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30. Januar 2009

Kundenservice: sinnesschreiben

Kundenservice muss auch mal wieder sein. Mit einer dicken Doppelschicht habe ich es geschafft, endlich einmal wieder die Seite für meinen "Brotberuf", sprich für die Kunden, neu zu überarbeiten. Dort gibt es nun auch ein komplettes "Werks"verzeichnis meiner Veröffentlichungen und endlich endlich die wichtigsten Pressestimmen zu meinen Büchern auf einen Blick.
Zum Merken:
http://www.sinnesschreiben.com

Vogelfreie organisieren sich

Noch vor Jahren hat man süffisant gesagt, Freischaffende seien viel zu individuell, eigensinnig und egoistisch, um sich zu organisieren. Zumindest bei den Journalisten ist der Leidensdruck aber offensichtlich so gewachsen, dass das Unmögliche wirklich geworden ist. Freie Journalistinnen und Journalisten haben den Verband der "Freischreiber" gegründet und Tom Schimmeck hat in einer absolut lesenswerten Rede zur Gründungsveranstaltung auf die lausige Situation der "Vogelfreien" aufmerksam gemacht.

Leser könnten davon übrigens auch profitieren, denn die Selbstverpflichtung des Berufsverbands der Freischreiber lautet:
„Ich verpflichte mich zur Wahrung der journalistischen Unabhängigkeit. Ich lege Abhängigkeiten und Interessenverflechtungen offen. Ich lanciere keine als Journalismus getarnten PR-Beiträge. Ich lasse mich nicht von zwei Seiten bezahlen. Solche Praktiken sind mit meinem Verständnis von Journalismus unvereinbar.“

Freie Autoren sind natürlich viel zu individuell, eigensinnig und egoistisch, um sich zu organisieren. Bis der Leidensdruck wächst...

Unter Piratenflagge?

Wer als Autor arbeitet und von seiner Fangemeinde keinen Grundlohn bezahlt bekommt, weiß, wie überlebenswichtig das Urheberrecht ist. Und wer als Autor mit den Werken anderer zu tun hat, seien es Fotos, Texte oder Filme, der weiß, was er zu beachten und zu überprüfen hat. Dementsprechend sorgfältig suche ich mir natürlich auch meine Quellen aus. Und bekomme das Heulen, wenn ich all die lustig sprießenden Marktplätze von Piraten und illegalen Kopierern sehe, die mit der Ware anderer Hehlergeschäfte betreiben.

Letzte Woche habe ich eine Grenze überschritten und bin nachdenklich geworden. Zumal mir ein Filmmensch gesagt hat, die Entwicklung sei längst unumkehrbar. Er erlebt es am eigenen Leib, kann nur versuchen, für den Dreh und die Erstausstrahlung möglichst gut bezahlt zu werden, denn schon kurz danach wird der Film im Internet vertickt- von Wildfremden. Es gebe kein Zurück, meint er. Wir müssten neue Wege suchen. Aber welche?

Letzte Woche fand ich auf einem bekannten Videoportal, das voll davon ist, eine illegale Raubkopie. Und ich habe von ihr profitiert, weil ich nicht brav weggeschaut habe.

Die Quellenlage für mein neues Projekt ist einerseits berauschend - ich habe auch die seltensten Bücher im Antiquariat gefunden. Andererseits ist sie zum Heulen. Denn der Hauptgewährsmann und Augenzeuge ist nicht nur extrem befangen, sondern hat damals auch vorsätzlich zensiert und gelogen. Man kann niemanden mehr fragen. Ich muss mühsam anhand dessen, was ich über diesen Zeugen weiß, entscheiden, wie die Wahrheit hätte aussehen können. Dabei gibt es eine Schlüsselfigur, die dieser Zeitzeuge inständig gehasst hat. Würde es gelingen, jenen Menschen in richtigerem Licht zu sehen? Die Aussagen beider zu vergleichen? Die Quellenlage ist übel. Das Material subjektiv. Aussagen jenes Menschen gibt es nicht.

Und dann fand ich diese sehr alte BBC-Produktion, die mir zurechtrückte, was zurechtzurücken war. Nicht einmal mehr beim Sender hätte ich sie bekommen können. Selbst für eine gebrauchte VHS hätte ich gern Geld bezahlt. Aber damals wurden von Dokus noch keine VHS verkauft.

Da war sie dann, einen Mausklick entfernt. Unsäglich verrauscht, verpixelt. Irgendein Fan hatte offensichtlich sein selbst hergestelltes, uraltes VHS-Video mit der Kamera von der Mattscheibe abgefilmt. Danach war ich klüger und eine Menge Schritte weiter.

Es gibt keinen Schritt mehr zurück, meinte der Filmmensch. Und ich, die ich immer so brav und ordentlich war, denke darüber nach, was die ständige, weltweite Verfügbarkeit von Wissen für uns bedeutet. Wie sie unsere Arbeit verändert. Gewiss, als Quelle sind Raubkopien nicht nutzbar, zumal bei Videos die Herkunft von Bild und Ton ohnehin zweifelhaft ist und einzeln überprüft werden müsste. Aber es ist wie im amerikanischen Gerichtsfilm, wo der Richter noch so viele Aussagen streichen lassen kann - die Geschworenen haben sie gehört.

Es entstehen Fragen, auf die ich im Moment keine Antwort mehr habe. Ich selbst wehre mich entschieden dagegen, dass ein gewisser Gigant Bücher von mir ins Netz stellt - weil das uns europäischen Autoren an die Existenz geht, ans tägliche Brot. Trotzdem recherchiere ich fleißig in wissenschaftlichen Schriften aus den USA auf diese Weise und finde dadurch nicht wenige Bücher, die ich in der Bibliothek besorge oder sogar kaufe. Ich hasse es, wenn jemand ungefragt Filme raubkopiert - und ich schaue nicht weg.

Ich kann Kunstdatenbanken in Deutschland wegen des Urheberrechts nicht durchsuchen. In Frankreich und den USA wird das Recht anders gehandhabt. Also recherchiere ich ganz legal dort - Internetmaterial hat keinen Pass. Ich mache mir Sorgen um die ständige und völlige Verfügbarkeit von Schöpfungen ohne den Autor - und ich profitiere davon, dass ich in einem Land lebe, wo jedes Museum und jedes Archiv bemüht ist, für die Forschung alles, wirklich alles online zu erfassen. Für diese Vorhaben zahle ich sogar eine eigens dafür eingeführte Steuer. Ich würde überhaupt gern für manches Material einen Obolus zahlen. Aber ich bekomme es kostenlos um die Ohren geschlagen. Ich sehe, wie die Lage für Filmschaffende, Musiker oder Autoren immer prekärer wird - und ich bin längst Teil des Systems.

Ich fürchte, ich bin der Doppelmoral anheimgefallen.
Wie kommen wir aus dieser Spirale heraus?

Weitere Infos:
Wikipedia: Deutsches Urheberrecht
Urheberrecht: Gesetzestext
i-Rights: Infodienst für Urheberrecht in der digitalen Welt
Urheberrecht im Binnenmarkt Europas

28. Januar 2009

Die unerträgliche Schwere der vier Buchstaben

Auch als veröffentlichter Autor muss man sich bekanntlich ein Leben lang fortbilden. Und weil es in deutschsprachigen Landen so etwas etabliert nicht gibt, muss man schauen, woher man Informationen bekommt. Als Gina Grumbier befasse ich mich mit dem Thema Genuss, Essen und Sinnesreisen (und dem Gegenteil, den perversen Diäten und Gesundheitsmythen). Eine wunderbare Gelegenheit, sich bei amerikanischen food writers, einem eigenen Berufsstand, abzuschauen, was man für deutschsprachige Verhältnisse lernen könnte.

Ich muss immer lachen, wenn ich deren Online-Zeitschriften und Newsletter bekomme. Da geht es im frischfröhlichen Superduper-World's-best-Stil eines James N. Frey daher, mit dessen Hilfe man ja auch jede Menge grundsätzlich verdammt guter Romane schafft. Die food writers haben es ähnlich mit den berühmten zehn Geheimnissen, die sie nur dir verraten, weil du ihren Newletter abonniert hast; da werden Einfachstrezepte, Prämissen und Gadgets verteilt, immer mit den Stichworten business, career, income, public relations ... Kurzum: Nach ein, zwei solchen "Unterrichtseinheiten" will man sofort loslegen, einen verdammt guten Food-Text zu schreiben, weil das anscheindend genauso im Baukastenprinzip funktioniert wie beim Roman à la Frey, und weil das anscheinend jeder kann, verdammt gut zu sein.

Meine heutige "lesson" will ich den Kollegen nicht vorenthalten. Ich erlaube mir, den herzerfrischenden Unterrichtsstil nicht Wort für Wort zu übersetzen, sondern nachzudichten. Geeignet nicht nur für Autoren in Sachen Genuss:

"Findest du nicht, 2009 könnte entscheidend für deine Autorenkarriere sein? Dann krieg den Hintern hoch, red nicht davon, träum nicht davon, heb endlich deinen faulen A...

Du willst nur als Hobby schreiben, betrachtest Schreiben als nettes Spiel? Hast ja noch den Beruf und willst deine Freizeit? Merkst du nicht, dass du schon Jahre so dahersülzt und nichts gebacken bekommst? Wie viel Lebenszeit hast du schon mit diesen Ausreden verschwendet? Glaubst du, der Durchbruch fällt vom Himmel oder steht plötzlich da und winkt? Hör endlich auf, deine Zeit zu verschwenden oder such dir ein anderes Hobby, bei dem du weniger jammern musst! Schluss mit den halben Sachen, den Ausreden, die alle nur nerven. Jetzt ist 2009. Ein ganzes Jahr Zeit, deinen Hintern hochzukriegen und etwas für deinen Erfolg zu tun!

Keine Zeit? Leben, Familie, Freunde? Fang mit einer Stunde die Woche an, aber die halte auch durch. Steigere die Zeit, nimm dir welche. Aber nimm sie regelmäßig. Schau die Leute an, die neben ihrem Brotjob noch 20 Stunden die Woche arbeiten, um die Familie durchzubringen. Und du jammerst, du hättest nicht eine Stunde am Tag für dein Schreiben übrig? Eine Stunde für eine Seite - macht im Jahr ein Buch von 365 Seiten."

Das ist nur die Einleitung. In der Art geht es seitenweise weiter. Ich habe zwar noch nichts gelernt, mich aber gut unterhalten.
Wie gesagt, ein erfrischender Stil, wenn man das betuliche Harmoniegedöns unter manchen deutschsprachigen Autoren im Internet liest. Also: Hintern hoch und Hosen aufgekrempelt! Ran an den Speck!

Wer macht die Realität?

Die Welt ist in zwei Teile zerfallen: die mit und die ohne. Wer über einen Internetanschluss verfügt, liest andere Dinge, sieht andere Dinge, erlebt anders, nimmt anders wahr, verhält sich anders. Das geht so weit, dass man wildfremde Leute, mit denen man drei schriftliche Sätze gewechselt hat, als "Freunde" bezeichnet und seinen Communities glaubt, was dort gefaselt wird. Denn längst sind Datenströme und Informationsgewusel so übermächtig, dass auch gestandene Rechercheure ihre Schwierigkeiten haben, Wahrheiten von Halbwahrheiten zu trennen. Gar nicht so einfach, den Blick für die Realität klar zu behalten, die dort spielt, wo der Strom auch mal ausfallen kann: im Leben.

Dabei führt das Internet nur ad infinitum, was die Massenmedien seit Anfang des letzten Jahrhunderts mit uns treiben: Sie verschieben, wenn man nicht aufpasst und kritisch hinterfragt, den Blick für die Realität. Je mehr wir wissen, je mehr wir erfahren, desto unübersichtlich wird die Welt. Und wer sagt uns dann, was wir zu glauben haben?

Unsere Ururgroßmütter haben vom Krieg erfahren, wenn er vor der Haustür stand, in mündlicher Überlieferungsnähe. Und dann haben sie ihn derart stark hautnah erlebt, dass sie ihre eigenen Eindrücke über Generationen überlieferten. Unsere Großmütter waren eher vorgewarnt - Zeitungen verbreiteten, was sich im Nachbarland tat. Aber Zeitungen verbreiteten auch Falschmeldungen, Propaganda: Was konnte man noch glauben? Neue Nachrichtenquellen mussten her, aber ihre Quellen waren immer noch leicht zuzuordnen. Da waren ausländische Radiosender, da gab es den Buschfunk von Partisanen. Man wusste, auf wen man sich einließ. Wusste man es wirklich?

