzungen überlebt habe. Schlimmer noch: Ich bin jetzt seit rund einem Vierteljahrhundert Freiwild, also freie Journalistin - und beanspruche diese Berufsbezeichnung immer noch, weil für mich Journalismus kein "Job" ist, sondern eine Lebenshaltung. Überlebt habe ich, weil ich schon im zweiten Jahr meines Berufs meinen eigenen Querkopf lebte, so viel wie möglich an Neuem dazulernte, ausprobierte - mit einem Praktikum beim Radio fing das an und dem Kopfschütteln von Kollegen: Wie kannst du als gelernte Printjournalistin zum Radio gehen, bist du meschugge?
Inzwischen muss ich mir noch ganz andere Sachen anhören. Auf Partys sagt man als Journalist besser nicht mehr laut, welchen Beruf man hat. Man könnte genauso gut durch die Menge brüllen: "Hey Leute, ich geh anschaffen und hab Spaß dabei!" Oder man wird, noch bevor man das Buffett erreicht, das unsereins zum Überleben oft nötig hat, von allen Seiten fast totgeprügelt, wird verantwortlich gemacht für Versäumnisse, Unmoral oder Gier der Verleger. Der Journalist ist für die Leserinnen und Leser heutzutage immer genau der Repräsentant eines Berufes, den die Allgemeinheit gerade verabscheut. Und während sie den Sündenbock durchs Dorf treibt, feiern die Verleger ganz woanders.
Unglaubwürdig? Dann schaue man, welche seriöse Diskussion sich beim Kulturmanager entsponnen hat, der schrieb:
"Die Auseinandersetzung Journalisten – Blogger wird allmählich langweilig."Weniger schön und seriös liest sich die Diskussion, auf die er sich bezieht, die zwar mit Urheberrecht zu tun hat, aber auf die ganze Misere der vollidiotischen These "Journalismus versus Blogs" hinweist.
Wer seine letzten Illusionen bezüglich des Journalismus verlieren will, der lese die brillante Rede, die der freie Journalist Tom Schimmeck beim Mainzer Mediendisput gehalten hat - das ist die nackte Wahrheit, die Lage, in der wir Journalisten versuchen, ordentliche Arbeit mit Überlebenszwang zu koppeln.
Ich habe gut reden. Denn ich habe mich längst ausgekoppelt. Mich hat das System schon bei der letzten Medienkrise nicht mehr richtig ernährt. Was heißen will: Stundenzahl und erwirtschaftete Honorare standen in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zueinander, Buy-outs machten die bisher übliche Mehrfachverwertung, nach der sich ja die schlechten Honorare richteten, so gut wie unmöglich. Damals, in den Neunzigern, stiegen viele wunderbare Journalisten aus, einige wurden tatsächlich Weinhändler, viele landeten in der PR-Branche oder schulten komplett um. Ich lehnte derweil meinen ersten Buy-out-Vertrag ab, verlor damit den Auftragspartner und schrieb stattdessen ein Buch, das mir einen völlig neuen Textvermarktungskosmos eröffnete - von Hilfsarbeiten für Fernsehteams bis hin zu gut bezahlten Vorträgen. Ich lernte weiter.
Und lebe immer noch. Lebe nur deshalb, weil ich seit Jahren nicht mehr für Zeitungen geschrieben habe (pervers, aber wahr). Welchen vernünftigen Grund sollte ich auch haben, für lächerliche Zeilenhonorare von oft weit unter einem Euro brutto in Demutshaltung Klinken zu putzen und auch noch dafür auf die Knie zu fallen, dass ein Verleger meinen Text unendlich oft zum eigenen Profit verwerten kann, ohne mir davon etwas abgeben zu müssen? Dies ungefragt sogar so weit treiben kann, wie es Elke Heidenreich passiert ist, die sich plötzlich bei zweifelhaften Verlagen wiederfinden musste? Warum sollte ich mir einen abmalochen und meinen Geist anstrengen, wenn ich beim Spargelstechen als ungelernter Erntehelfer schneller mehr verdienen könnte? Wie ich haben viele gedacht. Sind abgewandert, haben der Generation Praktikum den Platz überlassen und denen, die heute um ihre Anstellung bangen müssen, weil sich die Ausmusterung von Qualität zugunsten von Profit rächt.
Wie macht man das, als Journalist ohne Verleger zu überleben? Es gibt keine Pauschaltipps, weil kein Journalist gleich ist. Aber es gibt Menschen, die noch für Texte bezahlen - in Nischen, die man beherrschen sollte, in die man sich einlernen muss - auch mit all ihren technischen Vorraussetzungen. Da ist der freie Journalist natürlich noch mehr Unternehmer als bisher. USP, Unique Selling Point, heißt das Zauberwort: Was kann ich besonders gut, was andere nicht können? Was mache ich anders, interessanter? Was interessiert mich persönlich ganz besonders? Und wenn ich einer von den eher Austauschbaren bin - wie kann ich eine mir gemäße Nische finden? Man muss diese Denke erst wieder lernen, weil sie einem durch mangelnde Wertschätzung im Medienbetrieb meist abtrainiert wurde: Die eigenen Stärken entdecken und ausbauen.
Solches Schreiben bedeutet nicht automatisch einen Abgang in die PR. Man darf durchaus Journalist bleiben und eine Ethik haben. Manchmal findet man seine Nische nur, wenn man die angelernte Brille einmal weglegt. Mir ging das so. Jahrelang haderte ich damit, Lebenszeit mit dem Erwerb der schrägsten Kenntnisse vertan zu haben, die doch mit Journalismus und deutschen Texten so gar nichts zu tun hätten. Immer wieder Fremdsprachen, Leben im "falschen" Land, Bücher, abseitige Interessen. Die Korrespondenten hockten in Paris und für französische Blätter reicht mein Stil nicht. Blind wie ein Huhn zerbrach ich mir den Kopf.
Und dann hat jemand mich gefunden. Ausgerechnet im "falschen" Land, ausgerechnet mit den Sprachen, in denen ich nicht schrieb und ausgerechnet über eins meiner Bücher. Gesucht wurde jemand, der "es" journalistisch drauf hatte, der aber auch absolut bikulturell denken und arbeiten konnte, den Dialog mit den Lesern führen, für Leser arbeiten. Heute schreibe ich meine deutschen Texte - und Übersetzungen aus dem Französischen - zusammen mit einem fabelhaften deutsch-französischen Team in Frankreich. Ohne Verleger. Lange hat Journalismus nicht mehr solchen Spaß gemacht. Und vor allem einen Sinn gehabt: Wir arbeiten für die Verständigung beider Nachbarländer. Diese Arbeit ist auch so reichhaltig, dass irgendwann einmal ein neues Buch daraus entstehen könnte...
