Medial überrollt - Houellebecq (3)

Eine Idee zerplatzt. Zugegeben, es war ein wenig riskant, Leserinnen und Leser eine Ein-Frau-"Leserunde" aushalten zu lassen, die nicht wirklich eine Leserunde im herkömmlichen Sinne ist. Ich fand das Experiment ganz reizvoll, mir einmal beim Vorbereiten einer Rezension über die Schulter schauen zu lassen. Vielleicht auch einmal anschaulich zu zeigen, wie mehrschichtig Literatur sein kann, wie faszinierend die Querverbindungen zu entdecken sind. Aber ich habe meine Rechnung ohne die immense PR-Maschinerie und den Erscheinungstermin in Deutschland gemacht. Ich bin schlicht zu spät dran.

Meine Beiträge zu Houellebecqs Buch gehören zu denen, die in diesem Blog am wenigsten gelesen werden. Dazu machen sie aber zu viel Arbeit. Ich kann es niemandem verdenken: Im Moment schreibt JEDER über das Buch, die Feuilletons sind vollgepflastert. Nach der 101sten Meinung ist man müde, will lieber selbst lesen oder es hat sich bereits das Lebensgefühl des Protagonisten bei uns eingeschlichen: Ennui bis hin zum Ekel. Überdruss.

Den will ich nicht verstärken und entscheide mich für den radikalen Schnitt: Ich beende die Serie und lese fortan im Stillen. Ob ich dann nachher noch Lust habe, die 1001ste Rezension zu schreiben - ich weiß es nicht. Da ist dieser Ennui angesichts der Medienmaschinerie ... So schnell kann es gehen in den schnellen Medien, aber man kann ja zum Glück genauso fix reagieren.

Eines noch: Ich hörte gestern, Houellebecq habe nach seiner Lesung in Köln vor allem zwei Dinge beklagt: Dass man ihm Islamophobie vorwerfe und dass er sich ständig erklären müsse auf die Frage hin: "Darf man so ein Buch schreiben?"

Islamophobie kann man diesem Buch eigentlich nur vorwerfen, wenn man es nicht richtig gelesen hat oder auf die PR-Maschinerie hereingefallen ist. "Unterwerfung" hat recht wenig mit den Werbetexten zu tun. Wenn in diesem Buch jemand etwas abkriegt, dann sind es die Franzosen in der beschriebenen Dekadenz und inneren Leere, die Anpasser und Hinternkriecher, die gedankenlosen Mitläufer jedweder extremeren Gruppe. Dann sind es diejenigen, die von Religionen längst keine Ahnung mehr haben und sich in ihrer Sinnentlehrtheit nur noch von Privilegien statt Inhalten ködern lassen. Das hat Heike Rost in einer Rezension gut auf den Punkt gebracht.

Mich entsetzt die Frage: "Darf man so ein Buch schreiben?"
Man darf nicht nur, man muss! Wer, wenn nicht KünstlerInnen und LiteratInnen, kann der Gesellschaft frei und querdenkend einen Spiegel vorhalten, Zustände sezieren, provozieren, aufschrecken, nachdenken, umdenken und so vieles mehr?
Ganz sicher hat der Autor nie geahnt, dass sich ein - übrigens recht unglaubhaft geschilderter - Anschlag in seinem Buch zum Erscheinen in einen Anschlag ganz anderen Ausmaßes in der Realität fortsetzen würde. Er hat selbst einen seiner Freunde dadurch verloren. Aber genau das ist der Fluch oder das Geschenk guter Literatur: Manchmal hat jemand die feinfühligen Antennen und schafft eine Fiktion, eine Utopie oder einen Zukunftsplot, der plötzlich Wirklichkeit wird. Wie vieles von "1984" leben wir bereits 2015 - und doch ist es so ganz anders. Wie vieles in Houellebecqs Buch trifft die französische (und europäische) Gesellschaft in Mark und Bein - und trotzdem ist in diesem Plot und in seinen Beschreibungen so vieles absurd unmöglich oder überzeichnet. Das ist Literatur.

Zum Glück beschäftigt sich der Autor nicht mit der eigenen Nabelschau wie so viele. Ich will nicht zu viel verraten, aber für mich ist das Buch jetzt schon, noch nicht einmal zur Hälfte gelesen, ein großer, ein wichtiger Gesellschaftsroman. Ja, man darf! Man sollte noch viel öfter literarisch über die Welt nachdenken.

zu Teil 1
zu Teil 2

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