Und heute? Gibt es mehr Kriege auf der Welt als sonst? Oder gibt es nur mehr Nachrichten über Kriege? Und wer sagt uns die Wahrheit? Wem ist der "embedded journalist" verpflichtet? Warum stellt der Kriegsfotograf ein Foto und knipst nicht spontan? Wieviel Fotoshop-Bearbeitung hat das Zeitungsbild hinter sich? In wessen Interesse schreibt der Blogger? Was passiert, wenn ein Journalist seine "Wahrheit" von Google bezieht? Und wie sähe die Welt aus, wenn Realitäten noch leicht erkennbar wären?

Wer macht eigentlich das Internet? Wer beherrscht diesen riesigen Datenfluss, der kein Wahrheitsfluss sein kann, sondern nur potenziert, was die Ururgroßmutter einst im Treppenhaus machte: Geschwätz, Gerüchte, Halbwahrheiten - und dazwischen die kaum noch findbare Nachricht?

Ein Blick auf die wahren Zahlen dürfte unsere Meinung von der Realität tüchtig zurechtrücken. Wir bilden uns nämlich sogar ein Internet ein, das es nicht gibt.

Comscore hat Ende des Jahres aktuelle Zahlen vorgelegt. Demnach waren zu jenem Zeitpunkt mehr als eine Milliarde Menschen im World Wide Web. Je nach Schätzung bedeutet das, dass die virtuelle Realität nur von 15 bis 22 Prozent der Weltbevölkerung erkannt und geteilt wird. Der Rest der Bevölkerung sucht sich Freunde noch im prallen Leben und Nachrichten auf herkömmlichen Wegen.

Aber auch die Welt der Internet-User selbst hat sich gehörig verschoben, die USA als angeblich beherrschende Internetmacht hat längst den Löffel abgegeben. Die Chinesen haben sie überholt und Deutschland steht weltweit immerhin an vierter Stelle mit der Internetversorgung. Vergleicht man Kontinente, verschieben sich die Machtbereiche der modernen Kommunikation noch sehr viel stärker, dann nämlich rutschen die USA auf Platz vier: Sie stellen nur noch 18,4% der Internetuser. Die Zukunft spielt - wen wundert es - im asiatisch-pazifischen Raum. Dort leben jetzt schon 41,3% der Webuser dieser Welt. Bald die Hälfte. Und dann kommt erst einmal Europa mit satten 28%.

Und trotzdem haben wir das Gefühl, das Internet würde von den USA "gemacht". Amerikanische Giganten von der Suchmaschine bis zum Gemischtwarenladen machen im Internet Reibach. Wir wissen so gut wie nichts über Asien. Wann haben wir das letzte Mal eine Website aus diesem Raum aufgerufen und gelesen? Und wie zum Teufel sieht die Welt all dieser Nichtuser aus? Können wir uns noch vorstellen, wie diese große Mehrheit der Menschheit lebt und denkt?

Wissen ist Macht. Das ist schon seit der Steinzeit so. Informationen sind Wissen, und wer weiß, kann Informationen verbiegen, manipulieren, aufbauschen, herunterspielen. Zu Zeiten von Keilschrift und Hieroglyphen haben Minderheiten das Wissen besessen, haben Minderheiten bestimmt, welche "Realitäten" den Mehrheiten zugespielt wurden. Und das einfache Volk, des Lesens und Schreibens nicht mächtig, hat geglaubt. Die Gebildeten, welche die Technik der Informationsvermittlung in Händen hielten, mussten es ja schließlich besser wissen.
Und heute? Fragen wir uns manchmal noch, was wir glauben sollen oder nicht und warum? Wem geben wir unsere Lebensrealität in die Hände?

27. Januar 2009

Outsourcing total bis beta

"Beta-Leser werden von einigen Verlagen inzwischen sogar verlangt", habe ich eben bei Schreibteufelchen gelesen. Ich bin beeindruckt und vermute eine neue Variante des Outsourcing. Man kauft bekanntlich am liebsten druckreife Manuskripte auf. Also, liebe Autoren, lasst euch testlesen, betaschmökern, glattbügeln. Damit aus eurem Betafilmchen endlich ganz großes Alpha-Hollywood werden kann, ohne dass wir Lektoren ordentlich bezahlen müssen.

Schade, dass ich von den entsprechenden Verlagen bisher noch nichts wusste. Wie leicht und schnell hätte ich Verträge bekommen können! Einfach den Betaleserstempel ins Exposé und ab damit:

"Lavendelblues", betagelesen von Tante Erna, die sich aufregt, dass sie sich dabei nicht auf RTL konzentrieren kann. "Das Buch der Rose", betagelesen von einem ganz intelligentem Menschen, bei dem ich mich im Buch bedanke, und von meinem Agenten, wenn das kein Grund ist, der Autorin blind zu glauben! "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt", betagelesen von meinem elsässischen Nachbarn, der traurig wurde, weil er nach einer Mikrowellenkindheit die Rezepte nicht kennt. "Dingens", Rohentwurf betagelesen von der Verlegerin herself.

Liebe solchige Verleger, demnächst bekommt ihr sogar noch ein you-tube-Video gratis dazu, für das ich die Betaleser bei einer wüsten Party filme. Oder sollen wir lieber ein werbeträchtiges wüstes Happening in der Innenstadt veranstalten?

Avanti dilettanti!

Hand aufs Herz, wann haben Sie das letzte mal so richtig dilettiert? Und das auch noch mit Lust und Leidenschaft?
Mir ist es kürzlich wieder passiert. Bei Recherchen stolperte ich über den Modeschöpfer Paul Poiret, der seine Glanzzeit um den Ersten Weltkrieg herum erlebte, und Bilder seiner Entwürfe im Metropolitan Museum of Art. Ich war hin und weg, denn ich mag es gern theatralisch und liebe diese Formen. Was aber macht man, wenn man im falschen Jahrhundert geboren ist? Genau, man schneidert.

Zu dumm nur, dass ich bei allem, was mit weiblichen Handarbeiten zu tun hat, mit galoppierender Ungeduld und Unlust geboren wurde. Seit meiner Zeit in Polen besitze ich allerdings eine Nähmaschine und habe mir Nähte, die geradeaus führen, selbst beigebracht. Poiret hat mir den Kopf verdreht. Stilecht wühlte ich im Art-Nouveau-Laden von Toto in Strasbourg, versank in schillernden und samtenen Stoffballen, und kam mit ein paar Schätzen heim. Nur noch entwerfen, nähen, fertig. Ha!

Es könnte so einfach sein, denn meine Mutter war Schneiderin. Dumm nur, dass sie keinen an ihr Heiligtum, die Nähmaschine, herangelassen hat, niemals. Ich durfte zuschauen, aber nicht lernen. Aus uns Kindern sollte ja schließlich mal was Besseres werden. Kinder basteln ... das war es! Warum nicht ein "Kostüm basteln"? Da war dieses prächtige Jäckchen, das zu eng geworden war. Ich rückte den Abnähern mit dem Nahtauftrenner zu Leibe, schlitzte es brutal auf. Und jetzt in die Lücken die Filetspitze einsetzen, die ich von einem alten Kleid abgetrennt hatte! Genau die richtige Farbe. Wirkt schräg und wild. So etwas kann man nicht kaufen. Der spitzenbesetzte Pannésamt von Toto passt farblich ebenfalls und ist so gut wie ein Rock, wenn man ihn um die Taille wickelt. Den Bund sieht man unterm Jäckchen ohnehin nicht.

Wie war das bei Poiret? Der konnte zuerst auch nicht nähen und erfand deshalb das Drapieren. Mach ich auch. Einen Bund mit Gummizug kann ich, es geht immer nur geradeaus. Und so schief wie die Billigmode aus Asien in den Läden schaffe ich das allemal. Fertig ist die Nobelabendrobe. Und beim nächsten Mal versuche ich es mit Kurven. Wäre doch gelacht, mit dem Auto fahre ich sie schließlich auch. Stoffstraßen. Dilettantisch, frech, mit Spaß. Könner verdrehen die Augen oder schauen mitleidig. Aber warum eigentlich nicht? Ich will ja nie behaupten, ich könne nähen!

Wir haben auch schon mal "Picasso dilettiert". Da war eine Zeichnung, von der manche süffig behaupteten, das könne doch jeder, das sei ja Kinderkram. Also habe ich Stifte und Papier ausgeteilt und aus meinen Gästen kleine Möchtegernpicassos gemacht. Natürlich hat es keiner geschafft, diese ach so einfache Zeichnung auch nur annähernd ähnlich nachzuahmen. Aber wir hatten riesigen Spaß und ein paar witzige "Kunstwerke" obendrein. Behauptete ja keiner, Maler werden zu wollen. Aber die Hochachtung vor Picasso war gewachsen.

Als Kind dilettiert man hemmungsloser, freudiger. Und durch das Ausprobieren der eigenen Fähigkeiten und Vorlieben, durchs Nachahmen, findet man langsam seinen eigenen Weg. Welcher professionelle Schriftsteller hat nicht in seiner Jugend irgendwelche Größen nachgemacht und vielleicht sogar in Fanzines zu imitieren versucht? Gewiss, die Ergebnisse sind oft lächerlich und manchmal peinlich. Aber was hat man alles daraus gelernt! Wie wichtig waren die Fehlschläge für die eigene Entwicklung! Warum eigentlich nicht mal so tun, als sei man Thomas Mann? Spaß haben und auf dem Teppich bleiben. Bloß nicht auf die Idee kommen, man könne damit Verlage nerven.

Fröhliches Dilettieren hat noch einen anderen Vorteil: Neben all dem Spaß lernt man das Begreifen. Man be-greift im wahrsten Sinn des Wortes eine Kunst. Ich werde nie Kleider schneidern können, die diese Bezeichnung auch nur verdienen. Aber wenn ich mir das nächste Mal eins von der Stange kaufe, dann weiß ich, wie viel Handwerk, wie viel Können und wie viel Arbeit in so einem "Stoff-Fetzen" liegen. Ich ahne, welcher Ausbildung es bedarf. Und ich weiß jetzt schon die Unterschiede zu sehen zwischen wirklicher Kunst und Wertarbeit - und dem zusammengeschusterten Stück zu Ausbeuterpreisen. Auch wenn es nur geradeaus ginge mit den Nähten - ich wollte für solche Löhne nicht einmal Sofakissen arbeiten.

Lust bekommen? Wann haben Sie das letzte Mal in einer Ausstellung gesagt: "Das kann ich auch"? Machen! Wann haben Sie das letzte Mal bei der Lektüre gedacht: "Sowas schreib ich mit links"? Schreiben! Avanti Dilettanti! Viel Spaß dabei und nicht vergessen: Einer, der so tut als ob, ist noch lange keiner, der kann, wie er will. Da fehlt dann noch das, was ich beim Handarbeiten nicht habe: Geduld, Durchhaltevermögen, Lernen, Ausbildung, Handwerk - Talent.

25. Januar 2009

Das neue Auftrittsprogramm

Keine Angst, es geht nicht weiter in dieser Geschwindigkeit. Die "Testphase" ist abgeschlossen, künftig wird dieser Blog in Normalgeschwindigkeit bestückt werden. Hauptergebis: Ich will in diesem Blog wieder mehr für LeserInnen schreiben, für Menschen, die sich für Kunst, Kultur, Literatur und meine Buchthemen interessieren. Manchmal auch etwas langsamer als normal, denn "sinnesreisen" - Blog wie Website - erwarten eine Erneuerung.

Wer sich wundert, woher die Autorin die berstende Energie nimmt: vom Arbeitsamt. Nein, falsch, gegen das Arbeitsamt. Ich hatte mir dieses Jahr vorgenommen, für ein zweites berufliches Standbein zu sorgen, um weniger ausgeliefert im ersten zu sein. Ich bin sehr offen und bereit zu allerlei. Und hätte nach 20 Stunden die Woche noch genug Zeit für meine Bücher. Aber nach mehrtägigem Studium aller ernstzunehmenden Jobangebote hüben wie drüben vom Rhein wurde mir schlecht. Ich habe mir ausgerechnet, was nach Bewerbungsmarathons, stundenlangem Pendeln und manchmal Sklavenarbeit abzüglich der Abgaben bleibt. Nein, da kann ich gleich Freiberuflerin bleiben.