Mir gibt das die Freiheit, als Journalistin zusätzlich zu bloggen. Für umme. Aber wenn ich mir ausrechne, was ich von einer Zeitungsredaktion für eine Buchrezension bezahlt bekäme, wie unfrei ich obendrein wäre, dann lache ich einmal heftig und verschenke diesselbe lieber gleich direkt an die Leser. Zugegeben, Zeit und Geld reichen im Blog nicht für tiefere Recherchen - also muss ich mich auf weniger aufwändige Themen konzentrieren. Ich höhle damit ein System aus, das auf Einnahmen angewiesen ist, dessen bin ich mir bewusst. Ich würde die gleiche Buchrezension sofort einer Zeitung zur Verfügung stellen, wenn diese endlich Journalismus wieder angemessen bezahlen und wertschätzen würde und nicht hinter meinem Rücken Geld mit meinen Artikeln bei Dritten machen würde. Wenn Journalisten bloggen, geschieht das manchmal auch aus Protest gegen ein System, das Freie am langen Arm verhungern lässt. Und das längst am eigenen Gehabe, an seiner Haltung gegenüber den Menschen marode geworden ist, die Inhalte liefern und konsumieren.
Ich empfehle wärmstens zur Hintergrundlektüre die Links in diesem Beitrag.
Fortsetzung folgt...
Teil II berichtet von einem französischen Online-Projekt (kein Print), das in kürzester Zeit schwarze Zahlen schrieb, weil es gegen jeden Leistungsschutz mit seinen Journalisten völlig neue Wege geht.
10. November 2009
Der Ommm-Effekt
Es soll ja Leute geben, die sich jahrelang in japanische ZEN-Klöster einsperren lassen, irre teure Wochenendselbsterfahrungskurse mit irre viel Ommm buchen oder für ihren irre reichen Guru kollektiven Selbstmord begehen, um einmal im Leben diesen wunderbaren Zustand zu erreichen: Ein LEERES Hirn.
Also das, was man hat, wenn man nicht ständig das Handy am Ohr hält, twittert und gleichzeitig die Schwiegermutter bei Facebook entfreundet. Nicht diese scheinbare Leere, sondern echtes Ommm, Nada, Totalwellness in den verkrampften engen Windungen der grauen Schwabbelmasse. Als Kinder haben wir das im Schaukelstuhl ausprobiert: Sich beim Schaukeln ganz fest auf den Schwabbel konzentrieren und prüfen, ob man es schwappen hört oder sieht oder fühlt oder was auch immer. Die größten Philosophen unter uns waren der Meinung, ihr Hirn könne plötzlich wie auf hoher See glauben, einem überdimensionalen Wal zu gehören. Oder so ähnlich.
Jedenfalls weiß jetzt jeder, was ich meine. Völlige, NICHTige, leere Gedankenlosigkeit ist noch eine Stufe berauschender als handelnde Gedankenlosigkeit im billigen Alltag. Nichts mehr denken, nichts mehr müssen, nichts mehr wollen, einfach nur noch SEIN. Also, falls man noch IST, wenn sich das Hauptteil da oben verabschiedet hat und auf den Bahamas klönt. So eine Levitation in der Hirnschale ist schließlich nicht ganz ungefährlich - denn irgendwann kommt unser Denkzentrum mit Wucht zurück. Das hält nicht jeder aus, der nur drei Prozent davon fit hält.
Eben habe ich die billigste Variante entdeckt. Ohne Kurs, ohne Guru und lustig improvisiert. Madame hat brav übersetzt. Musste sich mit dem Tagespensum leider böse ranhalten. Hat also schneller als sonst übersetzt. Und noch mehr übersetzt. Der Schwabbel wollte schlapp machen. Nix da, Schwabbel, noch drei Seiten. Schwabbel schlappte hinterher. Schwabbel schlabberte. Denn plötzlich drehte der Autor auf. Zitierte älteres Französisch. Gefiel sich plötzlich in schrillsten Redewendungen und selbstgebastelten Metaphern. Ich kann das doch nicht, schrie die Übersetzerin. Du hast mich zum Schwabbeln gebracht, rief die Schwabbelmasse, sieh zu, wo du bleibst - und sie stürmte vorwärts, wie ein graues überfettetes Hängebauchschwein eben so stürmt. Und noch ein paar Seiten...
Und dann ist es passiert. Wenn man in einem muskellosen Gewebe einen Krampf bekommen kann, dann habe ich das eben geschafft. Riesige Alarmglocken droschen mich in Richtung Küche, wo ich wie ein hirnloser Roboter völlig automatisch einen großen Café au lait köchelte und Heißhunger auf ein Quark-Honig-Brot bekam. Reiner Pawlow'scher Effekt, ohne jede intellektuelle Leistung. Zucker und Eiweiß, das kleine Kerlchen da oben weiß genau, was ihm gut tut.
Plötzlich klingelte das Telefon. Jemand sprach in der Sprache des zu übersetzenden Autors. Ich stotterte hilflos etwas wie Ommm. - Verstehen Sie vielleicht besser Deutsch, fragte die freundliche Dame. - Äh, le Deutsch, non c'est pas meine Sprakke. Und dann habe ich einfach zugehört und in gehörigen Abständen Ommm gesagt. Es ging um die neue Klimawandelsteuer. Ommm. Bahamas, sag ich ja. ZEN im Tank. Hirnerwärmung.
Also das, was man hat, wenn man nicht ständig das Handy am Ohr hält, twittert und gleichzeitig die Schwiegermutter bei Facebook entfreundet. Nicht diese scheinbare Leere, sondern echtes Ommm, Nada, Totalwellness in den verkrampften engen Windungen der grauen Schwabbelmasse. Als Kinder haben wir das im Schaukelstuhl ausprobiert: Sich beim Schaukeln ganz fest auf den Schwabbel konzentrieren und prüfen, ob man es schwappen hört oder sieht oder fühlt oder was auch immer. Die größten Philosophen unter uns waren der Meinung, ihr Hirn könne plötzlich wie auf hoher See glauben, einem überdimensionalen Wal zu gehören. Oder so ähnlich.
Jedenfalls weiß jetzt jeder, was ich meine. Völlige, NICHTige, leere Gedankenlosigkeit ist noch eine Stufe berauschender als handelnde Gedankenlosigkeit im billigen Alltag. Nichts mehr denken, nichts mehr müssen, nichts mehr wollen, einfach nur noch SEIN. Also, falls man noch IST, wenn sich das Hauptteil da oben verabschiedet hat und auf den Bahamas klönt. So eine Levitation in der Hirnschale ist schließlich nicht ganz ungefährlich - denn irgendwann kommt unser Denkzentrum mit Wucht zurück. Das hält nicht jeder aus, der nur drei Prozent davon fit hält.