Vor lauter Erschrecken bei der heutigen Anzeigenlektüre, die sich besonders übel las, purzelte mir das neue Auftrittsprogramm aus dem Kopf. Und in Gina Grumbiers Koffer steckten gleich noch Ideen fürs zweite Standbein, das eigentlich ein altes ist. Schuster, bleib bei deinen Leisten - oder waren es die Sinne? Mit 20 Stunden ist's zwar jetzt Essig, aber ich weiß wieder, für wen ich arbeite. Jetzt heißt es erst mal Rödeln, auf dass die Träume einen Weg in die zu finanzierende Realität finden.

roccultur 02

roccultur: Beißfester als Popkultur, authentisch wie Rocco, unser französischer Korrespondent von der berüchtigten Beauceron-Berger-Belgique-Connection.
Erschnüffelt vom Bodensatz der Feuilletons, herabgezerrt aus den Höhen des Kulturbetriebs. Kurz, knapp, mit einem Wau. Kunst und Literatur, geprüft auf Fresswert und Lustgewinn, bewertet zwischen Schlafen und Schlaraffen. Ein Happs und weg? Oder zum genüsslichen Dauerkauen geeignet? Roccultur hat Platz auch in der kleinsten Hütte.

Man sollte öfter Hunde zu Vernissagen einladen. In Belgien hat so ein Kollege feststellen können, dass Kunst nicht nach Abfluss stinkt und der Sekt grundsätzlich nichts taugt.

Filigrane Farbwunder bringt Hündin Cilly auf Papier und Tierschädel. Fressbare Kunstwerke, die mir besser gefallen als bunt auslaufender Schweineschnüffel. Hier zeigt sich einmal mehr die Ausbildungsfähigkeit von Kunstverstand: Bringen Sie mal eine Gams mit Pinsel an der Haxe auf die Leinwand!

Bücher wie "Die Kunst, mit dem Hund zu reden" (Kosmos-Verlag) halte ich für verfrüht. "Die Kunst, dem Hund zuzuhören" würde solche Titel nämlich überflüssig machen.

Der Tipp für die Hundekunst von Menschlein: Mach dir deinen bellenden Hund. Ideal für den Vorgarten und damit der Gartenzwerg nicht mehr einsam ist.

Bissig war er und Emigrantenkreise spotteten über ihn, er sei auf den bürgerlichen Hund gekommen. Dabei hat er wie alle intelligenten Hunde nur immer sagen wollen: Ecce homo - sieh, der Mensch! Zeit, einmal wieder ein bißchen dada zu sein und sich an George Grosz zu erinnern.

Kultur und Kunst mit Hund genießen - das ist in München möglich. CultureDog richtet sich in erster Linie an die gesitteten und gruppenfreundlichen Artgenossen unter uns und beschert einsamen Hundemenschen obendrein Rudelgefühl total. Und wie Hunde nun mal so sind: Wir bleiben auch hundelosen Kunstliebhabern gegenüber tolerant.

Endlich spielt einer von uns mal wieder die Hauptrolle in Hollywood: Am 21. Januar kommt "Bolt, ein Hund für alle Fälle" in die deutschen Kinos. Ich bin so hingerissen von dem Kraftpaket, dass ich drei mal täglich seinen umwerfenden Malefizblick probe.

Bleiben Sie stark, lassen Sie sich keinen Gummiknüppel für einen Knochen vormachen, und alles wird gut!
Eine geruhsame Nacht,
yours truly Rocco


24. Januar 2009

Spaziergang durch Russland

Was würde Turgenjew sehen, wenn er heute durch Russland spazieren würde? Inhaltlich hat sich manches scheinbar nicht verändert. Ich lade ein zu einem intensiven Fotospaziergang durch Sankt Petersburg und Russland, wie man es selten sieht. (Die Seiten enthalten sehr viele Fotos und laden dementsprechend).

Bei der Gelegenheit möchte ich den russischen Fotografen vorstellen, den ich zufällig im Internet entdeckt habe: Alexander Petrosian lebt und arbeitet seit 1999 hauptsächlich in Petersburg. In Russland ist er bekannt geworden durch regelmäßige Fotoausstellungen und Arbeiten für Hochglanzmagazine. Seine Fotos zeigen jedoch alles andere als Glamour und schöne Werbefassaden eines aufgehübschten Putin-Russlands, sie rücken den Menschen von der Straße regelrecht auf die Haut; zeigen das Leben derer, für die im Fernsehen und in Werbeblättchen kein Platz ist. Winzige Alltagsszenen, intensiv und realistisch beobachtet, ungeschönt. Quietschbunte Armut, die Faszination Mensch - und scheinbare Zeitreisen in Schwarzweiß, die doch nur Gegenwart abbilden.

Für seine Art, Russland zu sehen, bekam Alexander Petrosian bei der 25th world competition der Society for New Design in den USA das "Sign of Distinction" (Award of excellence) in der Kategorie Fotojournalismus verliehen. Ein Fotograf, der es verdient, auch in Europa entdeckt zu werden.

Seine Eindrücke aus Russland kann man hier sehen.
Einige Bilder aus Petersburg sieht man hier. Für Außenstehende wirkt die Schwarzweiß-Serie wie eine Reise in ferne Kriegsvergangenheit, die Bilder sind jedoch relativ neu. Wir sehen im Fernsehen und in den Medien nur die restaurierten bunten Prachtfassaden von Petersburg und als Tourist bewegt man sich ebenfalls nur in den üblichen Straßen. Doch nur wenige Schritte davon entfernt, ein paar Hinterhöfe weiter, lauert jenes unbekannte Petersburg, mit dem so gar kein Staat zu machen ist. Einige Abrissbilder entstanden außerdem, als ganze Häuserzeilen den Prunkeinkaufstempeln der Westfirmen weichen mussten. Auch das ist Russland: Ein Land der Extreme. Petrosian hat dafür einen Blick, verliert aber nie die Geschichten aus dem Auge, die Menschen und menschenfreie Orte vom Leben erzählen.

Wiederentdeckt: Turgenjew

Gegen den Hype, Bücher zu besprechen, wenn man sie noch gar nicht lesen kann, setze ich gern Ausflüge in meine Bibliothek: Bei welchem Buch lohnt sich ein zweites Lesen? Wer ist zu Unrecht in den Buchläden vergessen? Ich gestehe: Ich lese auch Bücher, die keine Neuerscheinungen sind. Dann erst recht.

Eine meiner großen Wiederentdeckungen des vergangenen Jahres war der russische Schriftsteller und Vertreter des Realismus Iwan Turgenjew mit seinem Roman "Väter und Söhne". Ich habe schon in der Schulzeit nebenbei gejobbt, um mir seine Bücher leisten zu können, liebte vor allem die meisterhaften kleinen Erzählungen. Ähnlich wie bei Puschkin geriet ich schon nach wenigen Sätzen in diesen Sog einer anderen, faszinierenden Welt. Es handelt sich also um einen Schriftsteller, den man innerhalb von Jahrzehnten immer wieder lesen kann - und jedes Mal wird man neue Welten in seinen Büchern entdecken.

Was ich an Turgenjew besonders liebe, ist seine außerordentliche Fähigkeit, Menschen und ihr Umfeld zu charakterisieren. Seine Romanfiguren wirken deshalb so überaus lebendig, weil er ihnen innere Widersprüche lässt, weil er nicht sofort alles aufdeckt, weil er ihnen Raum zur Entwicklung zugesteht. Turgenjew übersetzt Leben in Text, er ist keiner von diesen modernen Autoren, die Gegenspieler mit Software zu konstruieren scheinen - seine Figuren sträuben sich, haben Ecken und Kanten, sind unbequem, liebenswert, schwach, innerlich reich oder dumm - und obendrein ist er ein Meister der Komposition. Wie ein zufälliges Gemälde nach der Natur fügen sich die Szenen ineinander, wohldurchdacht. Und noch die kleinste Nebenfigur ist ein Festschmaus, Augenschmaus möchte man fast sagen, denn wie von wenigen Pinselhieben gemalt tritt sie einem plastisch entgegen.

"Väter und Söhne" scheint für moderne Kostverächter vielleicht ein etwas angestaubter Roman zu sein, denn er ist 1862 erschienen. Und vielleicht interessiert auch nicht jeden modernen Leser, dass der westlich orientierte Turgenjew, der schließlich auch in Baden-Baden gewohnt hat, zu jener ersten Welle von russischen Kulturschaffenden gehörte (die zweite folgte ab 1909 mit den Ballets Russes), die westliche Kunst und Literatur entscheidend beeinflusst haben.

"Väter und Söhne" handelt, wie der Titel verrät, von einem Generationenkonflikt, der jedoch weit mehr ist und darum Konsequenzen größeren Ausmaßes hat. Da ist der Sohn Arkadij Kirssanow, der noch nicht den Schritt ins völlig selbstständige Leben vollzogen hat und seinen Freund Jewgenij Basarow in labiler, aber begeisterter Art verehrt. Sein großes Vorbild ist ein Mensch, wie er in vielen Umbruchsepochen vorkommt: Basarow erkennt keinerlei Autorität an, weder die der Elterngeneration noch äußere. Der studierte Mediziner, der ebenfalls noch nie gearbeitet hat, ist überzeugter Nihilist und Atheist. Er glaubt an nichts, hinterfragt alles, übernimmt grundsätzlich die Gegenposition. In Arkadij hat er einen Freund gefunden, den er formen kann.

Beide "modernen Städter" machen eine Landpartie zu Arkadijs und nachher auch Basarows Eltern und werden dort mit der traditionellen Lebensweise konfrontiert, die sie am liebsten gestern schon abgeschafft hätten. Misswirtschaft und tiefe Frömmigkeit, Adelsdünkel und Vaterlandsliebe, überkommene Rollenspiele und das Gefühl, dass sich in dieser Welt nichts, aber auch gar nichts bewegt, bringen die Söhne gegen die Väter auf.

Natürlich, möchte man fast spotten, mischt eine Frau diese zunächst allzu saubere Konfrontation auf - aber Turgenjew wird hier nicht plakativ, sondern immer vielschichtiger. Anna Odinzowa ist Gutsbesitzerwitwe mit einem sehr eigenen Kopf, viel zu alt und viel zu lebenserfahren für die beiden unerfahrenen jungen Männer, deren Revolution sich vorwiegend im Kopf abspielt. Und ausgerechnet der, der an nichts glaubt, auch nicht an die Liebe, verliebt sich in sie. Nein, es gibt keinen Schmalz und nichts zum Schmachten, Turgenjew wäre nicht der große Schriftsteller geworden, wenn er nicht die Gelegenheit genutzt hätte, die unterschiedlichen Weltentwürfe gegeneinander ankämpfen zu lassen. Die Situation verschärft sich, als eine Typhus-Epidemie den gelernten Arzt Basarow zur ersten praktischen Entscheidung seines Lebens zwingt.

Der Konflikt zwischen Vätern und Söhnen ist mehr als ein Generationenkonflikt. Er zeigt die Welten, die in Russland aufeinanderprallten, als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde. Damit zeigt der Roman auch einen geistigen Konflikt in einer politischen und ökonomischen Krisenzeit, in der eine einst reiche Kaste, die alle auspresste, plötzlich ihre sprudelnden finanziellen Quellen verloren hat und Gefähr läuft, auch den Einfluss ihrer Werte zu verlieren. Neue Kräfte erstarken, Menschen, die jene Werte in Frage stellen, die mehr Gerechtigkeit und weniger Aberglauben einfordern, die ein neues System wünschen, ohne jedoch konkret benennen zu können, wie es aussehen sollte.

"Väter und Söhne" hat zu seiner Zeit so hohe Wellen geschlagen, dass Turgenjew durch die Auseinandersetzungen Russland verließ. Sein Roman über die Umbruchskrise eines ökonomischen Systems, das versagt hat, aber die Macht nicht abgeben will - und über Menschen, die die Notwendigkeit einer Neuerung ahnen und wünschen, aber deren Werte noch nicht gefunden haben, ist brandaktuell. Seine Menschen sind ein einziges Vergnügen, denn in jedem von ihnen steckt sehr viel mehr, als sie vor sich zugeben wollen. Es ist auch ein weiser Roman, der ahnen lässt, worauf es im Leben ankommt, ohne Zeigerfinger, ohne offensichtliches Politisieren. Kurzum - ein literarisches Fest.

Lesetipp:
Iwan Turgenjew: Väter und Söhne, insel taschenbuch

23. Januar 2009

Fast vergessener Lavendelduft

Manchmal hat man selbst ein Buch schon fast vergessen, manchmal findet man im Internet noch uralte übersehene Rezensionen. Das freut dann nachträglich.
Bei der Aktion "Mein Sommerreisebuch 2007" der ARD war mein Roman "Lavendelblues" vorgeschlagen worden:

"Wenn Petra van Cronenburg schreibt, dann riecht man die Kräuter, spürt die Hitze und hört den Rhythmus Südfrankreichs. Lavendelblues ist ein Fest für die Sinne, und ein Buch, nach dessen Lektüre man sofort losreisen möchte."

Ausgerechnet heute habe ich mir Lavendelwasser auf die Heizung gestellt, um gegen dieses graue Bettlaken von Himmel anzuduften.