Eben habe ich die billigste Variante entdeckt. Ohne Kurs, ohne Guru und lustig improvisiert. Madame hat brav übersetzt. Musste sich mit dem Tagespensum leider böse ranhalten. Hat also schneller als sonst übersetzt. Und noch mehr übersetzt. Der Schwabbel wollte schlapp machen. Nix da, Schwabbel, noch drei Seiten. Schwabbel schlappte hinterher. Schwabbel schlabberte. Denn plötzlich drehte der Autor auf. Zitierte älteres Französisch. Gefiel sich plötzlich in schrillsten Redewendungen und selbstgebastelten Metaphern. Ich kann das doch nicht, schrie die Übersetzerin. Du hast mich zum Schwabbeln gebracht, rief die Schwabbelmasse, sieh zu, wo du bleibst - und sie stürmte vorwärts, wie ein graues überfettetes Hängebauchschwein eben so stürmt. Und noch ein paar Seiten...
Und dann ist es passiert. Wenn man in einem muskellosen Gewebe einen Krampf bekommen kann, dann habe ich das eben geschafft. Riesige Alarmglocken droschen mich in Richtung Küche, wo ich wie ein hirnloser Roboter völlig automatisch einen großen Café au lait köchelte und Heißhunger auf ein Quark-Honig-Brot bekam. Reiner Pawlow'scher Effekt, ohne jede intellektuelle Leistung. Zucker und Eiweiß, das kleine Kerlchen da oben weiß genau, was ihm gut tut.
Plötzlich klingelte das Telefon. Jemand sprach in der Sprache des zu übersetzenden Autors. Ich stotterte hilflos etwas wie Ommm. - Verstehen Sie vielleicht besser Deutsch, fragte die freundliche Dame. - Äh, le Deutsch, non c'est pas meine Sprakke. Und dann habe ich einfach zugehört und in gehörigen Abständen Ommm gesagt. Es ging um die neue Klimawandelsteuer. Ommm. Bahamas, sag ich ja. ZEN im Tank. Hirnerwärmung.
Autorenblogs
updated
Lesestoff gefällig? Autorensüchtig?
Lesestoff gefällig? Autorensüchtig?
- Autorenblogs wild. Zufällig entdeckt: Hier gibt es eine leider sehr unübersichtliche Liste von Autorenblogs zum Stöbern, großteils ohne Autorennamen. Schwäche außerdem: Nicht alle gelisteten Leute sind im professionellen Sinn Autoren.
- Autorenblogs geordnet. Eine kleinere, aber sehr viel übersichtlichere Liste gibt es im Medientrends Wiki, hier werden den Blognamen die Autorennamen zugeordnet. Nachteil: Es werden nur Leute aus der Aktion "Ich mach was mit Büchern" gelistet.
- Autorenticker. Lovelybooks unterhält einen Live-Autorenticker, sprich, dort kann man mitlesen, was Autoren gerade twittern, die hier erfasst sind. Und das sind ziemlich viele.
- Literatür brutal. Wäre meine Überschrift für die Blogsammlung des Literaturarchivs Marbach, die wirklich abenteuerliche Mitglieder versammelt, sogar solche, die längst nicht mehr sind. Mein Verdacht: Die lesen gar nicht, was sie verlinken.
- Buchblogs. Hier eine Sammlung "relevanter Literaturblogs", wobei nicht ersichtlich ist, an was Relevanz gemessen wird, zumal nur wordpress-Blogs auftauchen. Literatur ist ebenfalls nicht alles, es geht wohl eher um Bücher allgemein.
- Literarische Blogs sind Blogs, in denen Literatur selbst veröffentlicht wird, vor allem jede Menge Lyrik, für die es ja nicht mehr so viele Veröffentlichungsmöglichkeiten gibt. Eine richtig schön ordentliche Sammlung hat litblogs.net. Wer Zeit sparen will, folgt @litblogs_net bei Twitter und bekommt jeden neuen Blogeintrag zum Anklicken mit. (Natürlich geht das auch über feed-Abos)
9. November 2009
Mauerfall: Flucht in den Osten
Es ist erstaunlich, welche persönlichen Geschichten beim Thema Mauerfall vor zwanzig Jahren (schon wieder so lang her!) zutage kommen. Ob man den Tag als positiv oder negativ erlebt haben mag, unstrittig ist, dass da auch innerlich einige Steine nicht mehr auf den anderen blieben. Komisch, für mich schien der Tag des Mauerfalls eine Katastrophe in einer Kette unguter Ereignisse zu sein, obwohl ich die positive politische Dimension erkannte. Ich freute mich für die anderen, aber ich hatte wenig Grund zur Freude.
Ein anderes Datum des Jahres 1989 hat nämlich mein Leben aufgemischt. Damals noch verheiratet, in der Wohnung von Freunden lebend, die für länger nach China gegangen waren, traf uns der vierte Juni 1989 mit voller Wucht. Peking war plötzlich näher als die DDR, das Massaker auf dem Tian'anmen Platz bedrohte Menschen, die wir persönlich kannten. Es war seltsam, Menschen, die dieser Hölle entronnen waren, Zuflucht bei sich selbst zu bieten.
Als wir dann auf dringender Wohnungssuche waren, fiel die Mauer, es überrollten uns Wohnungssuchende aus dem Osten, die Mieten stiegen ins Unbezahlbare, wenn überhaupt noch irgendwo ein Loch zu finden war. Da wurde mit den Bedürfnissen der Menschen gehörig geschachert und Reibach gemacht. Was habe ich gehadert mit den Trabikolonnen, die plötzlich alle im Westen bleiben wollten! Ich habe dann das Gleiche gemacht wie sie, bin abgehauen, hab in den Westen rübergemacht, über die Grenze, die offene. Frankreich war erfreulich still zu jener Zeit, die Preise waren vernünftig, weil die deutsch-deutsche Auswandererwelle am Rhein zum Erliegen kam. 1989 bin ich aus einem Land emigriert, das mir plötzlich zu konsumgeil wurde, zu teuer und auch ein wenig zu sehr im neuen Nationalrausch gefangen - während der Osten im Tausch gegen Bananen und Glaspaläste erfolgreich kolonialisiert und planiert zu werden schien.
Dann schlug die Wiedervereinigung noch einmal mit aller Härte zu. Eine westdeutsche Firma, die eben noch eine Stadt im Süden mit unmöglichen Neubauplänen aufgemischt hatte, beschloss plötzlich, umziehen zu müssen. In die neue Mitte, schließlich habe sich die Form Deutschlands verschoben. Und jene neue Mitte lag noch westlicher im Westen, aber sehr weit weg. Es blieb nur ein einziger Ausweg, Arbeitswege erträglich zu gestalten: Sich noch weiter weg versetzen lassen. Die Stadtpläne und Fremdenführer von Montreal in Kanada habe ich immer noch im Bücherregal. Innerlich waren die Schiffscontainer bereits gepackt. Die ewige Flucht in den noch westlicheren Westen.