Petra van Cronenburg: Lavendelblues. Roman. BLT bei Lübbe

22. Januar 2009

Quotenquatsch und Haumichtot

Ich hab's geahnt! Sie also auch. Wieder so ein Leser! Inzwischen weiß ich, wie man die Tierchen füttern muss. War's das Haumichtot?
Quatsch beiseite. Ich mache mir ja ständig Gedanken, wie man dieses Blog verbessern kann und was man überhaupt als Journalist auf die Beine stellen könnte, wenn man könnte wie man wollte. Deshalb teste ich hier fröhlich Dinge aus, weil ein Reinfall nichts kostet - und beobachte dreist Besucherströme und deren Motivation.

Mein Endergebnis erstaunt mich nicht wirklich, ist aber erschütternd wie das Literaturprogramm des ZDF. Deppenalarm bringt Quote. Seriös ausgedrückt: Je blödsinniger eine Schlagzeile, je mehr Konflikt oder Skandal sie verspricht, desto schneller strömen die Leutchen ins Kolosseum. Solche Sachen sprechen sich dann auch noch herum und werden in Bloghausen verlinkt, egal, wie dümmlich der Artikel dahinter ist.
Absolute Renner beim Wecken von Leserinteresse waren das Reizwort "Heidenreich" (nie wieder so viele Leser gehabt, so hat das also bei ihr mit den Büchern funktioniert!) und der wunderschöne Titel "Kein Schwein". Letzteres ein schönes Beispiel für Niveau, obwohl der differenzierte Artikel dahinter wahrscheinlich so manchen Leser entsetzt hat.

Es kommt auch immer gut, wenn man sich fetzig über etwas lustig macht und das möglichst kurz runterrotzt. Recherche und Hintergründe schrecken immer dann ab, wenn der Artikel nicht zufällig via Suchmaschine für Lebenshilfe oder als Ratgeber taugt. So etwas bringt neue Leser en masse, die sich dann allerdings wieder abwenden, wenn ihr Lebensthema nicht ständig behandelt wird. In dieser Sparte wurden zum absoluten Renner ein Artikel über Mehltaubehandlung, der die vereinigten Cannabiszüchter aus ganz Europa angelockt hat und mit Rosenduft erschreckt.

Weiterer Topartikel: Rosenbasteln - nicht nur zur Weihnachtszeit beliebt. Ich bin erstaunt, wie viele Mannen sich heute Papierrosen ans Revers heften wollen oder nach der Origamirose für Cheffes Schreibtisch suchen. Immerhin, perfektes Product-Placement für "Das Buch der Rose" (hehe, schon wieder), bei dem die Autorin einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Sie erzählt darin Anekdoten und Geschichten und bringt weder Basteltipps noch Mischungen für die heimische Giftspritze.

Beliebt ist auch das Genre "Ich tu so, als würde ich meine Innereien auf den Tisch legen und guckt mal, die sind ganz verrückt". Damit kann man vor allem die Kollegen der Medien anlocken. Und den Kollegen aus der Buchbranche sei verraten: Kurz vor einem Interview den Link fürs Blog weitergeben, da vorher fein genau das streuen, was man gefragt werden will. Funktioniert immer. Und keiner, nicht einmal der geneigte Blogleser, merkt, dass das einzige wirklich Private der Hund ist.

Den ein oder anderen Medienmenschen habe ich dann auch schon mal schmunzelnd beim Themenklau erwischt. Und frage mich, ob es dreist oder dumm ist, dann auch noch mit dem erkennbaren und ortbaren Firmenserver aufzutauchen. Wie auch immer, ich merke mir die Zeitungen und Sender für die Bewerbungsunterlagen - vielleicht blogg ich ja mal eines Tages für die, wer weiß.

Apropos Hund: Hundegeschichten sind auch der Bringer. Das weiß man aus dem Fernsehen, dass es in einem Blog so gut funktioniert, hätte ich nie gedacht. Hund ist eben etwas fürs Herz. Dass sich allerdings mehr Leser für die Kulturtipps meines Hundes interessieren als für die meinen, erschüttert mich doch leicht.

Ziemlich vergessen kann ich auch die Artikel der Sorte "Woran ich gerade arbeite". Das lesen dann wirklich nur noch persönlich Bekannte, neidische Kollegen und das Finanzamt.

Aber wann gähnen eigentlich meine Leser? Wann bleiben sie aus, wann schalten sie ab, wann bleiben Ihnen die Kommentare im Hals stecken? Richtig. Immer dann, wenn die Reizwörter "Kunst" und "Literatur" auftauchen. Das trägt man heute nicht mehr. Will sich zumindest beim Konsum nicht erwischen lassen. Die wenigen, die da noch auftauchen, lesen grundsätzlich heimlich.

Ich lerne daraus besser nichts für meine Bücher. (Apropos Bücher: Vom Aufwand und den Produktionskosten her verglichen, erreicht man mit einem gut gemachten Blog sehr viel schneller sehr viel mehr Leser als mit einem Buch).

Aber mal sehen, wie ich die Quotenerkenntnisse medial umsetzen werde. Vielleicht sollte ich Kunst und Literatur besser als Skandal inszenieren.

Und an dieser Stelle sei einmal all denen herzlichst gedankt, die trotz allem mitlesen!

Fettschrift: Dieser Beitrag wurde quotenoptimiert.

21. Januar 2009

Schreibhörunterbrechung, sehend

Mein Kopf raucht. Ich hätte nie gedacht, wie schwer es ist, etwas zu Sehendes, das im dreidimensionalen Raum zweidimensional umgesetzt wurde, fürs Hören zu beschreiben. Klingt kompliziert? Ist kompliziert. Ich lerne immer mehr, dass Schreiben nicht gleich Schreiben ist. Schreiben wird inhaltlich wie formal extrem von seinem Medium beeinflusst.

Meinen Text wird niemand vor Augen haben. Man kann nicht zurückblättern, beliebig die Reihenfolge wechseln. Man kann Sätze nicht acht Mal hintereinander lesen. Text zum Hören bewegt sich linear. Trotz aller technischen Möglichkeiten, Stellen auf einer CD auszusuchen, muss der Text beim ersten Hören verständlich sein, sich sofort einprägen. Innere Bilder müssen auftauchen, als würde jemand Geschichten erzählen, nicht schreiben. Überhaupt gehorcht so ein Hörtext eher den Regeln des mündlichen Erzählens. Bei einem literarischen Text, der kein richtiger Roman ist, aber doch auch nicht reines Sachbuch sein will, ist das besonders schwer. Jeder, der Lesungen oder Hörbücher kennt, ahnt vielleicht die Anforderungen: Es gibt Bücher, die sind ideal zum Anhören. Und dann gibt es Bücher, die wirken einfach schrecklich, wenn man sie laut vor Publikum vorliest. Es sind stille Bücher, die über das Sehen erfahren werden wollen.

Anders als bei den stillen Büchern muss ein Hörtext intensiver mit Sinneswahrnehmungen arbeiten und innere Bilder schaffen. Jeder Satz muss leben, aber er muss sich in der Art einer Kamerafahrt bewegen: in strengster Logik, linear, nachvollziehbar. Wie viel Zeit bleibt ein Nebensatz im Gedächtnis, wie viele Verknüpfungen schafft das Ohr? Die inhaltlichen Änderungen ziehen formale nach sich. Ich stelle fest, dass ich mit Stilmitteln arbeite, die ich im "stillen Text" eher nicht verwende: Wiederholungen, Appositionen, Variationen...

Heute ist es besonders schwer. Ich muss etwas beschreiben, das schon nicht jeder verstehen würde, der es sehen könnte. Es hat etwas an sich von dem, was Robert und Sonia Delaunay in der Bildenden Kunst entwickelten mit ihren Farbkreisen, den "disques simultanés". Deren Farbkontraste führen dazu, dass die gemalten Kreise sich scheinbar drehen und das Licht zum Flirren bringen. Mein Sujet ist etwas anders, geht aber auch hauptsächlich aufs Sehen. Ich muss es hörbar machen - also irgendeinen Trick finden, es zum "Flirren" zu bringen.

Ich recherchiere den Delaunays ein wenig nach, auf der Suche nach einer Idee. Lande kurz vor dem ersten Weltkrieg in Frankreich, bei Apollinaires "Kunst als Sendung". Absolut faszinierend! Ich lese, wie man den Eiffelturm als Sendemast der Kunst begriffen hat, denn 1908 wurden von seiner Spitze Geräusche gesendet. Apollinaire schreibt seine "Calligrammes", Gedichte wie Zeichnungen, Worte, die in Spiralen rotieren, in Strahlen vom Innern des Gedichts ausgehen. Er packt Schallplatten-Zitate hinein. Es sind "Sendeentwürfe", Poesie mit Geräuschkulisse, als Zeichnung empfunden und räumlich sendefähig für den Turm.

Von dort führt der Weg direkt in Richtung Futurismus und Dada. Die moderne Welt vor dem ersten Weltkrieg hat sich beschleunigt: Technik, Massenmedien, härtere Rhythmen bei der Arbeit mit immer neueren Maschinen. Nicht nur die herannahenden Vorzeichen des Krieges lassen die Begrenztheit des Lebens stark ins Bewusstsein rücken. Die Menschen fühlen sich gehetzt, kommen nicht mehr nach, Endlichkeit wird fühlbar. Künstler entwickeln ein Konzept von Simultaneismus. Leben intensiver wahrzunehmen, noch mehr zu leben, ist das Ziel der Bewegung.

Zwei Wege werden versucht: Da ist das, was man heute Multitasking-Fähigkeit nennt. Möglichst viele Dinge gleichzeitig tun. Je kürzer das Leben sich anfühlt, desto mehr will man Handlungen, Wahrnehmungen und Gedankensprünge aufhäufen - damit in möglichst kurzer Zeit möglichst viel erledigt wird. Der zweite Weg hat mit dem Wunsch nach intensivem Wahrnehmen zu tun: Warum immer nur einen Sinn benutzen? Warum nicht gleichzeitig etwas mit mehreren Sinnen wahrnehmen, was gar nicht dafür vorgesehen war?

Es entstehen Projekte, die heute so modern sind wie nie zuvor. Parallelen zur psychedelischen Kunst der Sechziger kommen einem in den Sinn, aber auch modernste Verschränkungen mit der Multimedialität des Internet, Videokunst. Der Endlichkeit entgehen, indem man intensiviert - und damit noch mehr beschleunigt? Was sind wir doch wieder nah an dieser Zeit damals! Die Kunst der Futuristen und Dadaisten erscheint uns im 21. Jahrhundert manchmal naiv, manchmal unverständlich - und erschreckend neuzeitlich. Gedichte zum Schreien und Tanzen. Musik zum Essen. Gemalte Literatur. Explodierende Musik. Multimediale Performances. Simultangedichte. All das könnte von heute stammen. Und all das kann man auch hören.

So. Kaffee getrunken, Gedanken in Reihe gebracht, Idee gefunden. Das Blog als futuristisches Inspirationswerkzeug...

Ausstellungstipp:

Wer Hunger bekommen hat auf die Kunst jener Zeit, dem empfehle ich dringend die Ausstellung "Art is Arp" über den Künstler, den die Deutschen Hans Arp und die Franzosen Jean Arp nennen. Zu sehen im Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MAMC, Nähe Bahnhof) in Straßburg. Dabei sollte man den absoluten Hammer nicht verpassen und sich die dafür eigens renovierte "Aubette" am Place Kléber in der Innenstadt anschauen, die erstmals wieder zugänglich ist! Zwischen 1925 und 1928 schufen die avantgardistische Innengestaltung: Theo van Doesburg, Sophie Taeuber-Arp und Hans Jean Arp. Ende der Dreißiger Jahre wurde das Innere wegen seiner Kunst weitgehend zerstört, jetzt ist das erste von vier Stockwerken wiederhergestellt. Absolut sehenswert!

Hörlesesplitter

Wie nah liegt eigentlich der Nahe Osten? Lesenswerte Einblicke in ein ganz anderes Ost-Ost gibt die Autorin Andrea Karimé als ihr Alter Ego Blanka Beirut im Ostblog und erweitert das ganze gleich zu einem Hörerlebnis (die technische Einbindung ein wenig abenteuerlich: durchhören, obwohl der Strich vorgaukelt, es sei vorbei).
Ein ungewöhnliches, lesenswertes Tagebuch von einem Literaturstipendium, finde ich. Hier gibt es ihre bisherigen Bücher.