Wieder machte die Geschichte einen Strich durch die Rechnung. Laut Arbeitgeber würde das neue Land so ähnlich sein: Sieht aus wie Kanada, fühlt sich an wie Kanada, ist nur kein Kanada drin, witzelte man. Neue Destination: Warschau, Polen. Es waren ja nicht nur Mauer und DDR-Grenzen gefallen - auch der alte Eiserne Vorhang hatte ausgedient. Natürlich hat Polen mit Kanada nicht viel gemeinsam, wenn es einem 1993 auch noch reichlich Pioniergefühl bot. Aber zu jener Zeit gefiel sich der Westen im Sendungsbewusstsein: dem Osten das Heil des Kapitalismus bringen.
So kam es jedenfalls, dass damals so viele "Ossis" in den Westen gingen und ich nach Träumen vom äußersten Westen im tiefsten Osten landete. Ich galt damit als Freak, als vollkommen bekloppt, und so mancher aus der ehemaligen DDR griff sich ans Hirn. Das tat ich auch, als ich 1993 zum ersten Mal die deutsche Botschaft in Warschau betrat, ein ehemaliger DDR-Bau, in dem noch die Löcher und Drähte für die Stasiüberwachung hingen, die alten Betonköpfe ihren Dienst taten, unfreundlich und bärbeißig wie eh und je. Da hatte man vergessen, aufzuräumen. Welch eine Wohltat, als ich ein paar Straßen weiter bei den Franzosen mit Espresso und einer wunderbaren Bibliothek und charmantem Lächeln empfangen wurde.
Aus zwanzig Jahren Abstand gesehen, war die "Katastrophe", die mich traf, mit das Beste, was mir im Leben passieren konnte - und Polen und der "tiefe" Osten ist immer eine mehr oder weniger heimliche Liebe geblieben. Aber die Wiedervereinigung ist ein Erfahrungsschatz, der mir fehlt. All das habe ich als Emigrantin von außen wahrgenommen, durch ausländische Medien von verpassten Chancen und verpassten gegenseitigen Offenheiten gehört. Seit 1989 habe ich nicht mehr in Deutschland gelebt, meinem Transitland zwischen Frankreich und Polen.
Ein anderes Datum des Jahres 1989 hat nämlich mein Leben aufgemischt. Damals noch verheiratet, in der Wohnung von Freunden lebend, die für länger nach China gegangen waren, traf uns der vierte Juni 1989 mit voller Wucht. Peking war plötzlich näher als die DDR, das Massaker auf dem Tian'anmen Platz bedrohte Menschen, die wir persönlich kannten. Es war seltsam, Menschen, die dieser Hölle entronnen waren, Zuflucht bei sich selbst zu bieten.
Als wir dann auf dringender Wohnungssuche waren, fiel die Mauer, es überrollten uns Wohnungssuchende aus dem Osten, die Mieten stiegen ins Unbezahlbare, wenn überhaupt noch irgendwo ein Loch zu finden war. Da wurde mit den Bedürfnissen der Menschen gehörig geschachert und Reibach gemacht. Was habe ich gehadert mit den Trabikolonnen, die plötzlich alle im Westen bleiben wollten! Ich habe dann das Gleiche gemacht wie sie, bin abgehauen, hab in den Westen rübergemacht, über die Grenze, die offene. Frankreich war erfreulich still zu jener Zeit, die Preise waren vernünftig, weil die deutsch-deutsche Auswandererwelle am Rhein zum Erliegen kam. 1989 bin ich aus einem Land emigriert, das mir plötzlich zu konsumgeil wurde, zu teuer und auch ein wenig zu sehr im neuen Nationalrausch gefangen - während der Osten im Tausch gegen Bananen und Glaspaläste erfolgreich kolonialisiert und planiert zu werden schien.
Dann schlug die Wiedervereinigung noch einmal mit aller Härte zu. Eine westdeutsche Firma, die eben noch eine Stadt im Süden mit unmöglichen Neubauplänen aufgemischt hatte, beschloss plötzlich, umziehen zu müssen. In die neue Mitte, schließlich habe sich die Form Deutschlands verschoben. Und jene neue Mitte lag noch westlicher im Westen, aber sehr weit weg. Es blieb nur ein einziger Ausweg, Arbeitswege erträglich zu gestalten: Sich noch weiter weg versetzen lassen. Die Stadtpläne und Fremdenführer von Montreal in Kanada habe ich immer noch im Bücherregal. Innerlich waren die Schiffscontainer bereits gepackt. Die ewige Flucht in den noch westlicheren Westen.
Wieder machte die Geschichte einen Strich durch die Rechnung. Laut Arbeitgeber würde das neue Land so ähnlich sein: Sieht aus wie Kanada, fühlt sich an wie Kanada, ist nur kein Kanada drin, witzelte man. Neue Destination: Warschau, Polen. Es waren ja nicht nur Mauer und DDR-Grenzen gefallen - auch der alte Eiserne Vorhang hatte ausgedient. Natürlich hat Polen mit Kanada nicht viel gemeinsam, wenn es einem 1993 auch noch reichlich Pioniergefühl bot. Aber zu jener Zeit gefiel sich der Westen im Sendungsbewusstsein: dem Osten das Heil des Kapitalismus bringen.
So kam es jedenfalls, dass damals so viele "Ossis" in den Westen gingen und ich nach Träumen vom äußersten Westen im tiefsten Osten landete. Ich galt damit als Freak, als vollkommen bekloppt, und so mancher aus der ehemaligen DDR griff sich ans Hirn. Das tat ich auch, als ich 1993 zum ersten Mal die deutsche Botschaft in Warschau betrat, ein ehemaliger DDR-Bau, in dem noch die Löcher und Drähte für die Stasiüberwachung hingen, die alten Betonköpfe ihren Dienst taten, unfreundlich und bärbeißig wie eh und je. Da hatte man vergessen, aufzuräumen. Welch eine Wohltat, als ich ein paar Straßen weiter bei den Franzosen mit Espresso und einer wunderbaren Bibliothek und charmantem Lächeln empfangen wurde.
Aus zwanzig Jahren Abstand gesehen, war die "Katastrophe", die mich traf, mit das Beste, was mir im Leben passieren konnte - und Polen und der "tiefe" Osten ist immer eine mehr oder weniger heimliche Liebe geblieben. Aber die Wiedervereinigung ist ein Erfahrungsschatz, der mir fehlt. All das habe ich als Emigrantin von außen wahrgenommen, durch ausländische Medien von verpassten Chancen und verpassten gegenseitigen Offenheiten gehört. Seit 1989 habe ich nicht mehr in Deutschland gelebt, meinem Transitland zwischen Frankreich und Polen.