20. Januar 2009

Wie bei Hempels unterm Google

Seit einem Tag durchsuche ich fieberhaft Tonnen von Material und Stapel von Büchern nach einer sehr wichtigen Aussage für mein Projekt. Ich habe sie dunkel im Hinterkopf, leider beim Lesen nicht notiert, und muss sie dringend verifizieren, sonst kann ich nicht weiter schreiben. Ich suche vergeblich - unmöglich, all die bereits gelesenen Texte noch einmal zu überfliegen!

Wenn man das alles doch nur auf CD-ROM hätte, eine einfache Suchanfrage genügte. Ja, warum eigentlich nicht? Spaßhalber stelle ich mir vor, Google würde mein Chaos kennen. Ich tippe die Stichwörter ein.

Es ist schon pervers. Die Suchmaschine bringt mich darauf, dass ich den Hinweis nicht aus direktem Recherchematerial habe. Sondern aus dem Buch, das immer noch auf dem Wohnzimmertisch liegt. Bestimmt zwanzig Mal bin ich heute daran vorbeigelaufen.
Wie zum Teufel hat man eigentlich Bücher geschrieben, als es noch keinen Strom gab? Und wie lange wird es dauern, bis Google auch die Wollmäuse unter meinem Sofa erfasst?

In Würde altern?

Auch früher war Altern nicht zwangsläufig schön, aber doch wertvoll. Was in die Jahre kam, hat man geachtet und pfleglich behandelt - nicht verschrottet. Man war sich dessen bewusst, dass die Jungen aus den Traditionen der Alten erwachsen geworden waren, dass der Dialog zwischen beiden immer lebendig blieb. Ja, die Rede ist natürlich von Büchern.

Lord Peter Wimsey, der unsterbliche Romandetektiv alter Schule aus den Krimis von Dorothy L. Sayers, genoss ein Hobby, das junge Leute wahrscheinlich nicht mehr nachvollziehen können. Er sammelte wertvolle Erstausgaben. Eine Erstausgabe ist das druckfrische, zum ersten Mal erschienene Buch beim ersten Verlag - nicht zu verwechseln mit der Erstauflage. Und weil Bücher früher so kunstvoll und qualitativ hochwertig hergestellt wurden, ließen sie sich schier unbegrenzt in Bibliotheken aufbewahren - einem Zimmer, das zu Wimseys Zeiten zur Wohnung genauso gehörte wie das Schlafzimmer.

Je älter eine Erstausgabe wurde und je berühmter ihr Autor, umso höher stieg ihr Wert. Der Erhaltungszustand des Buchs konnte den Preis erheblich verändern, eine Signatur des Autors machte die Preziosen erst so richtig begehrt. Je persönlicher sie abgefasst war, desto besser. Natürlich werden auch heute noch wertvolle Erstausgaben gehandelt und Bücher mit Signaturen in Auktionen gegeben. Und es gilt in diesem Markt immer noch: Je älter, desto besser. Bücher bleiben attraktiv, solange sie nicht zu viele Falten, sprich Eselsohren, haben.

Und doch ist Lord Peters Hobby ein aussterbendes, wenn man die Menge der handelbaren Altware betrachtet. Der Markt für Preziosen zwischen zwei Buchdeckeln dünnt aus. Denn es wächst nicht mehr viel nach. Sammelwürdig sind allenfalls noch Coffee-Tables und Bildbände oder Hardcover aus bibliophilen und Kunstverlagen. Und selbst in diesem Bereich ist die Welt auf Wergwerfen gepolt. Bildbände, die nach einem halben Jahr im Supermarkt verramscht werden, Coffee-Tables zu Minipreisen machen vielleicht im Jetzt Freude - als Wertanlage sind sie kaum geeignet.

Gewiss, auch heute sammeln Fans Autogramme, gehen zu Lesungen, lassen sich Bücher signieren. Autoren und Verlage verschicken auch schon einmal Bücher und Autogrammkarten. Doch auch hier entwertet Masse und leichte Erreichbarkeit den Wert. Von Autogrammauktionen weiß man: Es sind die Künstler, die sich rar gemacht haben - die Großen, die ohne viel Rampenlicht berühmt wurden, deren signierte Bücher am gefragtesten sind.

Irgendwie altern Bücher nicht mehr richtig. Manche schaffen es kaum aus dem Windelstadium heraus, schon werden sie verramscht. Publikumsverlage setzen die Vorabverkäufe vor dem Erscheinen als Maßstab für Lebenszeit an. Man geht schon davon aus, dass im ersten halben Jahr nie mehr verkauft wird als beim Vorabverkauf. Sinkt der Verkauf drastisch, wird ausgemustert. Die durchschnittliche Lebenszeit eines Taschenbuchs, das nicht sofort zum Renner wird, beträgt heute drei bis sechs Monate. Wer ein Jahr schafft, hat Glück. Nicht verwunderlich, denn es erscheinen ja ständig neue Titel, die ins Regal sortiert werden müssen.

Lange hält so ein Buch nicht. Lesen, Tauschen, Auktionieren, Weitergeben - das alles hinterlässt schlimmere Spuren als bei herkömmlich gebundenen Büchern. Papier von Taschenbüchern ist im Schnitt auf zwanzig Jahre Lebenszeit angelegt, so manches Buch aus den Siebzigern ist längst vergilbt und wird brüchig. Was soll da wertvoll werden, wenn man täglich Millionen Bücher haben kann? Warum Berühmtheiten sammeln, wenn sowieso fast jeder den Harry Potter im Schrank hat? In Sachen Wertsteigerung gedacht, müsste man eher zur Rarität bei Suhrkamp greifen. Was aber, wenn der Verlag nun verwirklicht, dass alle Bücher ständig nachgedruckt werden können?

Wert - das ist auf dem antiquarischen Markt natürlich auch der Inhalt. Sammler konzentrieren sich oft auf Genres, Themen oder auch damit verbundene Epochen. Bebilderte Bücher sind wertvoller als Bücher, die "nur" Schrift enthalten. Lege ich mir etwa eine Sammlung aus Rosenbüchern an, kann ich als Anfänger ohne großes Risiko wohlfeil auch alte Massenware aufkaufen. Bei der spielt preislich weniger der Inhalt eine Rolle, sondern die Auflage (Erstausgabe) und der Zustand. Ich habe z.B. so einen Blumenbeststeller aus dem frühen 19. Jahrhundert für 16 Euro erstanden, weil er aus einer späten Auflage stammt. Die Erstausgabe des gleichen Buchs wird für viele hundert Euro gehandelt.

Beim inhaltlichen Sammeln gibt es Trends, Zeitmoden. So sind etwa historische Kochbücher im Moment völlig überbewertet und teilweise fast nicht mehr zu bezahlen. Dagegen kann das geologische Meisterwerk aus der Zeit Diderots, mit Kupferstichen bestückt und mit handschriftlichem Vorwort regelrecht zum Spottpreis gehandelt werden - so lange, bis irgendeine Mode die Händler auf die Geologie bringt. Wer mit dem Sammeln beginnen will, konzentriert sich also in seinem Interessensgebiet erst einmal auf das, was nicht jeder haben will, was unbekannter ist. Was vielleicht am Rande liegt, von unbekannteren Autoren geschrieben wurde oder aus einer neueren Zeit kommt. Denn im 19. Jahrhundert begann die Massenproduktion von Büchern und das macht sie preiswerter. Ein Rosenbuch von 1911 ist für uns genauso historisch wie eines von 1811 - aber der Einstiegspreis unterscheidet sich erheblich.

Auch Bücher von heute lohnen sich - es gibt sogenannte bibliophile Verlage, die Wert auf Ausstattung und Qualität im Druck und im buchbinderischen Handwerk legen. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft bringt regelmäßig Repliken alter Handschriften und Inkunabeln in limitierter Auflage heraus - natürlich ist das nicht das unerreichbare Original, aber schon heute ein wertvolles Buch.

Wer je beim Bouquinisten oder in einem sehr gut sortierten Antquariat gestöbert hat, der weiß, welchen Charme das Alter entwickeln kann. Und manche verfallen ihm hoffnungslos, werden süchtig...

Mehr Infos zu Online-Antiquariaten mit Adressen
Signierte Bücher kaufen
Antiquarische (= sehr alte) Bücher kaufen
Bücher sammeln im 21. Jhdt. (englisch)
Moderne Erstausgaben - ein Überblick (englisch)
Österreichische Sammlerbörse
Sammlerbörse mit Terminen und Fragemöglichkeit
Handbuch eines Antiquars mit Online-Artikeln (inkl. Infos zu professioneller Sammler-Software)
im Buchhandel gibt es außerdem diverse Titel zum Sammeln von Büchern

wortreich

Der Wortschatz des Deutschen umfasst etwa 75.000 Wörter.
Ein durchschnittlicher Mensch benutzt davon etwa 2000 bis 4000.
An einem Tag sprechen wir im Schnitt 16.000 Wörter - mit so wenig Wortschatz.
Hier kann man sich bereichern und hier festlesen.

19. Januar 2009

perverser Besitzrausch

Ich habe eben von einem meiner Altverlage die Rechte für ein Alt-Buch wiederbekommen. Irre, ein ganzes echtes Buch, mit dem ich ab sofort machen kann, was ich will. Es gehört wieder mir. Ich bestimme allein.

Was mich früher traurig gemacht hätte, bringt mich heute auf seltsame Gedanken. Ich könnte dieses Buch verschwinden lassen. Auf immer zerstören. Irgendwann müsste man sich um die letzten noch im Antiquariat befindlichen Exemplare in Druckform hauen. Wahrscheinlich würde es aber niemand vermissen.
Ich könnte Klopapierrollen damit bedrucken lassen. Und den Schluss klauen.
Ich könnte mein handgetipptes Manuskript abfilmen und bei youtube einstellen, mit Werbeflächen für meine anderen Bücher und Großaufnahmen von meinem Komposthaufen.
Ich könnte für Leute, die dumme Tattoo-Ideen suchen, Satzfetzen daraus verkaufen.
Ich könnte gemeinsam mit meinem Hund ein Hörspiel daraus produzieren.
Ich könnte mich unter anderem Namen mit dem gleichen Manuskript beim gleichen Verlag noch einmal bewerben und schauen, was passiert.

Es ist ekelhaft, wenn man mit seinem geistigen Eigentum plötzlich machen kann, was man will, ohne jemanden zu fragen.

Eiskalter Grusel

Wunschtraum: Filme machen, Bücher schreiben, Hörbeiträge senden, Publikum haben, Geld verdienen, Rechnungen bezahlen können.
Ich hatte darüber heute ein interessantes Gespräch mit jemandem aus der Branche, dessen These mich jetzt noch in eiskalten Grusel treibt.

Gegenthese: Jeder veröffentlichte Film findet sich kurze Zeit später auf der yubeltube, diesem Sammelsurium von wild und frech kopierten und zusammengestückelten Videos. Alles, was irgendwie elektronisch aufzubereiten ist, wird sofort von naiven Kopierern oder skrupellosen Piraten im Internet verschenkt, verzockt, ob das Bild, Ton oder Schrift ist. Ja, auch Printbücher werden massenhaft eingescannt und in Piratenbörsen verschenkt. (Und ich verschone jetzt jeden Betroffenen mit den wahren Geschäftsergebnissen sogenannter Verschenkaktionen von Verlagen, sonst kaufen sich die Autoren gleich Teer und Federn).

Und jetzt kommt es: Geil ist allein schon der kostenlose Besitz. Die Befriedigung der Gier, Dinge aufzubereiten und in die Welt zu blasen - um wiederum Dinge aus dem Internet aufzusaugen. Kostenlos. Eine Gesellschaft im Tauschorgasmus. In der allerdings im Gegensatz zur echten Tauschgesellschaft sich nicht diejenigen bereichern, die zuerst gegeben haben, pardon, beklaut wurden.

Alptraum: Stell dir vor, du produzierst Bilder, Musik, Texte oder alles zusammen oder noch etwas. Und da draußen gibt es nur noch eine Verschenkgesellschaft.

Mein Gesprächspartner glaubt, dass dieser Punkt jetzt schon nicht mehr umkehrbar sei.
Also frage ich mich: Müssten dann nicht neue, andere Überlebenskonzepte für Urheber und Kreativschaffende her? Wenigstens so lange, bis wir Wohnungen und warme Brötchen kostenlos im Internet herunterladen können? Was tun? Wie könnten Alternativkonzepte aussehen?