Manfred Lütz: Irre
Nie wieder wollte ich einen Bestseller besprechen. Nun liegt vor mir ausgerechnet "Irre" von Manfred Lütz, ein Sachbuch mit dem sperrigen Untertitel "Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen", erschienen im Gütersloher Verlagshaus. Heute hat es den Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste geknackt und inzwischen haben bereits berühmte Kritiker wie Denis Scheck ihre Meinung abgegeben. Meine Ausrede, dass das Buch noch kein Bestseller war, als ich es unbedingt prüfen wollte, gilt sicher nicht...
Aber vielleicht das: Ich selbst beschäftigte mich seit vergangenem Jahr intensivst mit Psychiatrie und Psychiatriegeschichte für die Recherchen um den Tanzmythos Vaslav Nijinsky. "Der Gott des Tanzes" machte unter anderem dadurch Furore in der Öffentlichkeit, dass er die letzten 30 Jahre seines Lebens wegen einer angeblich "gespaltenen Persönlichkeit" in Irrenanstalten und Asylen verschwand. Was die Menschen der letzten hundert Jahre anrührte, war seine ungeheure Sensibilität, Begabung, aber auch Bizarrheit, war sein unsägliches Leiden, war der Blick in den Abgrund, in dem sich ein Ich vollkommen aufzulösen scheint. Dabei hat sich die Psychiatrie keineswegs mit Ruhm bekleckert, Nijinsky wurde vor dem Mordkommando der Nazis in einer beispiellos gefährlichen Rettungsaktion durch einen todesmutigen Pfleger aus der Klinik in Sicherheit gebracht. Psychisch Kranke wurden vor nicht gar so langer Zeit damals als "unwertes Leben" brutalst ermordet. Erschreckend in Sachen Nijinsky ist die Sekundärliteratur, in der selbst gestandene Wissenschaftler die Mär von der gespaltenen Persönlichkeit kritiklos übernehmen, veraltete Diagnosen wiederholen und noch heute erzählen, Genie und Wahnsinn, das gehe immer irgendwie zusammen. Ich bin bei meiner Rezension also vorbelastet.
Mit entsprechend spitzen Fingern fasste ich das Buch "Irre" des Psychiaters, Psychotherapeuten und Theologen Manfred Lütz an. Mir zu reißerisch aufgemacht: ein Schuss Riesenschlagzeilen, ein Schuss vom Medizinclown von Hirschhausen und das Label "eine heitere Seelenkunde" - das hatte mir alles zu viel Schuss. Zu allem Überfluss nimmt sich der Autor gleich den ganz großen Rundumschlag vor. Die heitere Seelenkunde unserer durchgeknallten Gesellschaft von Adolf Hitler bis Paris Hilton (alle verdammt normal), eine Psychiatriekunde für Otto Normalverbraucher (Lützens Metzger ist Zeuge, dass Otto das Buch lesen kann) - und, ebenfalls als heiter angekündigt, eine Einführung in sämtliche psychischen Krankheiten, die die ICD-10 so hergibt (dieses hochkomplizierte Symptomblatt der WHO). So viel erlaubte Launigkeit und medizinisch verordneter Humor haben mir das Sachbuch höchst verdächtig gemacht.
Umso höher rechne ich es dem Autor an, dass er diesem Marketinggedöns nicht gerecht wird, dass sein Humor ein liebevoller ist und kein hohler, dass er uns nicht den dummen August in der Irrenanstalt gibt, sondern auf verblüffend leichte Weise den Spiegel vorhält. Sein Anliegen hat der Verlag bereits in den Untertitel gemeißelt, auf dass es der letzte Leser verstehe; was dieses Buch dagegen wirklich schafft, geht dabei unter. Manfred Lütz wechselt seine und unsere Stand-Punkte, verschiebt Perspektiven, mischt Altvertrautes und Festgemeißeltes gehörig auf. Nach diesem Buch ist nichts mehr, wie es war, schon gar nicht so einfach und glatt, wie wir das gern hätten.
Den ersten "heiteren" Teil braucht es wahrscheinlich, um Menschen mit doch immer noch großen Berührungsängsten an psychische Störungen und Krankheiten heranzuführen, ohne dass sie gleich ängstlich oder ablehnend die Flucht ergreifen. Wohl jeder von uns hat sich wahrscheinlich schon das Maul zerrissen über Typen wie Bohlen, Sachs, Hilton oder Campbell, alle ach so normal. Jeder kennt einen "Normopathen" mit Gartenzwergen im Vorgarten und die humor- und fantasielose Grauheit des Normalen. Da packt der Autor seine Leser bei ihren Sehnsüchten, die Welt könne ein wenig leichter und bunter werden. Einen Hitler und einen Stalin, die er allzu leichtfertig anhand ungenügender Quellen gerade einmal als "normale Böse" streift, hätte es genauso wenig gebraucht wie das katholische Rechtfertigungsbeispiel von Franz von Assisi. Denn warum ein Nijinsky gegen Gottes Stimme behandelt wurde und diesselbe beim heiligen Franz gesund gewesen sein soll - das geht Otto Normalverbraucher, der vielleicht aus der Kirche ausgetreten ist, so logisch nicht ein.
Wem diese Schwächen des Buchs im ersten Teil von dreien nichts ausmachen, der wird mit einem angemessen ernsteren Text belohnt, dessen Verdienste längst überfällig sind: Manfred Lütz schaut dem Volk aufs Maul, untersucht Vorurteile und Halbwissen, wie es auch die Medien mit den Riesenbuchstaben und das schrille Fernsehen immer brav weiterkolportieren. Endlich räumt einer auf mit der bequemen Ausrede untalentierter Möchtegernstars von "Genie und Wahnsinn", von der Legende, Künstler seien immer ein wenig verrückt und Verrückte oft kleine Genies. Und das macht Lütz wie im ganzen Buch mit einer ungeheuer unterhaltsamen, klaren bis rasanten Sprache, die hier und da verblüfft, auf den Punkt bringt oder provoziert. "...um Großes zu vollbringen, muss man seine Tassen im Schrank ziemlich geordnet haben", widerspricht er dem Volksglauben und erklärt, dass genau darum psychisch Kranke, die trotzdem Kunst schaffen, die gleiche Ehrlichkeit, den gleichen Respekt ihrer Kunst gegenüber verdienen wie sogenannte Gesunde.