Ich werfe zur Diskussion in den Raum (hat noch wer Ideen?):
  • Werke im Erstabverkauf in nicht herunterladbare, befühlbare, materielle Formen stecken, die man wie Brötchen kauft und unbedingt haben muss.
  • Zwangsabgabe Kultur zur Finanzierung eines Grundgehalts für Urheber, die ihre Werke dann verschenken.
  • Jedes Dorf, jede Stadt leistet sich pro Kopf soundsoviel Filmemacher, Radiomacher, Autoren etc., die die Einwohner gemeinsam durchfüttern wie früher den Dorfschamanen. Für besondere Leistungen gibt es Schweinehälften und schwarz gebrannten Schnaps.
  • Künstler geben Aktien auf ihre Werke aus und zocken sich erst mal gesund.
  • Der Staat gibt Zwangsanleihen für Kultur aus.
  • Sponsoring durch die gesponserte Autoindustrie oder gerettete Banken.
  • Die kunst- und kulturfreie Gesellschaft. Endlich frei. Ohne dieses überflüssige Gedöns. Und dann pirateln wir die Piraterie von der Piraterie von der Piraterie...
Zu dumm, daraus wird dann wahrscheinlich wieder Kunst.

Alphablogger und Betaleser

Der Perlentaucher suhlt sich heute in der Bezeichnung "Alphablogger". Alphablogger sind anscheinend Männchen, die den lieben langen Tag nichts anderes tun, als über die FAZ zu bloggen, um schließlich zum Superalphamännchen bei der FAZ aufzusteigen. Wenn das tatsächlich ein Abbild der Medien- und Blogvielfalt Deutschlands ist, dann füllen da nur die gleichen Meuten wie immer alte Fleischbrühe in neue Schläuche.*

Kulturumtriebige Normalblogger fragen sich: Wo bleibt die geistige Erneuerung? Müssen wir erst eine Internettechnik erfinden, die Menschen befähigt, völlig Neues, Anderes in die Welt zu setzen, als ständig um die ewig gleiche Nahrungsquelle zu kreisen?

Dabei hätten wir mit den bestehenden Techniken schon genügend Power in der Hand, überkommene Strukturen aufzubrechen. Naomi Wolf, Autorin von "The End of America", hat das durch Zufall am eigenen Leib erfahren. Mit ihrem Buch und ihren Vorträgen erreicht sie nur die üblichen verdächtigen Leser, nämlich eine nette Menge von Intellektuellen, aber keine Massen. Jetzt hat ein Zuhörer bei ihrem Vortrag gefilmt und das Video bei youtube eingestellt. Das unterbelichtete Ding hatte zur Drucklegung ihres Artikels angeblich 1.250.000 Zuschauer erreicht und für Gesprächsstoff gesorgt (Die Zahl ist wohl kräftig geschönt, wenn man sich die Abrufzahlen bei youtube anschaut). Naomi Wolfs These bekam Anhänger - ihr Buch, so sagt die Autorin, hätte das nie geschafft.

Heute haben also sogar Betaleser Medientechniken in der Hand, die mehr bewirken können als Alphablogging in Deutschland. Das dreht sich lieber im Kreis ums herkömmliche, oft verstaubte Feuilleton oder setzt sich darin behäbig zur Ruhe. Aber wir wissen ja von den Wölfen: wenn das Alphatier seinen Aufgaben hinterherhinkt, kann es vom Betawolf aus der Hierarchie gebissen werden.

* merci an jueb, bei dem ich den Schlauch geklaut habe.

18. Januar 2009

Kein Zurück mehr

"Alles schreitet, nichts bleibt ... in diesselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und sind nicht", schrieb der griechische Philosoph Heraklit. Es gibt kein Zurück.

Ich habe heute ein Bild eines meiner Lieblingsmaler aufgehängt: Moskau I, von Wassily Kandinsky 1916 gemalt. Das Bild hat mich durch einige Umzüge und drei Länder begleitet. Wiederentdeckt habe ich es, weil mich etwas bei der Arbeit an meinem neuen Projekt an irgendwelche Farben erinnert hat. Kobaltblau in Gold und Gelb und Braun. Ich hatte das schon einmal irgendwo gesehen.

Als das Bild an der Wand hing, bemerkte ich, dass ich es verwechselt hatte. Da war noch ein Bild Kandinskys, das in meinem Leben eine große Rolle spielte. Es hing in Studentenzeiten in meiner Bettnische und immer, wenn mich etwas nervte oder traurig machte, ging ich in diesen Farben, in diesem Licht baden. Hier hatte ich dieses Blau und dieses Gold. Und nun kann ich es kaum erwarten, bis es morgen hell genug ist, um auf dem Speicher danach zu wühlen.

Dreimal in Farben gestiegen und nie waren es mehr die gleichen. Aber da ist etwas fühlbar, das allen drei "Farbflüssen" gleicht. Es steckt in meinem "Dingens", der Kandinsky gekannt hat, der vielleicht in ähnlichen Bildern "spazieren ging". Ich bin jeden Tag von Neuem erschlagen von der Intensität, mit der er mir vor Augen tritt. Das ist längst keine Figur mehr, die es zwar gegeben hat, die aber lange, allzu lange, tot ist. Dingens wird zu einem Bruder, dem ich Geheimnisse von mir verrate, damit er spricht. Das Schreiben wird zur Zwiesprache und verändert sich völlig.

Alles, was ich mit Verstand und Planung entwerfe, taugt allenfalls als Modell, als Idee einer Reihenfolge. Etwas wie Trance folgt danach, die Konturen zwischen Musik und Schrift lösen sich auf, der Text tanzt, steigert sich manchmal zu Atemlosigkeit vor der großen Fermate. Mit den Farben zwischen den Tönen kommen die Erinnerungen, und ich erschrecke, dass es die meinen sind, nicht angelesen, nicht von Dritten gehört. Da sind die, die ich scherzhaft "meine 101 Omas" nenne, ihre Wangen röten sich, sie fangen ebenfalls an zu sprechen.

Schon als sehr kleines Kind wuchs ich sozusagen mit einem ganzen Altenheim von Menschen auf. Ich fand es spannend, so viele Omas zu haben (Opas gab es darin kaum), die jede über noch mehr Geschichten verfügten. Geschichte in Geschichten, wie ich erst in später Schulzeit erkannte. Denn da waren Menschen, die drei Kriege erlebt hatten: den 1870er, den ersten Weltkrieg, den zweiten Weltkrieg. Die ganz Uralten, die schon in meiner Kleinkinderzeit wegstarben, waren Menschen, wie ich sie später nie wieder fand. Frauen, denen aus unendlich viel Leid und Mühen Humor und Liebe gewachsen war. Extravagante, sehr starke Frauen.

Da gab es die "Oma", die mich lehrte, wie man im 19. Jhdt. Biedermeiersträuße zu Geheimbotschaften band. Eine Rittergutsbesitzerin ließ mich im Glanz ihrer letzten Antiquitäten baden - und Kunst, überall an den Wänden Kunst. Eine war so ganz anders als unsere Mütter, sprach viele Sprachen und hatte die weite Welt in Koffern verpackt, die Länder dieser Erde in ein winziges Zimmer gepfercht. Uralte japanische Münzen mit Löchern, Elfenbeinschnitzereien aus Afrika, einen Seidenschirm aus Thailand und die Schiffspapiere aus den USA. Mit dem Millionär, bei dem sie Gouvernante war, wäre sie um ein Haar auf der Titanic mitgefahren.

Heute betrachte ich Fotos aus der Zeit, über die ich schreibe; manchmal finde ich den ein oder anderen schemenhaften, zerkratzten Stummfilm. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Diese Menschen sind nicht tot. Ich habe Menschen aus dieser Zeit gekannt, ihre Geschichten leben fort in mir, ich sehe die Spitzenhandschuhe, die sich die Gouvernante für die Titanic gekauft hatte. Ich rieche die Küchen jener Zeit und spüre, wann die Farben in deren Alltag zerbrachen - um auf den Paletten der Maler nur um so mehr zu explodieren.

Manchmal gibt es Bücher, bei denen ist nach dem Schreiben ein Zurück in sich selbst nicht mehr möglich. Weil sie einen zurückwerfen auf einen selbst. Weil man mit den Abgründen und Tiefen des Sujets immer auch tief in sich selbst hinabsteigt, so tief, dass da manchmal nur noch Ahnungen von etwas sind, von dem man nicht weiß, ob es zum Glückstaumel oder zum Alptraum wird, wenn man es befreit. Man steigt als Schriftsteller in so ein Buch hinein und wird danach nie mehr derselbe sein. Ein Wissen, das erschreckt und fasziniert. So ein Buch verändert einen völlig, mit der Geschichte erfindet man sich ständig selbst neu und gerät in einen kaum zu beschreibenden Dialog. Wer werde ich nachher sein?

Es fühlt sich dann fast wie Trance an, wenn ich schreibe. Ich nehme dabei nicht einmal mehr meinen Text wahr und bin hinterher überrascht: War das wirklich ich? Habe ich das geschrieben? Ich kann mich kaum erinnern. Aber stattdessen erinnere ich mich an so vieles, an das ich mich theoretisch nicht erinnern dürfte.

Es ist, als schöpfe man Neues aus einer Erinnerung heraus, die man in dem Moment erfindet.

Solches Schreiben ist nicht bei jedem Projekt möglich (und nötig). Und wenn es geschieht, fühlt es sich an wie ein Wunder. Es ist dieses Mysterium, das man immer und immer wieder erwecken will, das in der Musik lebt, in der Malerei, das sich aber genauso hartnäckig verstecken kann.
In solchen Momenten kommt mir der Gedanke, dass Schriftsteller nicht körperlich in Flüsse steigen, sondern manchmal versuchen, all die vielen möglichen Flussvariationen einzufangen, zu sammeln. Eine Gnade fast, wenn es einmal gelingen sollte, dass eins der vielen Bilder vom Fluss dem echten Gewässer ähneln mag. Oder eine Melodie singt, die der Fluss in seinem Rauschen längst begraben hat.

17. Januar 2009

roccultur 001

Ab sofort in diesem Hause: roccultur.

Beißfester als Popkultur, authentisch wie Rocco, unser französischer Korrespondent von der berüchtigten Beauceron-Berger-Belgique-Connection.
Erschnüffelt vom Bodensatz der Feuilletons, herabgezerrt aus den Höhen des Kulturbetriebs. Kurz, knapp, mit einem Wau. Kunst und Literatur, geprüft auf Fresswert und Lustgewinn, bewertet zwischen Schlafen und Schlaraffen. Ein Happs und weg? Oder zum genüsslichen Dauerkauen geeignet? Roccultur hat Platz auch in der kleinsten Hütte.

Wenn Sie mich hineinließen, würde ich mir Thomas Bernhards "Kant" in Zürich anschauen. Nicht nur wegen des Papageis, der seine Rolle sichtlich gelernt hat, mir geht Sunnyi Melles als Millionärin unter den Pelz.

Seit heute beneide ich T. C. Boyle um seine Hütte unter kalifornischen Redwoods und gäbe etwas darum, mit seinem Hund in jenem Höhlenunterschlupf picknicken zu können. Ich bin sicher, Boyle teilt mit ihm sein Bier.

Ich mag den bloggenden Clemens Meyer. Jemand, der seinen altersschwachen Hund pflegt und Harry Potter schaut, kann kein schlechter Mensch sein. Ich werde meine Menschin fragen, ob sie schon einmal etwas von ihm gelesen hat.

Rosamunde Pilcher
: Ziehen Sie sich das Zeug rein! Es ist so wertvoll wie ein kleines Steak!

Adrienne Göhler
sagte in 3sat, es gäbe mehr Arbeitende im Kulturbetrieb als in der Autoindustrie, trotzdem würde der Kulturbetrieb mit dem neuen Konjunkturprogramm nicht gefördert. Ich sage Frau Göhler, das ist völlig normal. Der letzte zieht den Schwanz ein, duckt sich und wartet untertänigst. Wenn er sich doch mal der Beute zu schnell nähert, wird er weggebissen. Den letzten beißen die Hunde, sagen die Menschen. Hundetipp: Aasfresser werden. Oder Hermann Hesse: Der Steppenwolf lesen.

Bleiben Sie stark, lassen Sie sich keinen Gummiknüppel für einen Knochen vormachen, und alles wird gut!
Eine geruhsame Nacht,
yours truly Rocco

Verlage schreien Hurra

"Hurra, die Krise ist vorbei", jubelt man in der ZEIT (gefunden bei zuckerbrot) und meint damit die Krise, die 2008 viele Autorinnen und Autoren traf. Zuversichtlich gehen mehrere bekannte Verleger ins neue Jahr und sind sich einig: Wirtschaftskrisen wecken das Verlangen nach Büchern, Geschichten, Welterklärungen.
Schön. Fein. Als Autor könnte man sich jetzt beruhigt zurücklehnen.

Aber wenn man genau hinschaut, sind in diesem Artikel ausgerechnet die Verleger versammelt, die schon immer besondere Bücher gemacht haben. Die Autoren und Bücher noch nie als reine Profitcenter betrachtet haben. Die Bücher und Autoren noch richtig pflegen. Es sind nur die versammelt, die wirklich Verlegerpersönlichkeiten sind.