Die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit sind fließend. Lütz macht klar, auf welch schmalem Grat wir uns alle täglich bewegen und wie undefinierbar der Begriff "normal" eigentlich ist. Anderssein begreift er als Bereicherung einer Gesellschaft, die nicht verhärten will, die nicht auf rigide Weise Minderheiten ausschließt, um einem vermeintlich sicheren grauen Normopathen-Alltag zu frönen. Endlich im Gegenüber nicht nur Defizite sehen, sondern dessen innere Ressourcen und Stärken - diese Zukunftsvision ist die größte Stärke des Sachbuchs, das psychische Krankheiten aus eben dieser neuen Perspektive beschreibt. Und da beginnt Krankheit nicht beim Anderssein, beim Unbekannten und Verunsichernden, sondern erst dann, wenn ein Mensch Leidensdruck empfindet und durch dieses Leiden sein Leben nicht mehr leben kann.
Dementsprechend erklärt Manfred Lütz die wichtigsten psychischen Krankheiten von der Bipolaren Störung über Suchtkrankheiten bis hin zur Schizophrenie empathisch aus dem Geschehen für den Betroffenen heraus und zeigt moderne Behandlungsmethoden. Es ist schon etwas anderes, den Schizophrenen nicht mehr als die überkommene "gespaltene Persönlichkeit" zu sehen, sondern seine inneren Kämpfe und Techniken zu verstehen, die er aushalten und anwenden muss, damit sich sein Ich nicht in der Welt auflöst. Plötzlich stehen wir einem solchen Patienten sehr nahe. Können wir immer eine klare Abgrenzung zur unübersichtlichen globalisierten Welt wahrnehmen? Sind wir unseres Ichs in der Welt wirklich so bewusst?
Manfred Lütz' "Irre" hat den Bestsellerplatz verdient. Denn das Buch ist in seinem Humor von einer tiefen, ernsthaften Humanität geprägt, die im Menschen das einzigartige, individuelle Faszinosum sucht, mit all seinen Stärken und reichen Möglichkeiten - und diese Sichtweise dem Leser eingängig vermittelt. Das Buch hält uns den Spiegel vor, einen Spiegel mit einem kleinen Sprung in der glatten Normfläche, der uns die Welt mit anderen, mit neuen Augen betrachten lässt. Es verhilft hoffentlich zu mehr gesellschaftlicher Toleranz und Offenheit psychisch Kranken gegenüber. Es senkt hoffentlich die Hemmschwellen für Betroffene und Angehörige, sich Hilfe zu suchen. An dieser Stelle wäre allerdings ein Literatur- und Adressenverzeichnis mehr als wünschenswert gewesen, denn "Irre" richtet sich ausdrücklich nicht an längst erfahrene Menschen. So bleibt einem nur der Wunsch: So einen Psychiater würde man gern erwischen, wenn es einen einmal erwischt. Und das ist bei keinem Leser ganz ausgeschlossen.
Manfred Lütz: Irre. Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. (Sachbuch)
Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-06879-4
Aber vielleicht das: Ich selbst beschäftigte mich seit vergangenem Jahr intensivst mit Psychiatrie und Psychiatriegeschichte für die Recherchen um den Tanzmythos Vaslav Nijinsky. "Der Gott des Tanzes" machte unter anderem dadurch Furore in der Öffentlichkeit, dass er die letzten 30 Jahre seines Lebens wegen einer angeblich "gespaltenen Persönlichkeit" in Irrenanstalten und Asylen verschwand. Was die Menschen der letzten hundert Jahre anrührte, war seine ungeheure Sensibilität, Begabung, aber auch Bizarrheit, war sein unsägliches Leiden, war der Blick in den Abgrund, in dem sich ein Ich vollkommen aufzulösen scheint. Dabei hat sich die Psychiatrie keineswegs mit Ruhm bekleckert, Nijinsky wurde vor dem Mordkommando der Nazis in einer beispiellos gefährlichen Rettungsaktion durch einen todesmutigen Pfleger aus der Klinik in Sicherheit gebracht. Psychisch Kranke wurden vor nicht gar so langer Zeit damals als "unwertes Leben" brutalst ermordet. Erschreckend in Sachen Nijinsky ist die Sekundärliteratur, in der selbst gestandene Wissenschaftler die Mär von der gespaltenen Persönlichkeit kritiklos übernehmen, veraltete Diagnosen wiederholen und noch heute erzählen, Genie und Wahnsinn, das gehe immer irgendwie zusammen. Ich bin bei meiner Rezension also vorbelastet.
Mit entsprechend spitzen Fingern fasste ich das Buch "Irre" des Psychiaters, Psychotherapeuten und Theologen Manfred Lütz an. Mir zu reißerisch aufgemacht: ein Schuss Riesenschlagzeilen, ein Schuss vom Medizinclown von Hirschhausen und das Label "eine heitere Seelenkunde" - das hatte mir alles zu viel Schuss. Zu allem Überfluss nimmt sich der Autor gleich den ganz großen Rundumschlag vor. Die heitere Seelenkunde unserer durchgeknallten Gesellschaft von Adolf Hitler bis Paris Hilton (alle verdammt normal), eine Psychiatriekunde für Otto Normalverbraucher (Lützens Metzger ist Zeuge, dass Otto das Buch lesen kann) - und, ebenfalls als heiter angekündigt, eine Einführung in sämtliche psychischen Krankheiten, die die ICD-10 so hergibt (dieses hochkomplizierte Symptomblatt der WHO). So viel erlaubte Launigkeit und medizinisch verordneter Humor haben mir das Sachbuch höchst verdächtig gemacht.
Umso höher rechne ich es dem Autor an, dass er diesem Marketinggedöns nicht gerecht wird, dass sein Humor ein liebevoller ist und kein hohler, dass er uns nicht den dummen August in der Irrenanstalt gibt, sondern auf verblüffend leichte Weise den Spiegel vorhält. Sein Anliegen hat der Verlag bereits in den Untertitel gemeißelt, auf dass es der letzte Leser verstehe; was dieses Buch dagegen wirklich schafft, geht dabei unter. Manfred Lütz wechselt seine und unsere Stand-Punkte, verschiebt Perspektiven, mischt Altvertrautes und Festgemeißeltes gehörig auf. Nach diesem Buch ist nichts mehr, wie es war, schon gar nicht so einfach und glatt, wie wir das gern hätten.
Den ersten "heiteren" Teil braucht es wahrscheinlich, um Menschen mit doch immer noch großen Berührungsängsten an psychische Störungen und Krankheiten heranzuführen, ohne dass sie gleich ängstlich oder ablehnend die Flucht ergreifen. Wohl jeder von uns hat sich wahrscheinlich schon das Maul zerrissen über Typen wie Bohlen, Sachs, Hilton oder Campbell, alle ach so normal. Jeder kennt einen "Normopathen" mit Gartenzwergen im Vorgarten und die humor- und fantasielose Grauheit des Normalen. Da packt der Autor seine Leser bei ihren Sehnsüchten, die Welt könne ein wenig leichter und bunter werden. Einen Hitler und einen Stalin, die er allzu leichtfertig anhand ungenügender Quellen gerade einmal als "normale Böse" streift, hätte es genauso wenig gebraucht wie das katholische Rechtfertigungsbeispiel von Franz von Assisi. Denn warum ein Nijinsky gegen Gottes Stimme behandelt wurde und diesselbe beim heiligen Franz gesund gewesen sein soll - das geht Otto Normalverbraucher, der vielleicht aus der Kirche ausgetreten ist, so logisch nicht ein.
Wem diese Schwächen des Buchs im ersten Teil von dreien nichts ausmachen, der wird mit einem angemessen ernsteren Text belohnt, dessen Verdienste längst überfällig sind: Manfred Lütz schaut dem Volk aufs Maul, untersucht Vorurteile und Halbwissen, wie es auch die Medien mit den Riesenbuchstaben und das schrille Fernsehen immer brav weiterkolportieren. Endlich räumt einer auf mit der bequemen Ausrede untalentierter Möchtegernstars von "Genie und Wahnsinn", von der Legende, Künstler seien immer ein wenig verrückt und Verrückte oft kleine Genies. Und das macht Lütz wie im ganzen Buch mit einer ungeheuer unterhaltsamen, klaren bis rasanten Sprache, die hier und da verblüfft, auf den Punkt bringt oder provoziert. "...um Großes zu vollbringen, muss man seine Tassen im Schrank ziemlich geordnet haben", widerspricht er dem Volksglauben und erklärt, dass genau darum psychisch Kranke, die trotzdem Kunst schaffen, die gleiche Ehrlichkeit, den gleichen Respekt ihrer Kunst gegenüber verdienen wie sogenannte Gesunde.
Die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit sind fließend. Lütz macht klar, auf welch schmalem Grat wir uns alle täglich bewegen und wie undefinierbar der Begriff "normal" eigentlich ist. Anderssein begreift er als Bereicherung einer Gesellschaft, die nicht verhärten will, die nicht auf rigide Weise Minderheiten ausschließt, um einem vermeintlich sicheren grauen Normopathen-Alltag zu frönen. Endlich im Gegenüber nicht nur Defizite sehen, sondern dessen innere Ressourcen und Stärken - diese Zukunftsvision ist die größte Stärke des Sachbuchs, das psychische Krankheiten aus eben dieser neuen Perspektive beschreibt. Und da beginnt Krankheit nicht beim Anderssein, beim Unbekannten und Verunsichernden, sondern erst dann, wenn ein Mensch Leidensdruck empfindet und durch dieses Leiden sein Leben nicht mehr leben kann.
Dementsprechend erklärt Manfred Lütz die wichtigsten psychischen Krankheiten von der Bipolaren Störung über Suchtkrankheiten bis hin zur Schizophrenie empathisch aus dem Geschehen für den Betroffenen heraus und zeigt moderne Behandlungsmethoden. Es ist schon etwas anderes, den Schizophrenen nicht mehr als die überkommene "gespaltene Persönlichkeit" zu sehen, sondern seine inneren Kämpfe und Techniken zu verstehen, die er aushalten und anwenden muss, damit sich sein Ich nicht in der Welt auflöst. Plötzlich stehen wir einem solchen Patienten sehr nahe. Können wir immer eine klare Abgrenzung zur unübersichtlichen globalisierten Welt wahrnehmen? Sind wir unseres Ichs in der Welt wirklich so bewusst?
Manfred Lütz' "Irre" hat den Bestsellerplatz verdient. Denn das Buch ist in seinem Humor von einer tiefen, ernsthaften Humanität geprägt, die im Menschen das einzigartige, individuelle Faszinosum sucht, mit all seinen Stärken und reichen Möglichkeiten - und diese Sichtweise dem Leser eingängig vermittelt. Das Buch hält uns den Spiegel vor, einen Spiegel mit einem kleinen Sprung in der glatten Normfläche, der uns die Welt mit anderen, mit neuen Augen betrachten lässt. Es verhilft hoffentlich zu mehr gesellschaftlicher Toleranz und Offenheit psychisch Kranken gegenüber. Es senkt hoffentlich die Hemmschwellen für Betroffene und Angehörige, sich Hilfe zu suchen. An dieser Stelle wäre allerdings ein Literatur- und Adressenverzeichnis mehr als wünschenswert gewesen, denn "Irre" richtet sich ausdrücklich nicht an längst erfahrene Menschen. So bleibt einem nur der Wunsch: So einen Psychiater würde man gern erwischen, wenn es einen einmal erwischt. Und das ist bei keinem Leser ganz ausgeschlossen.
Manfred Lütz: Irre. Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. (Sachbuch)
Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-06879-4
8. November 2009
7. November 2009
Qualitätsjournalismus
Das ist mal eine Freude - ich darf heute jemandem aus meiner Blogroll gratulieren! Der Journalist und Korrespondent des Schweizer Fernsehens, André Marty, erhält den Katholischen Medienpreis 2009 für seine unparteiische und mutige Berichterstattung" in Nahost.
Für mich ist André Marty außerdem eines der hervorragendsten Beispiele dafür, dass sich Qualitätsjournalismus und Qualitätsbloggen nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil gegenseitig bereichern. Herzlichen Glückwunsch!
Und wer sein Blog noch nicht kennt, kein Schweizer Fernsehen empfangen kann oder sich für Nahost interessiert - nichts wie hin zu "André Marty berichtet".
Für mich ist André Marty außerdem eines der hervorragendsten Beispiele dafür, dass sich Qualitätsjournalismus und Qualitätsbloggen nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil gegenseitig bereichern. Herzlichen Glückwunsch!
Und wer sein Blog noch nicht kennt, kein Schweizer Fernsehen empfangen kann oder sich für Nahost interessiert - nichts wie hin zu "André Marty berichtet".
6. November 2009
wegrationalisiert?
Ich habe vor kurzem in der Energiebuchhaltung angerufen. Die freundliche Frau am inneren Telefon zeigte mir unnötige Lecks und faselte etwas von Effizienzsteigerung und Synergien. Also hat Madame tief Luft geholt und die Schere angesetzt.
Mein Blog "sinnesreisen" zum Dreiländereck Baden - Pfalz und Elsass hat sich im Vergleich zu diesem hier nicht zu meiner Zufriedenheit entwickelt. Fast ausschließlich Zufallsleser durch Google, die konsumierten, nie kommentierten und lediglich schnell mal abrufen wollten, wo man am Wochenende günstig einkaufen könne. Das natürlich entsprechend sporadisch. Das Experiment hat gezeigt, dass die gleichen Themen in meiner persönlichen Kolumne sehr viel besser ankommen. Außerdem habe ich hier das Gefühl, wirklich "meine Leser" ansprechen zu können und nicht irgendwelch Zufallssurfer. Und selbst die haken sich lieber in "cronenburg" fest.