Was aber meinen die Verleger, pardon, Konzernchefs, die in den vergangenen Jahren eben das nicht taten? Die sich aufgebläht haben über Trends, die man bis zum Erbrechen auslutscht? Die Verlage aufgekauft haben wie andere Banken? Wie wird es der reinen Unterhaltungsbranche gehen, die unfähig war, sich zu diversifizieren? Wie wird es diesem Gros der Autoren gehen, das seit Jahren am Outsourcing von Lektoren leidet, an immer komplexeren und behäbigeren Entscheidungsstrukturen? Wie wird das Publikum in einer Krise auf Bücher reagieren, die als reines Profitcenter geplant wurden?

Die ZEIT zeichnet nicht, wie beabsichtigt, ein Bild deutscher Verlage in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Sie verrät eigentlich nur, wer es besser macht.

16. Januar 2009

Feminismus und Darwin

Die 3sat-Kulturzeit fragt sich heute, wie Feminismus und Darwins Theorien zusammen gehen. Ideal finde ich, denn beim "survival of the fittest" werden auch heute noch Frauen älter als Männer. Und sie füllen erfolgreich Nischen aus, in denen andere Arten längst ausgestorben wären: Krankenschwester, Kinderschwester, Putzfrau, Familienmanagerin etc. pp.

Trotzdem legt man ihnen auch heute noch Evolutionsbremsen in den Weg, schimpft auf die wilde Lilith und kettet Evaweib an Apfelsünden. Was könnte die Evolution schon weit sein, wenn wir Frauen könnten, wie wir wollten!
Können wir doch? Ist doch alles so schön modern hier?
Das dachte ich auch mal. Als Kind der ich-weiß-nicht-wievielten Emanzipationswelle glaubte auch ich irgendwann, es müsse nun gut sein, endlich gäbe es nur Menschen auf der Erde. Denkste.

Da war mal ein Projekt, das mir extrem am Herzen lag. Nennen wir es mal verschleiernd das "Projekt Kohle". Ich war dazu gekommen, wie die Jungfrau zum Kind (typisch Frau), weil ich schon als solches gern in schwarzen, unterirdischen Gängen herumkroch. Und weil ich über Jahre Zugang zu einem der besten Archive und zu Fachleuten hatte. Damals, noch ohne meinen wunderbaren jetzigen Agent, machte ich mich damit etwas dilettantisch auf die Socken. Ein Programmchef, männlich, fand, ein "Kohle"-Sachbuch sei nichts ohne saftige Intrigen, heiße Liebesgeschichten und Konkurrenzkampf. Aha. Schreibt man heute so Sachbücher? Oder frau?

Es endete schlimm. Jeder sagte mir, wenn ich aus dem Sachbuch einen historischen Roman basteln würde, wäre das DER Hammer. Also hämmerte ich mal; man, pardon frau, ist sich ja zu nichts zu schade. "Die Kohlebaronin" ging an einen großen bekannten Verlag und mir wurde schon vom Arbeitstitel schlecht. Boah, Hammer, alles drin, Liebesschnulz, Intrigen, Feinde, Krieg, hammse vielleicht noch ne Vergewaltigung, Reichtum, klasse (ich hatte von jenem Programmchef gelernt), nehmen wir sofort, kaufen wir! Wenn Sie eine klitzkleine Änderung...?

Man und frau zeigen sich ja immer kooperativ als Autoren. Offenheit signalisieren. Teamfähigkeit. Sogenannte soft skills, früher sagte man "weibliche Fähigkeiten", sind gefragt in unserer Branche.

Ja, könnten Sie nicht ... die Kohle ... also, die macht so dreckig. Die ist so schwarz. Wir machen Bücher für Frauen. Und das ist alles so dreckig und Dreck ist männlich und Frauen brauchen was Schönes. Könnse nicht aus der Kohlebaronin was mit Pelz oder Edelsteinen machen? Vielleicht ne Goldmine. Aber nee, lieber doch nicht, da laufen dann schwitzende, dreckige Arbeiter durchs Bild, das wollen Frauen auch nicht. Machense Glamour rein und wir kaufen.
Die Autorin versenkte das gute Stück in der verborgendsten Schublade. Glamourprostitution ist nicht.

Dann kam der Klimawandel, dann kam die Energiekrise, und die Autorin bekam leuchtende Augen. Heureka! Wenn jetzt nicht Zeit ist, wann dann! Und diesmal bleiben wir eiskalt und knüppelhart beim Sachbuch, arbeiten ein völlig neues Konzept aus - das ist das Thema der Zeit. Und dass ich Kulturgeschichte beherrsche, habe ich ja schon gezeigt. Was soll da noch schiefgehen?

Einige Monate später schütteln Agent und Autorin nur noch den Kopf und fassen es nicht, was aus unserer Welt in Sachen Emanzipation geworden ist. Kein Verlag habe das explizit so ausgesprochen, aber alle hätten durch die Blume signalisiert, dass dieses Projekt mit einem ganz großen Fehler behaftet sei: Die Autorin ist eine Frau. Noch dazu eine Frau, die sich auf dem weiten Feld der "Kohle" noch keinen Doktortitel erworben hat. Einer Frau traut man es nicht zu, über solche Sachen Bescheid zu wissen, eigentlich mit Doktortitel auch nicht. Und dann die Leser! Männer sind kritisch. Und dann steht da ein Frauenname ohne Titel, ohne Meriten.

Ich beneide Georges Sand. Sie konnte noch den Namen wechseln, um als Frau ernst genommen zu werden. Mir bringt ein männliches Pseudonym nichts, denn ich müsste noch eine Biografie erfinden, sprich fälschen. Das hilft nur, wenn ein Verlag seine Leser, pardon Leserinnen, betrügen will. Das hilft leider nicht innerhalb einer Branche, in der zwar überwiegend Frauen arbeiten, aber Rollenspiele von anno dunnemals fröhlich Urständ feiern.

Als ich klein war, durften einige meiner Freundinnen nicht aufs Gymnasium, weil "Mädchen heiraten ja eh". Ich habe einst das Studium für einen damals noch hauptsächlich männlich besetzten Beruf ergriffen. Als ich mein Volontariat für die Redakteursausbildung absolvierte, war ich als Frau in einer extrem kleinen Minderheit. Ich fühlte mich aber immer akzeptiert, respektiert und ganz "normal" als Mensch. Meine Ausbilder sagten: Als Journalist hast du gefälligst alles zu können, egal, ob du Frau oder Mann bist, egal ob mit Doktortitel oder ohne, du musst über Hot Dogs genauso schreiben können wie über Kohle oder künstliche Intelligenz.

Eine der drolligsten Absagen, die ich als Buchautorin kassierte, hätte mich stutzig machen sollen (übrigens für das erfolgreich veröffentlichte "Das Buch der Rose", das auch Männer lesen): "Ich erwarte von einer Autorin einen anmutigeren Stil, etwas Sanfteres..."

Nein, es kommt beim Veröffentlichen nicht immer nur auf Inhalte und Qualität an. Manchmal ziehen sie einen bis aufs Hemd aus.

Also, Darwin, mach mal ein bißchen hinne mit der Emanzipation!
Dein Peter

PS: Gestern, bei der Künstlerberaterin, erzählte ich von meinem neuen Vertrag. "Wie kommen Sie denn als Frau auf so ein schräges Thema?", war die erste Reaktion meines weiblichen Gegenübers. Mehr Androgyn bitte, meine Damen!

Lesetipp:

15. Januar 2009

Aufgeschnappt

"Ein gelungenes Buch genügt einfach nicht, um bemerkt zu werden, es muss auch unter den richtigen Bedingungen erscheinen, und ein Verlag muss unterstützend und mit Werbung dahinterstehen."
Das sagt Daniel Kehlmann in einem interessanten Interview mit einem dämlichen Titel in der Berliner Morgenpost.

Und der Spiegel findet heraus, was ich hier schon lange predige: Auch der Markt der Literatur versumpft. Hau-druff-Zeiten: "Lässt sich die Wertschöpfung nicht mehr über Imitation und Variation erreichen, bleibt nur die Steigerung.

Vernunft ist nicht alles

Seit zwei Tagen nehme ich mir vor, bei diesen Wetterverhältnissen das Auto nur bis ins nächste Städtl zu nehmen und von dort die Bahn nach Strasbourg. Bei Nebel mit Sichtweiten unter 50 m und gefrierendem Niederschlag muss man sich den Stress nicht antun. Irgendwie hatte ich furchtbar Angst vor einem Unfall. Ein fast zwingendes Gefühl: Du fährst mit dem Zug.

Dann schien die Sonne, die Straßen waren frei und die Gefahr schien klein. Die Vernunft redete mir ins Gewissen: Fahr mit dem Auto, sei mobil, du sparst zwei Stunden und hast nicht das Risiko, den letzten Zug zu verpassen (wäre mir mit meinen Termin tatsächlich passiert). Die innere Stimme quakt: Nein, fahr Zug, ich hab heute ein ganz ungutes Gefühl mit Strasbourg, kein guter Tag.

Fimschnitt: Wenn jetzt ein Unfall passiert wäre, wegen Glatteis z.B., würde ich von Selbstkonditionierung sprechen. Man konzentriert sich so aufs Eis, dass man rutscht. War aber nicht.

Warum müssen Frauen immer tough sein und auf den Kopf hören? Ich fuhr natürlich auf meinen vier Rädern. Passte brav auf, alles war wunderbar. Und dann schneidet mich in Strasbourg so ein verdammter Obermacho in silberner Riesenlimousine frontal von links (der hatte vorher schon alle Leute bedrängelt), ich weiche gerade noch rechtzeitig aus und höre einen Knack. Wie bei Knack und Back. Mein Rückspiegel umarmte den eines stehenden Taxis und klappte sich brav ein. Unversehrt. Der vom Taxi war hin. Und die konnten die Limousine nicht sehen, weil sie vor mir weggerauscht ist.

Tja, so habe ich also zum ersten mal einen französischen "constat amiable" ausfüllen dürfen. Der Fahrer der Limousine sei dreimal verflucht, dreifach soll es auf ihn zurückkommen. Möge ihm einschrumpeln, was dieses Potenzgehabe im Stadtverkehr verursacht hat. Punkt.
Und ich werde noch mal auf mein Hirn hören, pah!

Erfolgsgeheimnisse

Tina Turner, ob sie nun zurechtoperiert sein mag oder nicht, begeistert ein altes und neues Publikum. Die Frau ist auch mit 69 Jahren noch eine Energiebombe. Muttis und Papas in mittleren Jahren betrachten ihre Speckschwarten genauer, drücken aufs rheumatische Gelenk, verstecken sich vor der Grippewelle und trösten sich mit Schweinshaxen und Bier. "So möcht ich auch mal altern!", erklingt auf jeder Fernsehcouch der neue Wunschtraum vom Jugendwahn bis in den Tod. Und fast möchte man meinen, Fitness und strahlendes Aussehen seien alles, Gleitmittel für den Erfolg, lebenslänglich.

Irgendwo und irgendwann gestern im Fernsehen (3sat?) gab es einen interessanten Beitrag über das Geheimnis der vielen Altersrevivals und der Stars, die von keinem tot zu kriegen sind. Da hat sich endlich einmal jemand intelligent Gedanken darüber gemacht, wie man als Künstler überhaupt zum Erfolg kommt. Und wie man ihn halten kann, wenn man ihn denn hat. Ist es wirklich nur das Aussehen, die Jugend? Was machen die Dauerbrenner anders als die Sternchen, die wie Schnuppen nach dem ersten Hit vom Himmel fallen? Die Ergebnisse waren zwar auf die Musikbranche bezogen, dürften aber auch für Künstler in anderen Bereichen nachdenkenswert erscheinen. Und sie zeugen eher von Altersweisheit als von Jugendwahn.