Ergo: "sinnesreisen" besteht weiter als Archiv, wird jedoch eingestellt.
Stattdessen werde ich hier einbauen, was ich über Europa und das Dreiländereck zu sagen habe, dafür gibt es das eigene Ressort Dreiländereck und natürlich weiterhin die Tags Elsass oder Sinnesreisen.
Neues bei "cronenburg" geplant:
Interviews
Die freiwerdende Energie stecke ich in den Innenausbau von "cronenburg", mit dem ich ein paar Pläne in Richtung Journalismus habe. Wenn alles klappt, wie ich mir das vorstelle, wird es hier hin und wieder einmal ein Interview mit Menschen geben, die... Mehr wird nicht verraten.
Rezensionen
Soweit es meine freie Lesezeit zulässt, möchte ich auch wieder mehr Rezensionen bringen. Und zwar gnadenlos subjektiv ausgewählt, ungeachtet des Alters eines Buchs. Mein Ziel: die guten alten Feuilletonwerte wiederzubeleben, nämlich abseits der Hypes und Literaturpreismoden das Trüffelschwein zu spielen, genauer hinzuschauen, wo sonst keiner hinschaut oder viele schon vergessen haben. Da kann es auch einmal passieren, dass ich einen Bestseller gegen den Strich bürste oder mit einem Noname vergleiche (pschttt... am Montag fange ich ausgerechnet mit einer Nr.1 an). Ich werde aber die meiste Zeit eher auf die Verlage und Autoren blicken, die meiner Meinung nach noch viel stärker zu entdecken sind.
Noch mehr Rezensionen im Internet? Wäre es eine ausreichende Entschuldigung, wenn ich sage, dass ich jahrelang als Kritikerin gearbeitet habe und das wieder ausleben möchte? Nein, Selbstbefriediger gibt es im Internet genug.
Aber vielleicht interessiert eine Handvoll Menschen da draußen, welche Perlen ich mir unbestechlich ganz persönlich angle und warum sie mich faszinieren. Unabhängig von Verlagen, Chefredakteuren und sonstigen Gehaltsschranken. Selbstausbeutung als Kritiker hat einen Vorteil: Man ist frei im Kopf. Und da werden so viele wunderbare Bücher gedruckt, die nicht in der Großbuchhandlung liegen, die einen nicht aus der Zeitung anspringen. Ich hoffe, dass diejenigen, die einen ähnlichen Lesegeschmack haben, ab und zu profitieren können - und die anderen nicht allzu gestört sind.
Übrigens werden das nicht ausschließlich Buchrezensionen sein - auch anderes lässt sich besprechen.
Wer es nicht bis Montag abwarten kann, findet im Archiv dieses Blogs z.B. meine Probleme mit der Kandinsky Ausstellung, Vorabjubel über Ortheil, Vergessenes von Gogol, einen deutschen Comicautor im Ausland, die Wiederentdeckung von Turgenjew oder Musik von Nadia Birkenstock und Vic Fin.
update:
Soeben die letzten 600 Artikel in die neuen Ressorts (Menu rechts) einsortiert.
Mein Blog "sinnesreisen" zum Dreiländereck Baden - Pfalz und Elsass hat sich im Vergleich zu diesem hier nicht zu meiner Zufriedenheit entwickelt. Fast ausschließlich Zufallsleser durch Google, die konsumierten, nie kommentierten und lediglich schnell mal abrufen wollten, wo man am Wochenende günstig einkaufen könne. Das natürlich entsprechend sporadisch. Das Experiment hat gezeigt, dass die gleichen Themen in meiner persönlichen Kolumne sehr viel besser ankommen. Außerdem habe ich hier das Gefühl, wirklich "meine Leser" ansprechen zu können und nicht irgendwelch Zufallssurfer. Und selbst die haken sich lieber in "cronenburg" fest.
Ergo: "sinnesreisen" besteht weiter als Archiv, wird jedoch eingestellt.
Stattdessen werde ich hier einbauen, was ich über Europa und das Dreiländereck zu sagen habe, dafür gibt es das eigene Ressort Dreiländereck und natürlich weiterhin die Tags Elsass oder Sinnesreisen.
Neues bei "cronenburg" geplant:
Interviews
Die freiwerdende Energie stecke ich in den Innenausbau von "cronenburg", mit dem ich ein paar Pläne in Richtung Journalismus habe. Wenn alles klappt, wie ich mir das vorstelle, wird es hier hin und wieder einmal ein Interview mit Menschen geben, die... Mehr wird nicht verraten.
Rezensionen
Soweit es meine freie Lesezeit zulässt, möchte ich auch wieder mehr Rezensionen bringen. Und zwar gnadenlos subjektiv ausgewählt, ungeachtet des Alters eines Buchs. Mein Ziel: die guten alten Feuilletonwerte wiederzubeleben, nämlich abseits der Hypes und Literaturpreismoden das Trüffelschwein zu spielen, genauer hinzuschauen, wo sonst keiner hinschaut oder viele schon vergessen haben. Da kann es auch einmal passieren, dass ich einen Bestseller gegen den Strich bürste oder mit einem Noname vergleiche (pschttt... am Montag fange ich ausgerechnet mit einer Nr.1 an). Ich werde aber die meiste Zeit eher auf die Verlage und Autoren blicken, die meiner Meinung nach noch viel stärker zu entdecken sind.
Noch mehr Rezensionen im Internet? Wäre es eine ausreichende Entschuldigung, wenn ich sage, dass ich jahrelang als Kritikerin gearbeitet habe und das wieder ausleben möchte? Nein, Selbstbefriediger gibt es im Internet genug.
Aber vielleicht interessiert eine Handvoll Menschen da draußen, welche Perlen ich mir unbestechlich ganz persönlich angle und warum sie mich faszinieren. Unabhängig von Verlagen, Chefredakteuren und sonstigen Gehaltsschranken. Selbstausbeutung als Kritiker hat einen Vorteil: Man ist frei im Kopf. Und da werden so viele wunderbare Bücher gedruckt, die nicht in der Großbuchhandlung liegen, die einen nicht aus der Zeitung anspringen. Ich hoffe, dass diejenigen, die einen ähnlichen Lesegeschmack haben, ab und zu profitieren können - und die anderen nicht allzu gestört sind.
Übrigens werden das nicht ausschließlich Buchrezensionen sein - auch anderes lässt sich besprechen.
Wer es nicht bis Montag abwarten kann, findet im Archiv dieses Blogs z.B. meine Probleme mit der Kandinsky Ausstellung, Vorabjubel über Ortheil, Vergessenes von Gogol, einen deutschen Comicautor im Ausland, die Wiederentdeckung von Turgenjew oder Musik von Nadia Birkenstock und Vic Fin.
update:
Soeben die letzten 600 Artikel in die neuen Ressorts (Menu rechts) einsortiert.