Was haben Künstler an sich, die dauerhaft erfolgreich sind?
  • Sie schaffen von Anfang an Eigenes, Unverwechselbares, Wiedererkennbares - nicht austauschbare Konserven- oder Trendware. Sie hecheln nicht Trends hinterher, sie schaffen Trends.
  • Sie bringen im Eigenen immer wieder Neues und beherrschen Genrewechsel. Und schaffen es, kurz bevor die Begeisterung abfällt, wieder etwas Neues und Überraschendes zu schöpfen. Diese Künstler steigern permanent ihre eigenen künstlerischen Ansprüche und erweitern Können und Repertoire.
  • Dagegen gibt es auch diejenigen (sehr viel weniger, z.B. im Schlager, der Volksmusik), die es schaffen, mit immer der gleichen Masche ein Publikum über Jahrzehnte mitzunehmen. Diese konzentrieren sich im Gegenteil zu den anderen auf eine Einengung des Repertoires und auf reine Reproduktion ihrer selbst. Sie sind extrem ausgeliefert, wenn ihre Fans ausbleiben.
  • Sie machen sich rar. Wenn man ein Interview bekommt, wenn ein Auftritt erfolgt, muss das ein Highlight sein. "Dauerbrenner" nehmen sich auch kreative Auszeiten und bestimmen selbst, wie viel Öffentlichkeit sie sich antun wollen. Sie werfen sich nicht an die Medien und lassen sich nicht ausbrennen.
  • Sie optimieren laufend ihre Kunst und ihren Körper. Sie vervollkommenen ihr Können, lernen ständig dazu. Und wissen, dass Fitness und Ausgeschlafensein dauerhaft Kunst schafft. Sie arbeiten eher eisern diszipliniert, als dass sie sich gehen lassen. Sie halten nicht viel vom Bild des verrückten leidenden Künstlers, sind eher Macher, Begeisterte.
  • Sie kennen ihre Schwächen genau, übertünchen sie nicht, sondern lernen, sie mit Stärken zu kompensieren.
  • Sie haben früh mit Markenbildung angefangen. Marke sind sie selbst, nicht das Produkt, nicht ein Titel. Mit dem Halten der eigenen Namensmarke signalisieren sie Verlässlichkeit und erzeugen nach längerer Zeit Nostalgie im Publikum.
  • Ihr Motto: "Wann, wenn nicht jetzt!"
In diesem Sinne: Viel Erfolg!
Oder um es mit dem guten alten Goethe zu sagen:

Was immer du tun kannst
oder erträumst tun zu können,
beginne es.
Kühnheit besitzt Genie,
Macht und magische Kraft.
Beginne es jetzt.

TV-Tipp: Heute abend in ARTE

Heute abend, 22:40 Uhr in ARTE: Romane made in New York.

Nicht einfach nur eine Doku über Bücher und Autoren, sondern ein Film über die Einflüsse von 2001 und der amerikanischen Politik auf die Literatur, ein Platz für literarische und ästhetische Fragestellungen. Sechs Autoren aus New York kommen zu Wort, darunter einer meiner ganz großen Lieblingsautoren, dessen Bücher ich heiß empfehlen kann: Jonathan Safran Foer.

14. Januar 2009

Rettet das Rettungspaket!

Es tut weh. Es tut nicht nur in den Augen weh. Allein heute bin ich bei der täglichen Internetlektüre vier mal (!) über das Wort "Rettungspacket" gefallen. Es muss sich, den Lauten nach, um ein recht schnelles, kompaktes und hartes Paket handeln. Winzig wie ein Päckchen, man will wohl Porto sparen.

Wie kommt es, dass so viele Deutschsprachige dieses Wort nicht mehr buchstabieren können, obwohl es in aller Munde ist? Ich wollte es genau wissen und googelte. Fiel fast um, ob der Gewalt von Volkes Stimme. Denn Google versprach mir eine Million sechshundertneunzigtausend (in Worten) falsch geschriebene Rettungspa"ck"ete. Nach falschen Pa"ck"eten ohne Rettung zu suchen, wagte ich daraufhin nicht mehr. Und das, obwohl selbst die Suchmaschine den Duden beherrscht: "Sie meinten vielleicht Rettungspakete? - schlug sie mir vor.

Woher kommt diese Falschschreibung, die auch zum Falschsprechen führen müsste? Denn ein Packet würde dann auf dem "a" betont, bei einem sehr kurzen "e". Die Schuldigen, man glaubt es kaum, scheinen eben jene Zeitgenossen zu sein, die diese unsere Staatsrettung kassieren! Vorwiegend auf Aktienwebsites liest man den Zinnober. Ich meine, Mr. Wong darf das falsch schreiben, deshalb heißt er ja Mr. Wong und nicht Herr Willi. Aber was bitte soll uns der bebrillte Herr mit der ZEIT in der Hand sagen, der auf wirtschaftskrise.org so tut, als hätte er sich eben mit jener Zeitung gebildet, und dann nicht einmal das Hauptwort der Krise buchstabieren kann?

Handeln Sie mit Rohstoffen? Dann passen Sie auf: Die Aktienblase könnte auf einem Schreibfehler beruhen - und wenn das Gold nachgibt, dann nur, weil der Klügere das immer tut! Eine Firma aus der Schweiz verschreibt sich ebenso fleißig mit dem knappen "Packet" und gibt wenigstens offen zu, warum es an der Rechtschreibung hakt: Alles Bullshit, pardon Bullish attitude, frei übersetzt: dumm wie ein Büffel. Neverending story, ich könnte unendlich so weitermachen.

Fazit:
Die Falschschreiberei kommt weder von armen durch Rechtschreibreformen geplagten Schülern noch von Privatleuten, denen man Schreibfehler zugesteht. Dieses falsche Ei von Rettungpacket, das eigentlich ein Rettungspaket sein soll, haben Börsianer, Banker und höhere Manager gelegt! Jetzt wissen wir also, warum Frau Merkel in der Krise Autobahnen bauen lässt ... das Straßengewerbe
Straßenbau und Bildung ankurbelt. Nicht für unsere Kinder! Nicht für die normalen Bürger!

Schließlich ist das Rettungspaket für unsere offensichtlich schwer PISA-geschädigten Banker, Bosse und Börsianer da! Also dafür, dass die bequem mit dem Geländewagen aus Detroit, den sie für bessere Straßen eigentlich nicht bräuchten, zur Nachhilfe vorfahren können! Wetten, dass sie für den Deutschunterricht auch noch Steuererleichterungen kassieren?

Für Besserwisser:
Das Wort Paket kam etwa im 16. Jahrhundert als Lehnwort aus dem Französischen (nix english) ins Deutsche, stammt also vom gedehnt gesprochenen, auf dem "e" betonten paquet. Im Diminutiv, der Verkleinerung, wird ein -chen angehängt, wodurch sich der Laut frech in ein "ä" verkürzt. Das führt dazu, dass man diesen betont und der nachfolgende Konsonant sich verdoppelt. Das Päckchen war also ursprünglich ein Päkkchen. "kk" ergibt im Deutschen "ck". Das große und schwere Paket kommt dagegen auch gesprochen schwer und behäbig daher.

Für fortgeschrittene Besserwisser:
Alle Substantivzusammensetzungen, die vom Verb "packen" (auf "a" betont, deshalb kurz und Konsonantenverdopplung) kommen, schreiben sich mit "ck": Packkiste, Packpapier, Packraum etc.
Alle Substantivzusammensetzungen, die vom Paket kommen, schreiben sich wie dieses nur mit "k": Paketdienst, Paketannahme, Paketbote, Geldpaket, Rettungspaket.

Für durchtriebene Besserwisser:
Das "Rettungspacket" aus Börsianerkreisen ist eine neumodische Wortzusammenziehung aus "Paket" und "zocken". Deshalb heißt es auch Aktie und nicht Action. Oder Banker und nicht Bankert. Und nicht "fett im Speck sitzen", sondern Spekulant.

Lebensuntüchtig

Heute ist ein Tag zum Reinschlagen. Die Straßen sind nicht geräumt und morgen droht ein unaufschiebbarer Termin in Strasbourg. Im Kasten ein Amtsbrief von Frankreichs Debilenversammlung Nr. 1, die ich so nenne, weil ich ein Jahr gebraucht habe, einen "Computerfehler" zu bereinigen. Und jetzt, nachdem endlich alles kapiert schien, fangen sie wieder von vorn an. Ich darf also wieder für Leute nebenjobben, denen das Hirn sichtlich in den fetten Hintern am Schreibtisch gerutscht ist, sprich Schriftwechsel führen. Und das Finanzamt schickt die Rechnung für die Wohnsteuer, die ich so gar nicht zahlen muss, aber Hauptsache kassieren, Rückzahlung kommt später. Also auch da noch hinfahren, wieder in eine andere Stadt. Telefonisch geht nichts in Frankreich. Sonst klüngelt das Call-Center mit dem Computer noch dickere Fehler aus.

Eine lose Bekannte würgt am Telefon ihre gesammelten Lebensbrutalitäten heraus, obwohl ich weder sie noch die Familie richtig kenne und so tief in blutige Innereien gar nicht hineinschauen mag. Ich muss eine komische Wirkung auf Menschen haben, im Zug erzählen sie mir von ihren Urahnen und vom letzten Kindergeburtstag - und ich finde das ja auch spannend, Schriftsteller sammeln Geschichten. Aber das geht eindeutig zu weit, die Verletzung ihrer Intimsphäre verletzt die meine. Sie wolle ja Therapie machen, aber der Mann weigere sich, der hat Angst, dass sie das stark mache. Soll ich ihr sagen, dass es da eine einfachere Lösung als Therapie gäbe? Ich sage ihr, ich müsse arbeiten. Keine Zeit. Das Telefon schnappt ein.

Und dann lese ich von einem, großer Künstler, ganz großes Genie, und alle sagen sie, der sei lebensuntüchtig von Anfang an gewesen. Seine Frau hätte sogar noch ihre Pelze und den Schmuck allein kaufen müssen, weil er gar nicht richtig wusste, wie man einkaufen geht. Und weil er sich aus solchen Sachen nichts machte, immer nur Arbeit, immer nur seine Kunst. Hat nicht richtig mit den Leuten geredet, vor Auftritten sei er stumm wie ein Fisch geworden, wo man doch, wenn man in die Öffentlichkeit geht, ruhig auch scherzen könnte und plaudern. Lebensuntüchtig wie die meisten Künstler.

Was ist ein lebenstüchtiger Mensch?
Ich stelle mir jemanden vor, der Spaß am Shoppen hat. Der zig Schuh- oder Autoläden mit Lust abklappert, in den Wartepausen eiligst Termine per Handy ausmacht, Sekretärinnen oder die Kinder ankeift, organisiert, macht. Lebenstüchtige beenden ihre Patnerschaften per sms vom neuesten Gerät aus. Amtskram ist einem solchen Menschen eine Freude, da kann man sich bewähren; zeigen, wie schlau man ist, wie man sich auskennt. Es denen mal so richtig zeigen. Ein lebenstüchtiger Mensch stellt punkt zwölf das Essen auf den Tisch und weiß sich zu benehmen. In Gesellschaft glänzt er oder sie mit Smalltalk, Gossip - und dem richtigen Therapeuten. So jemand hat es leichter mit komischen Anfragen, fremde Innenleben betreffend: Ich geb Ihnen die Karte meines Therapeuten, klasse Kerl, der hat noch jeden lebenstüchtig hingekriegt.

Ich habe immer Brot in der Kühltruhe. Falls es mal ausgeht und ich einen dieser Tage habe, an denen ich nicht herausgehen mag und keine Menschenseele sehen. Nicht, weil ich krank wäre, sondern weil ich solche Tage im Kreativrausch genieße. Abends habe ich dann viele Seiten geschrieben und das Gefühl, besonders intensiv gelebt zu haben. Heute wäre so ein Tag gewesen. Ich bin mit wunderbaren Ideen und Elan aufgestanden. Nun hängt mir die schreiende Dummheit der Amtsbriefe im Kopf, blockiert, weil ich solche Dummheit nicht fassen kann. Und weil ich reinschlagen möchte.

Stattdessen denke ich mir einen Krimi aus über einen, der Angestellte eines bestimmten Amtes quält und reihenweise umbringt, bis man feststellt, es war ein Computerfehler. Er, der Chef des Amtes, hatte die falschen Briefe bekommen und war darüber zum perversen Serienmörder geworden. Und dann stutze ich und sage mir: Hey, du schreibst doch gar keine Thriller, wirst du schon ganz meschugge?

Immerhin macht mich der Plot frei, mich wiederum hier frei zu schreiben, und dann gehe ich an den eigentlichen Text, Stunden zu spät. Und morgen kommt der verdammte Termin rein, der mich womöglich einen Arbeitstag kosten wird, weil ich bei den Wetterverhältnissen die Bummelbahn nehmen werde. Ich kann diesen Künstler, von dem ich lese, so gut verstehen! Wie soll man da noch Zeit haben, Pelze und Schmuck einzukaufen, wenn doch schon so viel Lebenszeitverschwendungen am Schreiben nagen, am Leben! Ich wollte schon immer lebensuntüchtig sein, schon als Kind. Das Leben selbst bestimmen, nicht von anderen bestimmen lassen. Amtsbriefe hassen und Einkaufen hassen. Kunst lieben. Die Tüchtigen, die frisst die Administration.